2047 - Ein Blick in die Ewigkeit - Susanne Wittpennig - E-Book

2047 - Ein Blick in die Ewigkeit E-Book

Susanne Wittpennig

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Beschreibung

Das Finale der «Time Travel Girl»-Trilogie ist da! Und wieder gerät die jugendliche Zeitreisende Lisa in die absolut falsche Zeit: Statt endlich nach Hause ins Jahr 1989 zurückzukehren, wird sie diesmal ins Jahr 2047 katapultiert - in eine Zukunft voller technischer Wunderwerke und vieler seltsamer Regeln. Eine neue Gefahr bedroht die Existenz der Menschheit. Glaube, Hoffnung und Liebe werden deshalb stärker gebraucht als jemals zuvor. Aber Lisa ist nicht allein: Auch ihr attraktiver Mitschüler Kyle aus dem Jahr 2018 ist vom «Time Transmitter» erfasst worden. Gemeinsam stehen sie bald Lisas Freunden Britt, Zac und Momo gegenüber, die mittlerweile über siebzig Jahre alt sind! Unter Hochdruck wird daran gearbeitet, alle zurückzubringen, die aus der Zeit gefallen sind. Doch das ist komplizierter als gedacht. Denn Professor Ashs Schatten liegt noch immer über dem Forschungszentrum, und zu allem Übel will eine geheime Gruppe von Wissenschaftlern sich Zacs Zeitmaschine zunutze machen ... Niemand fürchtet die Folgen, die das Drehen am Rad der Geschichte haben könnte, so sehr wie Lisa. Ihr Herz zerspringt fast, als ihr klar wird, dass ihr die wohl wichtigste Entscheidung ihres Lebens bevorsteht. Es ist eine Entscheidung, deren Auswirkungen bis in die Ewigkeit reichen. - Mit Spannung, Action und einem gehörigen Schuss Romantik findet Susanne Wittpennigs Zeitreise-Trilogie ihren Höhepunkt und Abschluss. Susanne Wittpennig ist Schweizer Bestseller-Autorin («Maya und Domenico») sowie Web- und Grafikdesignerin. In ihrem Traumland Norwegen hat sie eine dreijährige Ausbildung an einer Filmakademie absolviert - wo ihr auch die Inspiration zu «Time Travel Girl» kam. Heute lebt und arbeitet Susanne wieder in ihrer Heimatstadt Basel.

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Susanne Wittpennig 2047 – Ein Blick in die Ewigkeit (Time Travel Girl)

www.fontis-verlag.com

Susanne Wittpennig

2047 – Ein Blick in die Ewigkeit

Time Travel Girl

Infos über die Autorin, «Maya und Domenico» und «Time Travel Girl» gibt es auf:www.schreibegern.ch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2020 by Fontis-Verlag Basel

Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns Fotos Umschlag: Lesya Dyatlova/Shutterstock.com Foto Innenteil (Uhren): Black Moon/Shutterstock.com E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

ISBN (EPUB) 978-3-03848-666-4 ISBN (MOBI) 978-3-03848-667-1

www.fontis-verlag.com

Inhalt

Was bisher geschah

1Wann sind wir?

2 Tausend Fragen

3 Flug mit dem Aeromobil

4 Willkommen im Penthouse

5 Plan mit Tücken

6 2047er-Style

7 Die Ahnengalerie

8 Tekkies und Cyborgs

9 Eine kleine Aufgabe

10 Verhängnisvolle Mission

11 Westhill Avenue 14, 2047

12 Noch ein verbotener Kuss

13 Julians Trick

14 Zacs rätselhafter Notfallplan

15 Morgans Wahrheit

16 Startklar für den dritten Akt

17 Der letzte Tanz

18 Das Portal durch die Zeit

19 Gestrandet

20 Über Zeit und Ewigkeit

21 Hoffnung aus der Zukunft

22 Virtuelle Hochzeit

23 Der Zeitreisende

24 Äon

Epilog

Dank

Die Autorin

Von derselben Autorin weiterhin erhältlich

Was bisher geschah …

Das Leben ist nicht gerade einfach für Lisa Leonor Lambridge, genannt: Lee. Die sechzehnjährige Waise gehört nirgends so richtig dazu und hat nur zwei wirkliche Freunde: Britt Webster und Zac Silverman. Wegen ihrer naturwissenschaftlichen Hobbys, der Weigerung, sich wie ein Mädchen anzuziehen, und weil sie in die Tomsbridge School nur durch ein Stipendium reingekommen ist, ist sie ein beliebtes Ziel für Mobbing.

Dazu lebt Lisa in einem armen Viertel der Stadt bei ihrem Bruder Thomas und seiner spießigen Freundin Fanny, die die Skateboard fahrende Lisa gerne umerziehen und zu einer angepassten jungen Frau machen würden.

Lisas Eltern sind gestorben, als sie zwei Jahre alt war, und gemeinsam mit ihrem Bruder ist sie bei einer Tante und einem Onkel aufgewachsen.

Lisas Kindheit hätte traurig und einsam verlaufen können, wenn da nicht Momo gewesen wäre: ein herziger gleichaltriger Junge aus der Nachbarschaft mit Sprachfehler, der oft zum Spielen vorbeikam und Lisas bester Freund wurde. Lisa verbindet mit ihm die schönsten Erinnerungen. Und auch wenn Morgan Kendall, wie Momo mit richtigem Namen heißt, mittlerweile zu «cool» für Lisa geworden ist und sie in der Schule ignoriert, hat Lisa ihn nie vergessen, ist heimlich in ihn verliebt und träumt davon, mit ihm zusammenzukommen.

September 1989: Für die angesagten Girls der Tomsbridge School – Beatrice, Carol, Sandy, Kimberley und Camilla – gibt es zurzeit nur zwei Themen: Wer ist eingeladen zur Party der reichen, beliebten Kendall-Brüder Steven und Morgan? Und: Mit wem geht der wortkarge, hübsche Morgan wohl zum Schulball?

Lisa und ihre Freunde interessieren sich dafür weniger, vor allem weil Zac, ein Genie mit IQ von 178, behauptet, endlich eine Zeitmaschine erfunden zu haben. Er ist überzeugt: Wenn Gewitter herrschen, kann er mit Hilfe seines «Time Transmitters» im Valley hinter der Schule bei der Tomsbridge-Brücke ein Wurmloch erzeugen. Die Freunde glauben ihm anfangs kein Wort. Und auch Professor Ash, der bösartige Physiklehrer der Schule, macht sich über Zac lustig.

Doch dann überschlagen sich die Ereignisse:

Zac und sein Vater, der Nobelpreisträger Professor Levi Silverman, versetzen Lisa bei einem ersten kleinen Zeitreise-Experiment tatsächlich zwei Tage in die Zukunft – die Zeitmaschine funktioniert! Kaum haben die Freunde diese Erkenntnis verarbeitet, erscheint eine mysteriöse neue Lehrerin auf der Bildfläche: Misses Whitfield behauptet, Lisas älteres Ich aus der Zukunft zu sein. Sie ist im Jahr 2018 dank Zacs mittlerweile sehr viel ausgereifteren Zeitmaschine in die Vergangenheit gereist, um Lisa zu warnen:

Ihr geliebter Momo wird am 07.06.2018 sterben!

Er hat in der Zukunft zu viele falsche Entscheidungen getroffen. Misses Whitfield zeigt Lisa ein Foto von Morgans Grabstein auf ihrem Smartphone. Lisa soll diese Entwicklungen um jeden Preis verhindern.

Und sie muss! Denn Lisas Hoffnungen auf die große Liebe mit Momo erhalten gerade neuen Antrieb: Morgan hat sie zu seiner Party eingeladen, mit ihr getanzt, sich ihr geöffnet und war für kurze Zeit wieder «ihr Momo», nach dem sie sich so lange gesehnt hat. Er ist sogar einverstanden, mit ihr zusammen zum Ball zu gehen.

Doch der steht unter keinem guten Stern. Zum einen müssen die Freunde just an diesem Abend Misses Whitfield in ihre Zeit zurückschicken, was Professor Ash, der verbitterte Physiklehrer, herausgefunden hat und mit einem Polizeiaufgebot verhindern will.

Und zum anderen bricht Morgan Lisa an diesem Abend das Herz: Er knutscht mit einem anderen Mädchen rum und gibt Lisa zu verstehen, dass er nie mehr als Freundschaft für sie empfinden wird, obwohl er sie zuvor geküsst hat.

Lisa ist verzweifelt. Blind vor Schmerz konfrontiert sie Morgan mit dem Foto von seinem eigenen Grabstein und erzählt ihm alles über ihre Zeitreisen. Dann rennt sie zu ihrem älteren Ich, das eben unter höchster Gefahr versucht, ins Jahr 2018 zurückzureisen.

Morgan, der ihr gefolgt ist, sieht gerade noch, wie Lisa in einem Strudel aus blauen Blitzen verschwindet. Sie ist statt ihres älteren Ichs ins Wurmloch gezogen worden, und Morgan wird blitzartig klar, dass alles, was Lisa ihm soeben erzählt hat, wahr ist: Es gibt Zeitreisen. Und er wird am 07.06.2018 sterben. Er bricht zusammen und kann nur durch die Beteuerung von Lisas Freunden beruhigt werden, dass sie alles unternehmen werden, um Lisa im Jahr 2018 zu empfangen und dann wieder zurück in ihre Vergangenheit zu schicken.

Im Jahr 2018 angekommen, erfährt Lisa, dass ihre Freunde mittlerweile vor einem seltsamen Rätsel stehen: Sie hätten erwartet, dass sie es schaffen, Lisa 2018 zurück in ihre Zeit zu verfrachten – folglich hätte sie irgendwann rund um das Jahr 1990 wieder auftauchen müssen.

Aber das ist nie passiert.

Irgendetwas hat ihre Rückkehr verhindert – mit ernsthaften Folgen für Zac und seinen Vater, der ab 1989 für acht Jahre ins Gefängnis musste, weil man ihm für Lisas Verschwinden die Schuld gab. Die Freunde glauben, dass Professor Ash etwas mit allem zu tun hat, weil er 1989 mit Lisa ins Wurmloch gezogen wurde und ebenfalls als vermisst gilt …

Weil erst in fünf Monaten ein so großes Gewitter stattfindet, wie man es für Zeitreisen mit Wurmloch und Time Transmitter benötigt, beschließen Lisas Freunde, ihr solange einen außergewöhnlichen Einblick in die Zukunft zu geben, indem sie sie 2018 zur Schule gehen lassen. Kurzerhand wird so aus dem 80er-Jahre-Girl Lisa Lambridge die Austauschschülerin Leonor Whitfield, die eintaucht in die Welt der Zukunft: Internet, Smartphones und soziale Medien sind für sie ebenso fremdartig wie die Erfahrung, die Sprösslinge ihrer früheren Klassenkameraden zu treffen und die Menschen ihres ehemaligen Umfelds plötzlich gealtert wiederzusehen.

Das Leben als Millennial ist am Anfang gar nicht mal so übel: Lisa verguckt sich in Kyle, einen attraktiven Jungen, der ihre Gefühle tatsächlich erwidert und sie so mag, wie sie ist. Sie lebt in einer WG, schließt unverhofft Freundschaft mit der Tochter eines ehemaligen Klassenkameraden und ist begeistert von der Technik der Zukunft. Doch Zeitreisen sind kein Zuckerschlecken, und so zeigen sich bald erste Schattenseiten: Lisa erfährt, dass ihr Bruder in der Zukunft sterbenskrank ist. Und: Ausgerechnet der Junge, der ihr Avancen macht, ist Momos Neffe!

Momo … Lisa erfährt, dass Morgan gleich nach ihrem Verschwinden im Jahr 1989 den Streit bereut hat, den sie nach dem Ball hatten, und dass er sie vermisst hat. Noch lebt er, aber das Foto seines Grabsteins hat sein Leben geprägt. Er ist mittlerweile Alkoholiker und vergeudet seine Zeit damit, das Geld seiner Familie zu verprassen.

Was tun? Lisa setzt sich über die Warnung von Doc Silverman hinweg und nimmt Kontakt zu Morgan auf – exakt an dem Tag, an dem er sterben soll. Sie verbringen einen verrückt-vertrauten Abend, und Lisa erfährt, dass die Angst vor der Zukunft Momo hat nachdenklich werden lassen über den Sinn des Lebens, ja, dass hinter dem Mann, den sein Umfeld bloß als Alkoholiker sieht, immer noch der gutherzige Momo von früher steckt, nun allerdings um einiges reifer und weiser. – Und Momo überlebt seinen Todestag! Das Foto seines Grabsteins verschwindet von Lisas Smartphone.

Doch damit sind längst nicht alle Probleme gelöst. Lisa muss immer noch zurück in die Vergangenheit reisen, und obwohl die technischen Voraussetzungen stimmen, gibt es noch immer einen Menschen, der alles verhindern könnte: Professor Ash. Die Freunde sind sich sicher, dass er im neu entstandenen Forschungslabor neben der Schule nur darauf wartet, dass ein Gewitter kommt, um Lisa dann bei ihrem Versuch, in der Zeit zu reisen, aufzuhalten. Die Frage ist: Wie kann man den verbitterten Physiker davon abhalten?

Durch einen Trick verschafft sich Lisa Zugang zum «Tomsbridge Science Research Center»: Bei einem Schulausflug ins Zentrum schleicht sie sich in die untersten Stockwerke. Was sie entdeckt, übertrifft ihre schlimmsten Vorstellungen. Professor Ash, dem Lisa prompt in die Falle gerät, hat ein eigenes Wurmloch entwickelt und plant, Lisa damit in den Äon, in die Ewigkeit, zu katapultieren! Alles, was ihm dazu noch fehlt, ist Zacs Time Transmitter.

Gott sei Dank kommen derweil Lisas neue Freunde Kyle und Angela darauf, dass Lisa das Zeitreisemädchen sein muss, von dessen Verschwinden im Jahr 1989 sie schon so oft gehört haben. Gemeinsam mit Lisas alten Freunden Britt und Zac gelingt ihnen Lisas Rettung, angeführt von Morgan, der sie heldenhaft in Sicherheit bringt.

Die Rückreise ins Jahr 1990 muss nun bald stattfinden, und die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren.

Die Freunde planen, Professor Ash an jenem Abend mit einem Ablenkungsmanöver so lange aufzuhalten, bis Lisa in ihre Zeit zurückgereist ist. – Aber: Will sie das denn immer noch? Momo hat ihr ein weiteres Mal, diesmal als erwachsener Mann, erklärt, dass sie als Paar wahrscheinlich einfach nicht zusammenpassen. Und obwohl Kyle noch sehr unreif ist und bekannt für seine Flirts mit dem anderen Geschlecht, scheint er doch viel besser zu Lisa zu passen als Momo. Zudem erwartet Lisa im Jahr 1990 der Eintritt in ein Internat, in das Fanny und ihr Bruder Thomas sie stecken wollen.

Lisa kämpft mit ihren Gefühlen, doch am Ende fallen die Würfel: Sie beschließt, nach Hause zu gehen.

Und tatsächlich: In einer spannenden Aktion schafft Lisa haarscharf den Sprung in eine andere Zeit!

Doch etwas stimmt nicht.

Sie bewegt sich in der Zeit gar nicht rückwärts, sondern vorwärts. Und seltsamerweise ist sie auch nicht allein in den Strudel der Zeit katapultiert worden …

Kapitel 1Wann sind wir?

Der Aufprall war hart. Härter, als sie es von den letzten beiden Malen in Erinnerung hatte.

Und ganz anders.

Und vor allen Dingen: ziemlich real.

Durch den derben Aufschlag ihres bereits malträtierten Hinterns auf dem steinharten Untergrund kehrte auch ihr Bewusstsein voll zurück.

Das Bewusstsein, dass dies kein Traum war und dass sie soeben eine weitere turbulente Zeitreise hinter sich hatte.

Schwankend stand Lisa auf und versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wann sie sich – gemäß Plan – befinden musste.

Zeit der Abreise: Freitag, 22. Juni 2018, zwanzig vor elf Uhr abends.

Geplante Ankunftszeit: Mittwoch, 14. Februar 1990, zehn Uhr abends.

So hatte Zac zumindest den Time Transmitter programmiert.

Aber hier war irgendetwas verkehrt.

Vor ihr lag nicht das dunkle Valley von 1990, das sie erwartet hatte. Nein, es war so hell, dass sie jeden Ast und jeden Stein erkennen konnte, und die gegenüberliegende Uferseite, die eigentlich aus wildwucherndem Gras und Büschen bestehen sollte, war mit steinernen, bunkerartigen Bauten gesäumt.

Nun ja, in ihrer Zeit war sie zuletzt im September 1989 hier gewesen, und Zac hatte ihre Ankunft wegen ihres biologischen Alters auf Februar 1990 programmiert, doch so stark konnte sich das Valley in den etwa fünf Monaten, die dazwischenlagen, nicht verändert haben! Auf keinen Fall!

Oder etwa doch?

Fakt war: Es war beinahe taghell. Im Fluss spiegelte sich das sanfte Dämmerlicht des bewölkten Himmels, der mit seiner purpurnen Nuance wahrscheinlich einen bevorstehenden Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang ankündigte.

Aber Zac hatte sie auf zehn Uhr abends zurückgeschickt, dessen war sie sich sicher. Langsam wurden ihre Gedanken immer klarer. Außerdem war sie doch im Monat Februar gelandet. Müsste es um diese Zeit in England nicht stockdunkel und zudem bitterkalt sein? Immerhin herrschte hier sonst tiefster Winter.

Aber kalt war es überhaupt nicht. Im Gegenteil. Die Luft war tropisch warm, regelrecht schwül.

Vorsichtig drehte sie sich auf wackeligen Beinen um ihre eigene Achse und wagte einen Blick auf das, was sich hinter ihrem Rücken befand.

Ein monumentales quaderförmiges Gebäude, das sie in seiner Größe beinahe zu erschlagen drohte, türmte sich vor ihr auf. Die hell erleuchteten Räume hinter den Glasfenstern warfen ihr Licht auf die gesamte Umgebung. Gleißende Scheinwerfer, auf dem Areal um das Gebäude herum verteilt, strahlten wie kleine Sonnen und beschienen jeden Grashalm. Die dichte Wolkendecke, die das Licht reflektierte, ließ das Valley in jenem seltsam rötlichen Zwielicht erscheinen, das die Umgebung in ein schummriges Dämmerlicht tauchte. Somit war es vielleicht gar nicht Abend oder früher Morgen …? War es Nacht?

Lisa musste ihren Kopf weit in den Nacken legen, um die Etagen des Gebäudes zu zählen. Sechs, sieben Etagen mussten es mindestens sein, und oben auf dem Dach erblickte sie eine Art riesengroßen Hubschrauber, dessen rote Lichter in einem immer wiederkehrenden Intervall blinkten.

Sie träumte nicht, oder? Sie wollte sich in den Arm zwicken, doch statt Haut ertastete sie nur glitschigen Stoff. Stimmt, sie steckte ja noch in diesem ollen nassen Regenschutz. Bei ihrer Abreise hatte es geregnet – wie bei Zeitreisen so üblich –, denn ohne Gewitter waren Zeitreisen nicht möglich.

Statt sich zu kneifen, zog sie die Kapuze runter und schüttelte sich das vor Feuchtigkeit triefende Haar aus dem Gesicht. Das hier war zwar eindeutig das «Tomsbridge Science Research Center», aber völlig verwandelt und gigantischer als je zuvor.

Irgendetwas war total schiefgelaufen.

Sie konnte definitiv nicht im Jahr 1990 sein, zumal die Grundsteine des Forschungszentrums nicht vor dem Jahr 2000 gelegt worden waren. Sie musste also irgendwann nach dem Jahr 2000 gelandet sein.

Oder hatte sich ihre Zeitlinie aus irgendwelchen Gründen derart verändert, dass das Forschungszentrum früher erbaut worden war als ursprünglich geplant?

Mitten in ihren Überlegungen hörte sie ein klägliches Stöhnen hinter sich, und sie drehte sich wieder um.

Da, nur ein paar Meter von ihr entfernt, lag jemand, den sie zuvor gar nicht bemerkt hatte. Sie erkannte zuerst nur ein Paar verknoteter Beine, dann kamen zwei Arme zum Vorschein, und eine lange, schlaksige Person versuchte, sich aufzurappeln.

«Wo bin ich …?»

«Kyle?», fragte sie, als sie die Stimme mit dem leicht maulenden Unterton erkannte.

«Jap.»

Tatsächlich, es war Kyle. Sich der Tatsache, dass er eigentlich gar nicht hier sein sollte, noch nicht vollständig bewusst, lief sie zu ihm hin.

Kyle hatte es noch nicht geschafft, aufzustehen. Im Gegenteil. Er war wieder auf sein Gesäß geplumpst, saß nun mit hängendem Kopf da und hatte einen sterbenselenden Ausdruck im Gesicht. Neben ihm auf dem Boden war eine Lache mit Erbrochenem.

«Kyle, was machst du hier?», fragte Lisa atemlos und rümpfte die Nase angesichts des Gestanks. In den letzten Monaten war sie ein bisschen sehr viel mit Erbrochenem in Berührung gekommen.

«Kotzen … irgendwas hat mich einfach mitgerissen … Mann, ist mir übel … was war das denn? Ein Wirbelsturm?»

«Nein», sagte sie. «Kein Wirbelsturm. Ein Zeitstrahl … ein Wurmloch.» Sie schluckte, um die eigene Übelkeit zu verdrängen. Sie hatte sich nach ihrem letzten Trip durch die Zeit auch heftig übergeben müssen, aber mittlerweile war sie darin erfahren, die Schwindelgefühle unter Kontrolle zu halten. Es war in etwa so, wie wenn man sich ans Achterbahnfahren gewöhnte, indem man mit der Zeit lernte, seinen Körper in der richtigen Position zu halten.

«Wo sind wir?»

Bevor Lisa irgendetwas erwidern konnte, wurden sie durch wütendes Hupen aufgescheucht. Ein Auto suchte sich den Weg über die Brücke und kam direkt auf sie zugefahren. Es fuhr so leise, dass sie es gar nicht hätten kommen hören, wenn es sich nicht durch dieses Hupkonzert angekündigt hätte. Mehr als ein hohles Summen ging von seinem Fahrwerk nicht aus.

Schnell riss Lisa Kyle auf die Beine und zog ihn zur Seite, um das skurrile Fahrzeug durchzulassen. Seine vier Räder waren von azurblauen Strahlen umgeben, so dass es aussah, als würde es schweben. Die schnittige und elegante Karosserie schien aus verschiedenen Schichten anthrazitfarbenen und silbernen Metalls zu bestehen. Die Fenster verschmolzen förmlich mit dem keilförmigen Design und gaben Einblick ins Wageninnere, das genauso bläulich leuchtete wie die Räder.

«Ich glaube, die richtige Frage ist nicht, wo wir sind, sondern …»

Schlagartig wurde sich Lisa einer weiteren Tatsache bewusst. Der harte Aufprall ihres Hinterteils, das futuristische Auto, das einfach mir nichts, dir nichts über die Brücke fuhr – die Frage nach dem Wo war vielleicht doch nicht ganz unberechtigt: Sie konnten unmöglich auf der Tomsbridge gelandet sein, denn über die alte Basaltbrücke waren keine Autos gefahren. Das ging gar nicht. Nicht umsonst trug sie den Namen «Todesbrücke». Jeglicher Zugang zu dieser Brücke war früher mit einem Hinweis auf Lebensgefahr strengstens untersagt gewesen.

Lisa wandte sich um und folgte mit ihrem Blick dem Auto, das direkt auf das Forschungszentrum zuhielt und auf einer Rampe in dessen Innerem verschwand.

Aber doch! Sie mussten auf der Todesbrücke sein! Sie standen doch genau an Ort und Stelle, wo die alte Brücke eigentlich sein müsste.

Lisa bewegte vorsichtig ihre Beine und schaute hinunter auf den glatten Belag unter ihren Füßen, der aussah wie schwarzes Glas. Was einst eine alte Basaltbrücke gewesen war, war offensichtlich durch eine neue, moderne Brücke ersetzt worden, die nun als Autoüberfahrt diente. Und das bedeutete, dass sie sich in irgendeinem Jahr nach 2018 befinden mussten, aber wie weit nach 2018, das wusste sie nicht.

«… die Frage ist … wann wir sind», beendete sie mit matter Stimme den Satz, als ein weiteres Stöhnen sie wieder in die Gegenwart zurückriss.

Was immer die Gegenwart auch war …

Kyle hing kopfvoran über dem Geländer und übergab sich noch einmal, und zwar direkt in den Fluss. Es klang mitleiderregend, als würde er sich seiner ganzen Eingeweide entledigen.

Lisa seufzte. Sie musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren, auch wenn die Beine unter ihr ebenfalls nachgeben wollten.

Immerhin war sie gemäß Zeitlinie 28 Jahre älter als Kyle, und das bedeutete wohl oder übel, dass sie diejenige war, die auf den Jüngling aufpassen musste.

Sie ging zu ihm und hielt ihn fest, damit er noch einmal ordentlich reihern konnte, ohne gleich über die Brüstung zu stürzen. Sein glitschig-nasser Regenanzug, in den sie ihre Hände gekrallt hatte, erinnerte sie erneut daran, dass sie beide für diese fast schon tropische Wärme ziemlich unpassend gekleidet waren. Sachte zog sie Kyle die Kapuze vom Kopf. Das sonst so struppige Haar klebte plattgedrückt an seinem Schädel.

«Durst …», stöhnte er.

Den hatte Lisa auch. Ihre nächsten Überlegungen waren daher: Was jetzt? Woher konnten sie etwas zu trinken bekommen? Und wo sollten sie hin? Ob Zac wieder vor der Schule auf sie warten würde, so wie im Jahr 2018?

Zac – falls er noch lebte! Das konnte man ja nicht wissen. Was, wenn sie sich im 22. Jahrhundert oder gar noch später in der Zukunft befanden? Dann würde höchstens noch Zacs Grabstein existieren.

Und dieses Mal hatte sie kein Smartphone bei sich, auf das ihr jemand eine Message hätte senden können. Denn das Handy hatte ihr Professor Ash im Jahr 2018 abgenommen.

Es sei denn …

«Kyle? Hast du dein Smartphone bei dir?»

«Ja!» Kyle kramte irgendwo in den tiefen Gefilden seines Regenanzugs und klaubte es hervor. Das Gerät schien den Sturz überlebt zu haben. Lisa nahm es und untersuchte es, doch es befand sich keine Nachricht darauf. Stattdessen schien sich das Smartphone vergeblich mit einem Netzwerk verbinden zu wollen und gab irgendwann mit der Meldung auf, dass keine Verbindung möglich sei.

Und irgendwie ahnte Lisa auch, dass Zac dieses Mal nicht auf sie warten würde.

Sie versuchte, jeglichen Anflug von Panik in Schach zu halten. Erst mal musste sie im Kopf Prioritäten setzen. In Gedanken fertigte sie daher eine Liste an, was als Nächstes zu tun sei, fast so, als befände sie sich in einem Computerspiel und müsste eine Reihe Aufgaben bestehen, um weiterzukommen.

Erstens: Sie brauchten dringend Wasser.

Zweitens: Sie mussten herausfinden, in welchem Jahr sie sich befanden und ob Zac noch lebte.

Drittens: Falls dies nicht der Fall war, mussten sie jemanden finden, der ihnen helfen konnte.

Und viertens: Sie mussten in Erfahrung bringen, wie und ob sie überhaupt wieder nach Hause zurückkehren konnten.

Zumindest für die erste Mission hatte sie eine vage Idee.

«Lass uns rüber zur Schule gehen», schlug sie vor, während sie an dem Reißverschluss ihres Regenanzugs zerrte. Sie musste dringend raus aus diesem Plastik-Treibhaus, bevor sie darin vor Hitze verschmachtete. «Vielleicht können wir beim Brunnen draußen auf dem Vorplatz etwas Wasser trinken.»

Vorausgesetzt, die Schule steht noch, dachte sie. Von hier aus war das nicht zu erkennen, weil der gigantische Klotz von Forschungszentrum einem die Sicht auf alles versperrte, was dahinter lag.

«Was ist denn nun passiert? Ich versteh nicht …» Kyle tat es Lisa gleich und entledigte sich ebenfalls des Plastikanzugs.

«Kyle … wir sind …»

Zwei grüne Blinklichter blitzten am Himmel auf. Ein sehr feines Surren ertönte über ihren Köpfen, und ein kleines, eiförmiges Gerät schwebte vor ihnen herab. Es landete sanft vor ihren Füßen, und ein Deckel glitt auf.

Im Innern befanden sich zwei Flaschen.

«Oh, jemand schickt uns Wasser», sagte Lisa erleichtert. Ob Zac das gewesen war? Es musste fast so sein, denn wer sollte sonst wissen, dass sie hier waren und so dringend Wasser brauchten?

Erleichtert klemmte sie das nasse Regenzeug unter den Arm und beugte sich vor, um die beiden Flaschen aus dem Bauch der kleinen Sonde herauszuholen. Sie warf Kyle eine davon zu.

«Hier.»

Wenn ihnen jemand Wasser sandte, dann musste das bedeuten, dass zumindest einer ihrer Freunde noch am Leben war, oder?

Und dass sie erwartet wurden.

Und dass sie vielleicht gar nicht so weit in der Zukunft waren, wie sie dachte.

Das Wasser tat gut, auch wenn es etwas seltsam schmeckte. Als wäre es mit chemischen Mitteln angereichert. Lisa überlegte, ob darin vielleicht extra Nährstoffe waren, die ihre Körper nach dem turbulenten Trip durch das Wurmloch zusätzlich benötigten. Tatsächlich war der Durst nach wenigen Schlucken weg.

Kyle trank die Flasche fast in einem Zug leer, und Lisa konnte beobachten, wie die Farbe in sein Gesicht zurückkehrte.

«Aaaaaah, tut das gut», stöhnte er erleichtert.

«Komm, lass uns gehen», drängte sie hoffnungsvoll. «Vielleicht wartet tatsächlich vor der Schule jemand auf uns.»

«Sag mal … sind wir tatsächlich durch die Zeit gereist?», fragte Kyle, dessen Gedanken nun auch zusehends klarer wurden.

«Ja, sieht so aus», sagte Lisa, die immer noch nicht verstand, warum der Zeitstrahl auch Kyle erfasst hatte. Sie streckte ihre etwas steifen Glieder und prüfte, ob ihre geliebten Flickenjeans auch dieses Mal den Sturz überlebt hatten. – Sie hatten. Zumal sie durch den Regenanzug geschützt gewesen waren.

«Aber in welchem Jahr sind wir denn? Ist das das Jahr 1990? Wo du herkommst?», fragte Kyle mit großen Augen.

«Definitiv nicht. Damals gab es noch kein Forschungszentrum. Und schon gar keine Autos mit leuchtenden Rädern.»

«Aber welches Jahr ist es dann?»

«Wenn ich’s wüsste, würde ich’s dir sagen.»

Lisa setzte sich langsam in Bewegung und zog Kyle am Arm mit sich.

«Los, komm.»

Sie hatte auf einmal ganz stark den Eindruck, dass sie hier schleunigst die Fliege machen mussten.

Nach kurzem Herumspähen entdeckte sie die Treppe, die neben dem Forschungszentrum den Hang hinaufführte und die es schon 2018 gegeben hatte. Die Treppe würde sie direkt hinauf zum Vorplatz führen, von wo aus sie auf die Straße zur Schule gelangen konnten.

Während sie die Stufen hochrannten, kreisten Lisas Gedanken nur noch um die eine Frage: Wie konnte Zac so ein fataler Fehler unterlaufen sein? Er, der doch jahrzehntelang alles darangesetzt hatte, sämtliche Fehlerquellen zu eliminieren, und ihr immer wieder versichert hatte, dass sie nichts zu befürchten hätte …?

«Was sind das eigentlich für Lichterketten am Himmel?», fragte Kyle auf einmal.

Lisa schaute gen Himmel und versuchte ausfindig zu machen, was Kyle meinte. Als sie genauer hinschaute, sah sie mehrere Lichter am rötlichen Firmament schweben. Auf den ersten Blick hätte man sie für Sterne halten können, wäre da nicht die dichte Wolkendecke gewesen. Doch die regelmäßige Formation, die in der Tat einer Lichterkette ähnlich sah, wies auch ohne Wolken darauf hin, dass es sich unmöglich um Himmelskörper handeln konnte.

«Ob das Drohnen sind …?»

Kyle schien auf einmal eine Art heftige Müdigkeit zu überfallen, denn er gähnte herzhaft.

Lisa kniff die Augen zusammen, um die seltsamen Lichter besser identifizieren zu können. Sie kam sich allmählich vor wie in einem Science-Fiction-Film. Auch sie merkte, dass ihre Glieder sich richtig schwer anfühlten. Am liebsten hätte sie sich gleich hier auf der Treppe zusammengerollt und ein paar Stunden geschlafen. Sie versuchte sich zusammenzureißen und zwang ihre Beine, die nächsten Stufen zu erklimmen.

Als sie das nächste Mal ihren Kopf hob, erblickte sie eine Gruppe Menschen in merkwürdig fluoreszierenden Anzügen, die erwartungsvoll vor ihnen standen.

«Was …», murmelte sie schwach, während ihr die Sinne zu schwinden drohten.

Nur unvollständige Gesprächsfetzen drangen an ihr Ohr.

«Zeitversetzung erfolgreich … Zeitreisende genau um 21:16 Uhr Ortszeit angekommen … Professor Elliott Bescheid geben … positiv … Sedativum wirkt … unversehrt … wir bringen sie sofort … verstanden. Sind auf dem Weg.»

Der rötliche Himmel und die merkwürdigen Lichter vermischten sich mit den Wortfetzen zu einem undurchsichtigen Traum, der sich wie eine schwere Decke über Lisas Bewusstsein legte.

Kapitel 2 Tausend Fragen

Als Lisa zu sich kam, fand sie sich in einem sterilen weißen Zimmer in einem weichen Bett wieder. Das Erste, was ihr in die Nase kroch, war der penetrante Geruch eines scharfen Desinfektionsmittels.

Vorsichtig richtete sie sich auf – oder besser gesagt, versuchte sie es –, als ein Ziepen an ihrer rechten Hand sie innewerden ließ, dass dieselbe in einer Bandage steckte und an einer Infusion hing. Außerdem trug sie ein lichtgrünes Nachthemd. Ganz eindeutig war sie in einem Krankenzimmer. Aber wie kam sie hierher? Hatte sie einen Unfall gehabt? Sie konnte sich nicht erinnern …

Neben sich hörte sie ein vertrautes Stöhnen. Erst jetzt sah sie, dass neben ihr noch ein Bett stand, in dem sich Kyles Strubbelkopf regte.

Er hob den Kopf und starrte Lisa an. Sein Gesicht strotzte nur so vor Verwunderung, als er bemerkte, dass auch er an einer Infusion hing.

«Wo sind wir?», krächzte er matt.

«Gute Frage», murmelte Lisa und strengte ihr Hirn an, um sich an irgendetwas zu erinnern.

Sie waren durch die Zeit gereist, so viel wusste sie noch, und dann waren sie auf einer merkwürdigen Brücke in der Zukunft angekommen, hatten seltsame Lichterketten gesehen, ein sonderbar geformtes Auto mit Lichträdern … und dann eine Sonde mit Wasserflaschen … Und dann? … Danach konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Oder doch?

Sie waren die Treppe neben dem Forschungszentrum hinaufgestiegen, hatten über sich den rötlichen Himmel betrachtet, und dann war auf einmal eine Gruppe Menschen vor ihnen gestanden.

Hatte man sie gekidnappt?

«Ich glaube, wir sind im Forschungszentrum», sagte sie vage. Sie ließ ihre Augen zur Zimmerdecke und zu den Wänden schweifen und stellte fest, dass der Raum überhaupt keine Fenster hatte. Die Beleuchtung, die anmutete wie Tageslicht, flutete irgendwo aus den Ecken der Zimmerwände, obwohl nirgendwo Lampen angebracht waren.

«Im Forschungszentrum? Aber wieso?» Kyle versuchte seine andere, infusionslose Hand zu heben, doch weit nach oben brachte er sie nicht, da sie in einer Manschette steckte und am Bett festgebunden war. Stirnrunzelnd betrachtete er seine Finger.

Ahnungsvoll bewegte Lisa ebenfalls ihre linke Hand und stellte fest, dass sie sie tatsächlich nicht weiter als zehn Zentimeter anheben konnte. Seltsam …

«Hatten wir einen Unfall?», fragte Kyle bestürzt.

«Nicht, dass ich wüsste», wollte Lisa gerade antworten, als die Tür aufging. Ein großer, kräftig gebauter Mann mit blondem, zerzaustem Haar betrat den Raum, gefolgt von einer Frau mit asiatischen Gesichtszügen, die mindestens zwei Köpfe kleiner war als er. Beide steckten in Anzügen von derselben lichtgrünen Farbe wie die der Nachthemden von Lisa und Kyle.

Auf den ersten Blick vermutete Lisa, dass sie Ärzte waren. Sie blieben eine Weile vor den Betten stehen und schauten auf die beiden Jugendlichen herab, während sie leise ein paar Worte miteinander austauschten. Sie wirkten sehr zufrieden, als hätten sie eben ein gelungenes Experiment hinter sich.

«Was geht hier ab?», fragte Lisa forscher, als ihr eigentlich zumute war.

«Habt ihr gut geschlafen?» Die asiatische Frau beugte sich mit einem professionellen Lächeln über sie, das so unecht wirkte, dass es ihre Augen nicht erreichte. Aus der Nähe betrachtet, zierte die Stirn der Frau ein feines, kunstvolles Tattoo, das aus Abertausenden filigraner, verschlungener Linien, Wellen und Mustern zu bestehen schien, ähnlich den ornamentalen Guillochen auf einem Geldschein. Das Ganze bildete die Form einer harmonischen, fünfblättrigen Südseeblume.

«Es tut uns leid, wenn wir euch erschreckt haben. Ihr müsst überhaupt keine Angst haben», sagte nun der blonde Mann mit fröhlicher Stimme und trat einen Schritt näher.

Weder Lisa noch Kyle antworteten. Lisa, weil sie misstrauisch war, und Kyle, weil er offensichtlich einfach zu müde war.

«Wir lassen euch gleich etwas zu essen bringen. Wie fühlt ihr euch?»

Lisa runzelte die Stirn. Was sollte diese dumme Frage? Wie sie sich fühlte?! – An ein Bett gebunden!

Das Wort «Essen» weckte Kyles Lebensgeister. Er hob in eifriger Erwartung den Kopf.

Statt einer Antwort fragte Lisa: «Was ist passiert? Hatten wir einen Unfall?»

«Aber nein», strahlte der blonde Mann und entblößte eine Reihe auf Hochglanz polierter Zähne. «Ihr seid nur eines der größten Phänomene des 21. Jahrhunderts.»

«Phänomen?» Lisa krauste die Stirn noch mehr, obwohl der Begriff «21. Jahrhundert» gleichzeitig auch eine gewisse Entwarnung in ihr auslöste. Sie waren immerhin noch im 21. Jahrhundert, und das erhöhte die Chance, dass zumindest einer ihrer Freunde noch am Leben war.

«Nun ja, wenn das alles wahr ist, was uns überliefert wurde, dann ist das Zeitreiseexperiment tatsächlich gelungen», jubelte der Mann und grinste sie mit seinen blitzblanken Zähnen an wie ein Showmaster sein Publikum. Lisa entzifferte sein Namensschild: «Dr. Prof. B. F. Elliott», stand dort.

«Ihr kommt nämlich aus dem Jahr 2018, nicht wahr?» Der Mann konnte anscheinend nicht mehr aufhören zu strahlen.

Lisa tauschte einen Blick mit Kyle. Vage nickte sie und bereute es sogleich. Vielleicht sollten sie besser nicht zu viel von sich preisgeben. Wer wusste, was diese Leute mit ihnen vorhatten?

«‹Ein historischer Tag für die Wissenschaft›, kann man da nur mit Freuden ausrufen! Somit gilt der weltberühmte Zachary Silverman tatsächlich offiziell als Erfinder der Zeitmaschine», schwelgte Professor Elliott und klatschte in die Hände.

Zac? Weltberühmt?

«Salbadern Sie nicht herum, Elliott», mahnte die schwarzhaarige Frau mit der Blume auf der Stirn grimmig. Lisa gelang es, auch ihren Namen auf dem Brustschild zu lesen. Sie hieß «Dr. Prof. Prof. Mian Zhao».

«In … ähm … welchem Jahr sind wir?», fragte Lisa.

Statt einer Antwort ging Professor Elliott mit stolzgeschwellter Brust zur gegenüberliegenden Wand, die mit einer gläsernen Scheibe überzogen war. Lisa wunderte sich, dass sie das erst jetzt wahrnahm. Der Professor hob seinen bloßen Arm an die Scheibe, auf der sogleich ein kleines Bild erschien, das er mit einer Daumen- und Zeigefingerbewegung vergrößerte.

Die Glasscheibe verwandelte sich in einen riesigen Bildschirm, auf dem ein dreidimensionaler Film einer Wettervorhersage der Stadt Tomsborough ablief – in der Mitte ihr Wahrzeichen, der gläserne Tower. Ein animiertes Spektakel von Wolken, Sonnenschein, und zwischendurch ein paar Regenschauer, tanzte durch den Raum, so dass Lisa, wenn sie gekonnt hätte, instinktiv ihre Hand danach ausgestreckt hätte, um die Wolken zu berühren. Erst auf den zweiten Blick wurde ihr klar, dass es sich um eine optische Täuschung handelte, die mittels einer ihr unbekannten Technik in den Raum projiziert wurde.

Und dann, auf den dritten Blick, bemerkte sie das Datum unten rechts im Bild.

TOMSBOROUGH, 8. SEPTEMBER 2047, 7:47 PM

«2047?», japste sie. Unter dem Datum las sie etwas von einem massiven Temperaturabsturz, nämlich von 32 Grad auf 18 Grad.

32 Grad, im September?

Kyle schoss vor Erstaunen hoch und jaulte gleich darauf auf, da ihn offenbar die Nadel der Infusion pikste.

«Keine Angst», strahlte Professor Elliott. «Alles läuft exakt nach Plan. Ihr seid vor 29 Jahren, genau genommen am 22. Juni 2018, mittels eines Time Transmitters in die Zukunft, sprich, in unsere Gegenwart, versetzt worden. Gemäß der Aufzeichnungen wussten wir, dass ihr gestern, am 7. September 2047, um genau 21:16 Uhr Ortszeit hier auftauchen solltet. Wir haben alles vorbereitet.»

«Was vorbereitet?» Lisa fand den Mann wirklich komisch.

Statt ihre Frage zu beantworten, rasselte Professor Elliott unbekümmert weiter: «Ist das nicht genial? Ich persönlich war mir ja nie sicher, ob ich daran glauben soll, dass Zeitreisen wirklich machbar sind, aber hier haben wir den lebenden Beweis. Das eröffnet uns ganz neue Perspektiven! Es ist der absolute Durchbruch für die Wissenschaft, wenn nicht gar für die ganze Menschheit.» Er fuhr sich mit den Händen aufgeregt durchs Haar und zerzauste es noch mehr. Wahrscheinlich wäre er am liebsten im Zimmer herumgetanzt.

«Und stellt euch nur vor: Das wird der Hit! Der absolute Knüller. Die Medien werden sich um euch reißen. Ihr werdet Weltstars werden, das garantiere ich euch!»

«Bitte mäßigen Sie sich, Elliott», wies Professorin Zhao ihn streng zurecht. «Noch ist es nicht so weit. Wir haben zu tun.»

All die enthusiastischen Ausführungen von Professor Elliott prallten an Lisa ab. Ihre Gedanken zirkulierten nur um eine einzige Sache. Ihr Hirn hatte fieberhaft zu rechnen begonnen.

2047 – das bedeutete, dass Zac, ihr bester Freund und der geniale Erfinder der Zeitmaschine, nun etwa 74 Jahre alt sein musste. Ebenso Britt, ihre beste Freundin, und Morgan … Momo … du meine Güte … Lisa hätte sich vor Schreck die Hände vors Gesicht geschlagen, hätte sie ihre Arme bewegen können.

Und Doc Silverman, Zacs Vater … den Gedanken wollte sie lieber gar nicht zu Ende denken. Doc Silverman konnte unmöglich noch leben – er wäre längst über hundert Jahre alt!

Dann erst begann sie die weiteren Informationen zu verarbeiten. Zac war weltberühmt? Wie konnte das sein? Ausgerechnet Zac, der die Öffentlichkeit scheute wie eine Eule das Tageslicht? Und wenn dem wirklich so war, warum war Zac dann nicht hier? Warum hatte er sie und Kyle einfach diesen Wissenschaftlern überlassen?

Etwas stimmte hier nicht. Sie witterte Gefahr. Sie witterte sogar außerordentliche Gefahr, und sie hatte hervorragende Sensoren für Gefahren.

«Im Übrigen, Miss Lambridge – so heißen Sie doch, oder? –, sind Sie schon einmal durch die Zeit gesprungen, hab ich recht?»

Lisa wunderte sich, woher der Kerl ihren Namen kannte – ihren richtigen, originalen Namen aus dem Jahr 1989. Sie hatte sich längst daran gewöhnt, dass sie in allen Zeiten verschiedene Namen trug. Lisa Lambridge hieß sie in echt, aber in der Zukunft hatte sie auch die Namen Lee Butterfly und Leonor Whitfield benutzt. Und dann gab es da noch den Kosenamen Lee-Lee, den Morgan ihr gegeben hatte.

Morgan – oder Momo, wie sie ihn nannte. Ihr über alles geliebter Momo, mit dem sie ihre Kindheitsjahre verbracht und den sie als 45-Jährigen im Jahr 2018 vor dem Tod gerettet hatte. Nie hatte sie aufgehört, ihn zu lieben, doch er hatte ihre Liebe nicht so erwidert, wie sie es sich gewünscht hätte. Noch immer tat ihr das Herz weh beim Gedanken an ihn …

«Sie kommen nämlich ursprünglich aus dem Jahr 1989», redete Professor Elliot weiter. «Sie sind das vermisste Mädchen, über das so schrecklich viel spekuliert wurde und über das regelrechte Legenden erfunden worden sind. Im Archiv befinden sich alte Videoaufnahmen von Ihrer Ankunft auf der alten Brücke damals im Jahr 2018. Hochinteressante Sache. Ich habe sämtliche Zeitungsartikel und Newsmeldungen von Ihnen studiert. Wer Sie allerdings sind, wissen wir nicht genau.» Professor Elliott wandte sich an Kyle: «Wir wurden lediglich darüber informiert, dass ein Mädchen durch die Zeit gesprungen ist. Aber nun, aus irgendeinem Grund waren Sie wohl auch dabei. Nun, wie auch immer, Sie, Miss Lambridge, sind der interessanteste Fall, der …»

«Genug jetzt.» Wieder erklang die messerscharfe Stimme von Professorin Zhao, die dem schwärmenden Blondschopf das Wort abschnitt.

Lisa wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.

«Warum sind wir ans Bett gebunden?», wollte sie wissen.

«Reine Vorsichtsmaßnahme», antwortete die Professorin leicht ungeduldig.

«Vorsichtsmaßnahme?»

«Nun, wir mussten sicherstellen, dass ihr uns nicht davonlauft und am Ende kollabiert, weil eure Körper aufgrund der Zeitversetzung komplett dehydriert sind. Daher ja auch die Infusionen.»

Doch das machte Lisa nur noch misstrauischer.

«Und was passiert jetzt?», fragte sie und bemühte sich, ihre Stimme ruhig zu halten. «Können wir wieder nach Hause?»

«Aber natürlich könnt ihr wieder nach Hause.» Professor Elliott bemühte sich um ein noch intensiveres Strahlen, wenn das überhaupt möglich war. «Wir möchten vorher nur …»

«Sobald die notwendigen Untersuchungen abgeschlossen sind, werden wir euch einem professionellen Team zuweisen, das die Zeitversetzung zurück in die Vergangenheit vornehmen wird», unterbrach Professorin Zhao ihren Kollegen barsch.

Irgendetwas im Gesicht der Frau teilte Lisa mit, dass sie nicht die Wahrheit sprach.

«Was für Untersuchungen?»

«Nun, wir müssen natürlich wissen, was für Auswirkungen Zeitreisen auf den menschlichen Körper haben.» Die Professorin wirkte genervt, als würde sie mit besonders begriffsstutzigen Schülern sprechen. «Das brauchen wir für unsere Forschungszwecke.»

«Auswirkungen?» Dieses Mal war es Kyle, der die Frage stellte. Er hatte bis jetzt geschwiegen und dem Gespräch mit offenem Mund zugehört.

«Ja, Auswirkungen.» Professorin Zhaos Geduldsfaden war sichtlich am Reißen. «Oder glauben Sie etwa, Zeitreisen gehen spurlos am Körper vorüber?»

«Ihr müsst euch wirklich überhaupt keine Sorgen machen», versicherte Professor Elliott salbungsvoll. «Wir brauchen nur ein paar klitzekleine Tests für unsere Forschungsunterlagen. Wir werden euch jetzt etwas zu essen bringen lassen. Keine Angst, ihr werdet bald losgebunden. Denkt dran, ihr könntet vielleicht eines Tages die Rettung für die Menschheit sein!» Wieder schien der Mann vor Eifer fast zu bersten.

Rettung für die Menschheit?

Langsam klang das hier wirklich nach Science-Fiction, fand Lisa.

Professor Elliott trat erneut zur Glaswand und ließ die Wetteranzeige mit Daumen und Zeigefinger zu der Größe einer Kreditkarte schrumpfen. Dann wischte er sie zur Seite und ließ sie von der Bildfläche verschwinden. Erst jetzt sah Lisa, dass er an seinem rechten Handgelenk ein Tattoo hatte, das dem ähnelte, welches Professorin Zhao an der Stirn trug, doch statt einer Blume hatte es bei ihm die Form eines fünfzackigen Cannabisblattes.

Lisa versuchte sein Alter zu schätzen. Vermutlich war er um die fünfzig. Das bedeutete, dass er irgendwann in den Neunzigerjahren geboren sein musste.

Nachdem die beiden Wissenschaftler den Raum verlassen hatten, tauschten Lisa und Kyle zuerst mal einen langen, verblüfften Blick aus. Beide hatten mindestens tausend Fragen.

«Also, ich komm hier echt nicht ganz mit», sprudelte Kyle los. «Warum sind wir im Jahr 2047? Hättest du nicht nach 1990 geschickt werden sollen? War die Zeitmaschine nicht auf dieses Datum eingestellt?»

«Doch, aber irgendetwas muss gewaltig schiefgelaufen sein», sagte Lisa. «Obwohl ich keine Ahnung habe, was. Zac hat doch alles so genau geprüft. Aber warum bist du überhaupt hier?»

«Ähm … ich weiß nicht, auf einmal war um mich herum blaues Licht. Ich wollte Onkel Morgan von der Brücke zerren, und dann wollte ich dir helfen, weil die Polizisten dich festhielten. Ich hab dich auf die Brücke gezogen, und dann … kam dieser Sog. Ich war nicht schnell genug …»

«Verstehe.» Lisa schloss für einen Moment die Augen und versuchte, sich an das Szenario auf der Brücke zu erinnern. Morgan war hinter ihr gestanden, und auf einmal hatten zwei Polizisten sie festgehalten und versucht, sie daran zu hindern, zur Mitte der Brücke zu gelangen. Morgan hatte sich auf die Polizisten gestürzt, um sie zu befreien, und hatte sich dabei am Fuß verletzt.

Dann war Kyle auf einmal angerast gekommen und hatte seinen Onkel von der Brücke gezerrt, damit dieser nicht vom Zeitstrahl erfasst würde, und war dadurch offensichtlich selbst Beute des Wurmlochs geworden …

«Meinst du, die können uns wieder nach Hause bringen?», holte Kyles Stimme sie in die Wirklichkeit zurück.

Lisa verzog das Gesicht. «Ich weiß es nicht. Ich hoffe es.» Sollte sie Kyle ihre misstrauischen Gedanken mitteilen? Sie war sich nicht sicher, ob Kyle die Situation wirklich durchblickte. Er war manchmal eine Spur zu gutmütig und leichtfertig, um auf die Idee zu kommen, dass jemand es böse mit ihm meinen könnte. Sie wollte ihn nicht beunruhigen. Jedenfalls nicht, ehe sie nicht einen Plan geschmiedet hatte.

Ihre Gedanken griffen die Fragen wieder auf, die sie vorher schon versucht hatte zu entschlüsseln: Warum hatte Zac es zugelassen, dass diese Wissenschaftler sie buchstäblich kidnappten und ans Bett fesselten? Wieso hatte er nicht bei der Brücke auf sie gewartet? Wieso war das Forschungszentrum dafür zuständig, sie wieder nach Hause zu bringen, und nicht Zac?

Dann, auf einmal, durchbohrte die mögliche Antwort wie ein jäh abgeschossener Pfeil ihre Gedanken: Konnte es sein, dass Zac gar nicht mehr lebte? Nur weil er weltberühmt war, hieß das noch lange nicht, dass er auch noch am Leben war. Konnte es sogar sein, dass überhaupt keiner ihrer Freunde mehr lebte, weder Zac noch Britt noch Morgan?

Konnte es sein, dass sie alle tot waren, man es ihr aber nicht sagen wollte, um sie zu schonen?

«Was ist?» Kyle sah ihr offenbar an, dass sie mit unangenehmen Gedanken kämpfte.

«Ich frage mich, ob irgendjemand, den wir kennen, noch lebt», murmelte sie. «Und ob das der Grund ist, dass sie uns hierhergebracht haben, weil keiner sonst mehr da ist, der uns helfen kann.»

«Du meinst …?» Kyle sah sie mit großen Augen an.

«Nun ja, Morgan, Britt und Zac sind immerhin über siebzig …» Wer wusste zudem, ob Morgan sein Alkoholproblem überwunden hatte? Vielleicht war er daran gestorben? Wer konnte das schon wissen? Doch das erwähnte sie nicht in Kyles Gegenwart.

«Hm …» Die Zuckungen von Kyles Hand sahen aus, als wolle er sich an seinem struppigen Schädel kratzen. Natürlich ging das mit gebundenen Händen nicht.

«Aber Angela müsste doch zumindest noch leben», sagte er plötzlich. «Sie hat ja überhaupt erst rausgefunden, dass du durch die Zeit gereist bist.»

«Stimmt.» Lisas Gesicht erhellte sich bei dem Gedanken. Angela Cox musste nun etwa 46 sein, und damit war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie noch lebte. Sensibel und intelligent, wie Angela war, konnte man ihr durchaus zutrauen, dass sie über die Sache Bescheid wusste.

Vorausgesetzt, sie lebte noch hier in Tomsborough. Vielleicht war sie auch irgendwohin ausgewandert und hatte die Geschichte längst vergessen.

Ach, nach fast dreißig Jahren konnte sich so vieles geändert haben …

Lisa versuchte sich vorzustellen, wie lange dreißig Jahre waren. Es war fast das Doppelte ihrer bisherigen sechzehnjährigen Lebenszeit. Eine halbe Ewigkeit …

Und wie sollte man überhaupt mit irgendjemandem da draußen Kontakt aufnehmen, wenn man hier drin quasi gefangen war?

Kyles Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als eine junge blonde Assistentin einen Wagen mit Essen hereinbrachte. Dahinter traten wieder die beiden Wissenschaftler in den Raum.

Professorin Zhao löste die Manschetten von Lisas und Kyles Händen, damit sie essen konnten, und befreite sie auch von der Infusion, während Professor Elliott mit glücklichem Gesicht zuschaute, als wäre er ein Kind, das seine Weihnachtsgeschenke auspacken durfte. Lisa fragte sich, ob dieser Mensch je aufhören konnte zu grinsen.

«Eine Frage», sagte sie, bevor sie einen Bissen von dem Teller nahm, der ihnen auf einem Beistelltisch am Bett serviert worden war. «Wir haben Freunde hier und würden gerne wissen, ob sie noch leben. Zac Silverman zum Beispiel, der die Zeitmaschine erfunden hat.»

«Keine Sorge», versicherte Professorin Zhao. «Es ist alles in bester Ordnung.»

Sie scheuchte die blonde Assistentin schroff davon, und diese verließ den Raum, jedoch nicht ohne einen kurzen verstohlenen Blick auf Lisa und Kyle zu werfen.

«Können Sie bitte meine Frage beantworten?», bohrte Lisa nach. Sie hasste es, wenn Leute so um den Brei herumredeten.

«Nur Geduld», sagte Professorin Zhao in leicht spöttischem Tonfall. «Alles zu seiner Zeit. Jetzt hört endlich auf, so misstrauisch zu sein. Wir haben euch gesagt, dass wir euch wieder nach Hause bringen, und dabei bleibt es.»

Lisa fühlte, wie der alte Hitzkopf in ihr langsam die Oberhand gewann. Sie musste sich fest auf die Zunge beißen, um nicht etwas Unüberlegtes zu erwidern.

Vorsicht, mahnte sie sich. Bring dich nicht wieder in Gefahr!

Instinktiv tastete sie mit der nun freien Hand an ihren Nacken und stellte mit Schrecken fest, dass ihre Uhrenkette weg war. Schock durchströmte sie wie ein eiskalter Schneesturm.

Die Uhrenkette war das Kostbarste, was sie besaß. Wenn sie eins wusste, dann, dass sie sie vor der Reise durch die Zeit noch getragen hatte. Sie war der Kette wegen extra noch mal in die WG zurückgekehrt und hatte dabei das aufschlussreichste Familientreffen ihres Lebens gehabt. Ihr Bruder Thomas … seine Frau Fanny … beide 29 Jahre älter … und ihre zukünftigen Nichten, die erst viele Jahre nach ihr geboren wurden …

Da war noch so viel, das nach einer Antwort schrie!

«Wo ist meine Kette?», fragte sie panisch. «Jemand hat mir meine Kette abgenommen.»

«Verhalt dich ruhig, Mädchen! Deine Kette und alle eure persönlichen Gegenstände liegen in der Schublade deines Nachtschränkchens», sagte Professorin Zhao böse.

Da schaltete sich Professor Elliott wieder ein, dessen Stimme im Gegensatz zu dem unterkühlten Sprechorgan von Professorin Zhao die reinste Melodie war.

«Wir verstehen ja, dass das alles ungewohnt ist. Wir wollen euch auch überhaupt nicht ängstigen. Aber wir müssen diese Untersuchungen mit euch machen. Wir müssen wissen, ob eure Molekularstruktur intakt ist, bevor wir euch in der Zeit zurücksenden können.»

«Also ich fühle mich ziemlich intakt», konterte Lisa.

«Das andere Problem ist die Gefahr eines Zeitparadoxons, wenn wir euch zurücksenden», führte Professor Elliott weiter aus. Seine runden Wangen füllten sich mit eifriger Röte. «Gemäß unserer Forschungen wissen wir, dass wir euch in eine parallele Zeitlinie zurücksenden müssen. Das müssen wir alles sehr vorsichtig planen.»

«Elliott, würden Sie bitte …»

«Parallele Zeitlinie?»

«Nun ja – wir vertreten die Theorie eines Paralleluniversums», schwärmte Professor Elliott. «Das ist nicht ganz so einfach zu bewerkstelligen. Eventuell …»

«Elliott!», knurrte Professorin Zhao.

«Nun, nun, wie gesagt, wir erklären euch alles später!» Professor Elliott hob abwehrend die Hände.

Später, dachte Lisa grummelnd. Immer wurde alles auf später verschoben! Zudem hatten Doc Silverman und Zac nie von einem Paralleluniversum gesprochen.

«Und warum kann Zac Silverman sich nicht um unsere Rückkehr kümmern?», fragte Lisa und schielte hinüber zu Kyle, der sich bereits mit voller Hingabe über das Essen hermachte. «Immerhin ist er derjenige, der am besten darüber Bescheid weiß, zumal er die Zeitmaschine erfunden hat.»

«Weil wir von Zachary Silverman persönlich den Auftrag bekommen haben», sagte Professorin Zhao kühl, ehe Professor Elliott den Mund wieder auftun konnte.

«Ach ja? Haben wir das tatsächlich?» Professor Elliott wühlte sich durchs Haar.

«Ich werde dem Mädchen jetzt ein Sedativum injizieren, dessen Wirkung nach einer halben Stunde einsetzt», sagte Professorin Zhao statt einer Antwort. «Dann kann sie sich nach dem Essen noch mal gründlich ausruhen, bevor wir mit den Untersuchungen starten.»

«Oh, das ist nicht nötig …» Lisa reagierte blitzschnell und gab sofort ein herzhaftes Gähnen zum Besten. «Ich bin … bereits so furchtbar müde … am liebsten möchte ich gleich weiterschlafen.» Wie ein Sack ließ sie sich ins Kopfkissen sinken und schloss die Augen gerade so weit, dass sie durch einen kleinen Schlitz ihrer Lider erkennen konnte, wie Professorin Zhao ihre Hand wieder vom Medikamenten-schrank zurückzog.

«Schön. Dann essen Sie jetzt etwas, Miss Lambridge.»

«Genau. Essen Sie was und ruhen Sie sich aus. Wir kommen später wieder, und dann werden wir euch alles, alles erklären», sagte Professor Elliott so fröhlich, als handle es sich um die Instruktion für eine Geburtstagsparty.

«Dort hinten ist übrigens eine Toilette.» Professorin Zhao zeigte kühl auf eine Tür gegenüber an der Wand.

Lisa nickte schläfrig und hoffte, dass dieser Dauergrinser und die Eisprofessorin endlich Leine ziehen würden. Sie musste dringend einen Plan erarbeiten, solange ihre Hände noch frei waren!

Sie hörte, wie die beiden Wissenschaftler den Raum wieder verließen und wie die Tür zugeschoben wurde und fest in ihr Schloss fiel. Ein metallenes Schnarren ließ nicht den geringsten Zweifel aufkommen, dass die Tür verriegelt worden war.

Lisa schlug vorsichtig die Augen wieder auf.

«Lee?», fragte Kyle zwischen zwei Bissen. «Schläfst du im Ernst? Hast du keinen Hunger?»

«Nein», sagte Lisa und richtete sich auf. «Ich schlafe nicht. Ich hab nur so getan, damit sie mir kein Schlafmittel spritzt.»

«Psst», mampfte Kyle. «Sag das besser nicht zu laut. Hier drin hat es bestimmt eine Menge Überwachungskameras.»

«Meinst du?» Daran hatte Lisa gar nicht gedacht. Sie schaute sich um, konnte aber nirgendwo etwas Auffälliges entdecken. Außer einem Stuhl, einem Tisch und einem Schrank stand nichts weiter im Raum.

«Ich bin sicher, im Jahr 2047 sind die Kameras und Mikrofone so klein, dass man sie mit bloßem Auge nicht mehr sehen kann», sagte Kyle flüsternd. «Wahrscheinlich sind sie sogar irgendwo an den Nachtschränkchen angebracht. Wenn du also so tun willst, als ob du schläfst, dann tu besser weiter so. Außer, du willst was essen?»

Lisa dachte nach. Fürs Essen hatte sie zwar immer noch keinen Nerv, doch vielleicht war es ganz klug, ein paar Bissen zu sich zu nehmen. Wer wusste, was noch alles auf sie zukommen würde und was diese Wissenschaftler wirklich mit ihnen vorhatten.

«Irgend so ein veganer Fraß», brummte Kyle, als er Lisa zusah, wie sie vorsichtig einen Bissen Fleisch auf die Gabel aufspießte und sich über die Konsistenz wunderte. «Wahrscheinlich haben sie den Fleischkonsum wegen dem CO2-Ausstoß reduziert.»

Lisa würgte schnell ein paar Bissen runter und ging danach gleich auf die Toilette, in der Hoffnung, dort vielleicht eine Fluchtmöglichkeit zu finden, was sich natürlich als Niete entpuppte. Der Raum erfüllte lediglich seinen Zweck, mehr nicht.

Sicherheitshalber rüttelte sie auf dem Weg zurück ins Bett ein paar Mal an der Metalltür, hinter der die Professoren verschwunden waren, doch wie sie befürchtet hatte, war diese massiv und gnadenlos verriegelt. Sie hatte auch kein richtiges Schloss, sondern funktionierte wohl via Daumenscanner oder dergleichen, wie Lisa mit einem Blick auf einen grünlich schimmernden Sensor feststellte.

Schließlich legte sie sich wieder ins Bett, obwohl sie innerlich am liebsten die Decke hochgegangen wäre. Wenn ihr nur eine brauchbare Idee eingefallen wäre! Doch solange sie in dieser fensterlosen Zelle eingesperrt waren, gab es so gut wie kein Entrinnen. Sie hätte gern gewusst, was für eine Uhrzeit sie hatten. Gemäß der Wettervorhersage, die sie vorhin gesehen hatten, musste es irgendwann am frühen Abend sein.

Kyle hatte sich ebenfalls hingelegt. Sie lagen einander zugewandt und zogen sich die Decken über den Kopf, um sich darunter zu verbergen. Zwischen ihren Betten war ein Abstand von etwa einem Meter, so dass sie sich im Flüsterton unterhalten konnten.

«Ich hab noch hunderttausend Fragen», wisperte Kyle. «Ich hatte gar keine Zeit, die alle zu stellen. Ich bin immer noch nicht sicher, ob ich das alles nicht nur träume.»

«Ich bin nicht sicher, ob ich die Antworten weiß.»

«Wie hat das jetzt genau funktioniert mit dieser Zeitmaschine? Ich hab das immer noch nicht ganz begriffen. Wieso haben dich die beiden Wissenschaftler, Zac und sein Vater, damals überhaupt zu uns ins Jahr 2018 geschickt?»

«Es war ein Versehen», murmelte Lisa. «Zac hat dieses Wurmloch bei der Brücke entdeckt und den Time Transmitter erfunden. Wir wollten ihn testen, aber es ging schief. Dann ist auf einmal mein älteres Ich aus dem Jahr 2018 aufgetaucht. Wir hätten sie eigentlich wieder zurücksenden sollen, aber stattdessen bin ich durch das Wurmloch gerutscht.»

«Wie? Sag bloß – du hast dein älteres Ich gesehen?»

«Ja. Ich hab mich selbst als reife Lady getroffen», erwiderte Lisa trocken.

«Oh mein Gott!», stöhnte Kyle. «Heißt das etwa, ich werde hier auch meinem älteren Ich begegnen, hier im Jahr 2047? Meine Güte … ich wäre jetzt 46.»

«Tröste dich: Ich wäre 74», sagte Lisa, die mit solchen Gedankengängen mittlerweile vertraut war. «Ob du dir selbst begegnen wirst? Kommt drauf an.»

«Worauf?»

«Ob wir je wieder zurückkehren.»

«Wie meinst du das? Meinst du, dass sie uns tatsächlich nicht mehr freilassen?»

«Ja, so in etwa. Denn gesetzt den Fall, du wirst nicht wieder nach 2018 zurückkehren, dann kann im Jahr 2047 auch kein älteres Ich von dir existieren, weil du ja dann von 2018 an nicht mehr da bist und auch nicht mehr alterst.»

«Hä?»

«Gib’s auf, es ist zu kompliziert, es verstehen zu wollen. Aber glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.»

Kyle runzelte die Stirn, und Lisa sah, wie es dahinter ratterte. Er blinzelte und starrte mit seinen graugrünen Augen an die lichtdurchflutete Decke. In diesem Moment sah er seinem Vater Steven unglaublich ähnlich. Dass Kyle der Sohn von Steven Kendall, Morgans älterem Bruder war, hatte sie bei ihrer Ankunft im Jahr 2018 mindestens genauso geschockt wie die Tatsache, überhaupt 29 Jahre in die Zukunft gereist zu sein …

«Warum war denn von dir im Jahr 2018 kein älteres Ich da?», kam Kyles unvermeidliche Frage. «Heißt das, dass …»

«Dass ich aus irgendeinem Grund nicht zurückgekehrt bin. Nicht zurückkehren werde», sagte Lisa mit schwerem Herzen.

«Was? Warum denn nicht?»

Sie seufzte. Bislang hatten sie ja nur darüber spekulieren können. Die Antwort darauf hatten sie nicht gefunden. Konnte der Grund der sein, dass sie tatsächlich in einer Zeitschleife gelandet war? Und dass sie nur noch vorwärts-, aber nicht mehr zurückreisen konnte? Waren sie deswegen in der Zukunft statt in der Vergangenheit gelandet?

Ihr wurde heiß und kalt bei dem Gedanken.

Was, wenn auch Kyle nicht zurückkehren konnte? Aus welchen Gründen auch immer? Was würde seine Familie tun? Steven und Beverly, seine Eltern … und Elly, seine Schwester?

Plötzlich wurde ihr die Tatsache bewusst, dass Kyle bei der Zeitreise nicht gealtert war, genauso wenig wie sie selbst. Sie dachte an das Gespräch zurück, das sie mit Professor Ash im achten Untergeschoss des Forschungszentrums geführt hatte, und auch daran, was Doc Silverman ihr alles über das Raum-Zeit-Kontinuum erklärt hatte.

Professor Ash war genau wie sie im Jahr 1989 durch die Zeit gereist, fast dreißig Jahre in die Zukunft, aber im Gegensatz zu ihr war sein Körper dabei gealtert; sprich, er war, gemäß seiner eigenen Aussage, fast dreißig Jahre älter aus dem Wurmloch herausgekommen.

Lisa hingegen war trotz Zeitreise sechzehn geblieben. Eine vermutliche Erklärung dieses Paradoxons lief darauf hinaus, dass Lisas älteres Ich bereits einmal in die Vergangenheit gereist war und Lisa somit für eine Weile im Jahr 1989 zweimal vorhanden gewesen war, und die jüngere Lisa dann versehentlich an der Stelle ihres älteren Ichs in die Zukunft gereist war. Die beiden Lisas hatten ihre Zeiten also «getauscht» und dadurch offenbar ein Paradoxon kreiert, so dass die Zeitlinie angeblich nicht mehr wusste, wann sie welche Lisa genau zuordnen musste.

Professor Ash hingegen hatte nur einen einzigen Zeitsprung in die Zukunft gemacht, war aber nicht zurückgekehrt, weswegen es für ihn nur eine einzige Zeitlinie gab.

Jedenfalls schlussfolgerte sie dies gemäß den Aussagen von Doc Silverman und denen von Professor Ash. Aber es war eh alles viel zu kompliziert, und sie hatte längst aufgegeben, wirklich verstehen zu wollen, auf welche Art und Weise die Zeitlinien ineinander verschachtelt waren.

Konnte Kyles ausgebliebener Alterungsprozess etwa bedeuten, dass auch er einem ähnlichen Paradoxon wie Lisa unterlag und am Ende zweimal vorhanden war hier im Jahr 2047? Dieser Gedanke ließ sie etwas Hoffnung schöpfen, denn wenn Kyle tatsächlich hier in einer älteren Version vorhanden war, dann bedeutete dies doch, dass er zurückgekehrt war oder zurückkehren würde, oder etwa nicht?

Und was war mit ihr selbst?

Sie hielt sich die Hand vors Gesicht und betrachtete ihre zarte, sechzehnjährige Haut. Im Jahr 2047 müsste sie 74 sein, und das war sie definitiv nicht. Bestand für sie dieselbe Hoffnung wie für Kyle? Oder war sie längst verloren in Raum und Zeit?

«Lee, denkst du, diese Leute sind gefährlich?»

«Also, ich traue ihnen nicht», sagte Lisa. «Dass sie nicht rausrücken mit der Sprache, hat doch einen Grund. Was für Untersuchungen wollen sie mit uns machen? Und wieso bringen sie uns nicht zu Zac? Ich glaube nicht, dass sie uns die Wahrheit sagen. Ich glaube auch nicht, dass Zac ihnen den Auftrag gegeben hat. Das würde Zac nie tun. Er würde den Time Transmitter niemals freiwillig jemand anderem anvertrauen.»

Kyle verzog das Gesicht. «Und denkst du, dass dieser Wissenschaftler, Zac Silverman, noch lebt und uns zurückbringen kann?»

«Das hoffe ich sehr», sagte Lisa. «Und auch Morgan und Britt. Ich hoffe, wir erfahren bald mehr.»

Kyle sah aus, als ob er etwas rechnete.

«Wann ist eigentlich Onkel Morgan geboren? Weißt du das gerade?»

«Du weißt das nicht? 1973, so wie ich.»

«Ach ja, stimmt, ich Esel.» Kyle schlug sich an den Kopf. «Tja, dann dürfte er nun um die 74 sein.»

«Wie ich vorhin sagte.» Sie durfte gar nicht dran denken. Sich Momo als 74-jährigen Mann vorzustellen, überstieg ihren Horizont und mutete ziemlich unheimlich an. An den 45-jährigen Momo hatte sie sich erstaunlicherweise gewöhnt, aber alles darüber hinaus erschreckte sie.

Auf einmal machte Kyle ein Gesicht, als hätte er eben ein sehr gruseliges Gespenst gesehen.

«Oh Gott … Mum und Dad … Dad ist nun 78. Und Mum 75. Oh mein Gott … die sind jetzt steinalt!»

Lisa sagte nichts und dachte an ihren Bruder Thomas. Auch er wäre nun 78, falls er noch lebte, was sie nach dem prägenden Erlebnis kurz vor ihrer Abreise bezweifelte. Es war ihrem Bruder gar nicht gutgegangen. Sie hatte ihn kurz gesehen, blass wie eine Leiche, kaum noch Haare auf dem Kopf, schwer krank … Dieses Bild hatte sich in ihr Herz eingebrannt, und sie wusste, dass es sie noch lange in ihren Träumen foltern würde.

Irgendwie wurde es für sie immer schwerer zu ertragen, so viel über die Zukunft zu wissen. Sie musste unbedingt weiter an einem Plan arbeiten, hier schleunigst wieder rauszukommen. Eine klitzekleine Idee war ihr vorhin durch den Kopf geschossen.

«Sag mal, Kyle, ist dein Smartphone hier irgendwo?», wisperte sie.

«Ja. Liegt in der Schublade bei deiner Kette.»

«Vielleicht hast du ja hier drin Empfang?»

«Kaum, wenn ich schon draußen keinen hatte», meinte er. «Denk nach, mein modernes 2018-Smartphone ist im Jahr 2047 ein antikes Teil! Außerdem hätten sie es mir doch sicher abgenommen, wenn ich damit etwas anstellen könnte.»

Kyle hatte 2018 tatsächlich ein recht neues und vor allem hochwertiges Modell besessen. Er holte es aus der Schublade und starrte es nachdenklich an.

«Mein Gerät ist definitiv nicht kompatibel mit dem Mobilfunknetz von 2047. Die haben bestimmt schon mindestens 10G oder noch weiter. Wir waren 2018 gerade mal bei 4G.»

«Und WLAN?» Lisa hatte nach anfänglichen Verwirrungen gelernt, was der Unterschied zwischen Mobildaten und WLAN war.

«No way.» Kyle drehte sein Smartphone in den Händen. «Ich kann höchstens versuchen, ob ich eine SMS versenden oder jemanden anrufen kann. Allerdings bezweifle ich, dass es im Jahr 2047 etwas so Vorsintflutliches wie SMS überhaupt noch gibt. War ja schon im Jahr 2018 ziemlich retro.»

«Im Jahr 1989 müssen die erst mal erfunden werden», murmelte Lisa, während ihre neu aufgekeimte Hoffnung langsam wieder schrumpfte.

«Am 3. Dezember 1992 wurde die SMS erfunden», sagte Kyle mit einem leichten Grinsen. «Hatten wir im Geschichtsunterricht.»

«Wow, toll. Nur noch ganze drei Jahre …», murmelte Lisa. «Tja, dann bin ich mit meinem Latein am Ende, wie wir hier rauskommen sollen.»

«Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als einfach abzuwarten», sagte Kyle und verkroch sich noch tiefer unter seiner Decke.

In dem Moment ging die metallene Schiebetür wieder auf.

Kapitel 3 Flug mit dem Aeromobil

Es war die blonde Assistentin, die etwas schüchtern den Raum betrat.

Oh nein, dachte Lisa, als sie die junge Frau erblickte. Zu spät! Sie kam bestimmt, um das Essen wegzuräumen und sie wieder ans Bett zu fesseln.

Doch zu Lisas Überraschung winkte die junge Frau sie und Kyle hastig heran.

«Schnell!», zischte sie nervös. «Folgt mir!»

«Wieso?»

«Pssst!» Sie legte ihren manikürten Finger auf die Lippen und schaute sich ängstlich um.

Mit einem Satz war Lisa aus dem Bett. Sie hatte mit einem Mal begriffen, dass diese Frau aus irgendeinem Grund auf ihrer Seite war und gerade im Begriff stand, etwas zu tun, wovon die Wissenschaftler keine Ahnung haben sollten. Wollte sie ihnen etwa zur Flucht verhelfen?

Ihr Herz pochte aufgeregt. Blitzschnell öffnete sie die Schublade und holte ihre Uhrenkette heraus. Was immer diese junge Frau mit ihnen vorhatte, ohne ihre wertvolle Kette, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, würde Lisa nirgendwo hingehen.

Sie wandte sich an Kyle.

«Komm!», drängte sie.

«In diesem Krankenhaushemd?» Kyle starrte an sich runter.

Lisa zuckte nur mit den Schultern. Die lichtgrüne pyjamaähnliche Kleidung und die bloßen Füße waren nun wirklich ihr kleinstes Problem. Wo ihre geliebten Flickenjeans und ihre 1989er-Klamotten geblieben waren, wollte sie gar nicht mehr wissen. Die waren wohl endgültig in Raum und Zeit verloren.

Endlich sprang auch Kyle aus dem Bett und krallte sich sein Smartphone.