30 Songs und eine Frau - Christine Weiner - E-Book

30 Songs und eine Frau E-Book

Christine Weiner

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Beschreibung

Ausbrechen! Anne sitzt in ihrem Auto, Wut im Bauch, Tränen in den Augen, eine Schüttelkugel mit dem Prater- Riesenrad und Glitzerflocken neben sich. Kurz nach Heidelberg weiß sie: Ihr Weg führt nach Wien. In die Stadt, die in der Kindheit für alle ihre Träume stand. Jetzt mit 50 erinnert sie sich an ihre Wünsche ans Leben, die sie mit 16 auf Kassette gesprochen hatte. Sie wollte reisen und verrückte Menschen kennenlernen, Dancing Queen sein, sie wollte Erdbeersektnächte und unter einem fetten gelben Mond tanzen. Sie wollte lieben und geliebt werden. Und glücklich werden. Und frei sein. Wie konnte sie das nur vergessen? An der Seite ihres pedantischen Mannes hat sie ihr Leben völlig aus dem Blick verloren. In Wien will sie das Gefühl von damals wiederfinden. Die Frauen-WG, in die sie sich einmietet, ist schon mal ein guter Anfang. Sie wird aus dem Ei schlüpfen, und wenn sie heimkommt, eine andere sein.

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Das Buch

Ausbrechen! Anne sitzt in ihrem Auto, Wut im Bauch, Tränen in den Augen. Jetzt mit 50 erinnert sie sich an ihre Wünsche ans Leben. Mit 16 wollte sie reisen und verrückte Menschen kennenlernen, Dancing Queen sein, sie wollte Erdbeersektnächte und unter einem fetten gelben Mond tanzen. Ihre Ehe ist eingeschlafen, ihr Sohn flügge, ihre Mutter eine Nervensäge. Anne will das Gefühl von damals wiederfinden. Die vermeintliche Frauen-WG, in die sie sich einmietet, ist schon mal ein guter Anfang. Sie wird wie aus dem Ei schlüpfen, und wenn sie heimkommt, eine andere sein.

Die Autorin

Christine Weiner, geboren 1960, arbeitete in Kinderheimen, als Heiratsvermittlerin und beim SWR, bevor sie sich vor vielen Jahren als Coach und Beraterin in Mannheim selbständig machte. Sie ist Autorin erfolgreicher Sachbücher und arbeitet derzeit an der Hochschule Mannheim, Schwerpunkt Gleichstellung, Selbstmanagement und Berufsübergang.

CHRISTINE WEINER

Roman

Marion von Schröder

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ISBN 978-3-8437-1164-7

© 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

Illustrationen: Christine Weiner

Gestaltung: Cornelia Niere, München

Bildmotive : © Nele Andresen (Covergirls), Cornelia Niere,

München (Artwork + Kronleuchter)

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für meine Wiener Herzdamen:

Elisabeth, Leonore, Ruth und Grudrun

Sehr viel Liebe und Dank für wunderbare Jahre und Jahrzehnte voll Freundschaft, Familiengefühl, Heimat und Abenteuer.

Erste Worte

Als ich sechzehn Jahre alt war, nahm ich mir vor, das ganze satte Leben zu genießen. Ich wollte träumen, reisen, lieben. Eine freie Abenteurerin wollte ich werden. Jetzt war ich fünfzig Jahre alt, Zahnarzthelferin und die dienstälteste Gouvernante meiner Mutter. Und, um es gleich zu sagen, das war kein Vergnügen, sondern es war die reinste Pest.

Kapitel 1

Georg Danzer

»Meine Tochter war als Kind sehr anstrengend.« Mutter neigte sich den drei schwerhörigen Eminenzen zu, die mit uns am Tisch saßen. »Aber als sie ihren Uwe traf, da wurde sie dann doch vernünftig.«

»Mama!«, fauchte ich zwischen den Zähnen hindurch. Ich hasste es, wenn sie mich benutzte, um Aufmerksamkeit für sich zu gewinnen. Sie führte mich damit vor wie ein Kind, dabei war ich auf dem besten Weg, selbst eine alte Frau zu werden.

»Besser, ich bin still!« Sie hörte natürlich nicht auf. »Annes rechtes Auge rutscht schon nervös weg. Haben Sie auch ein Kind mit Silberblick? Schrecklich, und man kann gar nichts dagegen machen.«

Die Aufmerksamkeit der Damen am Tisch senkte sich in die Suppenteller.

»Mein verstorbener Mann konnte auch sein eines Auge derart verschieben, dass einem vor Schreck fast das Herz im Leib stehenblieb. Anne hat das von ihm.« Meine Mutter räusperte sich in meine Richtung. »Aber Anne, vielleicht möchtest du das ja alles lieber selbst erzählen.«

Und wie gerne! Aber nur, wenn ich auch meine Cellulite zeigen durfte und das Hexenhaar an meinem Kinn. »Nicht nötig«, schnaubte ich sie von der Seite an. Ich brauchte nicht zu ihr hin­blicken, um zu wissen, dass sie ihren Mund jetzt zitronenhaft kräuselte, um ihre Entrüstung deutlich zu machen. In ihren Augen war nicht sie unmöglich, sondern ich. Kein Grund zur Panik, und alles im normalen Rahmen. Je unsicherer Mutter war, desto unmöglicher wurde ihr Benehmen, ich kannte das seit nun fünfzig Jahren.

»Ännchen«, hatte sie mich als Kind schon vor ihren Damenrunden postiert, »komm, spiel uns ein bisschen was auf der Flöte vor, aber bitte nicht zu laut.« Sollte das jetzt im Altersheim so weitergehen? Und schon hörte ich sie: »Nicht nur Anne, auch mein Mann hatte leider kein großes Talent in …«

»Mama!«, drohte ich ihr mit dem Suppenlöffel in der Hand. »Hör auf!« Schlagartig wurde es im Saal ruhig. Neunzig Damen und zwei Herren ließen verschämt das Besteck auf ihre Teller sinken. Wie gut, schienen sie zu denken, dass wir nicht so eine böse Tochter haben. Mutter sah darüber hinweg. Was scherte es sie, wenn ein Floh hustete.

»Aaah, sieh an, die Servietten, die sind aus Damast«, überging sie gekonnt die irritierte Stille im Speiseraum und betupfte sich die Mundwinkel graziös mit den Baumwolltüchern, die aufgelegt worden waren. »Wie bei uns daheim«, erklärte sie ihren Tischdamen, während einzelne Bestecke wieder zögerlich zu klappern begannen. »Fast wie bei uns daheim. Die Teppiche fehlen mir freilich. Das sind ja angeblich Stolperfallen. Haben Sie so etwas schon gehört?« Sie erwartete keine Antwort. »Na ja, mit meiner Gicht könnte ich die sowieso nicht mehr ausrollen.« Schon führte sie der Tischrunde, die eigentlich mit Essen beschäftigt war, ihre Hände vor. Das mit Granatsplittern besetzte Armband klackerte dabei fein an die goldene Uhr, die Vater ihr zur Silberhochzeit geschenkt hatte. Mutters Fingernägel waren in zartem Altrosa gehalten, der Lack glänzend, die Nagelhaut dezent an ihrem Platz. Ich vermied es, mir meine eigenen Hände anzusehen, die rau und müde in meinem Schoß lagen und mit denen ich gerade Fingeryoga machte. Ich drückte an die Reflexpunkte, die angeblich für den Blutdruck zuständig waren.

Es ging mir elend, und Mutter hatte es gut. Seit sie im Heim war, kümmerte sie sich um nichts, außer um die Befehle, die sie erteilte. Vorzugsweise in meine Richtung. Sofort meldeten sich in mir Schuldgefühle. Warum dachte ich so kühl? Okay, die Sache mit dem Silberblick war blöd gewesen, aber wenn ihr das half, das neue Lebensumfeld zu akzeptieren? Ich konnte schließlich wieder heim. Mutter hingegen musste hierbleiben. Und nicht nur das, sie hatte in den letzten Tagen schon dreimal die Tischgesellschaft gewechselt, weil ihr die meisten Damen angeblich geistig nicht gewachsen waren. »Ich brauche Ansprechpartnerinnen, Diskussionsrunden!«, hatte sie gezetert, und das Tischkarussell hatte sich erneut für sie gedreht. Ich war schon gespannt, wie lange sie an diesem Tisch aushalten würde.

Noch hatte sie das Recht, den Platz zu wechseln. Die Fürstin, wie ich sie heimlich nannte, befand sich nämlich in der Eingewöhnungsphase der Seniorenresidenz »Die Rose«, und ich versuchte, so gut es ging, sie bei der Eingewöhnung zu unterstützen. Es war in etwa so wie damals, als ich Ronny, meinen Sohn, die ersten Tage in den Kindergarten begleitet hatte. Nur dass der ein Traumkind gewesen war und ich seine »liebste Mami«. Für Mutter war ich nichts anderes als eine Art Pizzaservice. Sie rief an, ich hatte ihr das Bestellte zu bringen.

»Mir fehlt eine rosafarbene Bettwäsche. Bring mir die vorbei. Du weißt schon, die mit den Rauten in Lachs.«

»Ihr habt bei meinem Einzug den Blumenständer vergessen. Bitte bring mir den. Er steht im Fernsehzimmer.«

Das wusste ich, er stand da nämlich schon, seit ich sehen konnte.

»Meinst du nicht auch, dass ein paar Deckchen fehlen? Pack bitte die gehäkelten ein. Du weißt schon, die von Tante Lisbeth!«

Häkeldeckchen? Wo? Tante Lisbeth? Mit der hatte sie doch seit vierzig Jahren Krach! Egal. Kaum dass sie etwas geordert hatte, packte, brachte, rannte ich, aber Dank oder Trinkgeld gab es nicht. Keine spürbare Anerkennung oder Freude. Ronny hatte mir seinerzeit aufgeregt seine Kunststückchen auf den Klettergerüsten vor­geführt. Mutter kletterte auch herum. Allerdings auf meinen Nerven.

»Ich halte sie nicht aus«, heulte ich mich regelmäßig bei meiner Freundin Manu aus, die mir mit Herz und Hand half, die Klamotten der Fürstin umzuziehen. Fast täglich kam sie zu mir in mein verwaistes Elternhaus, um mich beim Umzug und der gleichzeitigen Entrümpelung zu unterstützen. »Für Mutter bin ich nichts anderes als billiges Personal!«

Wenn jemand mich verstand, dann war es Manu. Wir hatten uns in der Schule kennengelernt und waren schon seit Jahrzehnten ganz innig befreundet. Manu hatte mir vom ersten Augenblick an ge­fallen, als ich sie am Brötchenstand der Schule traf. Das war in der fünften Klasse der Realschule gewesen. Sie war damals schon so rund und kräftig gewesen, so fröhlich und positiv, und das fand ich auf der Stelle richtig gut, weil ich immer nur so ein halbes Hemd gewesen war. Leider nur bis zur Schwangerschaft. Mit Ronny hatte auch ich einiges an Kilos zugelegt. Mein Sohn war inzwischen sechsundzwanzig Jahre alt, meine überzähligen Kilos auch. Mehr Standing hatte ich dadurch leider nicht gewonnen. Manu dagegen war schon immer durchsetzungsstark gewesen. Die typische Klassensprecherin und dieser Typ Mädel zum Pferdestehlen. Nie ließ sie sich einschüchtern und wehrte sich dabei doch immer mit Humor und einem großen Herzen, das ihr breit und rot mitten auf der Zunge lag.

Ich war als Kind eher scheu gewesen und hatte mich den anderen angepasst. Wo man mich hinsetzte, blieb ich hocken. »Sei brav und warte«, sagte man mir, und ich tat es. Dann kam Manu und setzte sich einfach durch. Ich sah ihr zu, wie man das machte, und wurde fortan auch ein wenig mutiger. »Sie hetzt dich auf, merkst du das denn nicht?«, hatte Mutter oft gegen Manu gestänkert, weil ich nicht mehr ganz so angepasst war, wie es ihr gefiel. Ich merkte nichts, außer einer Freundinnenliebe, die fest und groß war und die mich nun schon fast vierzig Jahre lang glücklich machte. Wenn ich nicht weiterwusste, nahm sich Manu für mich Zeit, und ich konnte Manu aus mancher Klemme helfen, wenn in einer Situation eher Diplomatie als Durchsetzungsvermögen gefragt war. Wir waren wie Pat und Patachon, Plisch und Plum, Hanni und Nanni oder wie die berühmten Tandems alle hießen. Wo ich mich nicht traute, da ging Manu für mich in die Vollen, und was sie um den Verstand brachte, das regelte ich besonnen und mit Geduld. Wir sprachen oft darüber, was wir als junge Frauen vorgehabt hatten und was jetzt fehlte. Manu war in der Berufsschulklasse Schülersprecherin gewesen, und ich hatte eine AG Schulpolitik gegründet. Wir hatten uns damals bei Zigarettenrauch und Rotwein die Köpfe heißgeredet und waren uns in dem Bestreben einig gewesen, dass etwas passieren muss, damit etwas passiert.

Viel zu schnell war ich erst 30, 40, 45, 48, 49, 50 Jahre alt geworden, und der Thrill meines Lebens lag darin, dass ich mit Ronny Gespräche per Skype führte und seit Jahren im selben Job war. »Vielleicht darf man vom Leben einfach nicht so viel erwarten. Oder?« Auf eine Reaktion wartend sah ich zu Manu hin. Wie Witwe Bolte sah sie aus mit dem Tuch in ihrem Haar.

»Du hast ja alles auch gut gemeistert. Dein Sohn ist begabt, deine Mutter ist gut untergebracht, Uwe hat dich meines Wissens nie betrogen – das ist doch alles ganz vorzeigbar. Darauf kannst du stolz sein! Eine Familie, wie ihr es seid, ist heutzutage eine große Seltenheit.«

»Genau«, stimmte ich ihr zu, obwohl ich nicht zustimmen wollte.

»Befürchtest du etwa, dass Uwe eine andere Frau hat? Fühlst du dich vielleicht ungeliebt?«

»Nur von Uwe oder sprichst du von meiner ganzen Familie? Inklusive Ronny, der sich nur meldet, wenn ich ihm drohe, den Geldhahn zuzudrehen. Ach Manu«, ich atmete durch, »wenn Mutter wenigstens ein bisschen anerkennen würde, was ich hier mache. Aber sie ist so, ach … Ich bring sie noch um, wenn sie mich weiter so behandelt.«

»Gute Idee«, lachte Manu auf. »Aber stell dich drauf ein, dass sie dir während der Strangulation noch vorhält, dass andere Töchter viel besser töten können als du!« Unser Galgenhumor schien mir seit Wochen das einzige Ventil zu sein, wenn ich nicht vergessen wollte, was mir das Leben gerade abverlangte und dass ich einmal ganz anders in mein Leben gestartet war. Hoffnungen hatte ich gehabt. Träume. Eben ganz so, wie das bei jungen Mädchen ist.

»Wenn ich einmal reich wär«, hatten Manu und ich als Jugend­liche im Spaß geträllert und damit unsere Träume von Liebe, Glück und Freiheit gemeint. Nun rasten die Jahre dahin, und wenn ich Mutter in der »Rose« besuchte, dann bekam ich Angst, dass dieser Reichtum niemals eintreffen würde, weil ich, aus welchen Gründen auch immer, einfach nicht in meinem eigenen Leben ankam. Erst kam Uwe, dann die Ehe, dann Ronny, und nun war Mutter dran. Meine Augen wanderten durch den Speisesaal, ich sah die vielen alten Damen, die mit auftoupierten Haaren und mit Familienschmuck behangen von einer versunkenen Zeit erzählten. Die Gefahr war inzwischen ziemlich groß, dass ich eines Tages ebenfalls in solch einem Speisesaal der alten Mädchen landen und zwischen Käseigel und russischem Ei von meinem verpatzten Leben erzählen würde. Ich war eine Art Cinderella, die in die Jahre gekommen war. Als hätte es mir jemand versprochen, saß ich wie ein Kind da und wartete noch immer auf meinen großen Eisbecher »Leben«. Aber er kam nicht!

Wann hatte meine Resignation begonnen? War ich stiller geworden, als Mutter vor wenigen Wochen stürzte, oder schon viel früher, als Ronny eingeschult wurde, oder vor zwanzig Jahren, als Uwe sich mit seinem Buchhaltungsbüro selbständig machte? War dieser leblose Zustand mit den ersten grauen Haaren und der Kleidergröße 44 gekommen, als ich nicht mehr tanzen ging, abends zu müde für Freundinnen war, meine Kosmetiktermine steckte, weil sie doch nichts brachten? Oder fiel dieser Zeitpunkt mit dem ersten Aqua-Jogging-Kurs zusammen, weil die Bewegung im Wasser schonender für die Hüften war als das Joggen durch den Wald?

»Nicht wahr, Anne«, fingerte sich Mutter zu mir und holte mich damit aus meinen Gedanken wieder an den Tisch zurück, »nicht wahr, du denkst daran, mir ein paar Pralinen mitzubringen?«

Schon wieder eine Aufgabe! Diesmal Pralinen, einzeln verpackt, ich kannte das schon. Mit diesen »Bonbons« bestach sie das Pflege­personal. Ich nickte und nahm vom Kräutersalz, weil meine Suppe kalt geworden war und dadurch noch schrecklicher schmeckte als warm. »Also das Essen ist wirklich wunderbar«, gab ich mich heiter und streute dabei aus Versehen Salz über den Tellerrand.

»Salz über den Tisch bringt Unglück«, zischte Mutter und nutzte mein ertapptes Zucken als Gelegenheit, um weiterzuschwadronieren.

»Upps!« reagierte ich erschrocken.

»Sie haben aber eine schöne Stimme«, nickte die Frau von gegenüber, deren Namensschildchen ich nicht erkennen konnte.

»Ja, das stimmt«, klinkte Mutter sich sofort ein. »Annes Musikprofessor war von ihr begeistert! Das Mädchen MUSS aufs Konservatorium! Hat er immer gesagt. Niemand spielt so gut die Triangel wie Anne.« Himmel hilf! Der olle Hilmrich, der einen Spaß hatte machen wollen. Dieser mittelmäßige Musiklehrer, den es nach seinem Referendariat zu uns nach Maikammer verschlagen hatte. »Kennen Sie Maikammer?«, zwitscherte die Fürstin ortsnamengemäß. Blasses Nicken am Tisch. Kein Wunder. Mein Heimatort war ein Winzerdorf, wie es sie in der Pfalz dutzendfach gibt. Viele Weinberge, viel Grün, viele Wanderwege, Felsensteine und ein Nahverkehr, der nicht nur junge Menschen in die schiere Verzweiflung treibt. Wer hier in den Siebzigern lebte, der hatte etwas falsch gemacht oder war vor irgendjemandem auf der Flucht. Wie hatte ich als Jugendliche davon geträumt, diese Gegend zu verlassen, hatte dann aber meinen Radius leider nur unmerklich vergrößert, indem ich mit Manu nach Neustadt zog. Dort war ich Uwe begegnet, und zwar im Aqua, dem damaligen In-Café der Stadt. Er saß da, drehte sich eine Drum mit Drumherum, hatte lange braune Locken und einen Blick, der so blau leuchtete, dass mir richtig schwindelig wurde. Blue eyes,Baby’s got blue eyes … Elton John musste das Lied für den jungen Uwe geschrieben haben. Mit unserer Begegnung stach sich mein Lebenszirkel in Maikammer ein und wurde auf einen Radius von fünfzehn Kilometern eingestellt, da ungeschick­terweise auch Uwes Eltern in diesem Prachtnest lebten. Da sich Neustadt und Maikammer in ihrer Attraktivität nicht viel nahmen (viele Weinberge, viel Wald, Weinfeste, Nahverkehr, dort aber mit Bundesbahn), gründeten wir unseren Hausstand dort, wo wir hergekommen waren. Frühlingshaft war nur der Name des Ortes geblieben.

»Und mein Schwiegersohn ist ein stadtbekannter Steuerbe­rater!« Mutter überprüfte mit der Genauigkeit einer Expertin die Nähte ihrer Serviette. Ihr Dutt, den sie sich mit Hilfe von silbrigem Festiger zu einer hochnäsigen Burg gezimmert hatte, wippte dazu angeberisch im Takt. Okay, jetzt war es so weit, sie schnappte über. Uwe war Bilanzbuchhalter, und wenn diese schreckliche Weiter­bildung zum Steuerberater endlich vorbei war, dann war vielleicht auch mal eine eigene Kanzlei drin. Er sah in seinem Büffeln und Studieren eine große Chance und wurde nicht müde, die lukrativen Chancen zu beschreiben, die für uns alle – irgendwann – Erleichterung und Segen bringen würden. »Ich mach das auch für dich!«, erklärte er mir regelmäßig. Doch sosehr ich mich auch bemühte, es bauten sich in mir keine leuchtenden Visionen auf, weil er mir jetzt im Alltag fehlte. Denn das Studium brachte es mit sich, dass Uwe in seiner Freizeit fast nur lernte und mir deswegen bei Mutters Umzug in die Residenz eigentlich so gut wie gar nicht half.

»Es muss Ihnen eine Freude sein, solch hilfreiche Tochter zu haben!«, hörte ich Frau Pilser, endlich hatte ich das Tischschildchen vor ihr entziffert, in Richtung meiner Mutter hauchen.

»Aber ja doch!« Eine über Jahrzehnte geübte Selbstgefälligkeit huschte über Mutters Gesicht, und die Süßwasserperlen am Hals blinkten eilfertig dazu. Ein Blick nach vorne, ein Blick nach rechts und mit der Miene eine Masche fallen lassen. »Aber sie ist ja auch nicht allein.« Fürnehm strich sie die Tischdecke auf ihrer Seite glatt und ergänzte erwartungsgemäß: »So wie ich es die letzten Jahre immer war. Meine Söhne, ihr Mann und ihre Freundin unterstützen sie. Nicht wahr, Anne, das ist alles gut zu schaffen?«

Und ich Idiotin nickte auch noch dazu! Genau so, mit diesem Dutt, diesem Blick und, nicht zu vergessen, der goldenen Brosche, die sie am letzten Knopf der Bluse trug, hatte sie uns alle immer dirigiert. Vater hatte als Erster aufgegeben und war gestorben, Michael war in den Süden gezogen und Klaus auf eine Nordseeinsel abgehauen. Dann kam Mutters Sturz. Beim Sträucherschneiden im Garten. Es folgten Krankenhaus, Hüft-OP, eine Krankengymnastik nach der anderen, noch eine Operation, Reha, ein weiterer Eingriff und schließlich gestresstes Händeringen vom Pflegepersonal: »Holen Sie um Gottes willen Ihre Mutter wieder ab, aber alleine ­leben kann sie nicht mehr! Da müssen Sie sich jetzt etwas über­legen.«

Ich war wie vom Blitz getroffen, denn trotz der sich aneinanderreihenden Operationen hatte ich blind darauf vertraut, dass es nur ein bisschen medizinische Pflege bräuchte und dann kehrte, mit einer kleinen Verzögerung, Mutter wieder heim und damit auch wieder Ruhe in mein Leben. So ein bisschen Hüfte, hatte ich gedacht, das ist heutzutage doch eine Lappalie. War es aber nicht. Statt die alte Routine zu genießen, durfte ich diverse Altenheime in der Region prüfen, auf deren bunte Prospekte Mutter mit einem entrüsteten »Eher sterbe ich!« reagierte. Manus Eltern, beide noch rüstig und, wie sie annahmen, mindestens ein Jahrhundert vom Lebens­abend im Altenheim entfernt, gaben uns dann den Tipp mit der Se­niorenresidenz »Die Rose«, »weil man von der nur Gutes hörte«. Also bettelte ich dort um Mutters Aufnahme, zahlte eine horrende Aufnahmegebühr, akzeptierte eine Zimmermiete, von der man eine ganze Familie ernähren könnte, und tat bei Mutter gleichzeitig so, als wäre alles im grünen Bereich und die »Rose« eine Schnäppchenresidenz. Sie nickte, und ich atmete erst einmal auf. Nur noch ein paar Zimmer im Elternhaus ausräumen, beruhigte ich mich, dann ist alles wieder gut. Dann machst du Pause, gehst zum Friseur und lässt dir die Fingernägel machen. In der Arztpraxis nahm ich mir frei. Die Kolleginnen heuchelten Verständnis, tuschelten aber sauer, weil ich als emsige Helferinnen-Biene fehlte. »Gleich, gleich«, versprach ich atemlos, »gleich bin ich wieder da!« Und packte einen Koffer nach dem anderen und viele Taschen, Kartons und blaue IKEA-Taschen, weil man sich die, so riesig und schwer sie auch waren, wie ein Kuli über beide Schultern hängen und so die Klamotten gut transportieren konnte. Eine Menge hatte ich schon weggeschleppt. Doch obwohl ich fleißig einen Schrank nach dem anderen ausräumte, wurde der Ballast nicht weniger. Noch immer warteten Berge von Kleidung, Schuhen, Federbetten, Sofakissen, Vasen, ­Büchern, nicht zu vergessen das gesamte Familienporzellan auf mich. Die Heinzelmännchen trugen in der Nacht nichts fort, sondern, so kam es mir vor, sie brachten nur noch mehr alte Sachen ins Haus. Nachts heulte ich verzweifelt in die Kissen, weil ich mich komplett ausgepowert und überfordert fühlte. Tagsüber schluckte ich die Wut und akzeptierte, dass ich in einer Lebensphase gelandet war, in der ich an letzter Stelle stand. Der immer ausuferndere graue Haarbalken auf meinem Kopf dokumentierte, seit wie vielen Wochen das schon so ging. Ich versuchte den grauen Ansatz zu kaschieren, kämmte die Haare erst auf die eine, dann auf die andere Seite, experimentierte sogar mit Wimperntusche und dunklem Lidschatten, und als ich erkannte, dass dies auch nicht viel brachte, versuchte ich es einige Tage mit einer Pudelmütze auf dem Kopf. Eigentlich wäre ein Friseurbesuch die einzig richtige Entscheidung gewesen, aber nicht einmal für den Anruf hatte ich Zeit.

»Tritt deinen Brüdern endlich auf die Füße!«, platzte Manu stellvertretend für mich der Kragen. Doch obwohl ich bettelte und flehte, reiste weder der eine noch der andere Bruder an.

»Frauen können besser mit Frauen«, schrieb mir Michael in einer Mail.

»Eine Tochter weiß aus dem Herzen heraus, was eine Mutter braucht«, salbaderte Klaus durchs Telefon.

»Du hast viel mehr Zeit als wir. Dein Ronny ist schon aus dem Haus und Uwe im Büro«, entschieden beide.

Es war richtig, unser Sohn studierte seit einem Semester in Australien. Und eigentlich hätte das jetzt meine Zeit werden sollen. Ronnys Zimmer wurde jedoch nicht, wie geplant, zu meinem Reich, sondern zur Rumpelkammer für die elterlichen Sachen, die zu gut waren, um sie wegzuschmeißen, und zu hässlich, als dass ich bei mir einen Platz dafür fand.

»Du schaffst das schon«, ermunterte mich Michael scheinheilig, und Klaus kommentierte: »Mama hat doch die letzten zehn Jahre so gut wie gar nichts mehr gekauft. Die paar alten Stücke räumen sich bestimmt ganz schnell weg. Bis ich von meiner Insel komme, bist du schon längst damit durch. Tüchtige, du!«

Danach wurden beide Brüder offenbar von einem gemeinschaftlichen Hörsturz heimgesucht.

Es stimmte. Mutter hatte mit den Jahren immer weniger gebraucht und vieles nach ihrem Achtzigsten bereits verschenkt, nicht ohne bei diesen Schenkungen pathetisch zu werden. »Man muss mit warmen Händen geben«, schluchzte sie mit so verknitterter Miene, dass niemand wirklich Spaß an ihren Gaben haben konnte.

»Mutters neue Sachen sind auch nicht das Problem«, schrieb ich Klaus aufgebracht zurück, »sondern all das Zeug, dass sich die vierzig Jahre zuvor angesammelt hat, inklusive deiner Fußballschuhe. Was soll ich damit machen?«

»Muss nachdenken«, meldete Klaus zurück und versank in eine weitere Schweigemeditation.

»Schick ihnen doch das Gerümpel einfach zu«, ärgerte sich Manu und meinte damit auch die fünf Toaster verschiedener Technik­generationen, die nun in Ronnys ehemaligem Zimmer aufbewahrt wurden, neben einem alten Röhrenfernseher, handgeschliffenen Kristallgläsern (nicht spülmaschinengeeignet), einem Entsafter, verschiedenen Waffeleisen und einem Monster von Fernsehsessel, den man zwar elektrisch bedienen konnte, der aber von Mutter nie bewegt worden war, weil sie, trotz vieler Erklärungen, stur immer die TV-Fernbedienung dafür nahm. Der eine oder andere Toaster wäre sicher für Liebhaber des Fünfzigerjahredesigns interessant, wenn man nur das Chrom, das sich dumpf unter rußigem Schwarz versteckte, noch sehen könnte.

»Wenn du die Sachen putzt«, hatte Uwe mir angeboten, »stell ich sie für dich bei eBay rein. In der Mittagspause kann ich die Verkäufe dann verwalten. Verpacken und wegschicken musst du sie dann aber!« Dieser Moment, in dem er mir seine »Unterstützung« anbot, würde sich mir auf ewig ins Langzeitgedächtnis brennen. Uwe – im schicken Unternehmensberateranzug mit weißem Hemd, die edle Aktentasche unterm Arm, der gepflegte Dreitagebart umhüllt von dem kühlen Rasierwasser, das ich ihm zum Geburtstag geschenkt hatte – wollte sich für mich bei eBay nützlich machen. Dafür gab es von mir ein großes DANKE!

»Kannst du auch mehr als virtuell?«, versuchte ich ihn zu pro­vozieren, aber Uwe fand sein Angebot so außerordentlich hilfreich, dass er meine verbalen Spitzen gar nicht bemerkte.

Er wollte gleich loslegen, für mich einen Plan und Skizzen zu machen und sogar auszurechnen, wie schwer eine Kiste sein durfte, damit ich keinen Bandscheibenvorfall bekam. Im Fach Projekt­management, wie er mir erklärte, lag er gerade ganz weit vorn. Lebensmitteleinkäufe waren jetzt »Milestones« und gemeinsame Abendessen »Events«. Uwe war zuverlässig, im Grunde auch hilfsbereit, aber er hatte nicht die Bohne zwischenmenschliches Talent. Aus seiner Sicht versuchte er wirklich, mir zu helfen, das wusste ich wohl. Aber in meiner Realität konnte ich ihn nur einen »Gorilla im Nebel« nennen.

»Ach, weißt du«, versuchte ich es mit Ironie, »ich glaube, wir behalten die Toaster noch ein bisschen. Ich hab sie in den letzten Tagen recht liebgewonnen, und ich denke, sie fühlen sich bei uns wohl.«

Uwe nickte, sicherlich sehr empathisch, wie er fand, stieg in seinen Geschäftswagen und rollte vom Hof. Ich schüttelte fassungslos den Kopf, schnaufte durch, krempelte wieder einmal die Blusenärmel hoch und fand weitere Toaster und Waffeleisen, die zu ihren Kumpels in Ronnys Zimmer zogen, um es sich dort für längere Zeit bequem zu machen.

Auf den Fußballschuhen blieb ich sitzen.

»Lass die mal liegen«, meldete sich Klaus nach Abschluss seiner klösterlichen Phase. »Oder noch besser: Könntest du sie mir nicht einfach schicken? Das bisschen Ausräumen ist doch alles kein großes Ding!«

Genau. Kein großes Ding, du kleines Arschloch. Ich fuhr schier aus der Haut und machte einfach weiter, weil es da eine alte, unfreundliche Frau gab, die meine Hilfe brauchte, und ein Haus, das es zu leeren galt. Ich hängte mir alles ans Bein, und mit jedem Tag wurde es ein bisschen mehr, weil ich ja die Tochter war und Töchter dazu verpflichtet sind.

In Wirklichkeit fühlte ich mich nicht nur verpflichtet, sondern gleichzeitig unglaublich ausgeliefert und benutzt. Selbst hier, im Speisesaal der »Rose«, saß ich nicht aus freien Stücken, sondern weil ich verantwortungsbewusst war und der Fürstin das Beste geben wollte. Wofür genau, das war mir in diesem Augenblick nicht klar. Aus Dankbarkeit dafür, dass sie mir das Leben geschenkt hatte? Aber warum sollte nur ich dafür dankbar sein? Warum mussten immer die Töchter dran glauben? Hatten nicht auch Klaus und Michael ihr Leben den elterlichen Beischläfen zu verdanken?

»Entschuldigung, ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt«, meldete sich Frau Pilser wieder. »Ich habe früher auf dem Gesundheitsamt gearbeitet.« Ich nickte ihr lächelnd zu, wollte etwas Freundliches sagen, aber die Fürstin war schneller als ich und zog erneut die Aufmerksamkeit auf sich.

»Nein, was für eine interessante Aufgabe«, reagierte sie herzlich aufgeräumt. »Sicherlich haben Sie deswegen so schönes Haar!«

Frau Pilser strich sich als Antwort eine violette Haarsträhne hinters Ohr. Eigentlich wäre sie besser beraten, wenn sie schnell kapitulierte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Mutter auf den violetten Haarton mit einem satten Lila antworten würde. Die andere Tischdame, Frau Müller, wie ich auf ihrem Namensschild las, war schweigsam und bedächtig mit ihrem Fischfilet beschäftigt. Sie schob es seit Minuten mit der Gabel auf dem Teller hin und her. Wenn alle hier so langsam aßen, konnten die Küchenfrauen nach dem Mittagstisch gleich das Abendbrot servieren.

»Hoppla«, rumpelte es an den Tisch, weil eine Dame der Nebentischgruppe aufstand und ihren Rollator schräg zu unserer Gruppe lenkte. Meine kalte Suppe schwappte über. »Entschuldigung, das passiert mir immer wieder!«

»Gut, dass Sie das wissen«, hörte ich aus einer anderen Ecke, sah aber nicht, von wem es kam.

»Nichts passiert«, bemühte ich mich, die Rollator-Lady zu be­ruhigen.

»Mit wem sprichst du?«, reagierte die Fürstin eifersüchtig, weil ich mich ja ausschließlich um sie zu kümmern hatte. Meine Güte, was taten mir im Grunde diese ganzen Omis leid. Wenn das alles war, was blieb, die Konkurrenznummern am Tisch, violette Haare, Gezeter und Angebereien, dann wollte ich nicht alt werden. Das war traurig und sehr ernüchternd.

»Ach«, stach Frau Pilser derweil zärtlich in eine eingelegte Birne, die es als Nachtischkompott gab, und blickte versonnen zu mir ­herüber. »Wissen Sie, Sie sind so jung und so schön!« Ihre Augen bekamen einen zärtlich verklärten Glanz. Altwerden ist beschissen, dachte ich, auch weil sie sich so in meiner Jugend irrte. »Aber wissen Sie«, träumte sie laut weiter, »mein Leben«, sie sah mich an, »mein Leben … das war ein Roman!« Das Wort Roman sprach sie ganz langsam und betont aus, so als hätte sie ein richtig gutes Buch gelesen und als müsste ich genau diesen Lesestoff jetzt kaufen. Sie nickte, lächelte und brauchte nichts und niemanden, nicht einmal mehr den Nachtisch, der noch immer nicht aufgegessen war. Ich konnte ihr zuschauen, wie sie in ihrer Erinnerung versank, und die war romantisch und schön und hatte nichts, aber auch gar nichts mit diesem Altenheim zu tun. Wie in einem Film driftete sie weg, erfüllt von einer längst vergangenen Zeit, und ich saß da, betrachtete sie und fühlte den Neid, wie er in mir kochte. Verdammt! Da saß eine Frau, die gelebt hatte. Richtig gelebt! Es war zu sehen und zu hören. Ich bekam eine Gänsehaut, weil es nicht zu verdrängen war, dass diese Frau zwar alt war, aber wesentlich glücklicher als ich. Ein Roman? Von meinem Leben würde ich das nie behaupten können. Nicht mal einen Groschenroman brachte ich zusammen. Höchstens einen langen Witz.

»Medizin«, reckte sich meine Mutter zu Frau Müller hin. »Meine Tochter ist eine ambitionierte Arzthelferin.«

Mit einem lauten Ruck stieß ich meinen Stuhl zurück. Das Linoleum unter den Stuhlbeinen quietschte, und am Nachbartisch wurden die Hälse schon wieder lang.

»Genau«, fauchte ich sie an, zornig, weil Mutter so egozentrisch war und den Zauber des Moments wieder einmal zerstörte. »Und Vati war ein prominenter Bürstenbinder, bis der Scheuerlappen erfunden wurde!«

Konnte sie denn nie, nie, nie jemand anderem wenigstens kurz die Bühne überlassen? Musste sie sich immerzu wie ein Zirkuspferd mitten in der Manege postieren? Wie kam sie dazu, Frau Pilser derart in die Parade zu fahren? Und wenn wir schon dabei waren: Arzthelferin war nicht mein Traumberuf gewesen. Vater hatte mich an die Praxis verhökert, als er eine Wurzelbehandlung plus Krone brauchte. »Hmpf, hmpf, aua, aua, tun Sie mir nicht weh, und machen Sie es nicht zu teuer. Ich gebe Ihnen dafür meine sechzehnjährige Tochter, im Wert von einem Esel und einer Kuh!«

»Und, war es Liebe?«, erkundigte sich Frau Müller, die neben Frau Pilser saß, leise bei ihrer Nachbarin, und ich versuchte zuzuhören und mich gleichzeitig zu beruhigen.

»Es war Liebe«, nickte Frau Pilser und verschwand dann wieder in ihrem Kompott, das sie genauso langsam weglöffelte, wie Frau Müller ihren Fisch aß. Ich wusste nicht, woher es kam, aber mir tat auf einmal alles weh. Meine Brust zog sich zusammen, und es roch mit einem Mal viel zu küchenschwer in diesem Saal. Ich fühlte die Art von bleierner Mattigkeit, die ich manchmal bekam, wenn ich Billigeis verzehrte. In meinen Ohren rauschte das Blut, und mein Silberblick sorgte dafür, dass ich mit einem Mal sechs Frauen sah, die vor ihren noch immer nicht leer gegessenen Tellern saßen. Nicht vom Tisch fallen, versuchte ich mich aufrecht zu halten und dachte gleichzeitig, warum eigentlich nicht. Betten gibt es hier genug, und es musste schön sein, hier in einem Zimmer zu ruhen und die Welt blieb außen vor.

»Willst du auch was von der Birne?«, kümmerte sich Mutter nun tatsächlich auch um mich, aber ich winkte nur ab und versuchte wieder ruhig zu werden.

»Nein danke. Ich geh jetzt. Muss noch mal ins Haus«, verabschiedete ich mich so hastig, wie es eben ging, weil mir nicht gut war und ich Tränen in mir aufsteigen spürte.

»Entschuldige, dass ich heute so nervös war!« Mutter strich mir zaghaft über die Hand. Ich verabscheute mich, weil ich wieder so ungeduldig gewesen war.

Dieses wiederkehrende schlechte Gewissen gab mir schier den Rest. Als hätte ich nicht genug zu tun. Ich nahm mir vor, gelassen und hilfsbereit zu sein, aber Mutter schaffte es, dass ich immer ­wieder explodierte, dass aber gleich darauf die Wut wieder in Mitleid, Selbstvorwürfe und ein schlechtes Gewissen umschlug. Sie ist doch gar nicht so schlimm, wie du immer tust, beschimpfte ich mich dann selbst. Nun hab doch Verständnis und sei ein bisschen lieb!

»Ja, geh nur«, nickte Mutter mir zu. »Und bring mir die gepunktete Bluse mit. Die mit den grünen Knöpfen.« Ihre Stimme klang nun gar nicht mehr so exaltiert, und ihr Blick war, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, mit einem Mal direkt besorgt. »Ist dir nicht gut? Möchtest du noch etwas essen?«

Um sie nicht zu beunruhigen, verkniff ich mir jedes offene Wort. Wenn sie so war wie jetzt, dann liebte ich sie ganz und gar. Alles konnte ich dann für sie tun, weil ich ihre echte Trauer spürte dar­über, dass ihr Leben nun in der letzten Phase war.

»Weißt du, wo die Bluse hängt?«, erkundigte sie sich, für ihre Verhältnisse sehr zurückhaltend und leise.

Ich wusste es nicht, weil auch in den Schränken keine Ordnung mehr war. Dabei war Mutter auf ihre akkuraten Kanten immer besonders stolz gewesen.

»Wenn ich sie mir doch nur selber holen könnte«, schluchzte sie auf und berappelte sich gleich wieder, eigentlich genau in dem Moment, als ich sie aus tiefster Seele trösten wollte.

»Und bitte denk an die Kaution. Nicht dass wir hier noch Ärger kriegen!« Jetzt drückte sich die alte Marschallin wieder durch.

»Schon gut!«, beruhigte ich sie schnell. In Wirklichkeit war die Kaution das Letzte, an das ich dachte. Aber, Himmel ja, sie musste her! Uwe wollte sie aus seiner berühmten schwarzen Kasse zahlen, in die all die Honorare kamen, für die es keine Rechnung gab. Leider kam nur er an dieses Geld, was hieß, dass ich nicht nur daran denken musste, sondern auch Uwe zu erinnern hatte. Uwe wollte einerseits die Kasse leeren, andererseits hing er auch sehr an seinem privaten Geld. Schon flackerten die Augen der Fürstin panisch.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich, »ich werde U–«

»Naaaa?«, platzte die Dame von der Rezeption an unseren Tisch. »Wie geht es denn, Frau Wiese? Schmeckt es? Haben Sie gut gespeist? Ich bin Frau Goldmisch, aus der Verwaltung«, reichte sie mir völlig überdreht die Hand. »Goldmisch wie Goldfisch, nur mit m! Hihihi.« Sie kicherte ausgelassen über ihren blöden Witz. »Das ist doch alles großartig hier, nicht wahr?«, klopfte sie Mutter auf die Schulter. »Also: Immer schön bei guter Laune bleiben, dann ist alles nur halb so schwer. Nicht wahr, Frau Pilser und Frau Müller?«

Beide Damen sagten nichts, aber der fürstliche Kopf hatte kapiert, dass es aus taktischen Gründen angezeigt war, den Goldfisch zu angeln. Mutter hatte auf gute Kontakte in Verwaltungen und Rathausstuben immer sehr geachtet. Ich wusste es deshalb einzuordnen, als sie ihren Kopf seitlich nach vorne neigte und eine Träne auf das Tischtuch kullern ließ.

»Wie gut«, wurde der Fisch nun ganz betroffen, »dass Sie so eine liebe Tochter haben. Das macht das Schwere doch ein bisschen leichter.«

Mutter führte die zusammengepresste Serviette an den Mund.

»Ja«, schniefte sie in den baumwollenen Damast, »aber natürlich würde ich lieber selbst für meine Belange sorgen.«

»Also, ich muss los«, verabschiedete ich mich von Mutter und vermied es, auf ihre Tränen einzugehen. Schon wieder poppten die Schuldgefühle wie giftige Dampfbläschen in mir auf.

»Du kannst es grad niemandem recht machen«, versuchte Manu mich aufzubauen, als ich auf dem Weg ins Haus eine Verschnaufpause in ihrem Laden einlegte. Es war Sommer, und Manus »Fröhlicher Vagabund« lief gerade wie geschmiert. Das schöne Wetter lockte die Menschen vor die Tür. Alle wollten raus und Wald und Berge erfahren. Rund um Maikammer gab es davon genug, und in Manus Laden bekam man alles, was man für Wanderungen brauchte, inklusive Wimpel, Socken, neckischer Andenken und Accessoires. Manu hatte gerade eine ganze Truppe Wandervögel mit Wanderführern und Blasenpflastern ausgestattet und war bester Laune. Mit einem »Ich hatte doch heute schon ein gutes Geschäft« sperrte sie ihren Fröhlichen Vagabunden für eine unfröhliche längere Pause zu, und ich erlaubte mir, einen Moment lang die zu sein, die ich war: eine müde Frau, die eine alte Frau beneidete, weil deren Leben ein Roman gewesen war, deren eigenes Leben jedoch gerade einem Alptraum glich.

»Ich möchte am liebsten wegrennen«, gestand ich ihr und wischte mir die Tränen aus den Augen.

»Vor wem?«

»Vor mir. Vor der Fürstin. Vor Uwe und vor dem Haus.« Erschöpft ließ ich mich von Manu in den Arm nehmen. »Könnte nicht einfach ein Wunder geschehen?«, schluchzte ich verzweifelt.

»Ich möchte einfach schlafen, und wenn ich aufwache, ist alles vorbei«, heulte ich wie ein kleines Mädchen. »Es soll aufhören! Es soll mich in Ruhe lassen!« Wer oder was »es« auch war. Wahr war nur, dass es unsinnig war, von Wundern dieser Art auch nur kurz zu träumen.

Kapitel 2

Nena

Ein Haus bekommt eine merkwürdige Kälte, sobald man beginnt, es auszuräumen. Das, was früher mein Elternhaus gewesen war, schien immer mehr zu zerfleddern, und die einzelnen Zimmer sahen aus, als hätten Einbrecher in ihnen gewütet. Keine Ecke war mehr wie zuvor. Die guten Möbel hatten wir zu Mutter gebracht, darunter ein Bücherschrank, ihre Kommode, der runde Tisch mit Stühlen, ein kleiner Fußschemel, ein zusammenklappbarer Teewagen und, weil sie drauf bestanden hatte, die karierte Gästeliege. Die anderen ­Sachen, wie das Telefonbänkchen mit Tisch und Polstersessel, die Hutablage, der hölzerne Schirmständer, Gardinen, Spiegel, gobelingestickte Bilder, die kompakte Schallplattenspieler-Radio-Kom­moden-Anlage mit gedrechselten Beinchen im Stil Gelsenkirchener Barock, Herd und Kühlschrank sowie das Eckbankarrangement der Küche, würde hoffentlich die Caritas abholen. Sofern, das war noch immer nicht entschieden, Mutter die Spende zuließ und nicht weiter auf einer anderen Verwendungsmöglichkeit bestand.

»Aber das Telefonbänkchen ist doch sehr praktisch«, fiel sie mir ins Wort, kaum dass ich die Caritas auch nur erwähnte.

»Mama, heute telefoniert so gut wie niemand mehr auf einem Bänkchen!«, wollte ich ihr erklären, doch meine Worte rauschten an ihr vorbei.

So kam es, dass viele Möbelstücke im verlassenen Haus auf Menschen warteten, die einen Geschmack wie Mutter hatten. »Es gibt viele Menschen, die wünschen sich ein Andenken von mir«, versuchte sie es weiter, und ich bekam verschiedene Namenslisten, die es abzutelefonieren galt. Aber die Nachbarn, die kamen, nahmen sich nur ein Teeei oder einen Kerzenhalter als Andenken an Mutter mit, und ihre Freunde entrümpelten gerade selbst und fragten lieber mich, ob ich mich nicht schon lange nach einem Telefonsitzbänkchen sehnte. Auch Schirmständer aus Holz waren ganz deutlich aus der Mode, aber es gab sie massenhaft. Mich zermürbten diese ungewollten Möbelstücke und das Tohuwabohu, das durch die Herumrückerei entstand. In jedem Zimmer Berge von Pappkartons und Zeitungspapier, einzelne Kisten stapelten sich bereits auf der Veranda, die vor lauter Verpackungsutensilien gar nicht mehr zu sehen war. Wanderte mein Blick über sie hinweg, dann ging das Elend weiter. Mutters Garten war trocken und gelb, nur ein paar Sträucher hielten noch die Stellung, so als würde die Fürstin dereinst wiederkommen. Aber dies würde nicht geschehen, deswegen musste alles weg. Warum hatten meine Eltern nur so viel angesammelt? Allein die Bierglassammlung meines Vaters füllte drei Kisten.

»Wo ist der Werkzeugkasten?«, schickte ich Manu eine angespannte SMS. Gestern hatte ich Manu noch mit dem Kasten gesehen und es dann später aus irgendeinem Zimmer hämmern hören. Wo war das gewesen? Im Keller, Erdgeschoss, in den Schlafzimmern oder in Vaters Garage? Vaters Garage … weil Mutter natürlich kein Auto fuhr.

»Danke für die Info«, schickte ich Manu eine zweite Botschaft hinterher, weil ich bemerkte, dass ich dabei war, Mutters Befehlston zu übernehmen. Das fehlte noch, dass ich Manu auf die Zehen trat. Ich sah mich noch mal selbst nach dem Werkzeugkasten um, aber in dem Durcheinander war einfach nichts mehr zu finden. Ich wuchtete einen mit Besteck, Gläsern und Krimskrams gefüllten Karton vom Tisch auf den Boden und ließ mich dann erschöpft in Vaters Lesesessel fallen. Es knackte unter meinem Hintern. O nein, das war der Porzellanaschenbecher mit Edelweißmotiv, den ich hier unter einem Tuch deponiert hatte, weil er so herrlich kitschig war.

»Ach, schade.« Ich stand wieder auf und besah mir die Scherben. Hoffentlich hatte die Fürstin das gute Teil nicht mehr auf dem Schirm. Die Sorge war berechtigt, denn seit Mutter in der »Rose« lebte, kamen ihr auf einmal alle möglichen Dinge in den Sinn. Vom verstaubtesten Nadelkissen bis zu den ausgeleiertsten Schuhspannern, alles war ihr auf einmal wichtig.

Der Aschenbecher war ein Familiensouvenir aus einem unserer vielen Österreichurlaube gewesen. Obwohl ich nicht rauchte, stand mir dieses Teil näher, als es der Schirmständer je getan hatte. Ich legte die Scherben auf das leere Regal, das ausgestopfte Eichhörnchen an der Wand darüber glotzte gehässig zu mir herab.

»Pass bloß auf!«, fuhr ich es an und stockte sofort, weil mir mit ­einem Mal auffiel, wie gespenstig leergefegt die Wand war, an der nur noch das einsame Eichhörnchen hing. Über die ganze Wand verstreut sah ich einzelne Nägel hervorstehen und blanke Stellen, wo früher Familienfotos und gemalte Landschaften in Öl gehangen hatten.

»Bloß nicht hinsetzen und nachdenken«, hatten Manu und ich in den schlimmen Disconächten unserer Jugend immer gelacht, »sonst kommt gleich die Depression!«

Dieser Rat war mir jetzt sehr teuer, denn sobald ich durchatmete oder eine Pause einlegte, schnellte der Tränenpegel derart hoch, dass die Gefahr einer Überflutung in mir drohte. Diese vielen Er­innerungen brachten mich noch um. Das Eichhörnchen keckerte. Ich hatte es doch gehört? Es machte sich über mich lustig! Verzweifelt zerrte ich an dem ausgestopften Tier, das sich ohne Werkzeug aber einfach nicht von der Wand lösen ließ. »Du Mistvieh«, plärrte ich es an und floh im selben Moment panikartig aus dem Raum, der früher unser Wohn- und Esszimmer gewesen war. Ich hastete durch den hallenden Flur, stieg über Kisten, Eimer, Kartons und rannte an den gefühlt tausend Putzlappen vorbei. Schnell, schnell, ich musste mich bewegen, sonst schnappte ich noch über. Wo Stehlampen gestanden hatten, waren die Steckdosen verwaist. Die Utensilien aus dem Nachtschrank lagen verstreut auf Vatis Bett, das nicht mit in die »Rose« umgezogen war. Der Überwurf darauf war noch immer nicht abgezogen. Wo ich hinsah, riefen mir Wände und Räume Vergangenes zu, aus jedem Winkel vernahm ich Stimmen, und der Gelsenkirchener Barock im Wohnzimmer heulte wie ein Gespenst so laut, weil ihn niemand haben wollte. Sogar die ausgestopften Tauben, die über dem Ausgang zur Veranda hingen, wetzten ihre Schnäbel und gurrten leise: »Blut im Schuh.« In die unwirkliche, gespenstische Atmosphäre hinein klingelte mein Telefon.

»Manu!«, rief ich schon erleichtert, weil ihre Stimme den Spuk beenden würde. Nach dem Telefon suchend, stolperte ich fast über einen Teppich, der sich wellte und wie ich gegen all die Veränderungen sträubte. Ach ja, das Telefon war ja im Bad, ich sprang die Treppen runter, hetzte dem Klingelton entgegen.

»Manu?« Ich lehnte mich erschöpft ans Waschbecken, dabei entdeckte ich die Ansammlung von Cremetöpfen und fast verbrauchten »Kopfwaschmitteln« und »Haarspülungen«, wie meine Mutter Shampoo und Conditioner noch immer unbeirrt nannte. Während ich mich meldete, überlegte ich, was mit den angebrochenen Flaschen und Tuben geschehen sollte, und die Entscheidung stresste mich so, als ginge es hier um eine Herz-OP.

»Was ist mit dir?«

Mutter! Mich traf fast der Schlag. Das hätte ich eigentlich schon am empörten Klingeln erkennen können.

»Bist du im Haus?« Ihre Stimme klang ungeduldig. Wollte sie mich kontrollieren?

»Ja«, antwortete ich karg. »Das hatte ich dir doch gesagt.«

Spürbare Entspannung auf ihrer Seite. Offenbar hatte sie nicht damit gerechnet, dass ich tatsächlich weiter ausräumte, was mich innerlich schon wieder auf die Palme brachte.

»Ich habe vergessen, dir vorhin etwas zu sagen. Bring mir bitte meine rostbraunen Schuhe mit. Die mit dem Absatz! Du kennst sie ja. Sie sind hinter dem Vorhang im Regal.«

Es gab keinen Vorhang mehr und kein Regal. Beides, mitsamt der Waschmaschine und einem Karton voll alter Schuhe, hatten die Bulgaren mitgenommen, die bei Manu um die Ecke wohnten. Fünfzehn Menschen in einem Zimmer, da konnten ein Regal und eine Waschmaschine ja nicht schaden. Allerdings hatte ich ihr das nicht gesagt, weil ich nicht jeden Handschlag diskutieren konnte. Das rächte sich an dieser Stelle.

»Du sollst doch keine Absätze tragen …«, bellte ich etwas zu laut, damit sie ja nicht weiterforschte. Die meisten Dinge, die Mutter ­verlangte, waren schon lange nicht mehr da, und ganz oben auf der Entsorgungsliste hatten ihre Pumps gestanden. Die hatte sie nämlich unsinnigerweise im Garten getragen, bevor sie sich in die Rabatten schlug. Sie trug diese Schuhe auf dem holprigen Rasen, weil die üblichen Gartenschuhe ihrer Meinung nach zu klobig waren. Die Fürstin bestand auf Absatz, koste es, was es wolle, und stand auch eine Hüfte auf dem Spiel. Hatte sie noch immer nicht genug? Wollte sie unbedingt wieder hinfallen und sich auch noch die zweite fürstliche Hüfte demolieren?

Mutter antwortete nicht, sondern schnaufte nur kurz und legte indigniert den Hörer auf. Zwischen dem Schnaufen und dem Tuuut, das daraufhin aus der Leitung tönte, hörte ich sie noch zu jemandem sagen: »… braunes Wildleder und das Fußbett wie von Mephisto.«

Nur dass es keine Mephisto-Schuhe waren, sondern irgendeine Billigware, aber natürlich, Mutter hing daran.

»Scheiße!«, schrie ich laut. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!« Was ich auch anfasste, machte ich falsch. Hätte ich sie fragen sollen? Aber ich hatte doch gerade wieder gemerkt, wie unvernünftig sie sein konnte. Es war zum Verrücktwerden! Besser, ich schaffte alle Kopfwaschmittel zu ihr ins Heim. Was, wenn sie mit irgendeiner dieser Marken emotional verbunden war und sich in diesem Bad die letzte Flasche aus einem für sie ganz wichtigen Sortiment befand?

»Da kriegt man doch ’nen Knall!«, schrie ich gegen die grünen Fliesen und bemerkte an mir erste Anzeichen einer Hyperventilation. Ich musste mich zusammenreißen. Hier gab es niemanden, der mir half, wieder zu Atem zu kommen, indem er mir eine Plastiktüte zum Hineinatmen vor den Mund hielt.

»Tüchtige Mädchen haben keine Zeit, verrückt zu werden, tüchtige Mädchen atmen durch und arbeiten einfach weiter«, ermahnte ich mich beinhart und vermied den Blick in den Allibert-Schrank, der mir meinen weißen Haaransatz aus drei Spiegeln schnippisch entgegenwarf. Diese Kackschuhe, lenkte ich mich von meinem ei­genen Grauen ab. Womöglich lagen sie ja doch noch in irgendeiner Ecke. Ich durchwühlte verschiedene Kisten und Müllsäcke und fühlte mich von Minute zu Minute mieser. Man darf einem alten Menschen nicht alles nehmen, aber manchmal muss man es eben doch. Der Teufel würde mich dafür holen, und wenn das geschah, dann hatte ihn Mutter für mich bestellt. Ich ging Richtung Schlafzimmer, um die Schuhsituation zu kontrollieren. Wieder klingelte das Telefon.

»Oooh Mamaaaa!«, schrie ich in Richtung Telefon. Konnte sie denn nicht endlich Ruhe geben?

»Ich hab sie noch nicht«, japste ich gequält ins Telefon. »Jetzt lass mich doch endlich mal weitermachen, oder gibt es noch was, das du dringend brauchst? Vielleicht Trockenshampoo? Hier stehen ein halbes Dutzend Döschen von Frottee, schätzungsweise aus dem Jahre 1966.«

»Hallo? Wer spricht da? Etwa eine Frau am Rande des Nerven­zusammenbruchs?«

Manu! Endlich! Erlöst ließ ich mich an der Flurwand hinabrutschen und lehnte meinen Kopf an die Wand, an der das Schuhregal gestanden hatte.

»Der Werkzeugkasten ist im Keller«, beantwortete Manu meine SMS. »Ich hatte den Hammer gebraucht, weil ich kurz davor stand, die Bierglassammlung deines Vaters kurz und klein zu schlagen!«

»Warum hast du’s nicht gemacht?«, lachte ich los, erleichtert und doch unter Tränen.

»Das will ich mit dir zusammen machen. Bring die Gläser also bloß nicht weg, sondern warte, ich bin gleich da!«

»Mach ich«, antwortete ich, nah am Schluchzen. »Ich bleibe hier sitzen und rühre mich nie mehr von der Stelle. Nie mehr!«

Ich hatte den Energiepegel eines ausgeblasenen Eis und schloss die Augen. Nein, ich durfte mich nicht auch noch selbst fertigmachen. Ich gab hier mein Bestes. Wirklich. Aber in den meisten Stunden war die Anforderung zu viel. Ohne Manu, zog ich Bilanz, war ich im Grunde ganz verloren. Nicht nur jetzt. Sie gab mir den Halt und die Hilfe, die ich so dringend brauchte. »If you need help, ask a woman!«, hatte ich mal einen Spruch gelesen. Auf Manu passte er, als hätte ihn jemand für diese Frau kreiert.

Die Dankbarkeit gab mir wieder frischen Mut. Ich überlegte, ob ich hier noch etwas zu essen für uns finden konnte. Schließlich würde Manu direkt von der Arbeit kommen, es war also anzunehmen, dass sie Abendbrothunger hatte. In der Küche stand noch der Korb vom gestrigen Tag. Ein paar inzwischen labbrige Brötchen waren noch darin. Dazu konnte ich löslichen Kaffee, Rollmöpse, Bratwurst in der Dose, halbe Pfirsiche im Glas und Speisestärke anbieten. All das fand ich im Küchenschrank. Na, unser Abend konnte ja richtiggehend kulinarisch werden!

»Früher waren die Menschen einfach kleiner und schlanker«, bemerkte Manu etwas später und ruckelte sich auf der Kücheneckbank zurecht. »Schau mal«, sie drückte ihren Bauch demonstrativ in Richtung Tischplatte, »das ist doch krass. Wenn ich den Bauch drauflege, dann könnte ich mir hier mühelos ein Nabelpiercing machen!«

»Iiieeeh! Nein, Bauch nicht drauflegen!«, hielt ich sie davon ab, ihren Pulli hochzuziehen.

»Wieso? Es gibt Menschen, die würden mir sehr viel zahlen, dürften sie dabei sein.«

So hatten wir das mit fünfzehn schon gemacht, wenn eine Si­tuation eigentlich unerträglich war. Wir hatten uns gegenseitig geschockt, wie wir das damals nannten. Die Wette war: Wer von uns beiden kam schneller auf die blödeste, ekligste und widerwärtigste Idee? Auch jetzt wirkte das Gefrotzele wie ein Korkenzieher und ließ die Anspannung aus meinem Körper entweichen.

»Weißt du noch?«, grunzte Manu und spielte damit auf unsere Tanzstundenzeit und die quälende Unsicherheit an, ob wir wohl aufgefordert werden würden. Schnell hatten wir auch damals die Sache zu unserem Spaß umgedreht und eine Wette daraus gemacht. Wer von uns beiden würde eher von einem der hässlichsten Jungen zum Tanz erwählt werden?

»Pickeldi … weißt du noch?« Manu verschluckte sich fast an ihrem Brötchen.

»Und Mampf!«

Das waren ein Junge mit Pickeln und einer mit Speckbauch gewesen. Die Jungen taten mir jetzt richtig leid.

»Dass wir uns nicht schämten, so mit ihnen umzugehen«, versuchte ich noch schlimmeres Karma von uns abzuwenden.

»Tu nicht so heilig«, winkte Manu lachend ab. »Du bist böse, das weißt du doch. Und ein Piercing stünde deswegen auch deinem Bauch sehr gut. Vielleicht ein Hexenbesen oder Teufelshörner, wie findest du das? Oder, noch besser, wir finden hier vielleicht noch ein altes Souvenirglöckchen aus Tirol oder dem Zillertal. Mit dem am Nabel könnte ich dich bedeutend schneller in diesem Chaos orten.«

»Dafür hat dann die Eckbank einen Schock.« Ich lief mich langsam mit ihr warm. Manu war mein Sonnenschein. Wenigstens für diese kurze Pause wollte ich glauben, dass es keinen Schatten gab.

»So sind die Zeiten von heute«, unterbrach Manu mit Haifischgrinsen meine Gedanken. »Ich glaube, das Teil hatte in den letzten Jahrzehnten mehr zu verkraften als gepiercte Speckbäuche und tiefe Dehnungsstreifen im Gewebe.«

»Iiiehh!«, schrie ich wieder auf, aber Manu dachte nicht daran aufzuhören.

»Schau dir nur diese Pril-Blume an«, wies sie mit ihrem Kaffee­löffel auf das gelb-orange Blümchenteil, das Mutter über die Stelle der Sitzbank geklebt hatte, an der ich mit dem rebellischen Zorn eines neunjährigen Kindes meine Häkelnadel tief in den Schaumgummi gerammt hatte, weil ich partout keine Topflappen häkeln wollte. Diese zweifarbigen Lappen mit Mausezähnchenrand waren mir damals ganz unsinnig vorgekommen, und ich hatte mich gewehrt und geweigert, bis Mutter an meiner Stelle die Topflappen gehäkelt hatte, weil sie die Auseinandersetzung mit der Handarbeitslehrerin scheute. Fest in die Hand versprechen musste ich ihr damals, dass ich sie nicht verraten würde. Nicht im Traum hätte ich mich verplappert, denn ich war sehr froh, dass man mich fortan mit dem Schulmädchengarn in Ruhe ließ. Aber ich entwickelte eine kindliche Vorliebe für selbstgefertigte Knüpfunterleger mit Tier­motiven, die man für nichts gebrauchen konnte, außer dass sie einem auf dieser Bank als Sitzkissen dienten, wenn es heiß war. Noch immer erinnerte sich meine Haut an das schwitzig-klebrige Gefühl, wenn die Unterlage verrutschte und sich das rote Plastikpolster der Sitzbank an die Oberschenkel klebte.

Auf dieser Sitzbank, an diesem Tisch hatten wir gefrühstückt. Als Kind mit Kaba, später mit Caro-Kaffee. Mit Caro war man schon fast erwachsen. Ich erzählte Manu von unseren Mahlzeiten.

»Aber bitte keine Märchentasse«, erinnerte sich Manu laut. »Oder Schnittchen mit Fleischwurst, Radieschen und Schnittlauch aus dem Garten.«

»Bei uns gab es oft Käseecken, manchmal Tomaten, oft ein Ei.«

»Unter der Woche?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ei nur sonntags, im Esszimmer und auf gutem Geschirr. Unter der Woche wurden Brettchen aufgelegt«, ich öffnete zielsicher eine Schublade und zog ein graues Teil hervor. »Hier schau, die Unterseite grau-weiß gemustert, wie die Oberfläche des Tisches. Meine Eltern waren supermodern. Nicht nur die Brettchen, auch der Tisch ist eigentlich ein Knaller!«

Die Tischbeine verjüngten sich zu ihren Enden hin, voll das Design der sechziger Jahre. Zweimal pro Jahr wurden hier auch die Zeugnisse ausgelegt und kopfschüttelnd geprüft. Erst von Mama, dann von Vater. Das schlechteste Zeugnis kam zuerst.

»Was soll das sein? Willst du später mal Straßenkehrer werden?«, schimpfte Vater, wenn mehr als drei Vierer im Zeugnis waren.

»Wieso? Straßenkehrer ist ein anständiger Beruf!«, maulte Michael zurück und fing sich eine Ohrfeige, weil er aufmüpfig guckte.

Wirklich Prügel hatte es nie gegeben, aber Backpfeifen, Kopfnüsse und wie die fiesen Züchtigungen in den späten Sechzigern sonst noch geheißen hatten.

Wenn wir zu Freunden gingen, mussten wir auf diesem Tisch ­Zettel deponieren. Bin bei Manu, komme um 18Uhr wieder heim. Und wehe, wir hielten uns nicht daran! Die Fürstin hatte hier auch die Arbeitsaufträge hinterlassen: Michael: Rasen mähen (vor und hinter dem Haus). Anne: Staub wischen (Wohnzimmer,Flur) und Bad putzen. Klaus: Selterswasser kaufen und die Blätter in der ­Hofeinfahrt zusammenkehren. Tischabräumen und Geschirrab­waschen war meine Aufgabe, während Vater, Michael und Klaus an den Wochenenden noch mal eine Runde auf dem Sportplatz drehten.

An Festtagen dinierten wir am runden Tisch im Esszimmer, den man zur ovalen Tafel aufrüsten konnte. Diesen Tisch, und wenigstens drei der guten Stühle, hatte Mutter in ihr Apartment in der »Rose« mitgenommen. Die ganze Tafel passte in den kleinen Raum ja nicht hinein, auch wenn sie immer noch tat, als würde sie in einer Villa leben. »Sicher werden Michael und Klaus bald kommen, da brauchen wir viel Platz«, hatte sie der Stationsschwester erklärt. »Meine Söhne!« Die Schwester hatte dazu routiniert genickt.

Damals musste alles praktisch und abwaschbar sein. »Kein Nippes in der Küche, der verklebt vom Küchendunst!«, hatte die Fürstin den Salz- und Pfefferstreuer weggeschoben, den ich beim Kirchenbasar gewonnen hatte und der aus einer Salzkatze und einem Pfefferhund bestand. Nun hatte ich die beiden Figuren hinter dem Besteckkasten wiederentdeckt.

»Ist doch niedlich«, meinte Manu und betrachtete die Katze in ihrer Hand. »Echt retro. Wenn du sie nicht willst, nehme ich sie gerne.«

»Und eine von Mutters Kristallvasen willst du nicht?«, schob ich ihr zum Spaß ein wild gemustertes Teil entgegen. Niemand wollte Kristallvasen, nicht mal geschenkt oder für einen guten Zweck. Sogar die Frau vom Caritasladen hatte händeringend auf ein Regal gezeigt, das sich vor lauter Kristallvasen nur so bog.

Der Tisch vor uns bog sich unter altem Plunder.

»Schau mal, ein Wetterhäuschen.« Jetzt begannen Manus Augen zu strahlen. Das Wetterhäuschen hatte Vater mir in Salzburg geschenkt. Michael und Klaus hatten Geldbörsen in der Form von kleinen Lederhosen bekommen.

»Ich erwarte von euch immer eine volle Hose«, hatte er dazu gesagt, und wir hatten uns vor Lachen so gebogen, wie das nur in den Sommerferien geht.

Salzburg, Sommer, kühles Wasser … Ich nahm Manu das Häuschen aus der Hand, lächelte still auf den kleinen Mann mit Regenschirm und die fesche Dame in rotem Dirndl und gab es entschlossen Manu zurück.

»Kannst du auch haben.«

Gleich nachdem ich den Satz ausgesprochen hatte, spürte ich, dass ich zu eilig gewesen war.

»Geschenkt ist geschenkt, wiederholen ist gestohlen«, hatte mir Mutter eingeschärft, wenn ich wegen der zu unbedacht verschenkten Puppen, Bücher und Teddys heulte. Ich wollte beliebt sein, deswegen gab ich die Dinge her, die ich eigentlich selbst behalten wollte. Bei Manu brauchte es solche Geschenke nicht. Sie zeigte mir einen Vogel und legte das Wetterhäuschen in meinen Korb.

»Spinnst du? Das ist doch deines! Außerdem: Für Folklore bist eindeutig du zuständig, auch wenn so ein Zeug gut in meinen Wanderladen passt.«

Wir hatten uns einen löslichen Kaffee gebrüht, den wir mit syn­thetischem Kaffeeweißer erhellten. Auf der Bank neben Manu lag ein Stapel mit geblümter Bettwäsche und alten Laken. Eine Fliege surrte durch den Raum, draußen mähte Herr Wagner Rasen, ansonsten war es still. Kein Mensch weit und breit, nur Frau Seidling von gegenüber huschte auf den Balkon, prüfte die Feuchtigkeit in den Geranienkästen und rollte dann die rot-weiß gestreifte Markise aus.

»Ist schon ein sehr komisches Gefühl.« Manu nahm einen Schluck Kaffee und blickte aus dem Fenster über die Straße zu den Nachbarhäusern hin. »Noch ein paar Tage, dann ist hier alles weg. Schlimm?« Sie sah mir prüfend in die Augen.

»Geht so.« Ich versuchte tapfer zu bleiben und mir selbst vorzuspielen, dass ich hier nur ausräumte und nicht etwa Abschied von meiner Kindheit nahm.

Der Duft des frischen Grases wehte zu uns herein, so wie es immer geduftet hatte, wenn Herr Wagner mähte. Wie würde ich diesen Rasenmäherkrach vermissen, genauso wie den Geruch nach Benzin, weil in dieser Straße noch kein Elektromäher eingezogen war. Dieser furchtbar-wunderbare Gestank, mit dem die schönsten Gefühle verbunden waren. Wenn es früher danach gerochen hatte, dann war bald die Zeit gekommen, die Kniestrümpfe gegen Söckchen einzutauschen und statt der Schnürschuhe offene Sandalen an die Füße zu ziehen. Es war der Geruch nach Sommer, genauer nach erstem Ferientag und dem Moment, in dem das große Plastikplanschbecken aufgeblasen wurde, in dem sich das Wasser aber erst ein paar Tage von der Sonne erwärmen musste, bis wir endlich darin baden durfte. Folter waren diese Tage gewesen. Folter mit täglichem Geschrei.

»Es reicht doch schon!«

»Nein, es ist noch zu kalt!«

Manu schaute sich aufmerksam auf dem Tisch und in den geöffneten Kartons um. Prompt fand sie ein altes Polaroidfoto von mir, wie ich zwischen Klaus und Michael in dem echt großen Schwimmteil hockte.

»Und dahinten …«, sie zeigte auf dem Foto auf einen kleinen Punkt. »Das ist doch der Wagner …«, wir lachten los. »Der Wagner mit dem Rasenmäher.« Unglaublich, wie der mit seinem Garten verwachsen war.

Aus dem Wohnzimmer gongte die kleine goldene Tischuhr.

»Puh, schon nach sechs?« Manu schreckte hoch. »Dann kann ich nur noch ein Stündchen bleiben.« Flink schob sie das Foto in den Korb, den ich für die Habseligkeiten gefunden hatte, die ich mit nach Hause nehmen wollte. Im Korb lagen bereits ein Poesiealbum, Briefe mit krakeliger Kinderschrift, ein Salzkammergut-Fotoalbum, ein Armband aus Silber mit bunten Souveniranhängern, ein Vo­kabelheft in Blau mit in Schönschrift abgeschriebenen Gedichten von Hildegard Knef. Auch dieses bescheuerte Berte-Bratt-Buch, das ich mir zum zwölften Geburtstag gewünscht hatte: »Das Leben wird schöner, Anne«. Dieses Buch war mit dafür verantwortlich, dass sich in meiner Jugend zu viel romantisches Gift in meinem Herzen angesammelt hatte. Diese Jungmädchenbücher, allesamt entweder mit nervigen Aufforderungen oder romantischen Prognosen im ­Titel wie Petra setzt sich durch,Karin findet ihren Weg,Du bist beliebt, ­Karoline. Mit diesem hoffnungslos überzogenen Lesefutter hatte man uns Teenager in die kalte Welt des Alltags und Familientrotts entlassen, denn die tollen Abenteuer, die Reisen, die liebevollen und romantischen Männer, die in den Büchern beschrieben wurden, fanden wir im echten Leben nicht.

»Ach wie süß! Schau mal! Eine Schneekugel!« Jetzt hatte Manu im Korb das gesichtet, was auch so ein Traum meiner Kindheit gewesen war. »Das Riesenrad von Wien, oder?« Sie schüttelte die Kugel in ihrer Hand, und der Schnee darin begann lustig zu tanzen. Die kleinen Waggons drehten sich, und der Flitter umstob das kleine Wahrzeichen von Wien.

»Goldig!« Manu und ich sahen verträumt den Flocken zu. Wien.

Zweimal pro Jahr hatte Wien in meinem Kinderleben eine Rolle gespielt. Einmal am Neujahrstag, wenn das Fernsehen das Neujahrskonzert aus einem goldenen Konzertsaal übertrug und Vater zum Kaiserwalzer Mutter um die Hüfte packte. Und dann natürlich im Sommer. Fast alle Ferien meiner Kindheit hatten wir in Österreich verbracht, aber immer nur einen Tag davon in Wien. »Sommerfrische« nannten wir die Ferien damals. Raus aus der stickigen Stadt und hinein ins grüne Salzkammergut. Gemütlichkeit pur. ­Mozartkugeln, Grießnockerln, Mohntorte, Topfengolatschen und Powidltatschkerln, Kühe, Pferde, Berge, Gipfelkreuze, Lederhosen, Tirolerhüte, grün gestreiftes Gmundner Porzellan, blaue Seen, darauf bunt geschmückte, tönende Dampfer. Und immer wieder Regen.

»Wenn es hier mal richtig regnet, ja dann regnet es sich ein, denn die Gegend ist gesegnet, mit Regen allgemein …« Ich konnte das Weiße Rössl rauf und runter singen. Wenn wir im Salzburger Land waren, erlebten wir hautnah, dass der besungene Regen keine Erfindung von Peter Alexander war. Auf dem Stoff der regennassen Sonnenschirme perlte das Wasser ab, und der Ober drückte mit dem Stecken von unten den Stoff der Markise hoch, damit das Regenwasser besser runterlief.

»Ja, ja, der Regen! Na, nehmen s’ derweil halt noch eine Jause. Wird schon wieder. Die Natur braucht’s.«