Boogie Man - Nathan Larson - E-Book

Boogie Man E-Book

Nathan Larson

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Beschreibung

Dewey Decimal, über den weder wir noch er selbst allzu viel wissen, schießt sich im zweiten Band der Trilogie weiter durch ein verwüstetes und karg bevölkertes Manhattan. Dabei will er eigentlich nur eines: sein Leben (und die New York Public Library) nach seinem ganz persönlichen System ordnen. Aber er gerät zwischen alle Fronten, als er auf Material stößt, das einen mächtigen US-Senator mit dem Mord an einer koreanischen Prostituierten in Verbindung bringt. Eine dubiose Privat-Armee ist hinter ihm her, während in Korea-Town Yakuza und koreanische Gangs um die Vorherrschaft kämpfen und New York City einer No-Go-Area gleicht.

Immer näher kommt Dewey Decimal an die großen Rätsel heran – was ist geschehen, das alle politischen, sozialen und moralischen Koordinatensysteme zum Kollabieren gebracht hat? Ist der Boogie Man aus seiner Vergangenheit das Verbindungsglied zu seinem größten Gegenspieler? Und wer ist Dewey Decimal?

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Seitenzahl: 349

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NATHAN LARSON

BOOGIE MAN

DER ZWEITE DEWEY-DECIMAL-ROMAN

INHALT

Ich durchtrenne die Nylonschnur und renne los, schau nicht zurück, bloß nicht, stürze durch die Tür ins Treppenhaus, die Fahrradkette noch ums Handgelenk, lauf schneller und schneller, aber ich werd’s nicht schaffen, der Boogie Oogie Man wird mich erwischen, er wird mich verbrennen, alle machen und abfackeln wie die anderen, mir fällt nichts ein, warum er’s nicht tun sollte, ich pinkel in meine Jordaches, schäm mich nicht mal vor Angst, stolpere die glitschigen Stufen runter, flieg in den schmutzigweißen Keds fast hin, und ich höre den Mann zwei Stockwerke über mir aus seinem „Atelier“ stürmen und kreischen, denke an die Young-Skulls-Abzeichen, die ich zurücklasse, dass mich meine Brüder dafür gern verprügeln dürfen, wenn ich das hier überlebe, hier im dritten Stock, im Halbdunkeln auf dem Weg nach unten, ich hör den Bass durch die Treppenhauswände, den Bass aus einem fetten Sound System, ich kann Zulu Nation ausmachen, Black-Spades-Tags, Glory-Stomper-Tags, Hunde- und Menschenscheiße, Ratten aller Gewichtsklassen huschen davon, als ich die Stufen runterpresche und mir das Echo von schweren Schritten und keuchendem Atem nachjagt, Flüche in einer Sprache, die ich nicht verstehe, ich bin fast unten, Wahnsinn, und mach einen Satz die letzten Stufen hinunter, beinahe schmeißt’s mich, es riecht nach Benzin und Farbe, dann presch ich durch die Stahltür in die heiße, lärmende Nacht, eine Block-Party in der Crotona Avenue, der Teufel ist los, es ist Memorial Day oder Veteran’s Day, Massen von Leuten, die lachen und streiten und tanzen mit Schnapsflaschen und rot-blauen Plastikbechern, der Bassübertönt alles, es sind die Commodores oder so ein Scheiß, ich dräng mich durch den Wall aus Haut und Schweiß, riech Käse und Mais und verbranntes Schweinefett, die Leute rempeln mich an, und ich stolpere über einen selbstgebastelten Grill, rohe Burger landen in weißglühender Kohle, bahne mir den Weg zur East Tremont, sehe die Barrikade und die Streifenwagen und die Cops vom 41st Precinct, die mich vielleicht erkennen, aber scheiß drauf, ich muss zu ihnen, ich hab Angst, Angst, Angst, muss ihnen sagen, dass der Boogie Oogie Man keine Erfindung ist, bei einem Blick zurück seh ich eine riesige Gestalt durch die Stahltür kommen, ich duck mich und, oh Scheiße, werde von zwei Seiten gepackt, Arme festgezurrt von zwei grinsenden Typen, mit denen ich in der Schule war, zwei Junior Reapers,und ich schreie: „Boogie Man!“, aber der Bass ist zu laut und mich erwischt eine Faust mit einer Quarter-Rolle drin am Kinn, und noch mal und noch mal, und meine Beine geben nach und ich sink auf den Beton, und zwei Dinge weiß ich jetzt: die Monster sind real und niemand, niemand kann einen vor ihnen retten. Nicht die Cops. Nicht deine Freunde. Nicht deine Mom. Und erst recht nicht dein versoffener Dad, der inzwischen sogar zu fertig ist, um deine Mom zusammenzuschlagen, wie er’s früher immer gemacht hat.

Statt also weiter vor den Monstern davonzulaufen, wurde ich selbst eins. Ich hab den Spieß umgedreht und bin zum Angriff übergegangen. Bin vom Gejagten zum Jäger geworden. Machte mich mit den Werkzeugen vertraut: Fäuste, Zähne, Messer, später Schusswaffen, und ich wurde immer besser dabei. Das konnte ich bei den Marines gut brauchen, danach an Schauplätzen auf der ganzen Welt, bewohnten und nichtbewohnten, und noch später in meinem Dienst für eine namenlose Abteilung des US-Militärs, wo ich den Black Ops auch ein solches Gesicht gab.

Und schließlich als Patient in Krankenhäusern und anderen Einrichtungen des Militärs in Washington, D.C., wo ich erst lernte, was Angst und Überleben wirklich bedeuten. Dort wurde mir meine Identität genommen. Ich wurde in Einzelteile zerlegt. Und dann haben sie meinen Körper und meinen Geist neu zusammengesetzt, damit sie noch finstereren Absichten dienen.

Durch den Zusammenbruch des Imperiums, dem ich einmal gedient hatte, wurden Kampfmaschinen wie ich überflüssig.

Sonntag

Hundertfünfzig Meter über der Giftbrühe des East River entdecke ich eine Gestalt, die sich an einem der drei übriggebliebenen Tragseile der gesprengten Brooklyn Bridge entlanghangelt.

Bewegt sich ein Stück, verharrt. Vielleicht sechs Meter vom höchsten Punkt entfernt.

Mit diesen Vintage-Ferngläsern von Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ist nicht festzustellen, ob die Gestalt irgendwie gesichert ist. Mehr als ein oranger Overall und der bloße Kopf sind nicht zu erkennen.

Kein Bautrupp in Sicht, es ist ein Soloauftritt. Die Gestalt hängt mit Schenkeln und Ellbogen an dem dicken Drahtseil, von der Haut kann nicht mehr viel übrig sein.

Außerdem ist es windig. Die Fenster in dem Büro auf dem achtzehnten Stock in der Centre Street Nr. 100 klirren und knarzen.

Ich denk mir, okay, wieder einer, der’s nicht mehr aushält. Brückensegler. Wasserleichen-Aspirant.

Und die dunkle, dominante Seite in meinem Hirn vermeldet: Wieder mal einer, der’s aufgibt, ein Schwächling, der den bequemen Ausgang wählt. Auch ’ne Art natürliche Auslese.

Einer weniger, mit dem man sich um den Scheißfraß balgen muss. Eine Lunge weniger, die einem die wenigen Sauerstoffreste in der lila Pestwolke über Manhattan und den armseligen Stadtteilen drumherum wegatmen will.

Nicht gerade der menschenfreundlichste Standpunkt, aber hier geht’s ums Überleben. Entweder schafft man’s allein oder man macht die Grätsche.

Aber egal. Ich vertrödel nur Zeit.

Wen interessiert schon, wie es mit dem Seiltänzer weitergeht. Ich hab gesehen, wie Leute von großen Höhen gestoßen wurden, gesprungen und gefallen sind. Ist nie so interessant, wie man denkt.

Ich lass das Fernglas auf den versifften Teppichboden fallen.

Zur Sache. Ich bin ins Eckbüro des ehemaligen District Attorney gekommen, um sicherzugehen, dass meine Spuren verwischt sind. Nicht, um den Nachbarn beim Selbstmord zuzuschauen.

Ich zieh die OP-Handschuhe aus, schmeiß sie auf den überquellenden Abfalleimer. Drecksladen.

Hol eine Flasche Purell® raus, spritz was in meine linke Hand und verreibe es kräftig, seh mich um. Das Büro hat sich seit meinem letzten Besuch nicht verändert.

Und mein Ex-Boss, DA Daniel Rosenblatt, ist jetzt schon wie lange tot? Sechs Wochen?

Ich sollte es eigentlich wissen. Ich hab ihn schließlich erschossen.

Massenhaft Sporen, Keime, Bakterien. Zum Beispiel da drüben, auf dem Schreibtisch. Ein halbes schimmelfleckiges Sandwich, eine schlappe Gurkenscheibe. Zusammengeknüllte Servietten, Wachspapier mit dem Subway-Schriftzug.

Es läuft mir kalt den Rücken runter. Denke, Scheiße: null Luftzirkulation, herumwandernde Sporenkolonien. Rück die OP-Maske über Nase und Mund zurecht.

Aber der Dreck macht mir nicht die größten Sorgen, gegen den bin ich halbwegs gerüstet. Es ist das Durcheinander, das Chaos. Das Fehlen von Ordnung. Mein System hasst Unordnung.

Und das macht meine Arbeit hier natürlich nicht grade leichter. Es ist nämlich so: Ich bin hergekommen, um mich aus den amtlichen Registern zu tilgen. Wenn es so was überhaupt noch gibt.

Ich hab ein halbes Jahr für den toten DA gearbeitet. Hab Aufträge übernommen, über die ich nicht sprechen will. Egal mit wem, auch nicht dem möglichen Nachfolger. Wenn er oder sie zu den Aufrechten gehört, dann werden sie den Ruf des guten Rosenblatt posthum schädigen wollen. Und damit auch meinen. Sollte mein Name in diesem Raum irgendwo auftauchen.

Bitte keine Urteile. Mit dem Zeug hier hab ich meinen Lebensunterhalt verdient. Und es hat mich mit Pillen, Pistazien und Purell® versorgt. Die für mein Wohlergehen unabdingbaren drei Ps.

Ich zieh ein frisches Paar Handschuhe an, atme tief aus.

Fang mit dem Aktenschrank neben mir an, von dem aus ich mich im Uhrzeigersinn vorarbeiten werde, und dann werd ich mich über die Stapel mit losen Blättern und Aktenmappen hermachen.

Verdammt mühsam das alles.

DA Rosenblatt hat nämlich begeistert im Dreck anderer Leute rumgewühlt. Wahrscheinlich hat er sich so im Amt gehalten. Genau besehen hat ihn das allerdings auch den Kopf gekostet. Hätte er seinen Riesenzinken nicht in jeden Scheißhaufen gesteckt, dann …

Nach ungefähr fünfundvierzig Minuten Herumgekrame habe ich Folgendes erfahren:

– der ehemalige NYC-Rechnungsprüfer stand auf Transen. Wie viele, wie immer. Versteh nicht, wo das Problem liegt. Seine Sache.

– der ehemalige Rechnungsprüfer Ray Stevens hat/hatte einen ständigen Vorrat an sechs- bis zehnjährigen süd-/mittelamerikanischen Mädchen im Keller seiner Absteige in den Hamptons gebunkert, die an Metallringen am Boden festgekettet waren, wenn ich die Fotos richtig interpretiere. Das Problem hier ist klar.

– der ehemalige Bürgermeister macht mit russischen/chinesischen/ukrainischen Banden Geschäfte und lässt sich von jeder einzelnen Baufirma in der Stadt den Arsch versilbern. Shock-ing! Ein paar Namen kommen mir bekannt vor, vor allem die ukrainischen.

– der gegenwärtige Senator (der den 15. Congressional District vertritt, in Spuckweite von der Gegend, in der ich aufgewachsen bin) hat einer koreanischen Nutte ein Kind gemacht, die dann praktischerweise zerstückelt in einem Fass Kimchi gefunden wurde (zusammen mit dem Kind). Das führte zu dem Gänsefüßchen unten 32nd Street Massacre Gänsefüßchen oben, von dem das NYPD immer behauptet hat, es sei ausgelöst worden durch ihren gut gemeinten, aber ungeschickt ausgeführten Versuch, einen koreanischen Bandenkrieg zu verhindern.

Und in dem Stil geht es weiter.

Lauter Aufreger, die weder wahnsinnig neu noch nützlich sind, solang ich nicht unter die Erpresser gehen will.

Haha. Erpressung ist ungefähr so vielversprechend wie das Wetter von Morgen. Wer gibt denn heute noch was auf seinen guten Ruf?

Nachdem New York City letzten Februar im großen Stil platt gemacht wurde (die sogenannte „Valentinstag-Begebenheit“), hat die Stadt neun Zehntel weniger Einwohner. Und da sämtliche Wahlen ausgesetzt sind, können diejenigen, die an der Macht sind, ganz entspannt weitermachen. Gibt ja niemanden, der was dagegen unternimmt.

Nein, Erpressung ist nicht mein Stil. Außerdem mag ich das Leben, selbst meins.

Ich gähne, strecke mich.

Haufenweise Dokumente, aber was meine Wenigkeit angeht, bin ich keinen Schritt weiter, Zeit für eine Pinkelpause. Praktisch, dass das Büro ein eigenes Klo hat.

Spieglein, Spieglein. Während ich meine Hände über dem Waschbecken mit Alkohol einreibe, mustere ich den dünnen, dunkelhäutigen Mann gemischter Abstammung mit Hut, geschmackvollem dunkelbraunen Anzug und kohlschwarzer Strickkrawatte. Mitte vierzig etwa, wobei das schwer zu sagen ist, nachdem alle, die bis jetzt überlebt haben, so ausgedörrt aussehen wie unterernährte Yoga-Jünger. Oder HIV-Kranke im Endstadium. Die blaue OP-Maske passt farblich nicht ganz, aber sie ist ja auch kein Accessoire, ich brauch sie zu meinem Schutz.

Beuge mich vor, um meine Visage eingehender zu mustern. Meine Nase wird nie wieder die alte sein und die Hobby-Näharbeit an meiner Wange hat einen blassen Nike-Swoosh hinterlassen. Ich zieh die Maske runter. Der verkrustete Riss in meiner Lippe platzt permanent auf, selbst jetzt, eine ständig offene Wunde.

Wenn man mich gehen sieht, stellt man fest, dass ich ziemlich stark hinke und mein Gewicht aufs linke Bein verlagere. Aber das würde jeder machen, wenn man ihm seine Kniescheibe weggepustet hätte.

Ansonsten, denk ich, geb ich eine ziemlich gute Figur ab. Selbst das Hinken verleiht mir eine gewisse lässige Eleganz. Wer ein bisschen Feinstaub schnappen geht und mich auf der Straße sieht, erkennt, dass ich einen ganz eigenen Stil hab und nur in in den schicksten Läden shoppe. Wo die meisten keinen Zutritt bekämen.

Die Gummihandschuhe und die Gesichtsmaske verleihen mir was Mysteriöses, find ich. Also, hoff ich.

Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet bin ich nur ein schwarzer Penner, den ein paar Zentimeter von seinem Grab trennen und der komplett overdressed ist. Ein Irrer in SARS-Schutzausrüstung.

Alles in allem muss man aber sagen, dass ich es für ein lesewütiges (wenn auch umgebungsbedingt gewalttätiges) Ghetto-Kid aus der South Bronx ganz gut hingekriegt hab. Überlebender von Kriegen im In- und Ausland.

Ich werf einen prüfenden Blick auf meine linke Brustseite: Die Beretta unter dem Jackett füllt die eingesunkene Stelle aus, wo mal mein Herz war. Auf der rechten Seite erledigt das die Sig Sauer.

Symmetrie. Und schon freut sich mein System, Leute. Eigentlich ganz einfach.

Ich werf eine Pille ein, mir wird ein bisschen schwummrig. Erinnert mich daran: Rosenblatt, der alte Jude, hatte dafür gesorgt, dass mein Pillenvorrat nie ausging, was zu unserem Deal gehörte. Jetzt krieg ich das Zeug von einem Militärarzt im Tausch gegen „Schutz“, der ziemlich unklar definiert ist. Ich glaube, der Typ denkt, dass ich von der CIA bin oder zur Mafia gehöre oder beides. Gibt’s da überhaupt noch einen Unterschied? Und wer will behaupten, dass er falsch liegt?

Betrachte den Papierwust des verblichenen DA und mach mich wieder an die Arbeit. Das dritte Paar Handschuhe. Ich komm zu den Stapeln.

Das Fehlen jeglicher Ordnung oder Systematik macht mich fertig. Ich liebe Logik. Ich lebe Logik.

Mein Zweitname ist nicht von ungefähr Decimal. Dewey Decimal.

So hat mich der DA genannt. Kommt von meiner Lebensaufgabe: der Ordnung der gigantischen Büchersammlung in meinem Zuhause, dem Hauptgebäude der New York Public Library.

Das ist nicht mein richtiger Name, wie man sich denken kann. Mein Taufname und ein großer Teil meiner Vergangenheit gehört zu den vielen Dingen, auf die ich keinen Zugriff habe. Ich kann mich nicht erinnern. Nicht, dass ich mich wirklich drum bemühen würde. Ich hab kein Problem, es zuzugeben: Das bisschen, was ich weiß, macht mir Angst vor dem Rest, und ich seh auch keinen Grund, an irgendwas krampfhaft festzuhalten. Vorbei ist vorbei.

Und doch steh ich jetzt hier und wühl in der Vergangenheit.

Rosenblatt wusste ziemlich gut, wie ich ticke. Das muss ich ihm lassen. So sehr er mich für all den Dreck, den ich in seinem Namen machte, benutzte, verschaffte er mir auch einen Rahmen, eine Verbindung zur Außenwelt. Gut, er war ein Weißer. Ein Jude. Ein schmieriger Ex-Anwalt, der in der Notaufnahme auf potentielle Klienten gelauert hatte, und dann ins Lager schmieriger Politiker gewechselt war.

Eine traurige Seite an mir fand sich in einer traurigen Seite von ihm wieder und umgekehrt. Eine Mischehe, die auf gegenseitiger Abhängigkeit beruhte.

Nach meinem Militärdienst und der Flucht aus den Folterlabors der National Institutes of Health in der Nähe von Washington, D.C., hatte allein Rosenblatt eine Arbeit für mich, bei der ich meine wenig glanzvollen Stärken ausspielen konnte.

Er stellte keine Fragen. Nicht, dass ich Antworten gehabt oder gesucht hätte.

Natürlich war das alles kein Thema, als ich Rosenblatts Leiche über den Rand einer der riesigen brennenden Abfallgruben kippte, die nach der Valentinstag-Begebenheit über die ganze Stadt verstreut entstanden und eigentlich für Industrieabfälle reserviert waren, sich aber auch gut zur Leichenentsorgung eigneten.

Schlussendlich hieß es nämlich er oder ich und zwischen uns eine Frau. Vor diese kleine moralische Rätselfrage gestellt, musste ich nicht besonders lange nachdenken.

Damit man mich nicht für einen hoffnungslosen, unheilbaren Psychopathen hält: Ich hab einen moralischen Code. Was mich von dem Großteil der Barbaren in dieser Stadt und sonst wo unterscheidet.

So, genug der Abschweifungen. Zur Sache. Ich seufze und gehe vor dem Papierberg in die Hocke.

Eine weitere Stunde mit dem Zeug schleicht vorüber. Der stechende Knieschmerz bekommt vom Protest meiner Lendenwirbel Verstärkung, und ich bin mehr oder weniger überzeugt, dass mein Name in diesen Papieren nicht auftaucht.

Was durchaus möglich ist. Rosenblatt hat mir nie Geld gegeben. Oder Quittungen. Er hat anders für mich gesorgt, siehe die Pillen. Eine spezielle Vereinbarung, abgestimmt auf unsere schöne neue Umwelt.

Ich leere die Aktenschränke, kippe den Inhalt zu dem anderen Kram auf dem Boden. Dass nicht doch irgendwo in diesem galaktischen Chaos mein Name auftaucht, kann ich mir nicht sicher sein, und darüber mach ich mir Sorgen.

Deshalb zieh ich eine Flasche Grey-Goose-Wodka aus der unteren linken Schublade des Schreibtischs und ein paar Cohiba Coronas Especiales. Seh mich um, da, da ist der Zigarrenschneider. Mit seinen Initialen. Affe.

Beim Durchsehen hab ich die Papiere oberflächlich geordnet. Ehrlich, ich kann nichts dafür. Macht der Gewohnheit.

In letzter Sekunde überleg ich’s mir noch mal und verfrachte einen Karton mit den genannten Akten, schlagzeilenträchtiger Scheiß über irgendwelche Würdenträger, zur Tür. Schlagzeilen? Zeitungen? Da war doch mal was.

Ja, ich weiß, was ich eben über das Erpressungsgeschäft gesagt habe, dass es nicht mehr das ist, was es mal war. Aber hey: Man weiß nie, ob solches Infomaterial eines Tages nicht doch zu was nutze ist. Eignet sich ausgezeichnet zum Tauschen. Von mir aus würd ich aber nie was damit anfangen, nie.

Ich bring den Karton in den Flur, auf dem an diesem späten Sonntagnachmittag alles friedlich und still ist. Nicht, dass es am Montag so viel anders wäre und es jemand auffallen würde. Kann mir nicht vorstellen, dass überhaupt noch jemand in dem Gebäude arbeitet. Oder irgendwann wieder.

Dann weihe ich das Büro großzügig mit Wodka.

Seh mich ein letztes Mal um. Gönn mir durchs Fenster die Aufsicht auf das Woolworth Building genau im Nordosten, die man (wieder mal) nur so lange haben kann, bis dieser lächerliche Freedom Tower fertiggestellt ist.

Ich klopf meinen Taschen ab, find ein Streichholzbriefchen, lese: Millenium Hotel. Eine Erinnerung zischt mir durch den Kopf. Offenbar hab ich in letzter Zeit nicht viel geraucht.

Draußen im Flur reibe ich mir meine Pfoten gründlich mit Purell® ein und wechsle Maske und Handschuhe.

Zieh mir die Maske runter aufs Kinn, schneide die Spitze der Cohiba ab. Stecke sie mir zwischen die blutigen Lippen und zünde ein Streichholz an. Drehe die Zigarre mit der Flamme davor so lange im Mund, bis sie schön gleichmäßig glüht.

Dann schnipp ich das Streichholz ins Büro, es fällt auf einen Stapel Dokumente, und wusch, Pappe und Papiere lodern blau auf, die Flamme jagt nach rechts, ihrem Schwanz nach.

Das Zimmer erstrahlt.

Ich zieh die Tür zu, klemm mir den Karton unter den Arm und mach mich paffend auf den Weg zu den Aufzügen. Vermeide es, zu inhalieren.

Ich warte auf den Alarm, die Sprinkler, Cops, irgendwas, irgendwen. Aber nichts passiert.

Weil ich Angst davor habe, was ich getan haben könnte.

Die Erinnerung, sagt man so, ist entweder grausam oder schön, je nachdem, mit wem man redet.

Was mich angeht, kann ich nicht sagen, dass sie nicht grausam ist, weil ich nur einen Haufen Bilderschnipsel zu sehen bekomme. Es ist altes Material, das in tödlicher Wiederholung vor meinem inneren Auge abgespielt wird, immer und immer wieder.

Andererseits kann ich auch nicht sagen, dass die Erinnerung nicht schön wäre, denn wenn die gezeigten Bilder das bedeuten, was ich glaube, ist es besser für mich, wenn ich nicht die ganze Geschichte kenne.

Ja, ich habe Angst vor dem, was ich getan haben könnte und was mir angetan worden sein könnte. Und ich stecke für immer in dem Getriebe, das unendlich mahlt. Das sich selbst zermahlt.

Damit ich durch den verdammten Tag komme, so ganz ohne Ziel, habe ich ein System übernommen, nach dem ich handle. In dem chaotischen Labyrinth gibt es sonst nichts, an das ich mich halten könnte.

Ich humple die Marmortreppe zur Bibliothek hoch, nehme den Aktenkarton in einen Arm und tätschle dem südlichen Steinlöwen den Hintern.

Das verlangt das System: einmal Tätscheln auf dem Weg nach draußen, einmal Tätscheln auf dem Weg nach drinnen. Symmetrie eben.

Die beiden Monsterkatzen, die mein Zuhause an der 42nd/Fifth Street bewachen. Auch hier: Symmetrie.

Ich brauch einen Moment zum Eingrooven und verreibe dazu einen Spritzer Purell®. Saubere Hände, klarer Kopf.

Der Spruch ist mir gerade eingefallen. Ich spreche die Worte laut aus, wiederhole sie für mich.

Durch irgendein Wunder ist die Beaux-Art-Fassade der Bibliothek so herrschaftlich wie immer, praktisch wie neu. Wenn es dunkel ist, wie an diesem Sonntagabend Mitte September, beleuchten automatisch anspringende Scheinwerfer das Gebäude. Selbst jetzt noch. Ein, zwei sind durchgebrannt, und ich frage mich, wie lang die anderen durchhalten. Ich werde ihnen nachweinen, ganz sicher.

Ich sehe nach Süden. Man könnte einen Schädel über die Fifth Avenue kegeln. Nullkommanull Verkehr. Totenstill, bis auf ein dumpfes Wummern aus der Ferne, eine Baustelle im Osten, wo die Nachtschicht zugange ist.

Größere Menschenansammlungen machen mich nervös. Dort jagen sich die wahren Gläubigen am liebsten in die Luft.

Deshalb gibt es für Leute wie mich, die prima alleine zurechtkommen, kaum einen besseren Ort als das heutige New York.

Was das angeht, hat sich die Stadt echt verbessert. Ich muss das wissen, ich bin hier geboren.

Die Luft? Die wird immer schlechter, wenn das überhaupt möglich ist. Zumindest ist das mein Eindruck. Der seit 2/14 brutale Gestank ist inzwischen sichtbar: ein gelber Schleier aus verschmortem Plastik, brennendem Öl und schwelendem Müll. Man kommt nicht mal fünf Blocks weit, ohne dass einem die Lunge brennt und man keine Luft mehr kriegt. Er steigt aus dem Wasser auf, aus dem Boden. Fällt als schwefliger Regen vom Himmel. Dringt dir in die Augen und in die Nase, glasige kleine Partikel und dicke Ascheflocken.

Ich kann ihn in dem Scheinwerferlicht sehen, ein wabernder gelber Nebel. Die glimmenden Teilchen darin blitzen mich an.

Man lernt mit allem zu leben. Ist so.

Oben in der Haupthalle, bekannt auch als Lesesaal, schiebe ich den Karton unter die Bank gleich bei der Nische, wo ich meinen Kram aufhebe.

Ich schau mich um, ob wirklich niemand da ist. Komisch. Seit der Geschichte mit den Ukrainern vor fast zwei Monaten, hab ich niemanden mehr hier gesehen. Normalerweise lassen sich wenigstens ein, zwei Gespenster auf der Suche nach einem Schlafplatz in der Bibliothek blicken. Vielleicht liegt es an dem ruhigen Wetter, ein bisschen kühl, aber noch nicht kalt. Vielleicht hat sich rumgesprochen, dass hier Leute gestorben sind. Egal. Ich bin gern mit mir allein.

Ich zieh mich bis auf die Boxer-Shorts aus, streif das verschwitzte Schulterholster ab. Verstau die Waffen. Häng meinen Anzug sorgfältig auf einen Century-21-Bügel.

Beschließe, ein bisschen zu arbeiten.

Mann, immer wenn ich glaube, Land zu sehen, entdecke ich ein neues Verließ in der verwinkelten Untergrundkathedrale, in der sich das Magazin der Bibliothek befindet. Wirft mich regelmäßig um Wochen zurück.

So vernünftig das Decimal-System auch aussieht, so sehr ich seine Logik schätze, es gibt Tage, da fluche ich, ehrlich.

Es sind jetzt sieben Monate, und ich bin bei Klassifikationsnummer 004: „Datenverarbeitung und Informatik“. Das gehört zur Hauptklasse 000, bekannt als „Informatik, Informationswissenschaft, allgemeine Werke“.

Melvil Dewey, der Urheber dieser genialen Methode, und seine Nachfolger konnten einfach nicht wissen, wie viele Bände einmal unter „Informatik“ fallen würden. Es sind endlos viele, wie’s aussieht. Kann gut sein, dass ich den Rest meines Lebens damit verbringe, alles in dieser Klasse zu erfassen.

Zur Erklärung: Ein guter Vergleich ist die amerikanische Verfassung. Durch Zusatzartikel 30 gerade mehr oder weniger ausgesetzt. Das ist der nach dem Grenzschließungs-Zusatzartikel Nummer 29. Durchgedrückt, sollte ich hinzufügen, von dem Senatoren-Ehepaar Clarence Howard und Kathleen Koch.

Zum Beispiel der Zweite Zusatzartikel. All die Irren mit Schaum vor dem Mund, die aufgeputscht von Meth und/oder Religion bis an die Kiemen bewaffnet rumrennen – und zwar schon vor 2/14. Da ist jetzt erst recht alles möglich.

Als Kind in der Bronx hab ich mindestens hundertmal gesehen, wie etwas gehörig in die Hosen ging, nur weil irgendein dummes Arschloch eine Knarre und einen Minderwertigkeitskomplex hatte.

Unsere Sklavenhaltergründerväter konnten einfach nicht vorhersehen, wie unsere Kultur, unsere kranken Städte langsam zerfallen.

Mein Vorschlag? Waffenbesitz sollte ausschließlich Bürgern wie mir genehmigt werden, die nur dann ein Arschloch abknallen, wenn besagtes Arschloch es nicht anders verdient. Dazu braucht es Verstand und Charakter. Das Wissen, wann man seine Waffe stecken lässt.

Aber natürlich gibt’s keine Genehmigungen mehr – egal für was. Dafür gibt es noch genauso viele Waffen, wenn nicht mehr. Und dass ich mich darüber aufrege ist hirnrissig, nachdem wir uns aufs Ende der Geschichte zubewegen. Vorausgesetzt wir sind nicht längst drüber.

Aber konzentrieren wir uns lieber auf das Positive.

Ich reiß die Schrumpffolie auf und streife das brandneue Krankenhaushemd über. Überlege, ob ich mich an die Arbeit machen soll.

Ach nö, doch nicht. War viel los heute. Lieber hau ich mich heute früher hin, damit ich morgen fit bin.

Ich roll mein Bettzeug aus. Dabei fällt mein Blick auf den Karton aus Rosenblatts Büro. Ein paar Fragen nagen an mir.

Erstens: Hab ich was übersehen? Könnte Rosenblatt in seiner Wohnung außer dem Material, das ich vor Wochen zusammen mit dem Mann selbst beseitigt habe, noch etwas aufbewahrt haben? Was könnte ich übersehen haben? Hat der DA irgendwo Kopien gelagert – vielleicht an einem anderen Ort, von dem ich gar nichts weiß?

Zweitens: War es klug, den Karton mit den Akten mitgehen zu lassen? Ich merke, dass es mich nervös macht, den Kram um mich zu haben. Alter Hamsterer. Wahrscheinlich kann ich gut auf die Probleme verzichten, die er mit sich bringen könnte.

Diese Fragen schwirren mir wie schlecht gelaunte Wespen im Kopf rum, und ich hab keine Ahnung, wie ich sie ein für alle Mal loswerde. Ergreife erst mal eine Hilfsmaßnahme.

Ich schwöre mir, das Zeug bei der nächsten Gelegenheit ganz verschwinden zu lassen, und nehme den Karton, trage ihn zum Bücheraufzug, stelle ihn rein und schick ihn runter. Dann drück ich den Knopf, um den Boden des Aufzugs zu öffnen, lass den Karton rausfallen, rufe den Aufzug wieder hoch und blockiere das Teil, indem ich die Blende inklusive Steuerungspanel abnehme. Die verstau ich bei meinem anderen Zeug. Ich schließ das Geheimversteck, ein Regalbrett mit Buchattrappen. Früher hab ich meine Sachen rumliegen lassen, aber in letzter Zeit bin ich vorsichtiger geworden.

Ich unterbreche die Stromzufuhr für das Gebäude und schnappe mir die Taschenlampe neben dem Sicherungskasten. Purell®, frische Handschuhe, Maske hoch. Mach’s mir mit dem Totalitarismus-Buch von Andrej Plakans im lettischen Original gemütlich. Mein Lettisch ist eindeutig besser geworden. Scheine bei meinem letzten Auftrag einiges aufgeschnappt zu haben.

Man muss wissen, dass ich eine unbekannte Zahl an Sprachen lesen und sprechen kann. Nicht dass ich ein Sprach-Genie wär. Das hat vielmehr damit zu tun, dass die Regierung mir irgendwas dazu in mein Hirn appliziert hat. Hört sich verrückt an. Ist es vielleicht auch.

Aber Fakt ist nun mal: Dauernd überrasch ich mich damit, dass ich irgendwelche Sprachen perfekt beherrsche. Sprachen, von denen ich noch nie gehört hab. Keine Ahnung, ob’s bei diesem unverdienten Können, diesem „Geschenk“, ein Limit gibt.

Allerdings scheint Lettisch nicht Teil des Mastercodes zu sein, fließend kann ich es nämlich nicht.

Ein lautes Knacken reißt mich aus dem beschissenen Traum, dem einzigen, den ich überhaupt habe. In dem einer, der mir ziemlich ähnlich sieht und sich so anfühlt wie ich, meine Frau und mein Kind umbringt.

Ich rolle mich zur Seite, öffne mein Tarnfach und taste darin herum. Zieh meine Waffen raus, knie mich hin. Hellwach inzwischen. Lausche meinem Puls. Lausche der Dunkelheit.

Wieder ein Knacken den Flur runter. Und ein drittes.

Meine Pistazienschalen. Auf der Treppe verstreut. Jemand tritt darauf. Das heißt, die Bibliothek ist jetzt geöffnet fürs Publikum, ob mir das passt oder nicht.

Ich hebe die Beretta und die Sig in die Höhe.

Es ist stockfinster. Ich hör, wie die Taschenlampe, die mir beim Aufsetzen von der Brust gerutscht ist, zum Ende des Raums rollt. Irgendwo zwischen meinen Sachen ist ein Nachtsichtgerät, aber danach kann ich jetzt nicht suchen.

Mir fällt ein, dass ich auch die CZ-99 habe, aber weil ich die noch nie benutzt habe, bleibe ich lieber bei dem, was ich kenne.

Da, im Flur, vier schmale Lichtkegel, die immer heller werden, deutlicher.

Die Taschenlampen biegen um die Ecke in den Lesesaal und wandern ruckartig auf und ab, zerschneiden die Dunkelheit. Synchron mit dem Licht bewegen sich Laserpunkte darunter, die rote Flecken auf Regale und Tischplatten werfen.

Taktische Waffen. Sonderanfertigungen, teuer. Ich spüre so etwas wie Neid, aber nur einen kurzen Moment. Selbst wenn ich nämlich einen auf einsamer Wolf mache, vermisse ich es manchmal, einer größeren Meute anzugehören. Letztens Endes sind wir doch alle Herdentiere.

Ich verzieh das Gesicht. Auch egal. Ziele auf einen Punkt oberhalb der Lichtstrahlen, zwei werden dran glauben müssen, einer der beiden anderen wird in Panik geraten und etwas Dummes machen. Kein Stress.

Ich spanne die Hähne beider Waffen.

Und spüre Metall an meinem Hinterkopf.

„Fallen lassen, Flachwichser.“ Heisere Männerstimme hinter meinem rechten Ohr.

Schon geschehen. Wenn diese Leute hier reinkommen und sich von hinten an mich anschleichen können, während ich wie ein Lämmchen schlafe? Eindeutig Profis, da werd ich mich hüten.

„Runter auf den Bauch, los.“

Ein Tritt in den Rücken, und mein Gesicht knallt auf den Boden. Denke: Scheiße. Geistig Speck angesetzt. Bequem geworden. So war das nicht gedacht.

„Zielperson ist entwaffnet. Wiederhole, Zielperson ist entwaffnet und gesichert, over.“ Cool, geschäftsmäßig.

Ein schwerer Stiefel steht jetzt auf meinem Nacken. Herrgott noch mal.

Funkgeräte knistern, irgendjemand erzählt was von „Sicherungskasten, Schalter“, und mit einem Klacken gehen die Lichter an. Das Ohr auf dem Boden, hör ich ein lauter werdendes Brummen, als das Gebäude erwacht. Vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, die Böden müssen mehr als einen Meter dick sein.

Männer laufen auf mich zu. Bei all dem Zeug, das sie anhaben müssen, sind sie ziemlich leichtfüßig unterwegs. Funkgeräte, Zahlencodes werden gerufen, Abkürzungen und anderes Verbalsteno, das ich nicht kenne.

Merkwürdig. Ich war auch mal beim Militär. Kann mich an die Codes und den Kram ganz gut erinnern. Sollte sie also kennen.

„Und jetzt die Hände auf den Kopf. Finger verschränken, los geht’s.“

Ich gehorche und spüre, wie mir Plastikbänder um die Handgelenke gelegt und festgezurrt werden.

„So, Schlappschwanz, wo ist der Ausweis, los.“

Ich will meinen Kopf drehen, aber der Stiefel nagelt mich immer noch fest, und sage: „Rechte Jackettasche. Ausweis von der Stadt.“ Meine Stimme hört sich ein bisschen gepresst an.

Versuche irgendjemanden in den Blick zu kriegen. Hoffentlich machen sie meinen Anzug nicht kaputt. Kaum hab ich einen neuen Anzug …

Sehe die Schuhe, Plastik- und Nylon-Hitech-Treter in schwarz, suche nach einem Logo, irgendwas das mir verraten –

„Ich schick einen Scan, over.“

Déjà-vu. Ich hab ein verdammtes Déjà-vu.

„Roger. Los, hoch …“

Meine Hände werden nach hinten gezogen und mir wird eine Kapuze über den Kopf geworfen. Sie wird am Hals zusammengezogen.

Ich denk an Abu Ghraib, das Foto, die Kreuzigungspose, und muss sagen, ich krieg ein klein wenig Angst. Die tun nicht mal höflich, wie man es von Behördenvertretern kennt. Oder nicht?

Wenn ich nicht direkt angesprochen werde, halt ich wohl besser die Klappe.

Diese Typen sind garantiert Söldner, Privatarmee, nichts und niemandem verpflichtet. Besser ausgerüstet als unser eigenes Militär, das hab ich drüben selbst gesehen. Später waren mehr von diesen Arschlöchern unterwegs als eigentliche Soldaten. Überall ist man über sie gestolpert. Bessere Waffen, bessere Schutzwesten, besseres Essen, bessere Nutten, bessere Unterkünfte. Was mich daran zweifeln ließ, ob ich in der richtigen Mannschaft war. Und genau deshalb –

Plötzlich werd ich wie ein nasser Sack hochgewuchtet, Hektik bricht aus, und sie rennen los mit mir, biegen rechts ab, die Treppen runter, durch die Tür und raus in die ranzige Nachtluft.

Wir sind gerade auf der Außentreppe, da hör ich: „Zielperson in Gewahrsam, erwarten weitere Instruktionen“, der Mann klingt gestresst, so als wär die ganze Operation eine Last-minute-Sache, improvisiert. Nicht dass mir das irgendwie weiterhilft.

Lieblos werd ich auf einem Teppich abgelegt, im Inneren eines Fahrzeugs vermutlich, es kracht zweimal metallisch, ich schätze, das waren die hinteren Türen eines Lasters. „Go, go, go“, rufen sie und der Laster macht einen Satz nach vorn. Ich gehorche den Gesetzen der Physik und knalle mit der Stirn voraus gegen die Hintertüren. Hoffentlich sind sie abgesperrt.

Ich fühl mich verdammt nackt. Ich hab nur die Boxer-Shorts und das Krankenhaushemd an. Und eine beschissene Guatanamo-Klan-Kappe.

Sie versuchen mich zu verwirren. Der Fahrer kurvt wild durch die Gegend, zuerst rechts in die 39th Street, dann links in die Sixth Avenue und wieder rechts, wahrscheinlich in die 42nd und so weiter. Damit ich die Orientierung verlier … schlimmer ist, dass sie dabei gegen sämtliche Systemprinzipien verstoßen (Einzelheiten dazu bei Gelegenheit), wobei ich von diesen Handlangern natürlich nicht erwarte, ein derart elegantes Paradigma zu kennen.

Anhand der geschätzten Geschwindigkeit zähl ich die gefahrenen Blocks mit. Referenz ist meine mentale Karte, übereinandergelegte Raster. Es ist alles in meinem Kopf, in 3-D und Farbe.

Auf der Sixth nach Norden, scharf rechts auf die Central Park South, vermute ich. Herrgott. Schnell zoomen, zählen, scharf links, Madison oder Park Avenue, wenn ich das richtig seh.

Mir wird schlecht … maximale Systemverletzung. Welcher Depp …

Schnurgerade nach Norden, steigendes Tempo. Ich zerbrech mir den Kopf, wer meine neuen Bekannten sein könnten. FBI? Eher nicht. Das FBI hat nicht so schicke Schuhe, sie stoppeln nur irgendwas zusammen, besonders dieser Tage. Überbleibsel von dem Branco/Iveta-Schlamassel, den Balkanesen, die mir vor kurzem auf den Hacken waren? Könnte eigentlich nur dieser Brian Petrovic sein, aber der Mann hat mir sein Wort gegeben und er kam mir bei aller Zwielichtigkeit glaubwürdig vor. Abgesehen davon saß der gute Brian, als ich es das letzte Mal geprüft hab, in einem Militärflieger nach Paris, was ich noch mal hatte bestätigen lassen.

Das hab ich doch, oder? Scheiße, ich erinnere mich nicht. Ich mach Fehler.

Die Frau, Iveta. Allein bei dem Gedanken an sie krieg ich Schmerzen in der Brust, also verbiet ich ihn mir, ich begrab ihn und häng ein Schloss davor.

Letztlich hat sich alles um sie gedreht. Eine Meisterin der Manipulation. Ja, ich weiß. Die Lady hat alle verarscht. Was aber nichts ändert. Das menschliche Herz ist ein absonderlicher, gesetzloser Planet.

Nein. Das hier ist ein nigelnagelneues Problem.

Als wir in eine Senke fahren, heben wir fast ab und mein Magen rutscht mir in die Knie … Einen Block später geht es wieder hügelan, ja, wir sind auf der 96th oder einer der Parallelstraßen.

Mit quietschenden Reifen nach links in die 116th Richtung Westen, ich verlier allmählich den Überblick. Um die fünf, sechs Blocks und dann NOCH MAL nach scharf rechts, eine weitere Systemverletzung. Wir müssen irgendwo in der Einöde namens Harlem sein, aber ich gesteh’s: keine Ahnung.

Taste mit Händen und Füßen herum, suche nach irgendeinem stumpfen Gegenstand, den ich als Waffe benutzen könnte. Nichts.

Vollbremsung. Wieder haut es mich um und ich krache gegen eine mit Teppich beklebte Wand.

Türenschlagen, vermutlich mehrere Männer, dann werden die Türen zum Laderaum aufgerissen. „Raus mit ihm.“ Zwei klemmen mich rechts und links unter den Arm, und ab geht’s im Laufschritt über den Asphalt.

In ein Gebäude. Es kommt mir groß vor, aber ich hab das Vertrauen in meine Wahrnehmungsfähigkeit verloren. Unvermittelt bleiben wir stehen.

„Fünfzehn.“ Ich höre mehrere Klingeltöne, dann das Geräusch aufgleitender Türen.

Ein Aufzug. Jah schütze und führe mich.

Irgendwie scheint mir das kein Sozialwohnungsbau zu sein, und sonst gibt es nur noch ein Gebäude dieser Höhe oberhalb der 116th Street in Harlem: das Adam Clayton Powell Jr. State Office, eine Riesenburg.

An dem Punkt fang ich an, mich zu wehren. Die alte Tante Aufzugangst schließt mich in ihre Arme.

„Hören Sie, bitte“, sage ich, „Aufzugfahren geht gar nicht. Ehrlich. Wir müssen die Treppe nehmen. Bitte, hören Sie, ich bin –“

In dem Moment trifft mich ein Schlag auf der Brust, und bevor ich wegtrete, denke ich noch: Taser. Ein beschissener Taser.

Das ist alles dermaßen würdelos.

„Weder habe ich das erlaubt noch nahegelegt, noch billige ich …“ Basso profondo.

„Mit Verlaub, Sir, er war bewaffnet und widersetzte sich …“

„Ich habe noch nicht zu Ende gesprochen, mein Sohn. Weder mein Büro noch ich billigen den Einsatz von unnötiger Gewalt, Zwang oder unmenschlicher Behandlung, wenn ich mich mit dem Betreffenden bloß unterhalten will. Ist das klar?“

„Ja, Sir, selbstverständlich, Sir.“

Ich bin wieder wach, kriege kaum Luft unter dem Stoff, denke an die Akten …

„Nehmen Sie ihm diese unselige Kapuze ab.“

Die Kapuze wird abgezogen und blinzelnd sehe ich einen großen schwarzen Mann in einem blauen Anzug, Mitte sechzig, aber von der Statur her eine Schrankwand, und ich erkenne ihn natürlich auf den ersten Blick.

„Senator Howard.“

Senator Clarence Howard betrachtet mich, sein Schnurrbart zuckt. Nach ungefähr fünf Sekunden spricht er wieder.

„Lassen Sie uns allein.“ Zu dem Mann, der mich reingeschleppt hat.

Der Soldat zögert, räuspert sich. Nur interessiert sich kein Mensch dafür, was er denkt. Er geht, zieht laut die Tür hinter sich zu.

Blinzeln. Die Sonne geht gleich auf, und die Skyline ist fast schwarz. Eine undurchdringliche Giftwolke breitet sich über den größten Teil der Insel, aber ich kann die Lichter des Chrysler Building und die Totgeburt von Penn Plaza Nr. 15 erkennen.

Irgendjemand knipst immer noch die Lichter im Chrysler an. Irgendwie schön. Mini-Hubschrauber umkreisen das Gebäude wie Motten das Licht. Die Hubschrauber sind überall.

Es ist ein typisches 90er-Jahre-Büro, ein Traum in Beige, anscheinend unbenutzt.

Der Senator wendet mir einen Moment den Rücken zu, die Schultern leicht eingesunken, aber trotzdem so groß wie der Ruf, den er zumindest hier in der Gegend hat. Glatt gegelte Haare wie anno Tobak: Kein Schwarzer meiner Generation mit einer Spur Selbstachtung würde so was machen. Nur die Transen. Nein. Man muss der Natur ihr Recht lassen. Das ist natürlich nur meine persönliche Meinung.

Howard pumpt sich auf, wuchtet seinen massigen Körper herum und präsentiert mir ein breites Politikerlächeln. Der große Mann hat seinen berühmten Stock in der Hand, Palisander mit einem Kupfer-Pferdekopf, die Zunge rausgestreckt.

„Mein Sohn, ich muss mich entschuldigen. Normalerweise lass ich niemand so aus dem Bett holen.“

Was für eine Stimme. Wie Samt, unterlegt mit ein paar Jahrzehnten Zigaretten. Die kann einem alles andrehen, von Jesus bis zu neuen Gesetzen.

„Vergeben und vergessen, Pops, alles paletti.“ Ich reibe mir über die rotstriemigen Handgelenke. „Hab Sie früher auf C-SPAN gesehen. Ihre Ansichten zur Einwanderung gefallen mir, Sir. Und zu diesen dreisten Gewerkschaften.“ Ungläubig schüttle ich den Kopf, tsts.

Falls der Senator den Sarkasmus aus meiner Stimme raushört, lässt er sich nichts anmerken. Im Gegenteil, er grinst sogar.

„Ha, C-SPAN! An Langeweile kaum zu überbieten. Haufenweise Leute, die nur was sagen, um sich mal wieder reden zu hören. Mein Sohn, ich will gleich zur Sache kommen.“

„Von mir aus gern, Chef“, sag ich und versuche, auf Blutsbruder zu machen, denk aber: Da kann nichts Gutes bei rauskommen.

„Ich habe … Entschuldigung.“ Der Senator zieht ein seidenglänzendes Taschentuch hervor und trompetet rein.

Ich zucke zusammen, denke: ein neuer Virenstamm von Superflu? Irgendwas, gegen das ich nicht geimpft bin? Ein Gedanke wie eine Tröpfcheninfektion.

Was gäbe ich jetzt für ein bisschen Purell®. Aber ich sitze hier in Unterhosen. Die OP-Maske baumelt an meinem Hals. Unfassbar, wie nachlässig ich geworden bin. Wenn’s mich erwischt, hab ich’s nicht besser verdient.

„Ich muss mich noch mal entschuldigen.“ Der Senator wischt sich mit dem Taschentuch über die Nase. Monogramm, CDH, zweiter Vorname Douglass.

Meine Fresse. Die Akten vom DA. Ich weiß genau, warum ich hier bin.

„Die Luft in diesem Gebäude trocknet meine Schleimhäute völlig aus“, sagt derweil der Senator. „Nun, Sir. Ich suche nach einem gemeinsamen Freund. Ich hatte in letzter Zeit keinen Kontakt mehr zu ihm, und ich mach mir langsam Sorgen. District Attorney Daniel Rosenblatt?“

Ich kneif die Augen zusammen, als würd ich in meinem Gedächtnis kramen. Nicke. Wußt ich’s doch, dass es darauf rausläuft.

„Ja“, sage ich. „Den hab ich auch schon gesucht.“

„Ach, tatsächlich?“, sagt der Senator, das Lächeln stramm zwischen den Ohren aufgespannt.

„Ja. Wie Sie vielleicht wissen, arbeite ich ab und zu für Mr. Rosenblatt. Hab ihn jetzt schon, wie lange?, sechs Wochen nicht gesehen, etwas um den Dreh. Aber letzte Woche hab ich mit ihm telefoniert.“

Fantasier ein bisschen rum. Die Stelle, wo sie mich getasert haben, brennt höllisch.

Der Senator spitzt die Lippen und lehnt sich gegen den Tisch. Klopft mit dem Stock auf dem Boden. Hey, der Mann braucht keinen Stock. Ich könnte einen brauchen, und nicht nur, weil’s so gut aussieht.

„Schade. Ich dachte, Sie könnten mir weiterhelfen. Wie es der Zufall will, mein Sohn, wurden Sie nämlich gestern Abend gesehen, als Sie Mr. Rosenblatts Büro verließen. Hat ein bisschen gedauert, bis wir eins und eins zusammengezählt und Sie gefunden haben … aber dann, na ja, dachte ich, wir sollten uns ein wenig unterhalten.“

Der verarscht mich. Scheiße. Da fällt mir ein, dass vielleicht noch ein Stück von Rosenblatts Implantat in meinem Arm steckt und vor sich hin piepst. Ich hatte gedacht, dass es ganz entfernt wurde. Aber ich lass mich nicht aus dem Konzept bringen, mit so was war zu rechnen.

„Das stimmt, und ich war überrascht, dass Daniel nicht da war. Wir waren verabredet. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass das Büro geplündert worden war. Die Tür war aufgebrochen, drinnen das reinste Chaos. Komplett zerlegt.“

Das ist alles frei improvisiert. Ich geh hier auf ganz dünnem Eis, hab ich das Gefühl. Setz mein Pokerface auf.

„Ach so“, sagt der Senator mit feinstem Samttimbre. „Das müsste dann gewesen sein, bevor der halbe Stock in Flammen aufging. Verstehe ich Sie richtig, dass Sie das nicht mitbekommen haben, junger Mann? Denn das fanden wir etwas erstaunlich. Das Feuer. Und deswegen wurden Sie heute Nacht hierhergebracht.“

Mann, Mann, Mann. Ganz schlechtes Projekt-Management.

„Was sagen Sie da? Ein Feuer in der Centre Nr. 100?“

„Ja, genau. Und was das Merkwürdige ist, es muss genau zu der Zeit ausgebrochen sein, als Sie sich dort aufhielten. Gegen Viertel vor neun erhielt ich den Anruf. Ich weiß, ich weiß, am Sonntag arbeiten … aber die Arbeit für den Staat ist wie die Arbeit für Gott … da gibt es keine Fünftagewoche, Mister, da hat die Woche sieben Tage.“

Er zwinkert mir zu. Arschloch.

„Nur so aus Neugier, Pops“, sage ich, „sind die Kongresssitzungen nicht ausgesetzt worden … quasi für alle Zeiten, Sir? Wegen des völligen –“

Howard schnieft, fummelt an seiner Krawatte rum, dem Stars-and-Stripes-Anstecker. „Nun, es gibt noch Menschen, die für dieses Land arbeiten, junger Mann. Mehr will ich dazu nicht sagen, wenn’s recht ist. Zurück zu dem Feuer im Büro unseres gemeinsamen Freundes Mr. Rosenblatt …“