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3 makabren Kurzgeschichten: 1- Tödliche Tagträume: Der exzentrische Universitätsprofessor Jeremy Daly unterrichtet an einer englischen Schule Jugendliche und muss feststellen, dass ihn das Grauen aus seinen Kindertagen wieder einholt. Diese Erkenntnis über sich selbst erlangt er, als er der Schülerin Denise näher kommt. Diese Geschichte schildert in psychologisch aufgebauten, fesselnden Teilen den Weg eines Menschen, der alles versucht hat, um mit sich ins Reine zu kommen und der jedoch am Ende scheitert. 2- Alles Kulisse: Jonathan Barkin, ein katholischer Priester, wird in eine Geschichte von Mord, Liebe und Haß verwickelt. Als Sohn von Schauspielern ist ihm jede Art von Lüge und Verstellung bekannt und schon bald blickt er hinter die Fassade seines Freundes Alexander. Humorvoll geschildert wird auch die Umgebung seiner Kindheit, die ihm zu dem Mann werden ließ, der er nun war. 3- Drang zur Vergeltung: Es ist die fesselnde Geschichte einer jungen Frau, die keinen Weg aus ihrem Kindheitstrauma findet. Sie kennt nur einen Ausweg - Rache. Als Augenzeugin an dem Mord ihrer Eltern als Kind stirbt jede Art von Realität in ihr ab und leitet sie auf Irrwegen zu jene Menschen hin, die sie eigentlich beschützen wollten. Bei epubli.de bereits veröffentlicht: 1. Virusrausch 2. Fluch aus vergangenen Tagen 3. Bildband Ölgemälde - Daniela Christine Geissler Ölgemälde und Bücher der Autorin: oelmalerei.npage.at
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Seitenzahl: 210
Veröffentlichungsjahr: 2014
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3 MAKABRE KURZGESCHICHTEN
3 MAKABRE KURZGESCHICHTEN
1. Tödliche Tagträume
2. Alles Kulisse
3. Drang zur Vergeltung
Daniela Christine Geissler
3 Makabre Kurzgeschichten
Daniela Christine Geissler
Copyright: © 2014 Daniela Christine Geissler
published by: Neopubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-8442-9337-1
Inhaltsverzeichnis
Impressum..4
Tödliche Tagträume..8
1. Kapitel 10
2. Kapitel 14
3. Kapitel 15
4. Kapitel 19
5. Kapitel 22
6. Kapitel 25
7. Kapitel 29
8. Kapitel 31
Alles Kulisse..38
1. Kapitel 39
2. Kapitel 40
3. Kapitel 43
4. Kapitel 47
5. Kapitel 51
6. Kapitel 55
7. Kapitel 56
8. Kapitel 59
9. Kapitel 66
10. Kapitel 70
11. Kapitel 71
12. Kapitel 74
Drang zur Vergeltung..80
1. Kapitel 83
2. Kapitel 85
3. Kapitel 87
4. Kapitel 89
5. Kapitel 93
6. Kapitel 98
7. Kapitel 106
8. Kapitel 109
9. Kapitel 115
10. Kapitel 118
11. Kapitel 122
12. Kapitel 125
13. Kapitel 132
14. Kapitel 137
„Nirgends zeigt sich die Allgewalt der Liebe stärker,
als in ihren Verirrungen!“
Sigmund Freud
England
„Geschichte ist, auch wenn ihr dieses Fach als langweilig empfindet, eine interessante Sache. Der Reiz darin liegt nicht nur in der Vergangenheit, sondern im Recherchieren ganzer historischer Zusammenhänge. Es kann für den aufmerksamen Beobachter eine Art Lebensschule sein. Meist zeigt es das Ergebnis eines langen Kampfes in einem oder mehreren Ländern. Wie dem auch sei.... ich bin von nun an euer Geschichtslehrer und ihr müsst euch damit abfinden und ich wohl auch“, schloss Jeremy. Der Lehrer der Oberstufe blickte durch die Reihen der Schüler, die ihn gelangweilt ansahen.
Das Licht der Sonne, das durch die hohen, schmalen Fenster hereinfiel, formte aus so manch jungem Gesicht eine engelhafte Erscheinung. Ihre Körper so schön, so rein und ihre Seelen so stumpf oder habe ich wieder einen depressiven Anfall, dachte der Zweiundvierzigjährige und öffnete das Fenster. Ein schneidender Wind wehte ins Klassenzimmer und blies seinen schwermütigen Gedanken mit einer kühlen Frische entgegen. Die Schüler flüsterten miteinander: Der Typ ist ja ganz schön irre. Andererseits, wenn er die ganze Zeit nur so vor sich hin faselt, kann es uns auch recht sein..
Schrill, zu schrill für Jeremys Ohren, dröhnte die Glocke durch das Klassenzimmer. Beim Klang der Schulglocke überfiel ihm die Melancholie aus Kindertagen. Ihm kamen Zweifel auf, ob dieser Teil seiner Arbeit für ihn und vor allem für andere zufriedenstellend sein würde. Jeremy war eigentlich mit Leib und Seele Universitätsprofessor. Mit Studenten konnte er besser umgehen als mit Heranwachsenden, oder war es eher so, dass die Studenten einfach besser mit ihm zurechtkamen?
Teenager stecken in einer schwierigen Phase ihres Lebens, und gerade er, der immer noch die Empfindungen eines Dreizehnjährigen hatte, sollte die Aufgabe erfüllen, Halbwüchsige zu unterrichten.
In dem, für ihn tristen Lehrerzimmer, mit den dunklen Möbeln, saß er und grübelte darüber nach, ob er nicht wieder nach Cambridge zurückkehren sollte. Er sehnte sich nach den Studenten und deren Verständnis für seine Arbeit. Eine geistige Verbundenheit, die er mit Heranwachsenden wohl nie haben könnte, so glaubte er. Eine Krise schon am ersten Schultag. Das ist wieder typisch für dich, richtete er sich selbst. Schließlich überwand er sich, die nächste Klasse aufzusuchen. Erneut der schrille Ton.
„Jeremy Daly heißt der Neue. Seit zwei Monaten quatscht er uns schon mit sonderbaren Geschichten die Ohren voll.“
„Ich finde ihn interessant. Er bemüht sich wirklich. Er ist von seiner Sache überzeugt und will uns was beibringen, aber ihr kapiert das einfach nicht. Er hat Charisma und das kann man nicht von jedem Lehrer an unserer bornierten Schule behaupten“, unterbrach Violet seine Nörgelei, doch Chris schloss sich der Meinung von Andreas an
„Ihr Mädchen findet ihn natürlich toll. Euch Weiber braucht man nur die Ohren mit aufregenden Geschichten vollstopfen und ihr seid Feuer und Flamme!“ Beißende Kälte schlug den Jugendlichen ins Gesicht. Sie diskutierten eifrig weiter. Dieser Herbst brachte in England schon fast Wintertemperaturen. Frierend hüpften sie von einem Bein aufs andere. Manche rauchten, einige verzehrten ihre Brote. In jeder Ecke tratschten Schüler und bildeten gleichgesinnte Gruppen.
„Er soll mit einem Mann zusammenwohnen, hab` ich gehört. Also, ich find` das eklig.“ Wieder verteidigte Violet ihn „Ihr seid schlimmer als Waschweiber! Habt nichts anderes zu tun, als über Leute herzuziehen. Er behandelt wenigstens alle gleich.“
Denise stand wie immer passiv daneben. Ihr weißblondes Haar leuchtete trotz des trüben Wetters. Ihre Gedanken behielt sie stets für sich. Sie war allein. Allein wie Jeremy und teilte deshalb die Sympathie von Violet für ihn. Wortlos ging sie mit den anderen wieder in die Klasse. Es war Dienstag und die nächste Unterrichtsstunde gehörte Jeremy.
Gelassen betrat er die Klasse, wischte wie stets mit einem Taschentuch das Lehrerpult ab und setzte sich darauf. Während der Pause hatte er bereits den Tisch mit dem Diaprojektor vorbereitet. Er forderte die Schüler auf, die Vorhänge zuzuziehen und schaltete den Projektor ein. In übergroßen Lettern stand geschrieben: Das Antike Griechenland. Ein Raunen ging durch die Reihen, doch Jeremys Enthusiasmus konnte keiner bremsen und freudig hielt er seine Rede, begleitet mit Bildern von zerfallenen Tempeln und den verkrüppelten Gebäuden der Akropolis. „Perikles und Aspasia waren das Traumpaar der Antike. Nichts konnte die beiden aufhalten, doch heute ist er tot, der Geist der Antike, begraben von geistigen Müßiggängern, erloschen ist das heilige Auge der Athene..... „ Jeremys Anhänger, darunter Denise, lauschten voller Begeisterung, andere verdrehten die Augen, ein Junge rülpste. Leises Gelächter mengte sich dazwischen. Am Ende der Unterrichtsstunde ging Denise zu ihm. Sie hatte keine Angst vor den Lehrern, eher vor den anderen Schülern. Scheu richtete sie das Wort an ihn „Wieso lassen Sie sich das gefallen.... ich meine, wie manche Jungs Sie behandeln? Sie hören ja das Gelächter.“ Dankbar für ihr Verständnis betrachtete er das Mädchengesicht, das von hellblondem Haar umrahmt wurde.
„Eine Gruppe von Leuten ist eine Versammlung von vielen Köpfen und deren Gedanken. Ich kann nicht verlangen, dass sich jeder von euch für das gleiche Thema interessiert, aber es freut mich, dass es dir gefallen hat. Wenn es von euch vierundzwanzig Schülern nur fünf gefallen hat, habe ich heute nicht umsonst unterrichtet.“
Ihr Blick wanderte zu seinen Händen, die so ruhig und scheinbar emotionslos auf seinen langen Schenkeln ruhten. Sie nickte und lächelte steif. Heute wurde ihm zum ersten Mal seit Beginn seines Unterrichts an dieser Schule aufrichtige Sympathie entgegengebracht. Das machte sein Herz wieder melancholisch.
In seiner Wohnung, die er mit seinem ehemaligen Studienfreund Steve teilte, gingen seine Gedanken zum Jahr 1957 zurück. Von weit her hörte er ihre Stimme. Sie schien ihn zu rufen, ihn festhalten zu wollen, auch heute noch: „Jeremy!“
Sie legte ihren Kopf in die Armbeuge und betrachtete sein Profil. Sein schon jetzt markantes Kinn, seine braunen Augen, die noch milchig weiße Haut, den mädchenhaften Mund und schämte sich ein wenig über ihre Gefühle, die sie dem erst dreizehnjährigen Jungen entgegenbrachte. Er beugte sich zu ihr und betrachtete ihre Brüste. Sie ließ es geschehen. Sie rief seinen Namen, saß im Gras und wartete auf ihn. Er lief zu ihr, warf sich über sie und bedeckte ihr Gesicht mit sanften Küssen. Die beiden Teenager wälzten sich im Gras. Atemlos ließ er von ihr ab, lag am Rücken und betrachtete das intensive Blau des Himmels. Seufzend legte er sich auf sie. Glücklich, weil sie seine kindliche Liebe erwiderte, fuhr er durch ihr blondes Haar, das einem blühenden Weizenfeld glich. Es war ein schöner Sommer - es sollte der schönste in seinem Leben sein.
Er nahm das Buch aus der Hand. Geschichten des Altertums stand auf dem dunkelblauen Einband, in goldenen Lettern geschrieben. Mit penibler Sorgfalt stellte er es ins Regal zurück.
Er senkte seine Lider und seine Gedanken schweiften wieder zurück. Mit der linken Hand umfasste er ihr Taschentuch.
„Fang mich, los doch!“ Noch ehe er sich erheben konnte, lief sie in den Schuppen. Er hastete ihr nach und in seinem jugendlichen Liebesrausch trat er fast die morsche Holztür ein. Sie beobachtete, wie er zögernd auf sie zukam. Sie liebte ihn so sehr, diesen Jungen, der noch ganz Kind und doch schon so erwachsen war. Er sollte endlich für immer ihr gehören, für immer, dachte sie, und versank in seinen Armen. Seine Haut roch süß, sein Haar nach Puder, sein Körperbau war zart und feingliedrig, eben der Körper eines Dreizehnjährigen. Sie drückte ihn an sich. Die Sechzehnjährige war zu sehr von ihm berauscht, als dass sie Schuld empfinden konnte, zu sehr verliebt in ein Kind. Für ihn war diese harmlose Umarmung mehr Schmerz als Lust, als ob seine Seele das Unglück schon sah und versuchen würde, diesen Moment mit einer festen Umklammerung für immer festhalten zu können. Sanft musste sie ihn wegstoßen.....
Der Glockenschlag der Kirchenuhr riss ihn aus dem Halbschlaf. Es war dreiundzwanzig Uhr.
Mit schwerer Brust legte er ihr Taschentuch aus der Hand, zog seinen Schlafmantel aus und legte sich ins Bett. Sie wäre in diesem Jahr achtundvierzig Jahre alt geworden. Was sind heute drei Jahre gegen damals, dachte er, und versank in wirren Träumen.
Wieder in der 5b. In dieser Klasse hatte er bemerkt, einige Anhänger und viele Widersacher zu haben, aber das war ja immer so. Manche liebten ihn, viele wandten sich von ihm ab. Er registrierte die aufmerksamen Blicke eines hübschen Jungen in der hinteren Reihe. Gregory Weaver….las er im Klassenbuch. Der vaterlose Greg himmelte ihn an und machte ihn zu seinem Vorbild.
Er atmete tief durch, bevor er sprach „Es muss leider sein. Ich habe die Aufgabe, nicht nur Geschichten zu erzählen und eure Langeweile damit zu verstärken. Nächste Woche werdet ihr von mir mit einem Test belästigt“, meinte er sarkastisch, entgegen seiner phlegmatischen Natur, aber er hatte diese mürrischen Jugendlichen langsam satt. Es gibt wirklich unangenehmere Lehrer. Durch die Unterhaltung mit Denise ist ihm bewusst geworden, dass man seine Ignoranz dem Benehmen aufmüpfiger Schüler gegenüber als Schwäche auslegen könnte. Ein bisschen Disziplin könnte also nicht schaden.
Herold, ein magerer Schüler, dessen schwarzes Haar am Haupt festzukleben schien, erhob sich und ließ mit nasaler Stimme anklingen „Verzeihen Sie, aber welches Thema sollte der Test denn behandeln? Seit zwei Monaten springen Sie von der Renaissance in die Antike und plötzlich finden wir uns in der Französischen Revolution wieder.“
Jeremy dachte kurz nach und meinte, dass die Einwände dieses Jungen etwas für sich hätten, wurde rot, erhob sich und gab etwas lauter von sich, als er es wollte „In diesem Unterricht wird, auch wenn es vielleicht noch nicht den Anschein hatte, nicht nur Auswendiglernen gefordert, sondern ich versuche euch hier den historischen Zusammenhang der Weltgeschichte näherzubringen. Es wird also bis nächste Woche eure Aufgabe sein, sich über die Unterschiede der verschiedenen Kulturen den Kopf zu zerbrechen.“
Ein Gemurmel, das Protest und Angst zugleich war, erhob sich bis in die hintersten Reihen. Violet meldete sich zu Wort und stammelte
„Aber, Sir, wir sind Schüler, keine Studenten. Sie überfordern uns damit“, klangen ihre Worte entschuldigend. Jeremy schritt zur Tafel, nahm die Kreide und schrieb einige Fragen auf. Eine davon lautete: Erklären Sie mir den Unterschied zwischen der antiken Gesellschaft und der Renaissancegesellschaft.
Er griff sich ein Opfer und deutete auf Timothy. Mit den Schultern zuckend, starrte er auf die Tafel. Jeremy sprach eindringlich
„Lernen Sie und das erhoffe ich mir von diesem Unterricht.... lernen Sie selbstständige gedankliche Verknüpfungen zu bilden. Es ist doch ganz einfach ......diese Frage ist ja eigentlich eine Fangfrage, doch leider zeigt mir dies, wie wenig Sie alle meinem Unterricht folgen konnten oder wollten....vielleicht ist es auch meine Schuld.....es tut mir leid, ich bin es nicht gewohnt, Teenager zu unterrichten.“
Langsam erhob sich Denise und erklärte fast tonlos in die Stille
„Die Renaissancekultur ist die Wiedergeburt der Antike. Sie nahm die Gedanken dieser Kultur in sich auf und versuchte ihre Kultur so gut es ging, vor allem in ihren Bauwerken, wiederzugeben!“ Jeremy war gerührt, ging zu ihr, tätschelte ihre Wange, die unter seiner Hand zu glühen begann, und sagte gedehnt „Danke, vielen, vielen Dank.“
Seit einem halben Jahr kämpfte sich Jeremy von den fünften Klassen in die Abschlussklassen. Viele Fehlschläge, doch umso erfreulichere Pluspunkte erreichte er in dieser Zeit. Er hatte gelernt, von Schülern nicht die Persönlichkeitsstruktur von Studenten zu fordern, sondern versuchte sie fortan zu formen. Ihren Geist zu Höhenflügen anzuregen und deren Interesse für Geschichte zu wecken. Besonders beeindruckt war er immer noch von Denise. Denise, dieses zarte Geschöpf mit den hohen Backenknochen. „Sir, wiederholen Sie bitte den Satz, wir kommen mit dem Schreiben nicht mehr mit.......“, hörte er am Rande die Knabenstimme, während sein Innerstes nur sie zu finden suchte und er in einem monotonen Wortrausch den Unterricht hielt. Er blickte aus dem Fenster......1957.....bewegungslos lagen ihre Körper am Boden. Sanft drückte sie ihn weg. „Du musst gehen, wir müssen beide heim, es ist schon spät.... geh, los, geh endlich.....!“ Widerstrebend zog er sich an. Er warf einen letzten Blick zurück und schloss leise das Scheunentor hinter sich. Ihr Bild brannte sich in sein Gedächtnis. Verwirrt blickte er um sich, bis sein Blick zu Denise schweifte. Die Klasse starrte ihn an und er starrte sie an. Denise sah weg, doch Jeremy ließ sie mit seinem Blick nicht los. Etwas bewegte ihn so sehr, dass er keinen Abstand mehr zu ihr finden konnte. Seine Sinne sammelnd, sprach er abgehackt weiter, bis ihn der schrille Ton der Schulglocke erlöste.
„Heute war er besonders komisch, findet ihr nicht auch? Wie er Denise angestarrt hat. Das war ja schon abartig“, schimpfte Ashley.
„Du bist nur eifersüchtig! Er ist ja schon alt, mach dich nicht lächerlich! Denise ist vielleicht von ihm als Lehrer begeistert, aber sein Äußeres ist wirklich nicht der Geschmack einer Fünfzehnjährigen“, klopfte ihm Peter tröstend auf die Schulter.
Ashley Diamond fühlte sich seit der ersten Klasse als ihr Beschützer. Stets saß er neben Denise, immer jedoch darauf bedacht, sie mit seiner Verliebtheit nicht zu belästigen. Sein feines Gespür für seine Mitmenschen ließ ihn nie im Stich und so kam eine stille Angst in ihm auf, wenn dieser Lehrer die Klasse betrat. Er beobachtete Jeremy, wie er mit seiner Aura den Raum einnahm, betrachtete sein hageres Gesicht, dessen verhärmten Züge, die ihm nicht sympathischer wurden. Trotz all dem lauschte auch er, wie ein Gefangener, seinen Ausführungen, deren Zusammenhänge erst mit den weiteren Unterrichtsstunden zu erkennen waren. Selbst er konnte sich der Faszination, mit der dieser Mann sie alle in das Labyrinth seiner Gedankenwelt führte, nicht entziehen. Das war auch schon alles, was Ashley mit diesem Mann verband. In diesem Augenblick spürte er nur Widerwärtigkeit für ihn, denn eine undefinierbare Sorge beschlich ihn, Denise an diese obskure Gestalt zu verlieren, die zweimal wöchentlich die Klasse heimsuchte.
Es war so, als ob er mit jedem Mal mehr Anhänger für sich gewann. Manche Klassenkollegen, die Jeremy anfangs belächelten, wurden in einem fast magischen Bann in seine Richtung gelenkt, dem nur Ashley, zumindest machte er den Versuch, entgehen konnte. Diesem Mann schenkte er nur seine Aufmerksamkeit, nicht seine Gedanken, nicht seine Seele.
„Würden Sie mir bitte nächste Woche helfen, die Landkarte heraufzutragen?“, sagte er beiläufig zu Denise, bevor er die Klasse verließ. Seine Worte gingen im allgemeinen Lärmpegel nach dem Läuten unter und so wurde nur Ashley Zeuge dieses Wortwechsels. „Selbstverständlich“, antwortete sie prompt. Ashley war entrüstet. Man bat kein Mädchen um Hilfe, wenn Jungs in der Klasse waren, um so eine Aufgabe zu erledigen, aber was sollte er tun? Seine Gedanken überschlugen sich, er war zur Untätigkeit gezwungen. Würde Ashley anderen seine Angst mitteilen, würde er der Lächerlichkeit preisgegeben werden.
Lange betrachtete er sie, als Denise kleinlaut vor ihm stand. Seine Brust hämmerte unkoordinierte Laute, sein Rücken war angespannt. „Wenn wir sie beide tragen, wird’s schon gehen oder ist Ihnen die Karte zu schwer?“ „Aber nein! Mädchen sind gar nicht so schwach, wie es oft den Anschein hat“, antwortete sie sanft.
Gestern Nacht hatte er von beiden Mädchen geträumt – sie schienen sich in einem irrealen Traum abzuwechseln – einmal sie, dann Denise. Manches Mal liebten ihn beide. Wenn Denise vor ihm stand, spürte er, wie durch einen magischen Austausch, ihre Nähe. Claire, Claire wo bist du?.....rief er im Traum ihren Namen, doch dann tauchte langsam ihr lebloser Körper vor ihm auf. Sein Traum war zu Ende und mit dem eindringlichen Schrillen seines Weckers kehrte er in die trostlose Gegenwart des Alltags zurück.
Er musste Claire wiederfinden, er konnte ohne sie nicht leben, wollte ohne sie nicht existieren, war damit beschäftigt, sie wieder auferstehen zu lassen.
Ihre zarte Hand umfasste den vorderen Teil der eingerollten historischen Landkarte und Jeremy nahm den hinteren. So konnte er sie einige Augenblicke lang ungestört betrachten. Ihr blondes Haar, ihre graziösen Bewegungen glichen Claire so sehr. In diesem kurzen Moment war er fast glücklich – er dreizehn und sie sechzehn.
Auch die weiteren Monate liefen besser. Die Schüler passten sich ihm langsam an, begannen sich an seine exzentrische Persönlichkeit zu gewöhnen. Ashley fand sich schließlich mit Jeremys indirekter Werbung um Denise ab. Es hatte nicht den Anschein, als ob er ihr näher gekommen wäre, und das beruhigte ihn. Soll er sie von mir aus die ganze Zeit über anstarren, damit macht nur er sich lächerlich, ärgerte er sich zeitweise. Denise überraschte die Aufmerksamkeit, die Mr. Daly ihr schenkte, aber sie kümmerte sich nicht sonderlich darum und dachte sich auch nichts dabei. Sie trug mit ihm die Unterrichtsutensilien in die Klasse und das war`s dann auch schon. Ihre scheue Art und doch sicheres Auftreten glich dem von Claire so sehr, dass Jeremy meinte, Denise würde eine Art Wiedergeburt von Claire sein. Jede Faser seines Körpers war angespannt, wenn sie in seiner Nähe war. Auch für seine Kollegen war er ein Sonderling, den man nur duldete, aber keinerlei Sympathie entgegenbrachte. Nie wurde er von Kollegen eingeladen. Ausschließlich sie konnte seine Seele berühren, nur ihr Verhalten ihm gegenüber war für seine Stimmungslage ausschlaggebend geworden. Diese Tatsache erschreckte und beglückte Jeremy gleichermaßen.
Ein halbes Jahr betreute er bereits die Klassen der Oberstufe. Es stellte sich heraus, dass immer mehr Schüler an ihm Gefallen fanden. Sein Gerechtigkeitssinn wurde bei den Schülern anerkannt und dafür folgten sie interessiert seinem Unterricht. Viele Schulnoten in Geschichte besserten sich sogar und mancher Vierer wurde zur Zwei im Halbjahreszeugnis.
Frühling
„Schneller, nicht so lahm. Der Zug wartet nicht auf euch!“, rief Mrs. Mary Withborn den nachkommenden Schülern zu und schubste die Jugendlichen in den Zug. Im Abteil verbreitete sich schnell der Geruch der jungen Leiber. Schweiß und Parfumgeruch vermischten sich mit dem Zigarettengeruch der Jungs.
Erneut ergriff Jeremy eine kindliche Schwermut. Er roch noch ihr Haar, spürte die Zartheit ihres Halses. Jemand schob ratternd die Tür zurück. Denise nahm ihm gegenüber Platz und erklärte atemlos
„Die anderen Abteile sind schon alle belegt. Darf ich hier sitzen?“
„Wenn Sie mir den Gefallen tun, nicht zu rauchen, ist mir alles recht“, antwortete er und versuchte gleichgültig zu wirken, sich in der Gewalt zu haben, während seine Jugend wieder vor ihm auftauchte.
Hastig lief er den Hang hinunter und blieb abrupt stehen, als er ihren Ruf hörte „Morgen um die gleiche Zeit! Einverstanden?“ Sie winkte ihm zu und verschwand aus seinem Blickfeld. Ein lähmender Schmerz zog sich wie ein brennender Peitschenhieb über seine Brust.
„Ist Ihnen nicht gut, Mr. Daly? Sie sind so blass!“
„Das ist das Alter, das sich nicht aufhalten lässt“, gab er lächelnd zurück.
Ruckartig setzte sich der Zug in Bewegung. Zuerst langsam und dann immer schneller raste die Landschaft an ihnen vorüber. Der Rausch der Geschwindigkeit riss ihn wieder zurück. Er schloss seine Augen.
„Wo bist du gewesen? Onkel Jim hat den ganzen Nachmittag auf dich gewartet. Ihr wolltet doch zum Angeln?“ Verärgert baute sich seine Mutter vor ihm drohend auf, eine Entschuldigung erwartend oder zumindest eine gute Ausrede. Ihm fiel keine ein und schulterzuckend lief er ins Wohnzimmer, wo Onkel Jim an seiner Angelrute hantierte.
„Ah, da bist du ja! Was hast du denn, siehst so bedrückt aus?“ Die Hände in den Hosentaschen, raunte er „Tut mir leid, ich habe es vergessen. Meine Freunde und ich....“ Mit einer abwehrenden Handbewegung unterbrach sein Onkel die Rechtfertigung „Du bist jung......das ist die einzige Entschuldigung, die ich akzeptiere und dafür kannst du schließlich nichts, Junge“, lachte er.
Jeremy mochte seinen Onkel. Deshalb fühlte er sich noch schlechter. Seine Mutter meckerte verächtlich „Wenn einmal mein Bruder zu Besuch kommt, könntest du wenigstens ein gutes Benehmen an den Tag legen. Du bist unmöglich!“
Jeremy lief in die Küche, nahm sich ein Glas Milch und lauschte dem Gespräch.
„Lass doch den Jungen zufrieden, Maria! Wir waren auch mal jung. In seinem Alter denkt man nicht an die Zeit. Man hat Spaß und genießt den Moment des Augenblicks, den uns die Jugend schenkt. Warum sollte er mit einem alten Trottel wie mir am See sitzen und eine Angel ins Wasser hängen lassen und darauf warten, bis ein Fisch blöd genug ist, anzubeißen? Der Gedanke daran ist für einen Dreizehnjährigen schon lächerlich. Ich wäre sehr enttäuscht gewesen, wenn er daran tatsächlich Spaß haben würde.....“ Das Klingeln des Telefons unterbrach seine Worte. Sie hob ab.
„Nein, tatsächlich, kann ich mir gar nicht vorstellen, ist ja grauenhaft.....“ Langsam schritt Jeremy die Treppe herunter. Sie legte auf und stürmte ins Wohnzimmer.
„Ein Mädchen ist tot aufgefunden worden. Stell dir vor, in unserer Gegend! Meine Freundin meinte, man müsse aufpassen. Vielleicht ist sie ja auch ermordet worden und der Mörder befindet sich noch in unserer Gegend. Die Zeiten werden immer schlimmer“, schloss sie atemlos.
Als Jeremy das Zimmer betrat, drehte sich seine Mutter plötzlich zu ihm um. Hart knallte ihre Hand auf seine Wange.
„Und du, lieber Bursche, wirst morgen das Haus nicht verlassen! Ein Mörder treibt sich vielleicht in unserer Gegend herum.“
Gleich darauf schloss sie Jeremy in ihre Arme und jammerte „Verzeih mir, Schatz, ich wollte dir nicht weh tun, aber ich dachte, dass es genauso gut du hättest sein können! Man fand sie am See. Dort, wo du immer spielst!“
Jeremys Beine schwankten, er musste sich setzen.
„Du kennst sie sicher nicht. Sie war schon älter als du.“
Am nächsten Morgen lauschte er aufmerksam den Nachrichten, bis endlich der Bericht von dem toten Mädchen wiedergegeben wurde. Auch er war tot, ausgelöscht war jedes Gefühl der Jugend, der Sorglosigkeit, des Glücks. Mit ihr starb auch er. Seine Kindheit nahm seine Jugend vorweg und unfreiwillig war er in das emotionale Dasein eines Erwachsenen manövriert worden. Jetzt, im mittleren Lebensalter, wartete seine gemarterte Seele darauf, die fehlenden Stufen einer Jugend nachzuholen, wartete beharrlich darauf, durch eine andere zu gesunden - die Eine sollte ihm schenken, was die Andere ihm nahm. Denise blätterte in einem Buch. Tief atmete er durch. Sie sah kurz auf und fragte „Es gibt hier einen Speisewagen. Soll ich Ihnen einen Kaffee oder ein Bier holen?“ Ihre Fürsorglichkeit schmerzte ihn „Bin ich schon so alt, dass ein schönes Mädchen das Bedürfnis hat, mich zu pflegen?“, entfuhr es ihm. Mit großen Augen betrachtete sie ihn. „Es war nur eine Frage….danke!“ „Wofür?“ Verlegen strich sie mit der Hand ihr Haar zurecht. „Sie haben gesagt, dass ich schön bin.“ „Aber bitte...... die Beifügung der Jugend ist meist Schönheit.“ Er verließ das Abteil, ging in den schmalen Gang hinaus und schob das Fenster herunter. Er durfte sich nicht mehr so gehen lassen, durfte ihr nicht so nahe sein. Er versuchte, seiner wieder Herr zu werden und ging ins Abteil zurück. Sofort fiel ihm die Rötung ihrer Wangen auf. Wie unschuldig sie ist, dachte er. Das Geratter des Zuges ließ ihn eindösen. Ihre Stimme drängte sich in seinen Halbschlaf „Mr. Daly, Mr. Daly, wir sind da. Sie haben drei Stunden geschlafen.“ Er spürte ihre Hand an seiner Schulter. Er stöhnte „Claire, Claire..... du bist da....bleib, bitte bleib noch.....“ Sie unterbrach ihn „Bitte, Mr. Daly, wachen Sie auf. Wir sind bereits in.... !“ Sie ergriff seine Hand. Immer noch meinte er, ihre Stimme zu hören, fasste ihre Hand, zog sie zu seinem Mund und küsste diese ehrfürchtig. Schnell zog Denise ihre Hand zurück. Er öffnete die Augen und erschrak.
„Claire? Ich hab....“ Denise spürte seine Qual und log „Ich habe Sie nur geweckt.“
Sie beachtete ihn nicht mehr, nahm ihre Tasche und lief aus dem Abteil. Ihr Puls raste. Niemand hat es gesehen. Niemand, hoffte sie.
Er hat nicht gewusst, dass ich es bin. Er hat mich verwechselt. Er war so sanft, dachte sie, und rannte so schnell sie konnte zu den anderen Schülern. Ashley nahm ihr die Tasche ab. „Wo warst du? Ich habe dich gesucht!“ Sie antwortete nicht.