2/14 - Nathan Larson - E-Book

2/14 E-Book

Nathan Larson

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Beschreibung

14. Februar: Am Valentinstag ist New York durch eine Serie von Anschlägen zerstört worden. Die Bevölkerung ist dezimiert, die Behörden sind korrupt, außer Kontrolle geratene bewaffnete Einheiten haben die Macht übernommen. Dewey Decimal, der letzte Verwalter der New York Public Library, bewahrt Stil und Haltung, auch wenn er bis an die Zähne bewaffnet ist. Er war einmal Soldat, mehr weiß er nicht, denn seine Erinnerung ist manipuliert. Seine Fähigkeiten zu kämpfen und zu töten sind optimiert. Sein Sinn für Gerechtigkeit und seine Neurosen haben System. Und sein Sinn für Sprache und Witz ist ein weiterer Bestandteil seines Waffenarsenals.
Als er von der Stadtverwaltung auf eine osteuropäische Gang angesetzt wird, beginnt ein Trip durch die apokalyptische Stadtlandschaft, bei dem sich mafiöse Verstrickungen bis in höchste Regierungskreise offenbaren. Mit Dewey Decimal werden die Leser in rasantem Tempo durch die Handlung gejagt, als befänden sie sich in einem Ego-Shooter-Szenario, in dem nichts ist, wie es scheint. Eine sprachmächtige, in die Zukunft geworfene Erneuerung des »Noir«.

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Seitenzahl: 294

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Penser Pulp

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Nathan Larson2/14Ein Dewey-Decimal-Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Stumpf

Inhalt

2/14

Meiner Frau und meinem Sohn

Wie ein Querschläger hallt der Knall des Schusses von meinem Schädel im Lesesaal wider und ich wache auf, keuchend und nach den Kapuzengestalten schlagend, die sich mit meinem Schlaf verflüchtigen.

Immer derselbe Traum.

Als der Knall verebbt und in dem riesigen Saal nach und nach Stille einkehrt, verlangsamt sich auch mein Herzschlag und jetzt weiß ich wieder, wo ich bin: im Hauptgebäude der New York Public Library an der Kreuzung 42nd Street und Fifth Avenue in New York City.

Wie ich hierhergekommen bin, kann ich nicht so genau sagen, aber so viel zumindest ist klar: Ich bin ein Mann, gemischter Herkunft und aus der Bronx. Gelegentlich übernehme ich einen Auftrag der Regierung der Stadt New York. Zumindest was davon übrig ist.

Ich bin Soldat oder war es in einer Landschaft, deren Monotonie nur von gelegentlichen Sandhosen, die der Wind aufwirbelte, und vereinzelten Ansammlungen niedriger Gebäude unterbrochen wurde. In diesem Negativraum gab es lange Zeitstrecken, in denen rein gar nichts passierte und wir nur vor uns hin brieten. Passierte doch einmal was, dann brach die Hölle los – massenhaft herumspritzendes Blut und Metall und Glasfaser. Trotzdem wirkte das Ganze ziemlich dilettantisch. Kaum ernst zu nehmen.

Wie ein schlechter Film, den man nur anschaut, weil man nichts anderes hat.

Übrigens war ich auch Ehemann und Vater. Glaub ich. Aber das war vorher.

Ich setze mich auf, taste mein Jackett nach einer Zigarette ab und finde keine. Es ist ziemlich ruhig hier, aber ich bin nicht allein … eine Mutter und ihr Sohn haben nicht weit von mir eine alte Kochplatte aufgestellt und jetzt starren sie gebannt in den Topf, die ­Mutter hält eine Kartoffel in die Höhe, wahrscheinlich wartet sie darauf, dass das Wasser kocht.

Erstaunlich, dass sie eine funktionierende Steckdose gefunden haben. Die nehm ich in den Bestandskatalog auf, falls ich meinen Rasierer aufladen muss. Womöglich ist die Bibliothek das letzte öffentliche Gebäude, das von den mageren Resten des städtischen Stromnetzes noch ein bisschen Saft bekommt.

Ich hab einen Job hier in der Bibliothek. Ich kümmere mich um die Bücher. Aber dazu später.

Außer der Madonna mit Kind sind hier und da noch andere menschliche Gestalten verstreut, verloren, bedeutungslos.

Bedeutungslos klingt hart. Aber so sehr die Stadt sich auch verändert hat, eines ist gleich geblieben, und zwar: Ohne die richtige Durchwahl schafft man’s nie.

Ich, liebe Leute, habe sie.

Kaum spricht man davon, brummt schon der Pager. Es ist der DA. Der Code sagt: Ich muss in sein Büro, pronto.

Aufgestanden, Ohren angelegt. Ein Spritzer Purell® in die Hände und verreiben. Purell® ist für mich Pflicht, unabdingbar, eine kühle Brise in einer stickigen, durchgedrehten Welt.

Ich schlafe in meinem Anzug, was soll’s. Spart Zeit. Also rein in die Brogues, das Bettzeug zusammengerollt, in die Army-Tasche gesteckt und auf einem niedrigen Regal neben dem Beef Jerky, den Pistazienvorräten und Wasserflaschen verstaut.

Niemand wird meine Sachen auch nur anfassen. Sie kennen mich hier, vor allem wissen sie, wen ich kenne.

Ich werfe meine Aufwachpille ein und laufe die abgetretenen ­Marmorstufen hinunter in den pisswarmen Regen. Ich drücke mir den Hut auf den Kopf und tätschle beim Vorbeigehen den Steinhintern des nördlichen Löwen.

Das ist Teil meines Systems. Auf der Fifth Avenue nach links. Dem System folgen ist eminent wichtig. Und Purell® benutzen, besonders wenn man irgendetwas in einem öffentlichen Gebäude angefasst hat.

Der Regen schwächt den durchdringenden Gestank nach brennendem Plastik und Müll ab. Hochsommer, der erste Sommer nach den Ereignissen vom 14. Februar.

Aber der Gestank ist noch immer da, so verlässlich wie der Tod. Das ist das Plastik. Der Gestank kommt von den Abfallgruben im ehemaligen Bryant Park.

Dem System folgend biege ich links in die 42nd Street. Vor 11 Uhr vormittags biege ich nur links ab. Auf dem Weg zur Linie B.

Ich zeige dem weiblichen Marine meine Plastikkarte, sie lässt mich durch und ich verschwinde in der Tiefe.

Es ist kaum zu fassen, doch dank der öffentlichen Gelder für den „Großen Wiederaufbau“ fährt die U-Bahn immer noch. Ich habe keine Ahnung, wer in der Stadt die Gelder verteilt, aber eines weiß ich, ums öffentliche Wohl geht’s dabei nicht. Hauptsächlich geht’s wohl darum, die Taschen der vielen halbseidenen Figuren in Downtown zu stopfen, und die der Baulöwengangs, die sich nach 2/14 auf der Insel breitgemacht haben.

So sieht’s aus, und niemand gibt sich Mühe, es zu verbergen.

Die U-Bahn (inzwischen vollautomatisiert) ist ausschließlich den städtischen Angestellten vorbehalten, den Honoratioren und Leuten mit genug Kleingeld, um es an geeigneter Stelle klug anzu­legen. Von der Sorte gibt’s aber nicht allzu viele. Abgesehen davon: Wer zum Teufel benutzt die versiffte U-Bahn, wenn er so viel Kohle übrig hat? Diese Leute haben sich wahrscheinlich schon längst auf die Socken gemacht und sich hinter einen hohen Zaun in Upstate New York oder ins Hinterland von New Jersey verkrochen. Weg vom Wasser, weg von möglichen zukünftigen „Begebenheiten“. Gott sei mit euch.

Aber ein paar von uns müssen arbeiten. Und die haben ein System.

Ich bin allein auf dem Bahnsteig. Auf den Gleisen steht das Wasser mindestens knöchelhoch, Rattenschwärme paddeln vorbei. Ihr bloßer Anblick lässt mich wieder nach dem Purell® greifen.

Ein Zug der Linie D, dann einer der Linie F, von irgendeinem Computer irgendwo gesteuert. Als die B einfährt, steige ich ein.

Das System schützt mich, hilft mir, meine Gedanken zu ordnen. Natürlich gibt es Regeln: Wenn man mit der New Yorker U-Bahn fährt, muss man unbedingt zuerst eine der Buchstaben-Linien (A, B, C) nehmen und das in streng alphabetischer Ordnung. Fährt man mehr als vier Stationen, muss man in eine Linie mit einer Ziffer umsteigen (1, 2, 3) und in der besten aller Welten sollte die erste eine gerade Ziffer sein.

Wenn das nicht klappt, ist das keine Katastrophe, aber eins ist klar: Je mehr du mit dem System arbeitest, desto mehr arbeitet das System für dich. Deshalb steige ich an der Station Broadway/Lafayette in die 6er um.

In dem Waggon ist eine Gruppe von Transit-Authority-Cops. ­Zusammengewürfelte Uniformen. Der kräftigste mustert mich von Kopf bis Fuß, checkt die Plastikkarte, nickt in meine Richtung.

Ich tippe an meine Hutkrempe. Ich kann kaum meine Gesichtsmuskeln unter Kontrolle halten. Komisch, was? Nach dem, was mir in den letzten Jahren passiert ist, jedenfalls soweit ich mich erinnern kann, macht mich die Gegenwart von Cops immer noch nervös.

Ich fühlte meinen Puls und zähle von zehn runter, nutze das System. Als ich an der Canal Street aussteige, atme ich aus und spüre die Blicke der Cops in meinem Nacken.

Ich hab das Gefühl, dass ich noch eine Dosis brauchen könnte, schlucke eine weitere Pille und trete in die schwüle Hitze des feuchten Hühnerhofs namens Chinatown.

Ungelogen: Auf der Lafayette in südlicher Richtung trete ich ­irgendwelches Federvieh zur Seite, ein Taschentuch vor dem Mund. Übles Zeug aus der Retorte, ein Nebel aus Vogelgrippe, Schweinegrippe, Hundegrippe, Rinderwahnsinn, Tuberkulose und Schlimmeres. Schnatternde, identisch aussehende Gesichter. Wimmelnde SARS-Masken.

Auch wenn ich fließend Kantonesisch sprechen könnte, hier würde ich nicht kurz mal stehenbleiben und ein Schwätzchen halten.

Ich taste nach dem einzelnen Schlüssel in meiner vorderen ­Tasche.

Dass ich das Purell® herausziehe, muss ich wohl nicht sagen.

Mithilfe einer systembasierten Verhaltenstechnik schalte ich die menschlichen Störgeräusche aus und denke darüber nach, was heute anstehen könnte.

Unser gegenwärtiger, nichtgewählter District Attorney heißt Daniel Rosenblatt, ein Beta-Männchen mit Mundgeruch und fliehendem Kinn, eine Fresse zum Reinschlagen.

Beim Militär nannten wir solche Typen (obwohl sie selten waren) „Kanarienvögel“ (siehe „Kanarienvogel im Bergwerk“, siehe auch „Kanonenfutter“). Sie eignen sich hervorragend als Minensucher, zur Ablenkung der Scharfschützen von nützlicherem Personal und zur Beseitigung von Blindgängern.

Nicht, dass es wichtig wäre, aber ich glaube, Rosenblatt war einmal Anwalt bei einer dieser 0800-Schmerzensgeld-Kanzleien. Der Typ, der vor der Notaufnahme von Krankenhäusern auf künftige Klienten lauert. In dem Chaos nach dem Valentinstag ging’s drunter und drüber, es gab Postengeschacher, Machtgerangel. Und irgendwie hat Rosenblatt es geschafft, seinen Arsch hier festzusetzen.

Auch wenn er nicht danach aussieht, solche Männer sind bekanntlich besonders dann gefährlich, wenn man ihnen ein Büro mit Aussicht überlässt. Ein Büro wie dieses, im neunzehnten Stock in der Centre Street Nr. 100. Art-déco-Möbel. Südwestfenster, von denen man durch den Schmutzfilm einen schönen Blick auf die kürzlich wieder in Betrieb genommene Baustelle des Freedom Tower hat. Hinter der City Hall erkennt man gerade noch die traurigen Überreste der Brooklyn Bridge, die auf die Finanzspritze vom Großen Wiederaufbau warten.

Kein schlechter Blick.

„Decimal.“

Ich wende meine Aufmerksamkeit wieder dem kleinen Mann ­hinter dem großen Schreibtisch zu.

„Ich langweile Sie, oder. Das Feuer ist erloschen zwischen uns. Der Zauber weg. Oder.“

Rosenblatt spricht zu schnell, Stakkato, nervtötend. Ich schließe meine Hand um das Pillenfläschchen in meiner Tasche und räuspere mich.

„Entschuldigen Sie, Sir. Sie haben mich bezüglich der Ukrainer gebrieft.“

„Geht doch. Also. Das sind Tiere. Fressen ihre Jungen. Kurz gesagt: Wenn die sich wieder zusammenrotten, dann legen sie jetzt und in Zukunft einen hübschen Teil der Bauprojekte lahm. Nicht zu finanzieren. Lassen wir uns erst wieder auf diesen Gewerkschaftsscheiß ein, wollen sie als Nächstes eine Krankenversicherung und Dreißigstunden-Wochen. Auf einem Scheißsilbertablett. Nehmen Sie eine Pistazie, Decimal. Wie in Dachau drüben. Noch beunruhigender als sonst, und das will was heißen.“

Er hält mir eine kleine Schale mit Nüssen hin, die mit hebräischen Schriftzeichen verziert ist. Ich zögere. Mikroben, menschliche Fäkalien, abgeschleckte Finger. Wie diese widerlichen Körnerschälchen in indischen Lokalen.

Ich ziehe das Purell® aus der Tasche, spritze was auf die Hände, verreibe es, schüttle den Kopf. „Allergie.“

„Ha!“ Daniel reckte seine Arme in die Höhe. „Decimals Achillesferse, erwischt. Kryptonit. Merk ich mir. Sollten Sie bockig werden. Ha.“

Ich lächle. Ich möchte eine Pille nehmen, aber die letzte ist höchstens zwanzig Minuten her. Ich sage: „Pistazien und Walnüsse. Jetzt wissen Sie’s, Mr. Rosenblatt. Um was geht’s, soll ich wieder mal jemandem einen Besuch abstatten?“

Rosenblatt schiebt mir mit seinem Mont Blanc einen großen braunen Umschlag zu. „Yakiv Shapsko. 2000 emigriert, die Formalitäten stimmen, da kann uns die Einwanderungsbehörde nicht weiterhelfen. Er ist der Unruhestifter. Der Máximo Líder. Eitler Sack! 2006 hatte der Wichser den Nerv, gegen die Stadt zu klagen, reine Schikane selbstverständlich. Irgendein Ground-Zero-Scheiß.“

Ich ziehe ein frisches Paar OP-Handschuhe heraus und streife sie über. Lasse mehrere 18 x 24-Fotos und vier Seiten Text aus dem Umschlag gleiten. Der Mann, muskulös, Bürstenschnitt. Eine Adresse. Dazwischen zwei Kinder, sieben und fünf Jahre alt, gegenwärtiger Aufenthaltsort und Herkunft unbekannt. Ehefrau, neununddreißig. Ein weiteres Foto.

„Ich möchte den Namen nie mehr hören, Decimal, nie mehr. Der Typ geht mir so was von auf den Sack. Aus zwei Gründen. Diese Gewerkschaftssache und die verfluchte Schadenersatzklage. Wollen Sie wissen, was es in diesem Land Unternehmern so schwer macht? Gewerkschaften und verfluchte Schadenersatzklagen. Fragen Sie, wen Sie wollen. Diese zwei scheiß Sachen. Er muss weg, Decimal.“

Ich nicke, schiebe das Material wieder zurück, ziehe die Handschuhe aus, schmeiße sie weg. „Schon geschehen.“

Rosenblatt trommelt mit Finger und Stift auf seinem Schreibtisch, tadamtadam. Er ist ziemlich zappelig heute. Nervös?

„Sehr gut. Was haben wir noch?“

Er wirft einen Blick auf eine offene Ledermappe. „Die Sache mit der Staten-Island-Fähre … kaum zu fassen! Verdammte Küstenwache, überlässt mir dieses Fiasko einfach. Hm. Midtown-Miliz. Müsste man mal aufräumen. Aber das ist was für ein ganzes Team, Großeinsatz. Warten Sie. Der LaGuardia-Deal … nein. Transit Authority? Welche Transit Authority? Alberne Clowns. Und, wie sieht’s mit Medikamenten aus?“

„Könnte wieder welche brauchen“, sage ich, ohne nachzudenken, aber es stimmt.

Daniel grinst und faltet die Hände. Ein echtes Bilderbucharschloch.

„So, so. Aber wir wollen meine wertvolle Zeit nicht mit Rechnereien verschwenden. Wir nehmen die Medikamente wie verordnet, ja?“

„Ja.“

„Zwischen den Mahlzeiten wird nicht genascht. Richtig?“

„Richtig.“

Er nimmt ein leeres Blatt mit seinem offiziellen Briefkopf, dreht betont langsam die Füllerkappe ab, deutet auf den Füller. „Titan.“ Blinzelt mir zu.

„Aha.“

Er krakelt etwas auf das Blatt und reicht es mir.

„Sie wissen ja, wie’s läuft. Erst mit Andrews sprechen –“

„Dritter Stock. Ich weiß. Wie die letzten sechs Monate.“

Rosenblatt grinst wieder, kein schöner Anblick. Er kratzt sich mit besagtem Titan-Füller am Schädel. „Informationsspeicherung gehört nicht zu Ihren Stärken. Manchmal muss ich mich wiederholen. Deshalb schreiben wir alles auf, Decimal. Und deshalb die Pillen, richtig?“

Er sieht mich an, aber ich lasse ihn warten und spritze mir beiläufig noch etwas mehr Purell® auf die Hände. Er rutscht auf seinem Stuhl hin und her.

„Also, Dewey, was werden Sie tun?“

„Den Bürger Shapsko ruhigstellen.“

„Korrekt. Aber ich hab Ihnen doch grad gesagt, dass ich den Namen nicht mehr hören will. Also raus mit Ihnen und Ihrer schlechten Aura, sonst gehen mir noch die Pflanzen kaputt. Und machen Sie sich nicht die Hände schmutzig.“

Auf das Innere meiner Augenlider ist eine Karte der Stadt tätowiert. Sie ist zweidimensional und ähnelt dem offiziellen ­U-Bahn-Plan der MTA, grüne, blaue, rote, gelbe und orange Adern markieren die Linien.

Diese Karte steht mir immer zur Verfügung.

Wenn man die Karte sieht, ist einem das System, von dem ich hier spreche, sofort klar. Es ist alles da, ausgebreitet, lebendig. Die Regeln und Funktionen sind definiert, sauber (ja, wie Purell®) und präzise.

Wenn ich erschöpft oder überlastet bin oder in diesem schwebenden Zustand zwischen Schlaf und Wachsein, wandert meine Aufmerksamkeit automatisch Richtung Norden. Wie eine Flipperkugel, die zum Zentrum der Schwerkraft strebt. Nach Norden, entlang einer grünen Ader mit der Ziffer 5, zu einer ganz bestimmten Station.

In solchen Momenten bin ich ziemlich sicher, dass alle Dinge und Ereignisse dort ihren Ursprung haben, an diesem Ort mit diesem verdammt hübschen Namen. Vielleicht strebt auch alles, Dinge und Ereignisse, dorthin, rast durch den grünen Tunnel, um dort zusammenzukommen und eins zu werden: in der Gun Hill Road.

Ich bin ein Mann von Ehre, frei, unabhängig und nicht käuflich, also stehe ich am Spätnachmittag in der Second Avenue gegenüber der Nr. 142, auch bekannt als Ukrainian Social Hall, und werfe eine Pille ein.

Ich brauch wohl nicht zu sagen, dass ich meine Hände zwischen jeder Zigarette gereinigt hab, also genau neun Mal.

Kaum Fußgänger- oder Autoverkehr. Ein Elektrovan mit dem CDC-Logo fährt vorbei, die Insassen in Raumanzügen checken mich durch ihre verspiegelten Helmvisiere ab, auf dem Dach blinkt still ein Blaulicht.

Weshalb ich mich frage, was zum Teufel ich nicht weiß.

Ich stehe seit anderthalb Stunden hier. Offen gestanden erstaunt es mich, dass das Haus noch offen ist. Hat wahrscheinlich mit den vielen Ukrainern im Baugewerbe zu tun, die wegen des Großen Wiederaufbaus geblieben sind.

Ein Witz.

Die letzten Arbeiternehmerrechte wurden ausgehebelt, dazu Bestechung, Betrug, Amtsmissbrauch en masse. Eine wahre Geld­lawine für die auf der Sonnenseite. Was ganz wenige sind. Nur ­wenige sind geblieben.

Ein handgeschriebenes Plakat an der Glastür des Gemeinschaftshauses verkündet in kyrillischer Schrift: Büffet: 11:00 bis 16:00, All You Can Eat für 10$.

In regelmäßigen Abständen kommen und gehen Leute.

Shapsko war bisher nicht zu sehen, er muss noch drinnen sein. Einen Hinterausgang gibt es nicht.

Das Essen hier soll gut sein, aber Büffets sind nichts für mich. ­Bakterien. Schon der Gedanke lässt mich zum Purell® greifen und ich spritze das Übel weg.

Mr. Shapsko zu finden war ein Kinderspiel. Seine Akte ist kurz, aber aufschlussreich.

Gleich nach meinem Tête-à-Tête mit dem guten DA organisierte ich mir in der White Street ein „verlassenes“ Auto, einen netten, nur leicht demolierten Nissan Leaf. Wenn man den Dreh raus hat, lässt sich so ein Elektroauto innerhalb von Sekunden knacken.

Dann wischte ich den Innenraum aus, reinigte meine Hände und fuhr zu Shapskos Arbeitsstelle, die in der Akte stand, eine Baufirma namens Odessa Expedited, Inc., in der 26th Street West Nr. 572.

Ich rauchte vier Zigaretten, desinfizierte meine Hände und beobachtete, wie Mr. Shapsko gegen 12:45 das Gebäude verließ.

Ich erkannte ihn sofort, auch wenn das Foto in seiner Akte schon älter sein musste; er hatte fünfzehn bis zwanzig Pfund abgenommen und wirkte so eingefallen und verhärmt wie alle New Yorker seit besagtem Valentinstag, mich eingeschlossen.

Shapsko befand sich in Begleitung von zwei Weißen gleicher Statur, Haarschnitt und Kleidung. Das Trio quetschte sich in einen ­Toyota Prius, Baujahr 2009 oder ’10. Ich seufzte bei dem Gedanken an die Verfolgung: diese Autos gab es massenhaft, sie waren irgendwann aus unerfindlichen Gründen zum halben Preis verkauft worden, vielleicht hatte ich die Gründe aber auch vergessen.

Der Prius stieß (unerlaubterweise) rückwärts in die Eleventh Avenue und fuhr nach Süden. Noch während ich den Nissan in Bewegung setzte, fielen mir zwei Dinge ein: 1) ich muss meine schmutzigen Hände reinigen; und 2) ich brauch mir keine Sorgen zu machen, das Zielauto zu verlieren.

Im letzten Jahr hat sich New York City geleert.

Den Eindruck macht es jedenfalls. Genau besehen hat es noch etwa 10 Prozent der Anfang 2011 erhobenen Einwohnerzahl. Das sind im gesamten Stadtgebiet 800.000 Leute. So richtig weiß das keiner, woher auch. Trotzdem ist es schwer, sich daran zu gewöhnen.

Noch vor der Valentinstags-Begebenheit (die eigentlich eine Reihe zusammenhängender Begebenheiten war, Plural; ich finde es ärgerlich und falsch, im Singular von dem Tag zu sprechen, aber wenn sich so eine Bezeichnung erst mal eingebürgert hat, kriegt man sie nicht mehr los), hauten die Leute scharenweise ab, besonders nach dem dritten heftigen Börsen-Crash und dem freien Fall des Dollars.

Auf den ersten Crash waren wir vorbereitet, auf den zweiten halbwegs, aber auf den dritten, der dem Dollar, dem Euro, dem Pfund, der Rupie und dem Yen den Todesstoß versetzte, sicher nicht.

Und dann die Valentinstags-Begebenheit(en). Auch 2/14 genannt.

Jedenfalls war auf den Straßen praktisch nichts los.

Kurz nach vier verlässt Shapsko die Ukrainian Hall, dieses Mal in Begleitung von fünf Männern, darunter die beiden, mit denen er nach Downtown gekommen war. Die Gruppe steht vor dem Eingang und unterhält sich.

Irgendwann brechen alle in Gelächter aus und vier der Männer bewegen sich in die dem Prius entgegengesetzte Richtung. Shapsko hebt zum Abschied die Hand und geht mit dem fünften zu seinem Auto.

An diesem Punkt muss ich eine Entscheidung treffen: Shapsko gleich abfangen, wobei sein Freund eine unbekannte Größe ist, oder weiter an ihm dran bleiben.

Scheißegal; ich drücke Zigarette Nummer elf aus, verreibe etwas von dem guten Zeug auf meinen Händen, seh nach links und rechts (ja, ich weiß, aber Gewohnheiten legt man nun mal nicht so einfach ab) und laufe schräg über die Second Avenue.

Sie stehen beide bei dem Toyota. Shapsko hat den Autoschlüssel in der Hand.

„Yakiv Shapsko.“ Ich ziehe meinen falschen Heimatschutz-­Ausweis heraus. Er ist auf einen Donny Smith ausgestellt.

Ich spreche mit meiner Weiße-Leute-Stimme, der Stimme der Autorität.

Shapsko dreht sich halb um. Er wirkt amüsiert. Sein Begleiter macht einen Schritt auf mich zu, aber Shapsko legt eine Hand auf dessen Brust.

Ich halte dem Mann den Ausweis vors Gesicht, habe aber das Gefühl, dass mir die Situation schon jetzt entgleitet. Shapsko wirkt ­intelligent, smart. Ich hätte gedacht, er ist der Typ Radaubruder.

„Mr. Shapsko, ich komme von der Homeland Security …“ Sein Freund brabbelt irgendwas auf Ukrainisch, aber ich rede weiter, „und bitte Sie, mich zu einer Befragung zu begleiten.“

„Warum?“ Shapsko sieht mich an, als hätte ich einen Witz gemacht, was mich nervt. Noch immer liegt seine bloße Hand auf der Brust seines Begleiters. Er trägt ein dunkles Hemd, das unmöglich sauber sein kann.

„Wegen einer die nationale Sicherheit betreffenden Angelegenheit. Mehr darf ich Ihnen nicht sagen.“

Der Ukrainer lächelt mich entwaffnend an. Die Haare sind anders und seine Nase sieht aus, als hätte er sie operieren lassen, aber er kommt mir bekannt vor, so als wär ich ihm schon mal begegnet.

„Bin ich verhaftet?“ Sein Englisch ist gut, mit der typischen slawischen Färbung.

„Sir, ich bitte Sie nur, mir einige Fragen zu beantworten, wenn Sie also bitte mitkommen würden …“ Ich halte es gern sachlich, ohne mich in Einzelheiten zu verlieren.

„Wollen Sie mich verhaften?“, wiederholt er, als spräche er zu einem Kind.

Die Frage ist nicht ganz unberechtigt und ich erwidere: „Nein, aber das ließe sich sicherlich arrangieren, wenn Ihnen das lieber ist.“

Er klimpert mit seinen Schlüsseln. „Ist es. Ohne Haftbefehl begleite ich Sie nirgendwo hin.“ Beinahe entschuldigend.

Sein Kumpel bewegt sich auf mich zu. Ein paar andere Männer sind aus dem Haus getreten und beobachten unsere kleine Unterhaltung.

Das wird nichts mehr. Ich hab’s vergeigt. Ist einfach nicht meins, diese direkte Herangehensweise.

„Sir, Ihnen ist doch klar, dass ich Ihr Verhalten als nicht kooperativ verstehen muss …“

Aber er ist schon im Auto und steckt den Schlüssel ins Zündschloss, und sein Freund macht sich davon. Yakiv wirft mir einen Blick zu, zuckt die Achseln. Der Toyota fährt los und ist die Straße hinunter, bevor ich meine Gedanken sortiert hab.

Ich reinige meine Hände. Scheiße. Jetzt weiß er, dass ich hinter ihm her bin. Hätte es auf die gute alte NYPD-Art machen sollen, ihn stellen und zuschlagen. Oder ihm vom Rücksitz seines Autos aus auflauern. Wenn es kein Prius gewesen wäre, natürlich.

So richtig geschickt bin ich nun mal nicht. Aus reiner Gewohnheit taste ich nach dem Schlüssel in meiner Hosentasche.

Na schön. Dann eben auf die einfache Art.

Ich lass den Nissan gleich hier in der Second Avenue stehen.

Dann ganz nach dem System in die 6er uptown zur R an der 51st Street. Glücklicherweise kann ich wegen der Schließung der Stationen an der 23rd, 28th und 33rd Straße meinem System treu bleiben.

Das muss ich erklären. Spätnachmittags ändern sich die Regeln: Dann muss man mit den Ziffern-Linien anfangen und, wenn nötig, zu den mit Buchstaben wechseln. Wenn man die Wahl zwischen Bahn und Auto hat, sollte man immer die Bahn nehmen. Das hat ökologische Gründe, ein übriggebliebener Grundsatz aus der Zeit, als es noch fossile Energie gab.

Die R fährt nur bis Forest Hills, also werd ich wohl bis Kew Gardens latschen müssen. Ich kenne diesen Teil von Queens zwar nicht besonders gut, aber soviel ich weiß, ist es ziemlich schön dort. Oder war es.

Riesige Wohnblocks, ein einzelnes beleuchtetes Fenster im sechsten Stock eines Gebäudes, Totenstille.

Ghost Town.

Ich schlucke eine Pille. Kopfweh kündigt sich an … dazu bin ich halb verhungert. Ich taste, ob der Schlüssel aus der Tasche gerutscht ist … nein, er ist noch da.

Selbst zu besseren Zeiten hätte man hier wohl Probleme gehabt, ein offenes Geschäft zu finden, aber ich hab Glück und komm an einer BP-Tankstelle vorbei, die trotz des „KEIN BENZIN, WIR SIND BEWAFFNET“-Schildes halbwegs einladend aussieht.

Ich tausche mit dem verängstigten Pakistani/Inder/Subkontinent-Asiaten eine ungeöffnete Packung Lucky Strikes gegen eine Tüte Beef-and-Cheese-Jerky, das einzig Essbare, was er hat. Von dem Jerky hat er mindestens fünfzehn große Schachteln. Was will der Mensch mehr.

Wieder unterwegs frage ich mich, wer überhaupt noch etwas kauft.

Ich hab mir Shapskos Adresse notiert, Mowbray Drive Nr. 12, ein hübsches 50er-Jahre-Haus, ein richtiges Haus mit allem Drum und Dran und das in New York City, unglaublich … Es ist nicht groß, Rasen und Büsche sind länger nicht geschnitten worden, aber es steht ihnen. Im Garten ein lärmender Generator, ein Mountainbike und ein Dreirad.

Die Lage des Hauses macht eine Überwachung nicht ganz einfach. Ich muss vor einem Apartmenthaus auf der anderen Straßenseite Posten beziehen, wo ich wie auf dem Präsentierteller stehe. Von dem Prius ist nichts zu sehen, aber im oberen Stockwerk brennt Licht.

Ehe ich mir einen besseren Beobachtungsposten suchen kann, springt die Verandabeleuchtung an. Schnell ziehe ich mich in den Eingang des Apartmenthauses zurück, stolpere dabei über eine lose Bodenfliese. Der Eingang ist, Allah sei Dank, nicht beleuchtet.

Iveta Shapsko (geborene Balodis), Alter neununddreißig, lettischer Nationalität, 1,68 m groß, 57 kg schwer, braune Haare, grüne Augen. Ich kann sie ohne weiteres von der gegenüberliegenden Straßenseite aus erkennen, wie sie mit zurückgebundenen Haaren, eine einzelne Strähne im Gesicht, die Post aus dem Briefkasten neben dem Eingang holt. In der Tür erscheint ein kleiner, dunkelhaariger Junge, wahrscheinlich Dmitri, der Fünfjährige. Iveta sagt etwas, drängt ihn zurück, dreht sich um und wirft die Tür hinter sich zu. Der Messingklopfer kracht zwei Mal dagegen und die 2 der 12 wackelt.

Und die Schockwellen von der anderen Straßenseite treffen mich mitten in die Brust – ungebremst dringen Iveta Shapskos uralte Wut und Verzweiflung auf mich ein.

Keine Ahnung, woher ich das weiß oder woher diese Gefühle kommen, aber sie berühren mich, es läuft wie auf einer Bühne ab, eine Szene, die ich schon gesehen habe, eine ohne Happy End … Meine Gegenwart hier verheißt nichts Gutes, meine Absichten sind finster und die Angst vor dem gähnenden Abgrund, aus dem ich mein Wissen habe, treibt mich aus dem Eingang, und ich gehe rasch an den Bäumen der Straße in Queens entlang, renne mit zugeschnürter Kehle hinaus in den warmen Regen, aber als ich mir mit dem Handrücken über die Wange streiche, denke ich, nein, nicht der Regen, es ist nicht der Regen.

Denn in den Frontallappen meines Hirns ist etwas Dunkles implantiert, eine Folge grausamer Bilder, immer da, durch und durch monströs. So sieht sie aus: Auf dem betonierten Spielplatz neben einem ärmlichen Sozialwohnungsbau taucht aus einem schwarzen Hintergrund eine Gestalt auf, tritt in einen stählernen Aufzug, geht einen Flur entlang, geht durch eine Tür in eine totenstille Wohnung, in ein Schlafzimmer, der Umriss einer Figur unter einem zerschlissenen Laken. Und dann die Schüsse, zwei, unfassbar laut, und ich wache auf, der Widerhall der Schüsse und der Sprung nach den sich zurückziehenden Umrissen. Und Schnitt.

Immer derselbe Traum.

Iveta ruft etwas wach, das tief in mir schlummert. Kenne ich sie? Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht steht sie ja für jemanden oder etwas.

Ich bin nämlich überzeugt, dass Teile meiner Erinnerung gelöscht wurden, als ich in D.C. verwahrt wurde. Ich bin sogar überzeugt, dass man mir falsche Erinnerungen implantiert hat. Ich kann das nicht beweisen, es kommt mir nur so vor. Bauchgefühl. Deswegen weiß ich nicht genau, was ich von meinen Erinnerungen und Träumen halten soll.

Nun zu diesem Traum. Meine Therapeutin im Walter Reed, Dr. ­Rosita Lopez, hat es so formuliert: Weil ich den Tod meiner Frau und meiner Tochter in der Zeit meines Einsatzes nicht akzeptieren kann und ich eine der posttraumatischen Störungen davongetragen habe – die damals übrigens ziemlich im Schwange waren –, lasse ich dieses Verbrechen an meiner Familie in einer fantasierten Form vor meinem geistigen Auge ablaufen.

Laut Dr. Lopez mit ihrer altmodischen Nylonstrumpfhose, ihrem Klemmbrett und den verstohlenen Blicken auf die Armbanduhr hören diese Visionen auf, sobald ich mich mit der Realität abfinde, und dann wird der von mir fantasierte Mörder für immer aus meinem Kopf vertrieben sein.

Nicht erzählt habe ich Dr. Lopez allerdings, dass der fantasierte Mörder, wenn ich mich während dieses allnächtlichen Kopfkinos zu einem Blick nach unten zwinge, meine Hände hat. Und meine Schuhe.

In Folge der 2/14-Begebenheit(en) brachen sämtliche schriftlichen Aufzeichnungen schlagartig ab. Sie sind ein Portal in die Epoche, die man schlicht „Vorher“ nennt.

Tatsächlich sind darin schon alle Zeichen des Kommenden bis ins kleinste Detail zu sehen, sie liegen offen da, auch wenn man die Geschichte durch das Prisma des heute Bekannten am liebsten neu schreiben würde.

Man sehe sich zum Beispiel diesen Schnipsel aus dem CIA World Factbook von 2011 an:

Das BIP Lettlands wuchs in den Jahren 2006 und 2007 jeweils um mehr als 10 Prozent, aber in der nachlassenden Weltwirtschaft 2008 in Folge eines nicht mehr vertretbaren Leistungsbilanzdefizits und der hohen Schuldenbelastung rutschte das Land in eine schwere Rezession.

Nicht mehr vertretbar. Nachlassend. Schwammiges Bürokrateneinerlei. Wörter, die der Bürger kopfschüttelnd zur Kenntnis nimmt, schlecht gelaufen, tragisch; und dann macht er weiter wie gehabt, kauft ein, arbeitet, joggt, frisst, schmeißt weg, verbraucht, verpestet.

Ich klapp den Band zu, leg ihn sorgsam auf meinen „Aktuell“-­Stapel und vergess auch mein Purell® nicht.

Der Stapel? Material, das ich griffbereit halte, das gerade wichtig ist. Er ist informativ, tröstlich und betrifft mein Großprojekt: den Bibliotheksbestand nach dem antiquierten, aber zutiefst logischen Decimal-System neu zu ordnen.

Irgendwer muss es schließlich machen, oder? Das interne Rechnernetz hat sich verabschiedet, so dass es praktisch unmöglich ist, etwas zu finden.

Aber ich sag’s gern noch mal: Ich hab mein eigenes übergreifendes System, von dem das Decimal-System nur ein Baustein ist; und deshalb hab ich Struktur. Sonst: Chaos.

Weil ich das allein mache, komm ich nur langsam voran. Eine elende Plackerei. Nach vier Monaten hab ich die Hälfte von 000 geschafft, nämlich „Informatik, Informationswissenschaft, Allgemeine Werke“.

Die Erfinder des Decimal-Systems konnten nicht wissen, welche gigantischen Mengen an Material einmal unter diese Kategorie fallen würden. Insbesondere die Unterkategorie „Informatik“. Himmel. Und „Allgemeine Werke“? Hör mir auf.

Zu Tausenden sind die Bücher entlang der ganzen linken Wand des Lesesaals übereinandergestapelt. Das habe ich bisher geschafft. Für 000 brauche ich schätzungsweise noch ein Jahr, vielleicht auch zwei.

Wetten, dass die Bibliotheksgründer der Schlag treffen würde, wenn sie wüssten, dass der einzige Wärter ein Farbiger ist.

Dieses Hobby, wenn man es so nennen kann, hat mir auch eine Identität verschafft.

DA Rosenblatt hat meine Wenigkeit deswegen „Dewey Decimal“ genannt. Und weil ich mich nicht an meinen Taufnamen erinnere.

Der DA sagt, er habe meine Geburtsurkunde, meinen Sozialversicherungsausweis etc. als Datei vorliegen, aber ich will diese Dokumente nicht sehen, weil ich nicht glaube, dass ich die Person darin wiedererkenne.

Bevor ich zu DD wurde, hieß ich schlicht der „Bibliothekar“ und frühere Bekannte nennen mich noch immer so. Mir ist das egal; ich höre auf alles. Aber Dewey Decimal bürgert sich immer mehr ein.

Heute Abend ist nichts los in der Bibliothek, sehr angenehm.

Ich knacke eine Pistazie, schau, ob sie in Ordnung ist, werfe sie mir in den Mund. Die Schale kommt in die bereitstehende Schüssel. Jeden zweiten Tag desinfiziere ich sie und schütte die Schalen in einen Ziplock-Beutel für den späteren Gebrauch. Das Streuen der Schalen. Ich hab meine Rituale, meine Gewohnheiten.

Seit die Parkverwaltung mit dem Schutz dieser bedeutenden Bauten betraut wurde, habe ich, glaube ich, nicht einen Ranger gesehen oder wie die dort ihre Leute nennen. Nicht dass es darauf ankäme, aber ich bin mir nicht mal sicher, ob die Behörde überhaupt noch existiert.

Vermutlich ist die Hauptverwaltung im Park, aber man trifft dort nie jemanden an. Ich frage mich, wie es im Central Park Zoo aussieht, die Uhr mit den Tieren darauf. Beiläufig berühre ich meinen Schlüssel.

Offensichtlich hab ich die ehrenvolle Aufgabe, diese heiligen Hallen zu beleben. Klar, es gibt in den Schluchten der Fifth Avenue, der Madison, des Broadway unzählige leerstehende, ungenutzte Apartments und Lofts. Genauso wie unten in Tribeca, nordwestlich des Meatpacking District, oben am Central Park West, unbeaufsichtigte und verlassene Gebäude.

Manche davon sind ziemlich nobel und haben früher mal die Superreichen beherbergt. Ich war schon mal da. Man muss nicht mal besonders ehrgeizig sein, wenn man dort seine Zelte aufschlagen will, wie es viele getan haben, aber ich habe hier meine Verpflichtung.

Als ich nach meiner (wohlgemerkt widerrechtlichen) Unterbringung im Walter Reed Medical Center, den damaligen National ­Institutes of Health bei Washington, D.C., nach New York zurückkam, ging ich hierher, um mich neu zu sortieren, wie so viele vor mir, und ich wurde bereitwillig aufgenommen.

Nicht von den Mitarbeitern, die meine ich nicht. Vielmehr hießen mich die Treppen, die Wände, der Bücherdschungel willkommen. Gut, dass du zurück bist, Soldat, sagten sie, hier findest du Ruhe und Poesie.

Im Schoß des Lesesaals zieh ich meine Sachen hervor, rolle mein Bettzeug aus. Frage mich, wohin die Mutter mit dem Kind verschwunden ist, die mit der Kochplatte. Frage mich, ob ich sie mir nur eingebildet hatte. Projizierte Hologramme.

Stecke meinen Rasierapparat in die zuvor entdeckte Steckdose und grinse, als das Licht gelb zu blinken beginnt. Ausgezeichnet.

Vor dem Schlafen nehme ich eine Pille und wickle meine Beretta M9 aus, reinige sie, lade sie etc. Die Pistole schmiegt sich an mich wie eine alte eingetragene Jeans. Genau angepasst an meine Hände, die ich jetzt auch reinige.

Irgendwie hab ich das Gefühl, ich sollte die Waffe tragen. Besser, sie bei mir zu haben und sie dann nicht zu brauchen, als ohne sie erwischt zu werden.

Immer derselbe Traum.

Auf ein Neues. Frisch rasiert und wieder bei Kräften, eine OP-Maske vorm Gesicht, gehe ich Richtung Westen zur Linie C. Steige an der 23rd Street aus. Die Pistole ist dabei, in der Hosentasche stecken das Purell®, die Pillen und natürlich der Schlüssel.

Durch stinkende Schwaden laufe ich ein paar Blocks nach Nordwesten zu Odessa Expedited, Inc., versichere mich, dass sich Shapsko tatsächlich dort aufhält.

Suche seinen Prius, kralle ihn mir.

Fahre raus zu Kew Gardens.

Das Ganze dauert nicht mal bis halb zehn.

Wie unschwer vorzustellen, fühle ich mich ziemlich gut, als ich die Queensboro erreiche, wo ich meine Plastikkarte gegen die Windschutzscheibe halte und von den Army-Pionieren durchgewunken werde. Ich kann das Glas in dieser Dreckskarre ohne Probleme anfassen, ich trage OP-Handschuhe.

Die Brücke an der 59th Street war noch mal davongekommen; nur ein kleiner Teil des am Tag der Begebenheit(en) dort angebrachten Sprengstoffs war detoniert, so dass die Brücke praktisch unbeschädigt ist.

Die Straßenbahn darauf hatte weniger Glück. Ein einzelner Waggon baumelt wie ein vergessenes Spielzeug etwa 80 Meter über dem East River. Angeblich haben sie drei Wochen gebraucht, die Leichen zu bergen. Vielleicht bilde ich mir dieses winzig kleine Detail aber nur ein. Schwer zu sagen.

Ich fahre dem System entsprechend abwechselnd Straßen mit ungeraden und geraden Ziffern, also zuerst auf die 495, dann auf die 678 und dann auf die 13 SW. Systemgemäß biege ich dabei nur nach links ab (zugegeben, das zwingt mich zu einigen Umwegen), bis ich den Mowbray Drive erreiche.

Damit ich wieder links fahren kann, kreuze ich den Mowbray Drive, mache einen U-Turn und fahre zurück … bis ich vor der Nr. 8 lande, zwei Häuser vor dem der Shapskos.

Es ist 5 vor 10.

Am liebsten würde ich sitzen bleiben und es mir bis nach 11 bequem machen, damit ich nicht zum unvorhergesehenen Rechtsabbiegen gezwungen sein werde, aber ich habe Angst, dass die Frau das Auto entdeckt und denkt, ihr Mann sei nach Hause gekommen.

Ich zieh die OP-Handschuhe aus und werf sie auf den Boden. Nehm die Maske ab. Reinige die Hände mit Purell®, sicherheitshalber die doppelte Menge. Schluck die zweite Morgenpille und bin bereit.

Heute habe ich einen durch und durch systemgerechten Plan, brutal einfach.

Ich steige aus (links), stelle fest, dass es ein mörderisch heißer Tag wird, wieder der beschissene Gestank, kein Mensch auf der Straße, gehe auf dem Bürgersteig am Haus der Shapskos vorbei und mach auf dem Absatz kehrt (links), zurück auf dem Weg zur Nr. 12 (links), von dort auf die niedrige Veranda, betätige zweimal den Türklopfer, bemerke die fehlende Schraube, weswegen die 2 der 12 schief hängt.

Ich warte. Ich höre, wie sich im Haus etwas bewegt. Ich halte meine Beretta gegen die linke Arschbacke gepresst. Meine Rechte ist frei.

Der Vorhang an dem Fenster links bewegt sich. Ich halte den Kopf gesenkt, den Hut in die Stirn gedrückt. Ich höre jemanden auf der anderen Seite atmen. Dann: „Was wollen Sie?“ Eine Frauenstimme, wahrscheinlich Iveta. Der Akzent.

Im Tonfall eines besorgten Weißen sage ich auf Ukrainisch: „Mrs. Shapsko, es tut mir sehr leid, aber Ihr Mann hatte einen Arbeitsunfall. Sie haben ihn ins Armory gebracht, er hat mich gebeten, Sie zu holen.“

Schweigen hinter der Tür.

„Es tut mir wirklich leid, aber wir müssen uns beeilen. Ihr Mann ist verletzt.“

Ist mein Ukrainisch so schlecht? Man hat mir gesagt, dass ich wie ein Muttersprachler klinge. Sogar wie ein Muttersprachler aus der Kiewer Gegend und nicht aus dem Süden.

Nutten sagen einem allerdings alles, was man hören will.

„Von wo kennen Sie meinen Mann?“