Doktor Jensen und das
große Glück: Arztroman: Der Wattenmeer-Arzt auf Sylt 5
von Samtara Anderson
Der Zirkus ist da – und bringt frische Farbtupfer nach
Kentrum. Sowohl Pieter Jensen als auch Tierärztin Hedy Pedderson
haben mehrere heikle Einsätze. Zwischen zwei jungen Leuten funkt es
jedoch, was für arge Turbulenzen sorgt. Ein dickköpfiger Vater
schaltet auf stur. Aber treiben es nicht auch die Zirkusleute etwas
zu bunt?
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Alles rund um Belletristik!
1
„Birte? – He, Birte, erkennst du mich nicht mehr? Himmel, wie
lang habe ich dich nicht gesehen? Wo hast du gesteckt all die lange
Zeit? Und wie kommst du ausgerechnet jetzt her?“
Der junge Mann mit den lachenden blauen Augen glaubte, dass
ihm das Herz stehenbleiben müsste. Er lief quer über die Straße auf
die Wiese zu, wo ein reizendes blondes Mädchen gerade dabei war,
Futter für ein paar Affen zuzubereiten.
Affen? Ja, der Zirkus war nach Kentrum gekommen. Und beileibe
nicht einer von den kleinen, die mehr schlecht als recht durch die
Lande zogen und kaum genug Geld für das Futter erspielten.
Nein, es war der große bekannte Zirkus Winter-Feddersen, eine
Sensation auf diesem Gebiet. Und ausgerechnet hier draußen, wo die
Arbeiter und Helfer eifrig damit beschäftigt waren, alles
aufzubauen, die zahlreichen Tiere zu versorgen, und auch schon den
Auftritt zu proben, musste Matthes Groote, der Sohn eines
Krabbenfischers, die junge Frau wiederentdecken, für die er schon
während der Schulzeit geschwärmt hatte. Und nicht nur geschwärmt.
Er hatte regelrecht sein Herz an sie verloren und war untröstlich
gewesen, als sie damals einfach wieder aus seinem Leben
verschwand.
Natürlich war der junge Mann, wie fast jeder im Ort, rein
„zufällig“ hierher gelaufen, um zuzuschauen, wie es so zuging beim
Zirkus. Und dabei hatte er Birte entdeckt.
Sie war immer noch so aufregend wie früher, da sie für einige
Monate in die gleiche Schule wie er gegangen war. Doch sie gehörte
zum „fahrenden Volk“, wie sein Vater immer abfällig sagte, und
damit war die junge Frau ganz und gar nicht qualifiziert für ein
normales Leben.
Das hatte Matthes allerdings nie daran gehindert, hoffnungslos
für Birte zu schwärmen, insgeheim und aus der Ferne.
Sie war allerdings auch ein ganz besonderes Mädchen, schlank,
schon grazil zu nennen, mit natürlich goldblonden Haaren und
braunen Augen, die ganz intensiv schauen konnten. Ihre Bewegungen
waren stets geschmeidig und beherrscht, und ihr ganzes Wesen
strahlte Freundlichkeit und Wärme aus.
Sie schaute jetzt auf, als sie die lauten Rufe des Mannes
hörte und blickte sich etwas verwundert um. Dann stutzte sie, und
schließlich glitt ein Lächeln auf ihr Gesicht.
Einer der Arbeiter wollte Matthes gerade vom Gelände schicken,
doch Birte machte ihm ein Zeichen. Sie wischte sich die Hände an
der hautengen Hose ab und kam auf den Mannes zu.
„Matthes Groote, dich gibt es auch noch? Ich hätte nicht
gedacht, dass du dich an mich erinnerst. Schön, dich zu sehen“,
strahlte sie ihn an.
„Wer könnte dich denn vergessen?“, erklärte er bewundernd, und
unwillkürlich errötete die junge Frau. „Du musst mir unbedingt
erzählen, was du hier tust“, fuhr er fort, und Birte lachte
auf.
„Wonach sieht es denn aus?“
„Na, ich weiß nicht so recht. Bist du jetzt unter die
Tierpfleger gegangen?“, erwiderte Matthes etwas unsicher.
„Ja, das auch“, erklärte die junge Frau ernsthaft. „Weißt du,
in unserem Zirkus muss jeder überall mit anfassen. Eigentlich habe
ich meine Nummer bei der Vorstellung hier in der Manege. Aber ich
bin auch dafür zuständig, dass unsere Affen was zu futtern
bekommen. Und beim Nähen der Kostüme helfe ich auch.“
Das alles klang neu und verwirrend für den Mann, der ein
normales geregeltes Leben kannte und sich gar nicht vorstellen
konnte, wie jemand nicht nur so unstet, sondern auch
abwechslungsreich leben konnte.
Birte zog ihn mit sich, und er betrachtete neugierig all das,
was ihm hier so fremd war. Wie eine eigene kleine Stadt war so ein
Zirkus, verwirrend und vielfältig – und Birte gehörte einfach dazu.
Eine fremde Welt tat sich für Matthes auf, und er nahm begierig
alles in sich auf, wollte am liebsten gar nicht mehr gehen, um noch
länger die Nähe dieses verführerisch schönen Mädchens genießen.
Doch das ging natürlich nicht, wie er unsanft erkennen
musste.
Ein Mann kam auf Birte zu. Er machte einen gehetzten Eindruck,
und seine Stimme klang abweisend.
„Bist du bald fertig mit den Tieren? Dann schick den da weg,
du hast gleich noch eine Probe, und morgen ist schließlich
Premiere. Du kannst es dir nicht leisten, dass etwas schief
geht.“
„Ja, schon gut, Leonard“, erklärte sie und schaute Matthes mit
einem um Entschuldigung bittenden Lächeln an.
„Leo hat recht, ich darf meine Arbeit nicht versäumen. War
schön, dich mal wieder getroffen zu haben, Matthes. Tschüss.“
„Halt, warte. Kann ich dich wiedersehen?“, bat er rasch.
„Sicher. Warte, ich gebe dir eine Freikarte für die Premiere.
Es freut mich, wenn du wirklich da bist.“
So hatte der junge Mann das eigentlich nicht gemeint. „Ja, da
will ich wohl gern kommen“, stimmte er zu, hatte einen trockenen
Mund und fuhr dann aber mutig fort. „Ich meine, ich würde dich gern
auch mal einladen, auf ein Eis oder einen Kaffee. Oder kannst du
dich hier nicht freimachen? Bist du hier vierundzwanzig Stunden am
Tag im Einsatz?“
„So könnte man es nennen“, lachte Birte. Doch sie hielt inne,
als sie das enttäuschte Gesicht des Mannes sah. „Ich werde drüber
nachdenken.“ Sie winkte ihm noch fröhlich zu und verschwand dann in
einem der Wohnwagen.
Matthes schaute sich noch einmal um. Es schien eine Ordnung zu
geben in diesem Gewimmel, auch wenn er sie nicht erkennen
konnte.
Plötzlich wurde er unsanft vorangestoßen, sodass er fast auf
den Boden fiel. Als er sich empört herumdrehte, stand ein Elefant
hinter ihm und pendelte mit dem Rüssel. Daneben stand ein Mann mit
dunklen Augen und fremdländischen Gesichtszügen.
„Archibald hat recht, Fremde gehören weg“, erklärte er mit
starkem Akzent.
Matthes sah ein, dass er gut daran tat, dieses Gelände doch
recht schnell zu verlassen.
2
Alwin Groote, Chef der Krabbenfischer von Kentrum und der
umliegenden Ortschaften, wie auch der Fischverarbeitungsfirma, saß
am Esstisch und schaute seinem Sohn etwas ungehalten
entgegen.
„Du bist zu spät“, rügte er und warf einen vorwurfsvollen
Blick auf den Tisch, auf dem das Essen wartete.
„Tut mir leid“, erklärte Matthes und setzte sich rasch. „Ich
war drüben beim Zirkus und habe eine alte Schulfreundin
wiedergetroffen. Dabei habe ich wohl die Zeit vergessen.“
Ohne hinzusehen wusste der junge Mann, dass im Gesicht seines
Vaters Missbilligung lag.
„Bist du noch ein kleiner Junge, dass dich das fahrende Volk
fasziniert? Diese Leute haben keine Heimat, keinen festen Halt im
Leben und keinen Anstand. Ich wünsche nicht, dass du dich mit denen
abgibst.“
„Ach, komm, Vadder, nun übertreib mal nicht. Das sind Menschen
wie du und ich. Sie haben nur eine andere Arbeit als wir. Aber die
verdienen ihren Lebensunterhalt genauso durch ehrliche Arbeit wie
wir auch. Du hast doch wohl heutzutage keine Vorurteile
mehr?“
„Das hat nichts mit Vorurteilen zu tun“, widersprach der alte
Groote. „Diese Leute stehen außerhalb der Gesellschaft, und da
sollen sie gefälligst auch bleiben. Im Übrigen betrachte ich dieses
Thema jetzt als abgeschlossen. Ich hätte da noch was anderes mit
dir zu bereden.“
Matthes seufzte unmerklich. Wenn der Vater in diesem Tonfall
begann, dann wurde es meist schwierig.
Der alte Groote war ein Mann, der keinen Widerspruch gelten
ließ und grundsätzlich alles unter Kontrolle haben wollte.
„Stimmt was nicht mit der Firma?“, wollte der junge Mann
wissen. Aber diese Frage war überflüssig, er arbeitete als
Geschäftsführer des Verbandes selbst mit und hätte es gewusst, wenn
etwas nicht in Ordnung war. Die folgenden Worte bestätigten
das.
„Nein, da ist alles in bester Ordnung. Du hast dich auch gut
gemacht, min Jung, ich bin zufrieden mit dir. Aber damit es auch in
Zukunft so bleibt, bin ich der Meinung, dass es für dich an der
Zeit ist ein anständiges Mädchen zu heiraten.“
„Vadder!“ Matthes sprang auf. „Ich bin wohl in der Lage, mir
selbst ein Mädchen zu suchen, wenn ich mich verlieben will.“
Stirnrunzeln beim alten Herrn. „Du glaubst doch nicht etwa,
dass es was mit Liebe zu tun haben muss, wenn man heiratet? Viel
wichtiger ist es, dass die junge Frau für die Firma gut ist, aus
einer ordentlichen Familie stammt und nicht allzu hässlich ist. Die
Liebe kommt dann schon von allein.“
„Nein!“ Noch nie hatte Matthes seinem Vater in dieser Art
widersprochen, und der alte Herr blickte erstaunt auf.
„Darüber gibt es doch wohl nichts zu diskutieren. Du bist mein
Erbe, und als solcher hast du die Verpflichtung, für die Firma das
Beste zu tun. Auch wenn wir mittlerweile eine große Gesellschaft
sind, wird die Firma doch weiter von unserer Familie
geführt.“
Das war zu viel für den Mann. „Wenn ich meine Frau nicht frei
wählen kann, dann will ich die Firma nicht“, erklärte er.
„Tünkram, du hast noch gar keine Ahnung, was du wirklich
willst.“
„Vadder, du hast doch Mama auch geliebt, oder nicht? Was
hättest du wohl gesagt, wenn man dir vorgeschrieben hätte, wen du
zu lieben und zu heiraten hättest?“
Ein erstaunter Blick traf ihn. „Das war doch etwas vollkommen
anderes. Schließlich hatte ich damals nicht mehr als einen kleinen
Kutter. Ich musste nicht an eine ganze große Firma denken.“
„Ich kann auch an die Firma denken, ohne dass ich mich
meistbietend versteigere“, sagte Matthes bitter.
„Du übertreibst. Und außerdem bist du mein Sohn, ich werde
bestimmt keine Wahl treffen, die dir ganz und gar zuwider ist. Du
hast ja noch nicht mal gefragt, wen ich da im Auge habe. Du bist
ein bisschen voreilig, mein Sohn. Du solltest mir doch wohl etwas
Geschmack zutrauen.“
Der junge Mann starrte vor sich auf den Tisch und bemühte
sich, den aufkommenden Zorn im Zaum zu halten. Wie kam sein Vater
dazu, ihm sein Leben vorzuschreiben? Wenn er heiraten wollte, dann
ein Mädchen, das er von Herzen liebte. So wie Birte.
Ein Schreck durchzuckte Matthes, als ihm dieser Gedanke durch
den Kopf schoss. Ja, Birte hatte er früher schon geliebt, ohne sich
dessen wirklich bewusst zu sein. Und heute waren diese Gefühle
wieder voll entfacht worden. Nein, ganz bestimmt wollte er nicht
irgendein Mädchen, das vielleicht noch eine Erweiterung in die
Firma mitbrachte, geschäftstüchtig war und keine Gefühle in ihm
weckte. Er wollte Birte.
Aber das würde sein Vater natürlich nicht verstehen, schon gar
nicht heute, wo er sich auf ein Thema versteift hatte und anderen
Argumenten sowieso nicht zugänglich war. Im Augenblick war es
bestimmt besser, ein Stückchen nachzugeben und zu einer anderen
Zeit einen Vorstoß zu wagen.
Ergeben nickte der junge Mann. „Und wen hast du nun im Auge,
Vadder? Du kannst mir ja mal ein Mädchen vorschlagen, und dann
sehen wir weiter.“
„Na also, ich wusste doch, dass noch ein bisschen Verstand in
deinem Kopf steckt. Habe ja nichts dagegen, wenn du ab und zu mal
ausbrechen musst. Du kannst dir ja auch Appetit holen, aber du
solltest grundsätzlich vernünftig bleiben. Also, ich habe da an
Dagmar Levander gedacht. Ihrem Vater gehört die große Werft. Das
wäre eine gute Fusion für beide Seiten. Aber natürlich müsst ihr
euch erst mal kennenlernen. Das Mädchen ist zwei Jahre jünger als
du, und man sagt, dass sie in der Firma fast so gut ist wie ihr
Vater.“
Innerlich seufzte Matthes, und vor seinen Augen entstand das
Bild von Birtes reizendem Gesicht. Aber er konnte diesem Gespräch
natürlich nicht entgehen. Und um nicht einen unnötigen Krach mit
seinem Vater zu provozieren, würde er gute Miene zum bösen Spiel
machen – vorerst.
„Du hast ja wohl schon einiges ins Vorne geplant. Was denkst
also, wann wir das hinter uns bringen können?“
„Das klingt nicht begeistert, Junge. Aber ich bin sicher, du
wirst deine Meinung schon noch ändern. Morgen Nachmittag treffen
wir alle uns ganz zwanglos im Restaurant im Feriendorf.“
Matthes nickte. Man musste ja nicht wirklich gleich einen
Streit vom Zaun brechen. Aber er hatte ganz bestimmt nicht vor, mit
diesem Mädchen womöglich gleich Verlobung zu feiern.
3
Das vertraute Fauchen der Löwen klang aus dem Käfig. Birte kam
durch den Vorhang, der die Manege begrenzte, in der Hand hielt sie
Stock und Peitsche, mehr Spielerei als Hilfsmittel. Sie hatte ihre
Raubkatzen von klein auf gut im Griff, jede einzelne war liebevoll
großgezogen worden, ohne jemals außer Acht zu lassen, dass es sich
dabei um wilde Tiere handelte, die man nur bedingt zähmen konnte.
Doch sie vertraute ihren Katzen, und sie machte nicht den Fehler,
in ihnen Schoßtiere zu sehen.
Birte betrat den Gitterkäfig und behielt speziell Radscha, das
Alpha-Tier der Löwengruppe, im Auge. Es gab keine weiblichen Tiere
in dieser Nummer, so kam es nicht zu Eifersucht und
Imponiergehabe.
„Hopp, Radscha, spring, mein Schöner.“ Die Befehle der
bildhübschen Dompteuse kamen sicher und ohne Zögern, und die Löwen
gehorchten willig. Unwillkürlich musste Birte lächeln, als sie
daran dachte, dass Matthes keine Ahnung hatte, was sie hier im
Zirkus eigentlich tat. Er wäre sicher mehr als überrascht gewesen.
Ihre Gedanken wanderten für eine kurze Zeit zurück.
Damals, in der Schule, hatte sie schon bemerkt, dass er für
sie schwärmte. Aber sein Vater war auch damals schon regelrecht
furchteinflößend, und bis heute war das wohl nicht anders geworden.
Der alte Groote hatte festgefügte Vorstellungen von der Welt, und
er sah keinen Grund, daran etwas zu ändern. Ein Mädchen, das mit
dem Zirkus umherzog, war nicht die rechte Bekanntschaft für seinen
Sohn – nicht einmal als Schulfreundin, wie sie damals auf einer
Geburtstagsfeier hatte feststellen müssen. Schade drum, Matthes war
ein netter Kerl. Nein, eigentlich war er mehr als nur nett, die
junge Frau hätte nichts gegen eine engere Freundschaft einzuwenden
gehabt, aus der sich vielleicht mehr hätte entwickeln können.
Für einen Augenblick hatte Birte in ihrer Konzentration
nachgelassen, und schon tanzte einer der Löwen aus der Reihe. Mit
einem scharfen Befehl brachte sie ihn wieder zum Gehorsam.
„Was machst du denn da?“, rief Hinnerk Feddersen, der Direktor
und Besitzer des Zirkus – und Birtes Vater. „Du weißt doch genau,
dass du dich selbst nicht ablenken darfst.“
„Ja, ist schon gut“, gab sie zurück und schimpfte innerlich
über sich selbst und ihren dummen Fehler.
„Hat dein Träumen was mit dem Mann zu tun, der heute hier
gewesen ist?“, erkundigte sich der alte Herr, der seine Tochter von
Herzen liebte.
Birte lachte leise auf. „Ich hätte wissen müssen, dass hier
nichts privat bleiben kann. Hat sich das gleich wie ein Lauffeuer
verbreitet, dass ich Besuch gehabt habe? Das war ein alter
Schulkamerad, nichts weiter.“ Das Mädchen gab einen letzten Befehl
und machte dann den Helfern vor dem Käfig ein Zeichen. Der
Lauftunnel wurde geöffnet, und die Löwen kehrten in ihre
großzügigen Käfige zurück. Erst jetzt kam Birte aus der Manege und
blickte ihren Vater an, der mit einem wissenden Grinsen
dastand.
„Komm nur nicht auf komische Ideen“, warnte sie scherzhaft.
„Nur weil ich alte Bekanntschaften auffrische, spielt sich noch
längst nichts ab.“
„Nein, natürlich nicht“, bestätigte Hinnerk, doch es war zu
sehen, dass er seiner Tochter nicht so recht glaubte.
„Ach, in dieser Familie und in diesem Zirkus nimmt mich
niemand ernst“, klagte die junge Frau. „Warum seid ihr alle
eigentlich so wild darauf, dass ich einen Mannes fürs Leben finde?
Ich fühle mich eigentlich ganz wohl so ohne Anhang.“
„Ja, mein Mädchen, und deswegen verrennst du dich auch
förmlich in die Arbeit, seit damals John …“
„Sprich mir nie wieder von diesem Kerl“, fauchte Birte.
Vor gut einem Jahr hing für Birte der Himmel voller Geigen,
als sie sich mit John McFadden verlobt hatte. Er war Mitglied der
Trapezgruppe gewesen und galt als zukünftiger Star. Doch praktisch
über Nacht hatte er sich mit einem Mädchen aus einer ungarischen
Bodentruppe aus dem Staub gemacht, und keiner hörte jemals wieder
etwas von ihm. Seitdem waren alle darum bemüht, Birte endlich mit
einem guten Mann zu verbinden, doch bisher weigerte sie sich
hartnäckig, auch nur einen anzuschauen. Bis auf heute.
Ihr Vater zuckte jetzt mit den Schultern, in eben diesem Punkt
war er mit seiner Tochter gar nicht zufrieden. Aber wenn sie
zumindest schon mal alte Bekanntschaften aufleben ließ, bestand
vielleicht doch noch Hoffnung. Die erhöhte sich bei Hinnerk mit den
nächsten Worten des Mädchens.
„Ich habe Matthes im Übrigen zur Premiere eingeladen. Können
wir ihn wohl noch in einer Loge unterbringen?“
„Sicher, für einen ist bestimmt noch Platz. Oder willst du ihn
mit nach hinten nehmen?“
Birte schüttelte lächelnd den Kopf, während sie sich mit
Blicken überzeugte, dass alle Gitter und Tunnel in Ordnung waren.
Es käme einer Katastrophe gleich, würde eine der Raubkatzen
ausbrechen können.
„Ich weiß, was du denkst“, erklärte sie ihrem Vater. „Aber du
würdest dich gewaltig täuschen. Matthes und ich waren früher schon
gute Freunde. Und daran hat sich bis heute nichts geändert.“
„Ganz wie du meinst“, erklärte Hinnerk mit absoluter
Friedfertigkeit. Doch er nahm sich vor, mal ein Auge auf den Mann
zu werfen. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern,
wer das gewesen sein sollte.
4
„So, da haben wir’s für heute mal wieder“, erklärte Doktor
Pieter Jensen. Er hatte gerade eine Routineuntersuchung bei Alwin
Groote beendet. Der alte Herr hatte schon lange nicht mehr ein
gesundes Herz, doch mit den entsprechenden Medikamenten und etwas
Vorsicht im täglichen Alltag war es eigentlich kein Problem, ein
ganz normales Leben zu führen. Natürlich sollte sich der alte Herr
auch möglichst nicht aufregen, das war allerdings ein Rat, den der
Doktor ebenso gut vor eine Wand hätte sprechen können. Der kam
nämlich nicht an, und Groote machte auch keinen Hehl daraus, dass
es ihm völlig wurscht war, ob der Arzt ihm in dieser Beziehung gute
Ratschläge gab. Er tat sowieso, was er wollte und für richtig
hielt.
Befriedigt zog er jetzt sein Hemd wieder an. „Ist also alles
in bester Ordnung?“
„Das habe ich nicht gesagt“, schränkte Pieter ein. „Ihr Herz
hat längst nicht mehr die Kraft, die Sie ihm ständig abverlangen.
Sie müssen einfach mal ein bisschen kürzer treten, auch und
besonders in der Firma oder auf dem Schiff. Lassen Sie doch einfach
Matthes mehr tun. Ist doch ein prächtiger Nachfolger, und der
versteht ja auch was vom Geschäft. Machen Sie doch mal Urlaub,
vergessen Sie die Firma und die Sorgen – fangen Sie mal an zu
leben.“
Alwin schaute den Doktor an, als hätte er ein dreiköpfiges
Seemonster vor sich. „Das meinen Sie jetzt aber nicht im Ernst,
Herr Doktor? Können Sie sich vorstellen, was passiert, wenn ich
jetzt einfach zwei oder drei Wochen wegfahre, die Firma Matthes und
sich selbst überlassen, und …“
„Ich kann mir recht gut vorstellen, was passiert, wenn Sie auf
diese Art weitermachen“, unterbrach Pieter ihn jetzt wenig
zartfühlend. „Dann ist nämlich der Tag abzusehen, an dem Sie ganz
einfach zusammenbrechen und ziemlich tot sein werden. Dann wird es
Ihnen allerdings recht egal sein müssen, was aus der Firma wird.
Ist das wirklich das, was Sie wollen?“
Der Arzt malte die Zukunft absichtlich so rabenschwarz, um dem
Mann deutlich zu machen, dass er mit seiner Gesundheit und mit
seinem Leben recht leichtsinnig umging. Auf einen groben Klotz
gehört ein grober Keil, eine andere Tonart verstand Groote einfach
nicht.
Der schaute den Doktor jetzt abschätzig an, dann nickte er.
„Das meinen Sie also wirklich vollkommen ernst.“
„Ich kann Ihnen nur sagen, was ist. Was Sie daraus machen, ist
Ihre Sache. Ist schließlich Ihr Leben. Aber an Ihrer Stelle würde
ich mal drüber nachdenken, wie lange das noch gutgehen kann mit dem
Raubbau, den Sie da treiben.“
„Ich habe nun mal ein großes Unternehmen und trage die
Verantwortung für eine Menge Angestellte und auch für die
Geschäfte. Die schließen sich ja nicht von allein ab.“
„Und da kommt es Ihnen nicht mal in den Sinn, Matthes mehr in
die Verantwortung zu nehmen? Niemand ist unersetzlich, auch Sie
nicht. Versuchen Sie das einfach mal zu verstehen, auch wenn es
bestimmt schwer fallen wird.“
„Na ja, ich werde mal drüber nachdenken“, räumte Alwin ein,
sah aber nicht gerade begeistert aus.
„Und denken Sie nicht zu lang“, empfahl Pieter ernst. „Ich mag
es nicht besonders, wenn meine Patienten mir einfach wegsterben,
das nehme ich persönlich übel.“
Mit einem Lächeln minderte er etwas die Strenge seiner Worte,
doch Groote hatte verstanden. Und schließlich war es ja auch die
Aufgabe des Arztes, auf seine Patienten einzuwirken, damit sie ein
bisschen Vernunft annahmen.
„Was denken Sie dazu? Matthes hat sich ja recht gut gemacht,
und ich meine, es wäre an der Zeit, dass der Junge ans Heiraten
denkt. Wird er wohl noch ein bisschen mehr
Verantwortungsbewusstsein zeigen?“
„Ich weiß nicht recht, was Sie von Matthes noch alles
erwarten“, sagte Pieter bedächtig, der den Mann recht gut kannte
und eine lose Freundschaft mit ihm pflegte. „Nach allem, was ich so
höre, ist er erfolgreich in den Geschäften, kommt mit Ihren
Mitbewerbern und Partnern gut klar, und bietet auch sonst keinen
Anlass zur Klage. Wenn er jetzt auch noch ein Mädchen findet, das
er von Herzen liebt, kann sich das nur noch weiter positiv
auswirken. Aber Sie sollten überlegen, ob Ihre Erwartungen nicht zu
hoch sind. Matthes tut doch schon, was er kann. Oder sehe ich da
was falsch?“
„Nein, nein, ist ein Prachtjunge, auch wenn ich ihm das besser
nicht sage, sonst bildet er sich womöglich was darauf ein.“
„Na, ein Lob hat noch keinem geschadet.“
„Darum geht es ja gar nicht. Ich habe für Matthes ein Mädchen
ausgewählt, und …“
„Sie?“, fragte Pieter erstaunt. „Sollte er das nicht besser
selbst tun? Schließlich wird er sein Leben mit dieser Frau
verbringen. Da sollte dann schon alles passen.“
„Ach, Tünkram, die Liebe kommt von selbst“, behauptete
Alwin.
„Davon bin ich nicht überzeugt. Was sagt Matthes denn
dazu?“
„Na, die beiden werden sich dann nachher mal beschnuppern, und
ich bin sicher, demnächst gibt eine richtig schöne große
Hochzeit.“
„Na, dann wünsche ich doch alles Gute“, meinte der Doktor,
noch immer skeptisch. Alwin lächelte siegessicher.
„Ich werde Sie und Ihr Mädchen als Ehrengast einladen, wenn es
soweit ist“, versprach er.
Pieter war noch nicht davon überzeugt, dass sich alles so
regeln würde, wie Groote sich das vorstellte.
5
Das Restaurant im Feriendorf besaß einen sehr guten Ruf. Wie
bei allem, was zu dieser ausgezeichneten Freizeitanlage gehörte,
achtete der Betreiber, Anders Schwetzer, darauf, dass die Qualität
weit über dem Durchschnitt lag.
So fanden sich auch Kunden hier ein, die nicht als Gäste im
Feriendorf wohnten sondern von außerhalb herkamen.
Groote hatte das sogenannte Kaminzimmer reservieren lassen, es
bot Platz für bis zu zehn Personen. Jetzt waren es vier, die sich
hier zum Essen trafen, und zu Anfang herrschte noch eine ziemliche
Befangenheit, besonders zwischen den beiden jungen Leuten.
Alwin Groote und Lutz Levander waren schon seit Jahren
Geschäftspartner, und sie kannten einander recht gut. Dagmar hatte
den alten Herrn schon länger beeindruckt, während Matthes mit ihr
noch gar nichts zu tun gehabt hatte.
Das Mädchen war schlank und bildhübsch, hatte schulterlange
glatte dunkle Haare, ein schmales Gesicht und blaue Augen. Sie
lächelte selten, und um ihren Mund lag ein strenger Ausdruck. Sie
taxierte Matthes schon mit dem ersten Blick, schien aber der
Ansicht zu sein, dass er ihren Mindestansprüchen entsprach.
Der junge Mann fühlte sich in ihrer Gegenwart nicht recht
wohl. Dagmar schien vom ersten Augenblick an überlegen zu sein, sie
füllte den ganzen Raum aus, und er hatte das Gefühl klein zu
werden, wenn sie in der Nähe war. Das änderte sich erst, als sie
dann doch zum ersten Mal lächelte. Plötzlich wurde aus der
gestrengen Geschäftsfrau ein reizendes Mädchen, das Charme
verströmte und endlich so jung wirkte, wie es tatsächlich war.
Dagmar hatte also eine Maske aufgesetzt, sei es, um sich selbst zu
schützen, oder um niemanden so einfach an sich herankommen zu
lassen. Warum tat sie das? Hier ging es schließlich in erster Linie
um eine private Angelegenheit. Oder war auch dieses Treffen, das
nach dem Willen der Väter in einer Heirat enden sollte, für sie
nichts weiter als eine geschäftliche Angelegenheit?
Matthes wurde nicht so recht schlau aus Dagmar, und das
veranlasste ihn, mehr auf Distanz zu bleiben, als er eigentlich
vorgehabt hatte. Dadurch wirkte er selbst kühl und unnahbar, was
Dagmar insgeheim erschreckte.
Und dann war da ja auch noch Birte, die eigentlich das Herz
des Mannes schon längst erobert hatte. Wie er das allerdings seinem
Vater beibringen sollte, wusste er nicht so recht. Es war nur
dieses eine Wiedersehen gewesen, das sein Herz erneut lichterloh in
Flammen gesetzt hatte.
Der alte Groote würde sich vermutlich niemals damit abfinden,
dass sein einziger Sohn und Erbe sich mit einem Mädchen verbinden
wollte, das nach seiner Meinung einer anderen Gesellschaftsklasse
angehörte.
Hier verlief das Essen jetzt erst einmal weiterhin in einer
angespannten Atmosphäre. Die beiden Väter waren fest davon
überzeugt, dass ihre Kinder sich nur besser kennenlernen mussten,
alles andere würde sich dann von selbst ergeben – was für beide
Firmen nur von Vorteil sein konnte. Und schließlich war es ja auch
nicht so, als wären Matthes oder Dagmar hässlich, sie konnten
durchaus Gefallen aneinander finden.
Die beiden waren klug genug, ein nichtssagendes Gespräch zu
führen, bis die beiden alten Herren sich nach der hervorragenden
Mahlzeit an die Bar zurückzogen, damit das junge Volk Gelegenheit
hatte, ungestört miteinander zu sprechen. Es gab für die Väter
keinen Zweifel daran, dass sich alles in ihrem Sinne entwickeln
würde.
Als die Tür sich hinter ihnen schloss, atmeten Matthes und
Dagmar unwillkürlich auf. Das Mädchen stellte die Kaffeetasse ab
und schaute den Mann abschätzig an.
„Ich glaube, wir stecken da beide in einer ziemlichen
Zwickmühle – oder wie denkst du selbst darüber? Ich für meinen Teil
habe jedenfalls nicht einfach vor, dich zu heiraten. Nur weil mein
Vater gleich die Wände hochgehen würde, habe ich mich auf das
Theater heute eingelassen. Ich will jetzt nicht hoffen, dass du mit
anderen Erwartungen hier bist.“
So offen und ehrlich hatte Matthes nicht mit einem Kommentar
gerechnet. Er lachte bitter auf. Irgendwie war ihm die junge Frau
jetzt sehr sympathisch.
„Du sprichst da gerade meine Gedanken aus“, erklärte er und
sah, wie ein Lächeln über ihr Gesicht flog. Sie spielte
gedankenverloren mit einer Serviette.
„Ich habe bisher noch keinem was gesagt, aber ich denke, dir
gegenüber sollte ich mit offenen Karten spielen. Es gibt da einen
Mann, den ich – na ja, ich meine, ich würde ganz gern …“ Sie
schaute irritiert auf, als Matthes lachte.
„Mir geht es genauso. Und dein Vater hat wahrscheinlich,
ebenso wie meiner, was dagegen.“
Sie nickte, erleichtert darüber, dass er sie verstand.
Der junge Mann nickte düster. „Also müssen wir unseren alten
Herren irgendwie beibringen, dass wir uns zwar recht nett finden
und auch weiter geschäftlich gern zusammenarbeiten möchten –
natürlich nur, wenn du einverstanden bist –, dass für uns eine
Heirat aber nicht in Frage kommt. Richtig?“
„Du hast es in ganz wenigen Worten auf den Punkt gebracht.
Aber wie wollen wir das anstellen? Die zwei haben sich ja schon
darauf versteift, dass es keine andere Möglichkeit mehr gäbe. Ich
weiß nicht, was passiert, wenn wir uns einfach so weigern. Mein
Vater ist auch nicht so ganz gesund, er soll die Aufregung meiden.
Und du kannst sicher sein, er wird sich aufregen“, prophezeite die
junge Frau bitter.
„Das sieht bei mir genauso aus. Aber weißt du, ich möchte
wirklich nicht, dass du denkst, ich würde dich unattraktiv finden,
oder so was. Nur, die andere Frau …“
„Du musst dich nicht entschuldigen. Wie heißt sie denn?“
„Birte. Und der deine?“
„Hinrich.“ Die zwei lächelten sich an wie Verschwörer.
„Im Augenblick wird es vielleicht noch klug sein, unseren
Vätern nichts zu sagen. Wir sollten uns was einfallen lassen, damit
wir nicht gleich einen Krieg vom Zaun brechen. Es tut doch gar
nicht Not, dass unsere alten Herren schon jetzt mit den Realitäten
geschockt werden. Lassen wir sie erst in dem Glauben, dass wir uns
das überlegen mit der Hochzeit. Und in der Zeit können wir
nachdenken, wie wir es am besten anstellen, dass wir die Partner
bekommen, die wir auch wollen.“
„Für einen Kerl bist du ja gar nicht so dumm“, stellte Dagmar
mit leichtem Spott fest. „Aber dir ist doch klar, dass wir den
Zeitpunkt der Auseinandersetzung nur verschieben?“
„Ja, ich weiß“, gab Matthes zu bedenken. „Vielleicht finden
wir doch noch den Stein der Weisen, um unsere Väter zu
überzeugen.“
Das Mädchen seufzte. „Ich glaube, wir könnten Hinrich oder
Birte mit Gold behängen, auch dann wären die beiden noch immer
nicht gut genug.“
„Ja, wir müssen einfach ganz fest daran glauben, dass wir es
noch schaffen.“
„Dein Wort in Gottes Ohr – und in dem unserer alten
Herren.“
6
Ein Zirkus hatte immer schon eine ganz eigene, besondere
Atmosphäre. Mochte es sich nun um einen großen oder einen kleinen
Wanderzirkus handeln, stets gehören Unruhe, Aufregung und
Lampenfieber dazu, wie die Luft zum Atmen.
Und ebenso charakteristisch ist der Geruch nach wilden Tieren,
Sägespänen, Motorenöl und Schminke.
Im Zirkus Winter-Feddersen gab es noch eine eigenständige
Kapelle. Die spielte schon fleißig auf, während hunderte von
Menschen aus der Umgebung sich zu ihren Plätzen drängelten. Einige
der Helfer waren wie Clowns gekleidet und liefen durch die Reihen,
wo sie Süßigkeiten, Getränke und Würstchen anboten. Hinter dem
Vorhang war schon eine ganze Weile hektische Unruhe zu bemerken.
Die ersten Artisten bereiteten sich auf ihren Auftritt vor,
sprangen noch ein wenig auf und ab, um sich warm zu halten,
verhedderten sich in ihren langen Umhängen, die nur für den
Einmarsch gedacht waren, oder schimpften mit gedämpften Stimmen
über Gott und Welt.
Endlich trat Hinnerk Feddersen in die Manege, ganz feierlich
in Frack und Zylinder gekleidet. An seiner Seite schritt Birte, in
ein knappes hautenges Kostüm gehüllt, blau glitzernder Stoff und
ein dazu passender Zylinder. Sie warf einen Blick in die Runde und
bemerkte Matthes in der Ehrenloge. Er war also wirklich
gekommen.
Ihr Herz machte einen raschen Sprung, und ihre Augen funkelten
vergnügt. Mit einem verschmitzten Lächeln suchte sie seinen Blick
und amüsierte sich darüber, dass er so offensichtlich verwundert
war über ihre Verwandlung. Es waren nun einmal zwei Welten, das
musste der junge Mann noch lernen. In der Manege war sie eine
andere Person, die Dompteuse, die todesmutig ihr Leben aufs Spiel
setzte, um waghalsige Dressurakte zu zeigen, die in Wirklichkeit
dem Spieltrieb der großen Katzen entgegenkamen und nur eine Menge
Konzentration erforderten. Und natürlich das Eingehen auf die
Tiere, wie auch die Liebe zu ihnen.
Das allerdings wusste Matthes noch gar nicht, der bis jetzt
glaubte, dass Birte ihrem Vater als Assistentin zur Seite
stand.
Außerhalb der Vorstellung war sie ein ganz normales Mädchen,
mit einem Leben wie jeder andere auch – nur mit dem Unterschied,
dass sie bis auf die Wintermonate keinen festen Wohnsitz hatte und
manchmal ein aufregendes Leben führte.
Jetzt jedenfalls begann wie Vorstellung, und die Leute hielten
gebahnt den Atem an angesichts der Darbietungen.
In der Pause wurden die Käfige aufgebaut, und Birte kam zu
Matthes hin, um ihn herzlich zu begrüßen, während die anderen Leute
hinausströmten, um bei Erfrischungen und einem kleinen Imbiss über
das bisher gesehene zu diskutieren.
Das Mädchen zog Matthes hinter den Vorhang, und er schaute
sich neugierig um. Hier herrschte geordnetes Chaos, alle liefen
durcheinander, doch jeder schien zu wissen, was er zu tun
hatte.
„Wie gefällt es dir?“, wollte Birte wissen.
„Ich bin begeistert. Ich war schon lange nicht mehr im Zirkus,
und schon gar nicht in einem so großen. Allein die Menge an Tieren
hier ist ja schon beeindruckend“, gestand er. „Aber was machst
eigentlich sonst noch, außer an der Seite deines Vaters gut
auszusehen?“
Birte lachte hell auf. „Oh, nein, du wirst gleich schon sehen,
ich verrate jetzt nichts“, erklärte sie geheimnisvoll. „Ich wollte
dich eigentlich fragen, ob du Lust hättest, nach der Vorstellung
mit uns zu feiern? Das machen wir nach einer Premiere immer
so.“
Ein Strahlen flog über sein Gesicht, er freute sich sichtlich.
„Ja, gern, wenn ich darf.“
Hinnerk Feddersen kam gerade vorbei und sah seine Tochter mit
einem fremden Mannes. Er musterte ihn und war zufrieden. Der machte
einen recht guten Eindruck.
„Papa, darf ich dir Matthes Groote vorstellen? Obwohl, ihr
müsstet euch eigentlich noch kennen, aber es ist ja schon eine
Weile her.“
„Dein alter Schulfreund, ja“, schmunzelte der alte Herr und
drückte Matthes die Hand. „Sie sind willkommen, junger Mann. Und
viel Spaß noch bei der Vorstellung. Ich muss mich noch um was
kümmern. Wir sehen uns doch später, oder?“ Es schien auch für ihn
selbstverständlich, dass der junge Mann zur Feier hier blieb.
Die Glocke ertönte und rief die Zuschauer wieder auf die
Plätze. Gleich darauf hielt Matthes entsetzt den Atem an, als
Birte, jetzt in einem phantasievoll geschnittenen Anzug in den
Käfig ging, wo eine Gruppe von Löwen nur darauf zu warten schien,
dass das Essen angerichtet wurde. Und der Hauptgang würde bestimmt
Birte sein.
7
Nicht weit von Matthes entfernt saß Pieter Jensen mit Hedy
Pedderson, der Tierärztin von Kentrum, ebenfalls in einer Loge.
Dieses Ereignis war auch für diesen Ort nichts Alltägliches, und so
wollte sich natürlich niemand eine Vorstellung entgehen lassen. Mal
abgesehen davon, dass Hedy schon ein berufliches Interesse daran
hatte, wie die Tiere hier gehalten wurden. Selbstverständlich
beschäftigte ein Zirkus dieser Größe einen eigenen Tierarzt, und
mit dem würde die junge Frau gerne noch fachsimpeln.
Bis jetzt jedenfalls waren beide Ärzte begeistert, auch wenn
Pieter sich fragte, wie Menschen ihre Körper zu derart seltsamen
Positionen verdrehen konnten. Auch ihm als Arzt war das nicht
unbedingt verständlich.
Hedy hatte schon voller Begeisterung die prächtigen Pferde
bewundert und blickte jetzt auf die Löwen, die einen ausgesprochen
guten Eindruck machten. Birte hatte die Tiere voll im Griff, und
lang anhaltender Beifall belohnte die Darbietung. Als sie wieder
hinter dem Vorhang verschwand, spürte sie augenblicklich die
Anspannung, die sonst nicht üblich war. Zwei Helfer rannten wie
kopflos umher, ein paar Artisten standen schreckensbleich an einer
Zeltwand, und eine Gruppe von Weißclowns blickte entsetzt auf den
Ausgang.
„Was ist los?“, fragte Birte scharf.
„Der Baghira, der schwarze Panther – er hat den Doktor
angefallen“, stammelte einer von ihnen.
Der Doktor, das war Werner Johannsen, der Tierarzt.
„Wie geht es ihm? Ist er schwer verletzt?“
Schulterzucken.
Warum hatte denn noch niemand für Hilfe gesorgt? Birte lief so
unauffällig wie möglich durch die Zuschauer bis zu Matthes.
„Weißt du, ob ein Arzt hier ist?“, fragte sie leise. „Mach
bitte kein Aufsehen, Matthes. Aber das ist wichtig.“
Der junge Mann schaltete ungeheuer schnell und stellte auch
keine überflüssigen Fragen. Er schaute sich um und machte Birte
dann ein Zeichen.
„Da drüben sitzt Doktor Jensen, und daneben ist gleich die
Tierärztin. Was brauchst du denn überhaupt?“
„Na, besser kann man es nicht treffen. Ich danke dir und
erkläre dir alles später.“
Das Mädchen schlängelte sich durch und machte dabei einen
durchaus fröhlichen Eindruck. Niemals Panik und Sorge aufkommen
lassen war die oberste Maxime in jedem Zirkus. Die Zuschauer waren
hier, um sich zu unterhalten und vom Stress des Alltags
abzuschalten. Sie durften es auf keinen Fall erfahren, wenn es
einen Notfall gab.
Erstaunt blickten die beiden Ärzte auf, als Birte sich von
hinten näherte und sie ansprach.
„Entschuldigen Sie bitte, wir haben da ein Problem. Wäre es
vielleicht möglich, dass Sie mit nach hinten kommen?“
Augenblicklich waren beide Doktoren hoch konzentriert.
„Ist was passiert? Hat sich jemand verletzt?“, erkundigte sich
Pieter und stand schon auf.
„Kommen Sie bitte auch mit? Ich glaube, ein Tierarzt ist auch
notwendig.“ Birte schaute auch Hedy bittend an, und die war auch
gleich bereit.
Ohne große Hast gingen die drei Personen nach hinten, während
hier in der Manege ein paar Clowns ihre Späße trieben und auch die
letzten Gitter der Raubtierdressur abgebaut wurden.
„Da drüben liegt er“, rief einer der Helfer und deutete nach
draußen in Richtung der Raubtiergehege. Pieter schimpfte innerlich
auf die Tatsache, dass er heute keine Tasche dabei hatte. Aber wer
würde denn auch auf die Idee kommen, dass bei einem einfachen
Besuch im Zirkus Erste Hilfe notwendig wurde?
Seine Befürchtungen nicht helfen zu können, wurden gleich
wieder zerstreut, denn jemand reichte ihm einen gut ausgestatteten
Notfallkoffer.
„Kommen Sie mit mir mit? Ich glaube, unser Baghira braucht
Sie“, sagte Birte und zog Hedy mit sich.
Pieter beugte sich über Werner und sah eine hässliche Wunde
von der Schulter herab über den ganzen Brustkorb. Der Panther hatte
keine Rücksichten gekannt und dem Menschen tiefe Risswunden mit den
Krallen zugefügt. Ob der Tierarzt nun einen Fehler gemacht hatte,
oder ob es dem Tier selbst nicht gut ging und es sich vermeintlich
verteidigt hatte, spielte im Moment keine große Rolle.
Ohne langes Federlesen schnitt Pieter die Kleidung auf und
konnte nun die ganze Bescherung sehen. Noch immer sickerte Blut
hervor.
„Was haben Sie gemacht? Einen Tiger zur falschen Zeit
gestreichelt?“, fragte Pieter in dem Bemühen, den Tierarzt von den
sicherlich grässlichen Schmerzen abzulenken und ihm gleichzeitig
das Gefühl zu geben, es wäre alles nicht ganz so schlimm. Aber der
Blutverlust war hoch, und bis der Mann mit dem Krankenwagen im
Hospital ankam, würde es zu lang dauern. Der Doktor musste jetzt
und hier eine Notoperation vornehmen, sonst konnte es böse Folgen
haben.
„Helft mir mal, wir müssen ihn in einen Wohnwagen bringen,
dort kann ich ihn besser versorgen als hier draußen“, bestimmte der
Arzt und schaute einige der Arbeiter an.
Bereitwillig packten die den Tierarzt auf eine provisorische
Trage und brachten ihn in seinen eigenen Wohnwagen.
„Ich glaube fast, ich bin etwas leichtsinnig geworden“,
erklärte Werner dann, als er mit Pieter allein war. „Da kennt man
diese Tiere seit vielen Jahren, betrachtet sie schon fast als
menschlich, und dann kommt der Tag, wo der Ruf der Natur stärker
ist als alle Zuneigung. Es war wohl ganz allein mein Fehler. Und so
ganz weit entfernt waren Sie mit Ihrer Bemerkung über einen Tiger
gar nicht. Ich habe den schwarzen Panther behandelt, der hat einen
Splitter in der Pfote. Und die Fußballen bei den Katzen sind nun
mal sehr empfindlich. Da war ich dann wohl nicht vorsichtig genug.
Baghira hat mir jedenfalls gezeigt, dass er da keinen Spaß
versteht.“
„Das verstehe ich bei solchen Sachen auch nicht“, brummte
Pieter. „Wenn Sie jetzt nicht still halten, muss ich Sie wohl erst
festhalten lassen.“
Werner versuchte doch tatsächlich, dem Arzt zu helfen und
wollte sich jetzt sogar aufrichten.
„Ganz einfach liegenbleiben und nichts tun“, riet Pieter. „Ich
muss das alles erst nähen. Bis Sie sonst im Krankenhaus sind, haben
Sie zu viel Blut verloren, und dann kann Ihnen keiner mehr
helfen.“
Werner verzog ein bisschen das Gesicht. „Ist gar nicht so
einfach, plötzlich selbst hilflos zu sein“, sagte er verlegen, und
Pieter Jensen grinste.
„Ärzte sind die schlimmsten Patienten. Und da zählen Sie auch
dazu.“
„Ich mache mir jetzt trotzdem Sorgen um Baghira.“
„Ach, ich glaube, das brauchen Sie nicht. Ich habe nämlich
eine ganz reizende Kollegin von Ihnen dabei, Hedy Pedderson. Die
hat sich schon aufgemacht, um nach der Miezekatze zu sehen.“
Jetzt wurde Werner ernst. „Sagen Sie das nicht so
leichtfertig. Das ist wahrlich keine Schmusekatze.“
Wie um die Richtigkeit seiner Worte zu bestätigen, erklang in
diesem Augenblick ein hoher schriller Schrei.
Bestürzt blieb Pieter stehen. „Hedy“, flüsterte er entsetzt
und musste kämpfen, um nicht einfach hinauszulaufen. Doch Werner
lachte trotz seiner Schmerzen leise.
„Nein, nicht Ihre Hedy. Das war Baghira. Mir scheint, meine
Kollegin weiß sich recht gut zu helfen. Ich bin beeindruckt.“
„Meinen Sie das jetzt ernst? Ich meine, Hedy …“
„Nein, wirklich, das war der Schrei einer Raubkatze, den kenne
ich. Und ich denke, Doktor Pedderson hat den Splitter
gezogen.“
Aus dem Hauptzelt mit der Manege hallte laute Musik
herüber.
„Da spielt die Kapelle jetzt den Abschlussmarsch“, stellte
Werner fest. „Ich habe Ihnen wohl die Vorstellung verdorben. Tut
mir leid. Ich werde versuchen, das wieder gutzumachen.“
„Tünkram. Ich konnte Sie ja schlecht verbluten lassen. So, das
reicht erst mal, bis sich im Hospital die Kollegen um den Rest
kümmern.“
„Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Wie heißt du eigentlich?“
„Pieter Jensen. Und du?“ Irgendwie war es selbstverständlich,
dass die beiden Männer sich jetzt duzten.
„Ich bin Werner Johannsen. Danke, Pieter.“
„Nichts zu danken. Der Krankenwagen wartet schon. Wenn du
nichts dagegen hast, werde ich mich erkundigen, wie es dir
geht.“
„Ich bitte darum. Und einen netten Gruß an meine Kollegin. Die
würde ich doch gern mal kennenlernen.“
„Darüber lässt sich reden.“
Die Sanitäter warteten schon draußen. Jetzt brachten sie den
Verletzten ins Hospital, und Pieter machte sich auf, um nach Hedy
zu schauen. Er war noch immer nicht ganz überzeugt davon, dass da
wirklich eine Katze geschrien hatte, mochte die nun groß oder klein
sein. Doch gleich darauf konnte er sich überzeugen, dass es Hedy
gut ging. Die stand nämlich bei den Pferden und bewunderte die
herrlichen Tiere.
„Ich habe mir schon gedacht, dass du nach mir schaust“, rief
sie fröhlich. „Aber es ist alles in Ordnung. Dem Panther geht es
gut.“
Pieter zog die junge Frau an sich, er war erleichtert, dass
ihr nichts passiert war. Doch dann wurde er unsanft beiseite
gestupst. Offenbar war eines der Pferde eifersüchtig.
8
„Habe ich es nicht vorher gesagt? Dagmar und du, ihr seid ein
wunderbares Paar. Und nun habt ihr Zeit, euch kennenzulernen. Da
gibt es ja nun wirklich keine Probleme; wenn ihr euch treffen
wollt, dann nehmt euch frei. Je eher, umso besser. Lutz und ich
haben nämlich den Termin für die Verlobung festgelegt. Und bis
dahin …“
„Ihr habt was?“, fragte Matthes fassungslos und starrte seinen
Vater entsetzt an. Der machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Was soll denn dieses Gerede? Ihr habt in der Verlobungszeit
noch mehr als genug Zeit, um aufeinander einzugehen. Dafür ist
diese Zeit ja auch gedacht. Und warum noch länger zögern, das macht
doch keinen Sinn. Wir sind uns schließlich einig.“
„Ihr seid euch einig, da hast recht“, stieß der junge Mann
bitter hervor. „Werden Dagmar und ich überhaupt noch gefragt?
Vielleicht mögen wir uns ja nicht genug, um das ganze Leben
miteinander zu verbringen.“
Eine steile Zornesfalte bildete sich auf der Stirn von Alwin,
als er seinen Sohn jetzt intensiv musterte.
„Ist da noch was, worüber ich besser Bescheid wissen sollte?
Spukt dir immer noch dies Mädchen vom Zirkus im Kopf herum? Die
solltest du am besten ganz schnell wieder vergessen. So was kommt
mir nie und nicht in Frage.“
Das wusste Matthes schon längst, aber bisher hatte er noch
keinen Einfall, wie er es dem Vater schmackhaft machen sollte, dass
Birte seinem Herzen viel näher stand als Dagmar. Ebenso wenig wie
die junge Frau eine Idee hatte, wie sie dem eigenen Vater klar
machen sollte, dass da jemand anderes war als Matthes.
Die beiden nutzten in den letzten Tagen die Tatsache, dass sie
sich treffen sollten. Allerdings sahen diese Treffen so aus, dass
sie zum jeweils anderen Partner verschwanden. Sollten ihre Väter
jemals dahinterkommen, wäre ein Donnerwetter vermutlich
unausweichlich.
„Vadder, ich denke, über dieses Thema müssen wir nicht
diskutieren“, sagte der junge Mann jetzt ausweichend. Das klang
zwar nicht so, als würde er sich die junge Frau aus dem Kopf
geschlagen haben, doch es war allemal besser, als wenn er darauf
bestand, Birte in die Familie aufzunehmen.
Matthes grinste jetzt offen und verbarg seine Gedanken hinter
einer Maske aus Zustimmung.
„Wenn du also nichts dagegen hast, dann würde ich gern mit
Dagmar …“
„Schon genehmigt. Macht euch einen schönen Tag“, stimmte Alwin
großzügig zu. „Ach, nun hätte ich es fast vergessen. Die
Verlobung.“
„Ja?“, fragte Matthes gedehnt und fühlte, wie es ihm eiskalt
über den Rücken lief.
„Lutz und ich wollen unsere – eure – Verlobung natürlich auch
geschäftlich nutzen. Je eher, desto besser, das sagte ich ja schon
mal. Wir haben dementsprechend die Feier für den kommenden Sonntag
festgesetzt.“
Matthes war es, als würde ihn jemand von oben bis unten mit
Eiswasser übergießen.
„Jetzt Sonntag?“, fragte er rau, als er seine Stimme wieder
unter Kontrolle hatte.
„Ja, selbstverständlich. Wir sind uns doch alle einig. Oder
gibt es was einzuwenden?“ Forschend musterte Alwin seinen Sohn.
Irgendetwas stimmte hier doch nicht. Auch Lutz hatte erzählt, dass
Dagmar Matthes wohl gern mochte, dass aber nicht viele Gefühle im
Spiel waren. Ach, Tünkram, wozu denn auch? Diese heiße blinde
Liebe, von der die jungen Leute träumten, war ja doch nicht mehr
als ein Strohfeuer. Und wenn das ausgebrannt war, blieb nichts
übrig als die Scheidung.
„Nein, es ist natürlich alles in Ordnung“, erklärte Matthes
jetzt spröde, während sich in seinem Kopf die Gedanken
überschlugen. Er machte, dass er aus dem Haus kam. Darüber musste
er mit Dagmar reden, sie brauchten jetzt dringend einen Plan.
9
Birte war schon daran gewöhnt, dass Matthes täglich zu Besuch
kam. Und auch die anderen Artisten und Helfer hatten den Mann
mittlerweile akzeptiert. Er war stets hilfsbereit und freundlich,
und außerdem schien die von allen verehrte Tochter des Direktors
ihr Herz an ihn verloren zu haben. Das war jedenfalls nicht zu
übersehen, wenn man die zwei miteinander beobachtete. Sollte sich
da mehr daraus entwickeln, war es sicher besser, sich mit Matthes
gut zu stellen.
Heute aber kam der junge Mann nicht allein auf dem Gelände an.
Er hatte eine reizende junge Frau dabei, und mehr als einer machte
sich plötzlich ein paar Gedanken.
Auch Birte schaute erstaunt auf, als Matthes mit der Fremden
nach kurzem Anklopfen in ihren Wohnwagen kam.
„Das ist Dagmar“, erklärte er dann nach einer liebevollen
Begrüßung.
„Ach, dann sind Sie diejenige, die Matthes heiraten soll, wo
Sie doch eigentlich auch einen anderen haben. Du lieber Himmel, mir
scheint, das ist eine ganz verrückte Geschichte. Schön, dass ich
dich auch mal kennenlernen darf – hast doch nichts dagegen, wenn
wir du sagen? Aber so, wie ich Matthes mittlerweile kenne, muss der
schon einen besonderen Grund haben, damit er dich mitbringt.“ Das
Mädchen lächelte freundlich, es fand Dagmar auf Anhieb sympathisch.
Und das schien auf Gegenseitigkeit zu ruhen, denn auch Dagmar
strahlte.
„Du kennst mich schon viel zu gut“, stellte Matthes fest.
„Aber schau, da gibt es langsam ein ernsthaftes Problem.“ Er
berichtete von dem Gespräch mit seinen Vater, und Dagmar erklärte
im Wesentlichen das gleiche von ihrer Seite.
Birte überlegte eine Weile, dann schüttelte sie den Kopf. „Dzu
fällt mir auch nichts ein. Ich würde ja sagen, ihr weigert euch
einfach, der Verlobung zuzustimmen. Aber wenn ich das recht
verstehe, ist es ja wohl so, dass auch geschäftliche Dinge eine
Rolle spielen, und da wird es dann kompliziert.“
„Das ist wohl noch leicht untertrieben“, stöhnte Dagmar. „Sieh
mal, ich finde Matthes nett, aber zum Heiraten reicht es nun
wirklich nicht. Und da ist ja auch noch ein Mann, ich meine, den
habe ich mehr als nur ein bisschen gern. Den würde ich auf der
Stelle heiraten, wenn da nicht das Theater mit meinem Vater
wäre.“
„Und dieser Mann ist nichts, was dein Vater akzeptiert?“
„Wohl kaum“, seufzte die junge Frau. „Er ist schließlich nur
ein einfacher Werbegrafiker.“
„Aber das ist doch ein ordentlicher Beruf“, meinte Birte und
lachte leise. „Auf jeden Fall sollte das in den Ohren deines Vaters
besser klingen als bei Matthes’ Vater, der wohl schon Zustände
bekommt, wenn er das Wort Zirkus hört.“
„So ein Tünkram. Aber das hilft uns allen nicht weiter“,
stellte Dagmar nüchtern fest.
„Warte mal, ich werde meinen Vater holen, vielleicht hat der
eine Idee.“
„Dein Vater ist ein toller Kerl, aber glaubst wirklich …“,
warf Matthes skeptisch ein, doch die junge Frau lachte.
„Mein Vater weiß eigentlich immer einen Rat, und wenn es noch
so schwierig ist. Warte einen Augenblick.“
Sie huschte aus dem Wohnwagen, und Dagmar schaute sich
neugierig um.
„Das ist ja richtig luxuriös hier“, stellte sie fest. „Ich
hatte mir das eigentlich nicht so angenehm vorgestellt.“
„Überleg mal, die Leute sind die ganze Saison unterwegs. Das
hier ist ihr Zuhause, da braucht es schon ein bisschen Luxus, wenn
der Platz beschränkt ist und man selten länger als eine oder zwei
Wochen an einem Ort bleibt.“
„Und Geschmack hat sie auch, deine Birte. Ist ein nettes
Mädchen. Ich wünsche euch alles Glück – irgendwie“, meinte
Dagmar.
„Na, wir werden aber doch hoffentlich in jedem Fall weiter
Freunde bleiben. Du kannst dann ja verfolgen, ob ich mit Birte
glücklich werde. Genauso wie du mit Hinrich. Ich wünsche euch da
auch alles Gute.“
„Na fein, nun haben wir genug Nettigkeiten ausgetauscht“,
lachte sie. „Ich bin ja mal gespannt, ob der Vater von Birte
wirklich eine Idee hat.“
„Warum sollte er nicht?“, dröhnte eine Stimme durch die sich
gerade öffnende Tür.
„Herr Feddersen, schön, Sie zu sehen“, begrüßte Matthes ihn
höflich, zuckte dann aber zusammen, als Hinnerk ihm kräftig auf die
Schultern schlug. „Willst du weiter so förmlich bleiben, Junge? Ich
bin Hinnerk, und ich will doch hoffen, dass du keine Hemmungen
hast, mich zu duzen.“
„Nein – nein, natürlich nicht.“
„Gut. Und da ist die junge Frau, die diesen Schlawiner hier
heiraten soll, aber nicht will?“ Er schaute sie prüfend an. „Ich
denke, wir sind hier eine kleine verschworene Gemeinschaft. Also
heißt es auch du.“
Die beiden jungen Leute waren erschlagen von der
überwältigenden Freundlichkeit und der Präsenz, mit welcher Hinnerk
den Raum ausfüllte.
„Sie haben – du hast also eine Idee?“, brachte Matthes die
Sache wieder auf den Punkt.
„Na ja, so ganz durchdacht habe ich es noch nicht, ging ein
bisschen schnell, aber Birte hat mir eine Kurzfassung der
Geschichte gegeben. Und ich denke, ich sehe es doch wohl richtig,
Matthes, dass du ein ernsthaftes Interesse an meiner Tochter
hast.“
Unwillkürlich wurde der junge Mann rot. So deutliche Worte
wurden bei ihm daheim nicht mal im geschäftlichen Bereich benutzt.
Aber er nickte tapfer. „Ich liebe Birte. Und ich bin mir da
ziemlich sicher, wenn sie mich haben will, dann werde ich sie
heiraten.“
„Das ist ein Wort. Und du, Mädchen? Du hast also auch einen
anderen?“ Dagmar nickte. „Ich weiß ja nicht, wie eure Väter das
geschäftlich ausnutzen wollen, aber außer einer Hochzeit gibt es ja
auch noch eine Fusion, um ein Geschäft abzuschließen. Also sollten
eure Väter und eure Firmen sich damit abfinden, dass ihr zwei bei
der Verlobung eure eigenen Partner präsentiert.“
Dagmar schnappte nach Luft, und Matthes ließ einen erstickten
Ausruf hören.
„Das wäre ein Skandal ohnegleichen“, sagte er dann.
„Aber es wäre ehrlich. Ich kann nicht sagen, dass es mir
gefällt, wie ihr die ganze Zeit heimlich tut. Ich verstehe wohl,
dass ihr im Augenblick keine andere Möglichkeit gesehen habt. Aber
so kann es nicht weitergehen. Ihr solltet mit offenen Karten
spielen, auch auf die Gefahr hin, dass es zum Streit oder sogar zu
einem Bruch auf Zeit kommt. Glaubt mir, früher oder später werden
eure Väter verstehen, dass sie ihre Kinder lieber wieder daheim
hätten. Und dann werden sie eure Wahl respektieren. Ich jedenfalls
würde es.“
„Bei dir steht auch Birte vor dem Geschäft“, sagte Matthes
düster. „Bei unseren Vätern kommt erst das Geschäft, dann
wir.“
Hinnerk lachte auf. „Das kommt euch nur so vor, sonst wären
eure Väter nicht normal. Aber ihr zwei seid ganz gut geraten. Und
deswegen gehe ich davon aus, dass die beiden gar nicht so schlimm
sind, wie ihr mir das einreden wollt.“
„Ich werde verrückt“, bemerkte Dagmar nachdenklich. „Das
klingt absolut unmöglich, aber wahrscheinlich ist es genau das, was
wir tun sollten. Es kann so wirklich nicht mehr weitergehen. Diese
Heimlichkeit, und auch diese Belastung, lügen zu müssen, sich nie
offen treffen zu können, geht mir auf die Nerven. Ich werde es tun,
und du solltest mitmachen, Matthes.“
Er grinste. „Dafür, dass du eigentlich immer aussiehst wie
eine eiskalte Geschäftsfrau, die nicht mal weiß, wie man das Wort
Gefühl schreibt, hast du ganz schön viel davon. Also gut – gehen
wir das Risiko ein, dass wir aus dem Haus geworfen werden. Dann
kaufen wir uns einen Wohnwagen und ziehen mit dem Zirkus.“
Dagmar lachte auf, und wieder einmal verflog der strenge
Ausdruck aus ihrem Gesicht und machte Platz für das fröhliche
Mädchen, das sie in Wirklichkeit war.
„Ach ja“, meinte sie dann trocken. „Die Verlobung ist am
Sonntag.“
Birte seufzte, und Hinnerk brummte unwillig. „Eines muss man
euren Vätern wirklich lassen, die verlieren keine Zeit. Dann werde
ich mich wohl auch ein bisschen beeilen müssen.“ Der Sinn dieser
Worte war den jungen Leuten nicht so ganz klar, doch keiner fragte
nach.
10
Das ganze Restaurant war gemietet worden von Alwin und Lutz.
Obwohl längst nicht üblich, hatte man eilig Einladungen an
Geschäftspartner und andere wichtige Leute verschickt, und niemand
hatte abgesagt, obwohl der Termin denkbar knapp war. Jedermann
fühlte sich geehrt, dabei zu sein, wenn diese beiden
gesellschaftlich anerkannten Familien sich verbanden.
Dagmar sah hinreißend aus an diesem Tag. Sie trug ein
nachtblaues Kleid aus fließendem Stoff, wodurch ihre phantastische
Figur noch betont wurde. Zu diesem festlichen Anlass hatte ihr
Vater ihr eine besondere Halskette geschenkt, ein einzelner
geschickt gefasster Diamant von mehr als zwei Karat zog fast noch
mehr die Aufmerksamkeit auf sich als die kühle Schönheit des
Mädchens.
Auch Matthes hatte sich in einen Smoking geworfen und wirkte
fremd und elegant in der festlichen Kleidung. Immer wieder warfen
die beiden, unauffällig wie sie meinten, Blicke zur Uhr, bis Alwin
das schließlich nicht mehr mit ansehen konnte.
„Kannst du es nicht mehr abwarten?“, fragte er gut gelaunt,
und Matthes machte ein schuldbewusstes Gesicht. Insgeheim wartete
er darauf, dass Birte und ihr Vater endlich auftauchten. Inmitten
all der Gäste würde es wohl kaum auffallen, dass sich einige
dazwischen befanden, die nicht von Alwin oder von Lutz eingeladen
worden waren. Und bei Dagmar ging es genauso mit Hinrich.
Der hatte den verrückten Plan ebenfalls begrüßt, auch er war
dafür, klare Verhältnisse zu schaffen. Es war vereinbart, dass die
drei am späten Abend, kurz vor der offiziellen Bekanntgabe der
Verlobung, eintreffen sollten. Und dann – nun, man würde
sehen.
Matthes und Dagmar rechneten jedenfalls zunächst mit einer
furchtbaren Auseinandersetzung. Früher oder später würden sich ihre
Väter aber doch damit abfinden müssen, dass die Herzen ihrer Kinder
anders entschieden hatten. Dann sollte sich alles wieder
beruhigen.
Noch eine halbe Stunde.
Unauffällig gaben Alwin und Lutz dem Personal Anweisungen, an
jeden Gast Champagner zu verteilen. Die Gespräche drehten sich
plötzlich alle nur noch um ein Thema, denn jeder wusste
schließlich, aus welchem Grund dieses Fest stattfand.
Dagmar kam zu Matthes, ein strahlendes und doch nicht ganz
echtes Lächeln auf den Lippen. Auch sie war nervös, und wer wollte
ihr das verdenken? Das Mädchen beugte sich eng zu Matthes
vor.
„Hinrich ist da, und gerade kam noch ein Auto. Ich denke,
Birte und ihr Vater sind auch eingetroffen.“
Die beiden warfen einen Blick in die Runde. Überall standen
die Leute in kleinen Gruppen herum und warteten auf das große
Ereignis dieses Abends. Hand in Hand, ganz wie ein verliebtes Paar,
gingen Matthes und Dagmar durch den Saal, hinüber in den kleinen
Konferenzraum, wo auch Birte und Hinnerk gerade ankamen. Liebevoll
begrüßten sich die beiden Paare.
Dagmar hatte ihren Hinrich Matthes schon längst vorgestellt,
und die zwei fanden sich recht sympathisch.
„Herzklopfen?“, fragte Hinrich freundlich, und Dagmar nickte.
„Glaub mir, mein Liebes, lieber jetzt ein Ende mit Schrecken, als
so weiter zu machen wie bisher.“
„Ich weiß“, erwiderte die junge Frau leise. „Das heißt aber
trotzdem nicht, dass mir wohl dabei ist.“
„Das ist uns allen nicht“, gab Birte zu bedenken.
„Na los, es hat keinen Zweck noch länger zu zögern. Sind nur
noch ein paar Minuten, bis es zum großen Knall kommt“, sagte
Matthes tapfer und löste sich von seinem Mädchen. „Ihr seid dann
gleich in unserer Nähe. Und wenn einer unserer Väter …“
„Das hatten wir doch alles schon besprochen. So, wird schon
schiefgehen“, unterbrach ihn Dagmar und zog den Mann wieder mit
sich. „Bis gleich.“ Sie warf Hinrich einen Luftkuss zu, dann
schloss sich die Tür.
Die drei hier holten noch einmal tief Luft, dann folgten sie
dem Paar und mischten sich unauffällig unter die Menschen. Es war
gut, dass sie nicht schon früher hierhergekommen waren, denn Alwin
und Lutz hätten bestimmt Fragen gestellt, wer denn diese
unbekannten Gäste waren.
Am Büfett, das sich inmitten des Saales befand, hatten sich
jetzt die beiden Väter zusammengefunden, beide mit einem Glas
Champagner in der Hand. Sie winkten ihren Kindern, die langsam
näher kamen und sich dann zusammen aufstellten.
Alwin lächelte, nahm einen Löffel vom Büfett und schlug damit
an sein Glas, bis alle Gäste verstummt waren.
„Meine lieben Gäste – Freunde, Bekannte, na ja und die
Verwandten wollen wir auch nicht vergessen“, begann der Mann gut
gelaunt. „Wir denken, es ist an der Zeit zum Höhepunkt des Tages zu
kommen. Wir alle sind hier, um die Verlobung von zwei prächtigen
jungen Menschen zu feiern. Ich muss gar nicht darauf eingehen, was
das für Lutz und mich als ihre Väter zu bedeuten hat. Wir sind
einfach glücklich, dass sich es so ergeben hat. Und nun braucht es
eigentlich nichts weiter. – Lutz?“
Er übergab das Wort.
„Ich hätte da auch nicht viel hinzuzufügen. Die beiden werden
privat das besiegeln, was wir geschäftlich schon lange täglich
praktizieren. Ich denke, die beiden sollten jetzt noch ein Wort
haben, und dann wird es offiziell mit dem Ringtausch.“
Er strahlte seine Tochter an und wunderte sich ein bisschen,
dass Dagmar so verkrampft wirkte. War denn die junge Frau nicht
glücklich? Er wollte doch nur das Beste für sie – und natürlich für
die Firma. Da war es doch nur logisch, beides miteinander zu
verbinden.
Matthes räusperte sich, und Dagmar drückte unwillkürlich seine
Hand und nickte ihn zu.
„Wir hätten da wirklich auch noch was zu sagen“, erklärte der
junge Mann mit belegter Stimme. „Unsere Väter hatten die Idee,
nicht nur die Firmen, sondern auch die Familien zu verbinden. Das
könnte eine gute Idee sein, aber nur dann, wenn nicht das Herz
andere, eigene Wege geht. Wir zwei haben lange darüber nachgedacht,
und wir sind zu den Schluss gekommen, dass wir uns heute auf jeden
Fall verloben werden. Aber, so leid uns das auch tut, nicht
miteinander. Dagmar hat einen Herzallerliebsten, einen prächtigen
Mann, zu dem man ihr wirklich nur gratulieren kann. Und ich habe
ein Mädchen, was ich von Herzen liebe. Meine Birte.“ Er streckte
einen Arm aus, Hinrich und Birte kamen auf das Paar zu.
Die beiden Väter waren bei den Worten des Mannes bereits
zornig geworden und wollten eigentlich schon dazwischengehen. Doch
Dagmar hatte beide mit einem einzigen Blick zurückgehalten.
Jetzt aber ging nichts mehr.
„Das ist ungeheuerlich“, brüllte Lutz und musterte Hinrich mit
einem vernichtenden Blick. „Ich werde einer solchen Verbindung
nicht zustimmen.“
„Ich auch nicht“, schloss sich Alwin an, und unter den Gästen
brach erregtes Gemurmel aus.
„Das tut uns für euch sehr leid“, widersprach Dagmar mit
fester Stimme. „Aber auch, wenn es euch nicht passt, werden wir
nicht eine geschäftliche Ehe eingehen, wo unsere Herzen längst
entschieden hat.“
„Fahrendes Volk“, polterte Alwin und starrte mit unverhohlener
Abscheu auf Birte, die doch so reizend ausschaute an diesem Abend.
Matthes wollte sich schützend vor sein Mädchen stellen, aber das
war gar nicht nötig, sie konnte recht gut für sich selbst
sprechen.
„Ich weiß nicht, woher Sie das Recht nehmen, solche Vorurteile
auszusprechen“, sagte sie ruhig. „Mein Leben ist vielleicht ein
bisschen unruhiger als das Ihre. Deswegen bin ich, und sind auch
alle anderen beim Zirkus, nicht minderwertig. Matthes und ich
lieben uns, ob Ihnen das nun passt oder nicht, da können Sie
machen, was Sie wollen. Auf jeden Fall werde ich mich nicht von
Ihnen beleidigen lassen, das habe ich nicht nötig.“ Sie stand sehr
aufrecht da und blitzte den alten Herrn mit ihren wunderschönen
braunen Augen an.
Matthes griff nach der Hand des Mädchens. „Dem gibt es nichts
mehr hinzuzufügen“, erklärte auch er.
„Dann haben wir einander nichts mehr zu sagen“, bestimmte
Alwin mit brüchiger Stimme. „Du bist mein Sohn nicht mehr, und du
wirst weder mein Haus noch meine Firma jemals wieder
betreten.“
„Vadder“, rief Matthes aus. Mit soviel Unversöhnlichkeit hatte
er denn doch nicht gerechnet. Ein Streit, ja, das war sogar
unvermeidlich. Aber letztendlich würde man sich doch wieder einigen
können, so hatten die jungen Leute gedacht.
Das hier war hart, und der junge Mann fühlte den Druck der
Hand von Birte, die ihm auf diese Weise Kraft geben wollte.
„Kein weiteres Wort mehr“, donnerte Alwin und schaute Matthes
nicht einmal mehr an. „Ich denke, dieser Abend ist beendet. Ihr
alle könnt gehen. Und du geh mir aus dem Augen mit deiner – deiner
Zirkusprinzessin.“
Dagmar hatte dem Vorgang fassungslos zugehört und zugesehen.
Ihr Blick suchte jetzt den ihres Vaters. Würde auch er auf eine so
grausame Art versuchen ihr Leben zu zerstören? Doch der Zorn von
Lutz verrauchte recht schnell angesichts des unmöglichen Verhaltens
seines Geschäftspartners. Das war hart, viel zu hart. Nein, er
wollte seine Tochter nicht verlieren. Und wenn er dafür einen
Schwiegersohn akzeptieren musste, der ihm nicht – oder vielleicht
noch nicht – recht war, dann würde er das eben tun müssen.
„Alwin, du gehst gerade zu weit“, mahnte er. „Es soll eben
nicht sein. Willst du jetzt um jeden Preis das Leben deines Sohnes
zerstören?“
„Ich habe keinen Sohn mehr“, erwiderte Groote brüchig. „Und
meine Firma wird einen anderen Nachfolger bekommen.“
„Ich glaube, da habe ich auch noch ein Wörtchen mitzureden“,
mischte sich jetzt plötzlich eine andere Stimme ein.
Alwin schaute auf. „Wer sind Sie denn? Und wie kommen Sie
dazu, mir in mein Geschäft hineinreden zu wollen?“
„Ich bin Hinnerk Feddersen, der Direktor vom fahrenden Volk“,
kam die spöttische Antwort. „Und ins Geschäft habe ich wohl
hineinzureden. Ihre Firma hat vor Kurzem die Anteile der
Geschäftspapiere aufgestockt, sehr zu meiner Freude. So konnte ich
durch meinen Finanzmakler eine ganze Menge dieser Papiere aufkaufen
lassen. So viele, dass ich ein Mitbestimmungsrecht besitze – laut
der Satzung Ihrer Firma. Eigentlich wollte ich das erst später
bekanntgeben, doch nun ergibt es sich in einer ernsten
Situation.“
Alwin wurde kreidebleich. „Das ist nicht wahr“, ächzte er
tonlos.
„Wollen Sie das schriftlich?“, erkundigte sich Hinnerk. „Wenn
Sie drauf bestehen, werde ich eine außerordentliche Sitzung des
Aufsichtsrats einberufen.“
Alwin sagte gar nichts mehr. Er starrte Hinnerk an wie eine
tödliche Erscheinung. Dann griff er sich an die Brust und sackte
einfach zusammen. Hinnerk ließ einen Fluch hören und beugte sich
nieder. „Einen Arzt, aber rasch“, brüllte er.
Wie vom Donner gerührt stand Matthes da, dann schrie er selbst
laut auf. „So hol doch jemand endlich einen Arzt!“
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„Nun geh ein bisschen zur Seite. Ich werde mich darum kümmern.
Mach dir nicht zu viele Sorgen, das wird schon wieder werden.“
Pieter Jensen schob Matthes beiseite und warf einen wütenden Blick
auf beide Männer.
Alwin lag da mit totenbleichem Gesicht und kam gerade röchelnd
wieder zu sich. Matthes stand die Sorge ins Gesicht
geschrieben.
Das sieht gar nicht gut aus, entschied der Doktor, und er
meinte damit gar nicht so sehr den Gesundheitszustand vom alten
Groote, der an sich schon besorgniserregend genug war.
„Ich glaube, es wäre besser, du würdest gehen, Matthes. Du
willst ihn doch nicht noch mehr aufregen?“
Der junge Mann biss sich auf die Lippen, schaute seinen Vater
noch einmal an, in dessen Augen sich schon fast so etwas wie Hass
zeigte, und griff dann nach Birte.
„Du hast vielleicht recht, Doktor. Ich will ja, dass er wieder
gesund wird, da ist es wohl besser“, stimmte er zu.
Hinnerk legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Komm, mein
Junge, du bleibst erst mal bei uns, bis dein alter Herr wieder auf
den Beinen ist.“
„Einen Moment noch.“ Lutz hielt den Zirkusdirektor auf. „Ist
das wahr? Haben Sie sich tatsächlich in die Firma von Alwin
eingekauft?“
Hinnerk schaute den anderen abschätzig an. „Ich weiß nicht,
was Sie das angeht. Aber da es nun schon alle wissen, ja. Warum
sollte ich lügen? So was habe ich nicht nötig. Und mir scheint, es
ist auch eine gute Investition für mein schwer verdientes Geld.
Deshalb werde ich, falls nötig, auch von meinem Stimmrecht Gebrauch
machen müssen, damit Matthes nicht einfach auf der Straße
steht.“
„Aber das ist ja Erpressung“, stieß Lutz schockiert
hervor.