8849 - Oliver Schulz - E-Book

8849 E-Book

Oliver Schulz

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Beschreibung

Der Mount Everest ist zu einem Ort für einen pervertierten Massentourismus der Luxusklasse geworden. Mit fatalen Folgen für die dort lebenden Tibeter, die Bergsteiger und die Natur. Kenntnisreich und spannend beschreibt Oliver Schulz in seinem Buch, welche Kräfte und Interessen diese Entwicklung vorangetrieben haben. Was macht das mit der Kultur der Menschen, die dort leben, und mit denen, die den heiligen Berg besteigen bzw. aus falschverstandenem Ehrgeiz auf 8848 Meter Höhe geschleppt werden? Schulz erzählt vom Traum und Albtraum am höchsten Berg der Erde, vom Geschäft mit dem Höhenwahn, der beispielhaft für den Irrsinn des gesamten internationalen Alpinismus steht. Und er sucht Antworten auf die Frage, wie man Massentourismus, Tod und Ausbeutung am Berg in Zukunft besser in den Griff bekommen kann.

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Seitenzahl: 261

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Ebook Edition

Oliver Schulz

8849

Massentourismus, Tod und Ausbeutung am Mount Everest

Mehr über unsere Autor:innen und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwende ich im Buch das generische Maskulinum, beispielsweise »der Patient«. Ich meine immer alle Geschlechter im Sinne der Gleichbehandlung. Die verkürzte Sprachform hat redaktionelle und pragmatische Gründe und ist wertfrei.

2. Auflage

ISBN: 978-3-86489-861-7

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2022

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Titel

Vorwort

1 Der Stau

2 Der Berg

3 Der Name

4 Die Mythologie

5 Die Einheimischen

6 Die Erfolglosen

7 Die Erfolgreichen

8 Die Rebellen

9 Die Extremisten

10 Die Millionäre

11 Der Müll

12 Die Leichengasse

13 Das Verbrechen

14 Zwist

15 Die Eiskatastrophe

16 Die neue Generation der Sherpas

17 Die Expeditions-Wirtschaft

18 Die Schummler

19 Covid-19 am Berg

20 Lösungen

21 Ziel für die Massen

22 Interview

Orientierungspunkte

Titel

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Bilder gingen um die Welt: Im Mai 2019 kursierte ein Video im Netz, das zeigte, wie zweihundert Menschen unterhalb des welthöchsten Gipfels stundenlang auf den Anstieg warteten, weil Ungeübte das einspurige Auf- und Absteigen behinderten. Elf Menschen starben, vielfach an Erfrierungen oder Erschöpfung. Sie hatten zu lange in der Todeszone anstehen müssen.

Die Katastrophensaison in jenem Jahr spiegelt eine neue Dimension des Wahnsinns am Berg wider: den totalen touristischen Ausverkauf. Immer mehr Ungeübte und Unvorbereitete versuchen den Gipfel zu besteigen, immer mehr Agenturen bieten einerseits Billigtarife an – andererseits »Flash«-Touren für besonders gut Betuchte: Everest in drei Wochen. Wie konnte es so weit kommen?

Nach seiner »Entdeckung« durch britische Landvermesser war der »dritte Pol«, wie er zunächst hieß, lange ein Objekt der Begierde allein für professionelle Bergsteiger. Auf die erste erfolgreiche Besteigung durch Edmund Hillary und Tenzing Norgay 1953 folgten zunächst Bezwinger auf alternativen Routen zum Gipfel – dann mit alternativen Techniken. Reinhold Messner bestieg den Berg 1978 erstmals ohne Verwendung von Sauerstoffflaschen. Bald folgten eher bizarre Rekorde: Der erste Beinamputierte wurde auf dem Gipfel gemeldet, der erste Blinde, der jüngste Mensch (gerade einmal 13 Jahre alt), der Älteste.

Aber vor allem zeichnete sich jetzt eine andere Entwicklung ab: Kommerzielle Expeditionen entdeckten das Geschäft am höchsten Berg. Mit furchtbaren Folgen. Im Mai 1996 kam es zu einer ersten Katastrophe: Acht Menschen starben am Everest. Nicht nur waren einige Bergführer kommerzieller Anbieter unter den Opfern – auch hatten einzelne ihrer Kunden augenscheinlich reichlich wenig Erfahrung im Alpinismus. Sie waren mehr Bergtouristen als Bergsteiger.

Und das war erst der Anfang. In den folgenden Jahrzehnten nahmen immer mehr profitorientierte Abenteuer-Anbieter den Everest in ihr Programm. Waren schon in den Neunzigern mehr als hundert Menschen pro Saison auf dem Gipfel gewesen, so bestiegen ihn 2003 das erste Mal mehr als zweihundert. 2018 war die Zahl auf über achthundert gestiegen.

Immer öfter führte der Tourismus am Berg zu Katastrophen. 2014 kamen 16 Sherpas im Khumbu-Gletscher ums Leben, als mehrere Eistürme abbrachen. 2015 überrollte eine Lawine das Basislager und begrub 18 Bergsteiger unter sich. Manche sagen: Der Berg wehrt sich. Mehr als zweihundert Leichen säumen mittlerweile seine Hänge, auf ihrem Weg hinauf treten die Gipfelstürmer buchstäblich über sie hinweg.

Immer heftiger wurden nun auch die Auseinandersetzungen – um den Berg und am Berg selbst. Sherpas prügelten sich mit westlichen Alpinisten im Base Camp um die Nutzung der von ihnen verlegten Fixseil-Routen und streikten für bessere Arbeitsbedingungen. Als der Deutsche Alpenverein den Everest ins Programm nahm, verurteilte Reinhold Messner lautstark den Gipfel-Tourismus und prangerte ökologische Rücksichtslosigkeit an.

Dieses Buch beschreibt die Hintergründe dieser Entwicklung. Wie konnte es dazu kommen, dass der Berg zu einem Touristenobjekt wurde, welche Kräfte und Interessen treiben diese Entwicklung an? Was macht das mit der Kultur der Menschen, die dort leben. Was macht es mit denen, die hinaufklettern? Was bedeutet die Entwicklung für den Alpinismus? Wer verdient daran? Und wie wird die Zukunft am höchsten Berg der Welt aussehen?

1 Der Stau

Die letzten Meter müssen Don Cash wie ein Traum vorgekommen sein. Wie einer von der ganz bösen Sorte. Es ging ihm dreckig, irgendetwas war nicht in Ordnung. Aber was? Und wie sollte in dieser lebensfeindlichen Umgebung überhaupt noch irgendetwas mit dem menschlichen Organismus stimmen? Bei Temperaturen um minus 25 Grad. Bei einem Luftdruck und einem Sauerstoffgehalt, die um zwei Drittel geringer waren als auf Meeresspiegelniveau?

Ein Schritt, drei Minuten Pause, schmerzhaftes Atmen durch die Sauerstoffflasche. Dann wieder ein Schritt … Cash wird die grandiose Aussicht, die sich ihm bot, kaum wahrgenommen haben, die Erdkrümmung, die ab achttausend Metern mit bloßem Auge sichtbar wird, wo das beginnt, was die Todeszone genannt wird. Den Blick auf das schier endlos wirkende tibetische Plateau im Norden, die Ausläufer des Zyklons Fani, die sich südlich des Himalaja-Hauptkamms zu düsteren Wolkenbergen auftürmten. Nicht einmal mehr den schleppenden Gang seines Vordermannes im bunten Alpinanzug, das Drängen seines Hintermannes, der ihm im Nacken hing.

Am 22. Mai 2019 um 8.29 Uhr stand der US-Amerikaner auf dem höchsten Punkt der Erde, der dröhnende Jetstream riss ihm fast die Kamera aus der Hand. Sein Sherpa Jangbu machte ein Foto. Flatternde Gebetsfahnen auf dem wenige Quadratmeter großen ovalen Plateau, das den Gipfel ausmacht. Beschlagene Brillen über der Sauerstoffmaske. Mit letzter Anstrengung riss Cash die Arme hoch. Es sollte das letzte Bild von ihm werden. Don Cash kam nie zurück. Die Menschenmassen, die den Berg hinaufdrängten, verhinderten es.

Dabei hatte er so lange auf diesen Moment hingearbeitet. Donald Lynn Cash, 55, ein kräftiger Mann aus der Stadt Sandy im Norden Utahs mit einem runden Gesicht und meist einem breiten Lächeln unter dem Dreitagebart. Ein Draufgänger. Ein Haudegen, wie er im Buche stand. »Er war größer als das Leben«, sagte ein Kollege später in den Medien über ihn. »Körperlich einfach ein gewaltiger Kerl. Und immer gut drauf.« Auf einem Instagram-Bild posiert Cash mit einem T-Shirt auf dem steht: »Mach epische Scheiße«. Die Haut ist braun gebrannt, er lässt eine Muschelkette um seinen Hals durch die Finger gleiten. Aber Cash habe nicht nur ein kühnes Leben geführt – er habe auch seine Familie geliebt und seine Erfahrungen mit ihr geteilt.

Seine Kinder und seine Frau hatten ihn zuletzt im Dezember vor seinem Tod gesehen, als er nach Asien aufbrach. Er hatte seinen Job als Software-Verkäufer bei Adobe aufgegeben und verkündet, dass er ein Sabbatical nehmen und ein Buch über das Bergsteigen schreiben wolle. Der Everest sollte für Cash der letzte der erfolgreich bezwungenen »Seven Summits« sein – der sieben höchsten Gipfel auf den einzelnen Kontinenten. »Es war der grandiose Abschluss seiner Träume«, sagte seine Tochter Danielle Cook. Aber eben auch: das Ende seines Lebens.

Ein Grund dafür war sicher, dass in dieser Saison alles anders war. Präziser gesagt: genau so, wie es unweigerlich irgendwann hatte kommen müssen. Der Ansturm auf den Mount Everest hatte in den vorausgegangenen Jahren immer weiter zugenommen. Doch 2019 tummelten sich mehr unerfahrene Kletterer und unqualifizierte Guides als je zuvor am höchsten Berg der Welt. In Kathmandu wurde der Rekord von 381 Ausländergenehmigungen ausgestellt.

Und dann war das Wetter auch mehr als heikel. Ein außergewöhnlich wackeliger Jetstream verband sich mit Zyklon Fani, der in Südasien wütete. Das schmale Wetterfenster, das sich oft schon Anfang Mai am Everest öffnet, wurde damit noch enger. Als die Fixseile, die die Sherpas mittlerweile quasi durchgehend vom Basislager bis auf den Gipfel legen, am 22. Mai endlich angebracht waren, machten sich Hunderte jeden Morgen in aller Frühe auf. »Der Tod lag in der Luft«, notierte der US-amerikanische Everest-Chronist Alan Arnette.

Don Cash war eines der ersten Opfer. Nervös beobachtete sein Sherpa, wie sein Klient auf dem Gipfel hockend dahindämmerte. Er drängte ihn, nicht zu lange zu bleiben. Um 8.43 Uhr stand Cash endlich auf, um den Abstieg zu beginnen. Doch nach zwei Schritten kippte er ohnmächtig um. Jangbu holte einen anderen Sherpa aus dem Team hinzu. Gemeinsam gelang es ihnen, ihren Kunden zu reanimieren. Sie klinkten ihn zwischen sich an das Fixseil, das zum Gipfel führte. Meter für Meter schoben sie ihn hinab. Aber es ging nicht voran. Das Team von Pioneer Adventures war absichtlich früh gestartet, noch weit vor Mitternacht. Doch nun strömten ihnen die Massen entgegen. Ständig mussten sie auf dem schmalen Grat unterhalb des Gipfels innehalten, ständig mussten sie längere Pausen einlegen. Denn weder konnten sie mit Cash im Schlepptau den Entgegenkommenden ausweichen, noch war mehr als eine Handvoll von den Aufsteigenden technisch in der Lage, sich auszuklinken und den in Not Geratenen Platz zu machen, wie es versierte Bergsteiger eigentlich können sollten.

Am Hillary-Step, einer steilen, verschneiten Passage, war endgültig Schluss. Die beiden Sherpas setzten sich mit Cash in den Schnee und warteten. Eine halbe Stunde verging, eine, anderthalb. Der Sauerstoff drohte auszugehen. Kälte stieg in ihre Zehen und Finger. Don Cash begann zu zittern. Mehr als zweieinhalb Stunden mussten die drei ausharren, um die Aufsteigenden vorbeizulassen. Doch als sie diesmal aufstanden, brach Cash endgültig zusammen. Erneut versuchten die Sherpas, ihn wiederzubeleben, aber vergeblich. Es war auch nicht möglich, seine Leiche zu bergen. Auf 8 800 Metern Höhe ließen sie ihn zurück.

Seine Familie war damit einverstanden. Cash selbst hatte eine Erklärung unterschrieben, dass er, sollte er bei einer seiner Touren sterben, dort bleiben wolle. »Er sagte, er würde lieber auf einem Berg sein Leben lassen als in einem Krankenhausbett«, versicherte seine Tochter.

2 Der Berg

Vielleicht ist das der höchste Gipfel der Erde! Man kann sich vorstellen, wie Colonel Andrew Scott Waugh in den Bergen des östlichen Himalaja gestanden hat. In Darjeeling, dem nördlichen Rand Britisch-Indiens. Den Theodoliten hatte er eigentlich über dichte Rhododendronwälder hinweg, über das tiefe Rangit-Tal, auf den 64 Kilometer entfernten Kangchenjunga ausgerichtet. Er muss Glück gehabt haben, der Nebel lichtete sich und weit oben sah er den angepeilten Gipfel, eine zerklüftete Granitwand über den Wolken, von glitzerten Flanken umgeben, wie ein in den Himmel gravierter Olymp. »Der westliche Gipfel des Kangchenjunga erreicht eine Höhe von nicht weniger als 8 555 Meter über Meeresniveau, ist also sehr viel höher als bisher angenommen«, notierte Waugh lakonisch. Er war zu diesem Zeitpunkt damit der höchste bekannte Punkt der Welt.

Aber neben diesem Gipfel erspähte er an diesem Tag im November 1847 eine andere, außergewöhnlich hohe Bergspitze.

Konnte er das sein? Der dritte Pol der Erde, nach dem die britischen Geographen schon so lange im Himalaja gesucht hatten? Der Oberst war ein vorsichtiger, zurückhaltender Mann. Bei den Peilungen fehlten die Höhenwinkel. »Gamma«, so nannte er die Eiskuppe erst einmal provisorisch, links vom Kangchenjunga gelegen, war zu weit entfernt, deshalb betrachtete er die Messungen als zu unscharf. Aber er hatte eine Ahnung. Waugh hielt es daher für angemessen, die Ergebnisse gemeinsam mit seinem Assistenten zunächst gründlich zu überprüfen. Mehr als acht Jahre lang.

Er vergleicht sie mit Messungen aus der nordindischen Ebene, die eine Höhe von 8 778 Metern für denselben »scheuen« Gipfel, so nennen ihn die Wissenschaftler, weil er sich so wenig prominent in der Himalaja-Hauptkette versteckte, ergeben hatten. Immer wieder schickt der Geodät kleine Expeditionen in das Grenzgebiet zwischen Indien und Nepal, in die Sümpfe und Dschungel des sogenannten Terai, gefürchtet für Malaria und Tiger, um hinaufzupeilen zu dem verborgenen Gipfel, in dessen Nähe der König sie nicht lässt; die Nepalesen verwehren den Briten den Zutritt zu ihrem Territorium. Genauere Datensätze, bessere Perspektiven sind Waughs Ziel. Dunst im Winter und Monsunregen im Sommer machen den Ingenieuren am Fuße des Himalajas die Arbeit schwer. Er diskutiert mit seinen Kollegen Brechungskoeffizienten und die Höhe bezogen auf Normallnull. Er zieht alte Berichte anderer Forscher heran.

Dann erst wendet er sich an die Royal Geographic Society in der Hauptstadt Kalkutta. Im März 1856 legt Waugh in einem aus 14 Abschnitten bestehenden, sauber geschriebenen Brief seine Entdeckungen dar. Er sei endlich »im Besitz der finalen Werte« für den Gipfel »Himalaja XV«, wie er »Gamma« nun nennt. Der Berg erhebe sich 29 002 Fuß oder knapp 8 840 Meter über Meeresniveau.

Waugh schreibt: »Ich wurde von meinem angesehenen Vorgesetzten und Vorgänger, Colonel Geo. Everest gelehrt, jedem geografischen Objekt seine wahre lokale oder einheimische Bezeichnung zuzuweisen. Ich habe mich auch gewissenhaft an diese Regel gehalten, wie ich mich an alle Prinzipien, die dieser erhabene Wissenschaftler erstellt hat, gehalten habe. Aber hier ist ein Berg, höchstwahrscheinlich der höchste der Welt, ohne einen lokalen Namen, der gefunden werden kann, oder dessen einheimische Bezeichnung, falls vorhanden, nicht sehr wahrscheinlich gesichert wird, bevor wir nach Nepal vordringen und uns dieser einzigartigen Schneewelt nähern dürfen. In der Zwischenzeit liegen das Privileg wie die Pflicht bei mir, diesem hohen Gipfel unseres Globus einen Namen zu geben, der unter Geographen bekannt sein und unter zivilisierten Nationen zu einem Begriff werden soll. Aufgrund dieses Privilegs, als Zeugnis meines liebevollen Respekts für einen verehrten Vorgesetzten, in Übereinstimmung mit dem, was ich für den Wunsch aller Mitglieder der wissenschaftlichen Abteilung halte, über die ich die Ehre habe, den Vorsitz zu führen und um die Erinnerung an ihn als gefeierten Meister der genauen geografischen Forschung aufrechtzuerhalten, habe ich beschlossen, diesen erhabenen Gipfel des Himalaja Mont [sic!] Everest zu nennen.«

Der Name, den Waugh selbst rasch in Mount Everest korrigiert, wird vom Londoner Indien-Minister wie von der Royal Geographic Society gutgeheißen. Aber wer ist eigentlich dieser George Everest? Einerseits ein Besessener, ein Getriebener, der mit Verbissenheit und Arroganz 20 Jahre lang die Expedition Great Arcgeleitet hat, vom zentralindischen Hyderabad bis hinauf nach Dehra Dun, westlich von Nepal in einer vergleichsweise niedrigen Bergkette des Himalaja gelegen. Anderseits ist seine wissenschaftliche Leistung erheblich – ohne ihn hätte Waugh niemals auch nur annähernd so sicher die Höhe des Gipfels bestimmen können. Und umgekehrt ist die Vermessung des Everest die Krönung des Great Arc.

Bevor Waugh das Netz von Vermessungsdreiecken des Great Arc, das den indischen Subkontinent überzog, an den Füßen des Himalaja entlang fortsetzte, waren alle Messungen britischer Geodäten, die dort seit Beginn des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach dem höchsten Punkt der Erde waren, in höchstem Maße ungenau. Denn wie Nepal ließen auch Tibet, Bhutan und Sikkim keine Europäer über ihre Grenzen. Sie mussten also einerseits aus der Ferne – von Indien aus – ihre Geräte auf den Himalaja richten, wussten aber anderseits angesichts vergleichsweise unsicherer Zenitmessungen oder Barometerkalkulationen selbst nicht genau, auf welcher Höhe sie sich befanden. Tatsächlich nahmen deshalb viele Forscher zunächst Abstand von der Vermutung, der höchste Berg der Welt könnte sich im Himalaja befinden. Vielleicht war diese Vorstellung nur ein orientalisches Märchen? Zur generellen Annahme wurde bald, dass der Chimborasso in Ecuador mit 6 310 Metern die höchste Erhebung der Welt sei.

Die Expedition Great Arcrevolutionierte nun die Genauigkeit der Peilung – und das auch aus größerer Distanz. Mit einer 30 Meter langen Stahlkette, die Everests Vorgänger William Lambton, der Begründer des Projekts, im April 1802 in der südindischen Küstenstadt Madras exakt 400-mal aneinanderlegte, begann das gigantische Vorhaben. An den Endpunkten der in Madras ermittelten Linie, die genau 15 753 Fuß über dem Meeresniveau verlief, bestimmten Lambton und seine Mitstreiter jeweils den Winkel zwischen der Grundlinie und einem dritten Sichtpunkt – und errechneten so die zwei übrigen Seiten des entstandenen Dreiecks. Auf diese Weise arbeiteten sie sich von Süden hinauf. Von den tropischen Küsten über die zentralen Steppen und Hochländer, die fruchtbare Ebene Nordindiens bis in den Himalaja. Scharen britischer Wissenschaftler zogen mit ihren Assistenten durch das Land, Tausende Inder erbauten Vermessungstürme aus Backstein, schlugen Schneisen in Dschungel und durch Sümpfe, richteten den Sahibs, wie die Europäer genannt wurden, Beobachtungszelte ein und servierten ihnen Tee, während sie ihr Kolonialreich vermaßen. Damit sie in Indien Straßen und Brücken, Eisenbahnen oder Bewässerungsgräben planen konnten. Nicht zuletzt auch, um die Agrarsteuer zu erheben. Aber ebenso, um die übergeordnete Frage zu beantworten, ob die Erde eigentlich rund sei – oder eine Ellipse.

Die Dimensionen des Vorhabens zur Vermessung des indischen Subkontinents sind mit der einer heutigen Marsexpedition vergleichbar. Auf die Gegenwart umgerechnet Milliarden von Pfund pumpte das Königreich in die Expedition, Hunderte starben an Krankheiten und vor Erschöpfung, Lambton selbst erlag in Zentralindien dem Fieber. Der ehrgeizige George Everest übernahm. Aber dass das Großunternehmen Great Arc, als es 1841 den Himalaja erreichte, die Grundlage dafür schaffte, den höchsten Punkt der Welt zweifelsfrei zu finden, gilt in der Wissenschaft als reiner Zufall.

Und warum Waugh in seinem Brief von 1856 darauf beharrte, ihn ausgerechnet nach George Everest zu benennen, ist bis heute ein Rätsel. Denn nicht nur ist überliefert, Everest habe noch zu Lebzeiten gefordert, dem dritten Pol, so man ihn fände, einen einheimischen Namen zu geben. Auch war der ehrgeizige, geradezu besessene Vermesser unter Kollegen alles andere als beliebt. Gesehen hat er den nach ihm benannten höchsten Berg der Welt ohnehin nie, bei seiner Entdeckung war George Everest bereits seit fünf Jahren ins heimische Britannien zurückgekehrt. Bekannt ist, dass er Waugh dankte und ihn seinerseits als großartigen Wissenschaftler rühmte und die Benennung des Berges nach ihm selbst gegenüber der Royal Geographic Society als »weit über seine Verdienste hinausgehend« bezeichnete.

Die von Waugh bei der »Entdeckung« ermittelte Höhe blieb lange Standard, so exakt war sie. Erst 1954 korrigierte eine bis nach Nepal vorgestoßene trigonometrische Expedition den Wert um genau acht Meter nach oben: auf 8 849 Meter. Seit 2020 geben Nepal und China dies als offizielle Höhe an.

3 Der Name

Chomolungma, Sagarmatha, Mount Everest – seit seiner Identifizierung als höchster Gipfel des Planeten wird über seinen Namen diskutiert. Bis heute äußern sich vor allem Kulturwissenschaftler und Linguisten, manchmal auch Einheimische und Historiker. Aber möglicherweise ist der Fall ganz klar. Wurde der Everest mit Absicht neu benannt – und sein alter Name verschwiegen?

Angeblich soll sich kein lokaler Name gefunden haben, als sich die Entdecker sicher waren, den höchsten Punkt der Erde gefunden zu haben. Angeblich soll auch schon George Everest selbst gefordert haben, alle Berge müssten den jeweiligen lokalen Namen tragen. Aber warum ist das nicht passiert? Es gab bereits einen.

Natürlich war das nicht der Name Devadhanga, den der britische Ethnologe und in Kathmandu residierende Diplomat Brian Hodgson, umgehend als – wenn auch nur vorläufige – nepalesische Bezeichnung vorschlug. Andrew Scott Waugh protestierte mit Erfolg gegen Hodg­sons Manöver, er berief ein Komitee ein, das befand, Devadhanga sei »inakzeptabel« und »unpräzise«. Die Bezeichnung entstamme zwar einer nepalesischen Legende, beziehe sich aber offenbar auf mehrere Gipfel.

Doch anders als im nepalesischen Kulturkreis gab es im tibetischen Kulturkreis durchaus Bezeichnungen für den Berg, die schon lange zuvor existierten. Deshalb wirft der schottische Autor William McKay Aitken den britischen Geodäten des Survey of India Unprofessionalität vor. Wie bereits der schwedische Entdecker Sven Hedin knapp hundert Jahre vor ihm weist McKay Aitken auf eine Karte des französischen Geographen Jean-Baptiste Bourguignon D’Anville von 1733 hin. Diese beruht wiederum auf einer 1717 vorgenommenen Kartierung der Everest-Region, die buddhistische Gelehrte auf Anordnung von Jesuiten in Peking vorgenommen hatten. Auf der französischen Version des asiatischen Atlas wurde der Gipfel als Tchoumou Lancma bezeichnet, die frankophone Version des tibetischen Namens Chomolungma – gängigerweise übersetzt als »Göttin Mutter der Welt«. So hieß er damals – und so heißt er noch heute.

Ignorierten die britischen Wissenschaftler das absichtlich oder war es ihnen entgangen? Zweiteres ist wohl kaum der Fall, denn auch die britischen Expeditionen zum Everest ab 1921 brachten klare Beweise für die weite Verbreitung des Namens Chomolungma in populären tibetisch-buddhistischen Beschreibungen. Tatsächlich hätten die Wissenschaftler, so Autor McKay Aitken, den Fakt nach dieser Erkenntnis eingeräumt, jetzt aber argumentierte, dass der lokale Name für das gesamte Everest-Gebiet – aber nicht für den Gipfel gelte.

Was aus der Ferne ein wenig wie geologische Haarspalterei klingt, betraf tatsächlich eine Reihe weiterer gewaltiger Bergspitzen, darunter den 8 516 Meter hohen Lhotse, der über den Südsattel mit dem Everest verbunden ist. McKay Aitken bat deshalb die Bibliothek der tibetischen Werke und Archive im nordindischen Dharamsala, wo die tibetische Exilregierung ihren Sitz hat, die Frage klären zu lassen, wofür Chomolungma im tibetischen Kontext steht.

Die Antwort war eindeutig. In allen älteren tibetischen Texten und historischen Dokumenten werde der den Westlern bekannte Everest zwar mit einem anderen Namen bezeichnet – als Gang Thong Thing Gyalmo – hieß es in dem Schreiben, »aberin der Bevölkerung allgemein ist der Berg vor allem unter dem Namen Gangri Jomolungmabekannt. Die ganze Gruppe von Graten, die den Berg Everest bilden, trägt den Namen Jomolungma, während der höchste Punkt (Everest), das heißt der obere Teil, Jomolangma genannt wird.« Dem lässt sich noch hinzufügen, dass das tibetische Wort Gangri schlicht für »Berg« steht – und Jomolangma natürlich eine Variante von Jomolungma ist.

Wo war also die Unklarheit? Man kann den britischen Geodäten vor diesem Hintergrund durchaus Absicht, zumindest aber Fahrlässigkeit vorwerfen. Der koloniale Name wurde offenbar aufgrund mangelnder weiterer Forschung vergeben. Aufrechterhalten wurde er laut Autor McKay Aitken von den Nachfolgern von Everest und Waugh, dem Namensgeber, dann von mehreren Beteiligten aufgrund fehlgeleiteter Loyalität gegenüber den Vorgesetzten – und um den eigenen Posten innerhalb der britischen Vermessungsbehörde nicht zu gefährden.

In Deutschland setzte sich zunächst ohnehin eine andere Namensgebung durch. Für eine Weile hieß der Gipfel dort Gaurishankar. Dahinter steckte eine nicht unerhebliche Abneigung gegen einen britischen Titel für den höchsten Berg der Welt. Aber ebenso eine schlichte Verwechslung. Dem aus München stammenden Naturforscher Hermann von Schlagintweit war es gelungen, 1855 nach Nepal zu reisen. Vom Kathmandutal aus erspähte er westlich des Everest-Massivs einen schneebedeckten Berg, der ihm – aus dieser Perspektive – so hoch vorkam, dass er sicher der größte Berg der Welt sein musste. Er fragte die Einheimischen, die ihn als Gaurishankar kannten. »Zugunsten des schönen alten Namens« wurde Gaurishankar bald in die deutschen Atlanten aufgenommen und die Schulkinder lernten fleißig, dass so die mächtigste Erhebung der Welt heiße. Obwohl auch dies ohnehin kein Name aus der tibetischen Sprachfamilie war – und somit kein wirklicher lokaler Name, denn es sind bis heute Tibeter und ein ursprünglich tibetischer Volksstamm, die Sherpas, die am Everest siedeln. Die deutsche Verwechslung mit einem anderen Himalaja-Gipfel wurde erst 1903 geklärt, man gestand ein, dass der Berg mit dem Namen Gaurishankar in Wahrheit 58 Kilometer vom Everest entfernt lag – und »nur« 7 145 Meter maß.

Die Herrscher jenes Landes, auf dem er immerhin zur Hälfte steht, regten sich in der Diskussion um seinen Namen erst, als der tibetische Titel Chomulungma schließlich öffentlich diskutiert wurde. Nun fand die Nepali sprechende Königsfamilie in Kathmandu ihrerseits den tibetischen Namen inakzeptabel. 1956 adaptierte die nepalesische Regierung stattdessen offiziell den nepalesischen Namen Sagarmatha, übersetzt als »der Kopf der Erde, der den Himmel berührt«. Doch der Ursprung dieses Namens liegt im Dunkeln.

Baburam Acharya, ein nepalesischer Historiker und Literaturwissenschaftler, schrieb Ende der 1930er einen Aufsatz, in dem er Einheimische im Everest-Gebiet zitierte, die den Gipfel nicht nur Jhomolongma nannten oder auch Jhyamolungma (beides vielleicht nur schriftliche Varianten von Jomolungma), sondern auch Sagarmatha. Acharya schilderte diesen Vorgang später so: »In der Karte von Nepal, die vom damaligen Survey of India Office veröffentlicht wurde, war der Name des höchsten Gipfels des Himalaja-Gebirges als Mount Everest geschrieben. In der zweiten Ausgabe der Karte hatte der Gipfel zwei Namen: Mount Everest und den tibetischen Namen Chomolongma, aber es gab keinen nepalesischen Namen. Um einen nepalesischen Namen, insbesondere für die Karte, bereitzustellen, wurde in der Sharada, einer nepalesischsprachigen Monatszeitschrift, mein investigativer Artikel mit dem Titel ›Sagarmatha oder Jhomolongma‹ veröffentlicht.«

Zunächst geriet Acharya damit allerdings zwischen die Fronten, das Königshaus in Kathmandu setzte ihn für seine Veröffentlichung unter Druck: »Mir wurde vorgeworfen, die Briten zu beleidigen, indem ich dem bereits nach ›unseren Freunden‹ benannten Gipfel einen nepalesischen Namen gab, und ich wurde für die Veröffentlichung des Artikel fast des Landes verwiesen.« Doch zwei Jahrzehnte später gab die nepalesische Regierung dem Namen die offizielle Anerkennung. Dass Acharya immer wieder so überdeutlich betonte, der Name sei keine Erfindung gewesen, macht ihn allerdings nicht unbedingt glaubwürdiger. In seinem Buch China, Tibet und Nepal, schreibt er: »Der Name Sagarmatha existierte bereits. Ich habe ihn nur entdeckt, es ist nicht so, dass ich den Berg auf einen neuen Namen getauft hätte.«

Was für die Monarchen in Kathmandu in den Dreißigern ein Problem war, wurde im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts auch für die Chinesen ein Thema. 1949 hatten sie in Tibet die Macht übernommen. Wie sollte nun der höchste Gipfel des Himalajas, der Tibet von Nepal trennte, heißen? 1952 wurde der Mount Everest auf chinesischen Karten sowie in Lehrbüchern und anderen Veröffentlichungen als Zhumulangma fengbezeichnet – eine chinesische Transkription des tibetischen Namens. Im Jahr 2002 startete China eine Kampagne, um den Westen davon abzuhalten, den höchsten Gipfel der Welt als Mount Everest zu bezeichnen, und stattdessen den offiziellen chinesischen Namen Mt. Qomolangma zu verwenden – auch das eine Variante des einheimischen Titels. Außerhalb Chinas hat er sich, wenig überraschend, allerdings nicht durchgesetzt.

Aber wie soll die höchste Erhebung des Planeten nun genannt werden? Der mittlerweile verstorbene Tibet-Forscher Andreas Gruschke meinte, dass Chomolungma der ursprüngliche Name sein dürfte. »Man muss doch eher von Tibet ausgehen. Die Sherpas sind ja relativ späte Einwanderer aus Osttibet und dürften nicht selbst dem Berg diesen Namen gegeben, sondern den lokalen tibetischen Namen übernommen haben. Von der tibetischen Seite her ist der Berg ja schon deutlich präsenter. Ich glaube schon, dass diese Bezeichnung das Anrecht hat, als der eigentlich Name des Berges zu gelten.«

McKay Aitken empfiehlt: »Für alle ernsthaften Studenten, Bewohner und Pilger war und ist der wahre Name des höchsten Gipfels im Himalaja »Die gütige Muttergöttin der Welt«, an die alle Gebete der Bergsteiger gerichtet sind, egal wie Chomolungma nun geschrieben wird.

4 Die Mythologie

Sie stehen am Fuß des Berges, im Basislager, und falten andächtig die Hände, Bergsteiger und Sherpas aus der Region. Ein Mönch aus Tengboche, dem Hauptkloster der Khumbu-Region, ist dabei. Wasser wird in die Luft gesprenkelt, Gerstenkörner. Der Mönch singt die heiligen Silben »Om mani padme hum«, die Bergsteiger und Sherpas neigen die Köpfe und stimmen andächtig ein.

Diese Szene ist ein Stereotyp, sie beschreibt den Beginn unzähliger Everest-Expeditionen. Und es ist den buddhistischen Geistlichen wie den westlichen Alpinisten nicht der Ernst abzusprechen, mit dem all das geschieht. Schon gar nicht den Sherpas, die dafür Sorge tragen, die Geister des höchsten Berges zu besänftigen. Die sich dafür verantwortlich fühlen, dass die westlichen Bergtouristen und Alpinisten ihn erklimmen. Doch es ist reichlich unklar, welche spirituelle Dimension dieser Berg tatsächlich eigentlich hat.

Von Norden, von Tibet aus betrachtet, ist die Sache noch ziemlich eindeutig. »Nach tibetischer Betrachtung ist der höchste Punkt der Erde Wohnsitz der Göttin Tashi Tsering-ma«, so Tibet-Forscher Andreas Gruschke. »Sie ist eine der fünf Schwestergöttinnen, von denen angenommen wird, dass sie auf der Bergkette südlich der tibetischen Provinzen Ü und Tsang thronen.«

Von Süden betrachtet, scheint die mythologische Bedeutung dagegen nicht so klar. Oder nicht so wichtig? Für die Sherpas, das Volk, das zu seinen Füßen lebt, ist die Bedeutung des welthöchsten Gipfels eher gering. »Wir verehren ja nicht den Everest, sondern den Khumbila, das ist der Berg der Menschen aus Khumbu«, sagt Buddhi Maya Sherpa, die Trekkingtouren in der Region anbietet. Der Khumbila, der »Gott von Khumbu«, überragt mit 5 761 Metern, vom Land der Sherpas aus gesehen, den Everest oder auch den Ama Dablam. »Und den höchsten Berg nennen wir auch nicht bei seinem tibetischen Namen, sondern meist einfach Everest.« Überdies verstehen viele Einheimischen nicht, was der Name Chomolungma überhaupt bedeutet. Sie wisse, dass die »offizielle« Übersetzung Göttin oder Mutter des Universums sei, sagt Maya Buddhi Sherpa. Aber wer das eigentlich ist, ist ihr unklar. »Da müsste ich mal einen alten Sherpa fragen.«

Es findet sich auch nicht viel Schriftliches zur Mythologie des Everest aus Sicht der Sherpas. Was heraussticht, ist eine Legende, die Helga Hengge, die erste deutsche Frau, die den Everest bestieg, in ihrem Buch Mount Everest – Only the Scy Above beschreibt. Im Rongbuk-Tal, so Hengge, zu Füßen des Everest, erzähle man sich, dass vor langer Zeit die Priester des Klosters unterhalb des Everest, die der vorbuddhistischen Bön-Religion anhingen, den buddhistischen Zauberer und Missionar Padmasambhava zu einem Wettrennen zum Gipfel herausgefordert hätten. Noch in der Nacht sei der Bön-Priester, auf seiner heiligen Trommel reitend, hinaufgestiegen. Seine Anhänger hätten Padmasambhava geweckt, er müsse aufstehen, der Konkurrent sei schon den halben Weg hinauf. Doch der Meister habe erwidert: »Habt keine Angst, sobald die ersten Sonnenstrahlen da sind, werde ich losziehen.« Und als die Sonne herauskam, habe ihn deren erster Strahl direkt und auf seinem Thron sitzend zum Gipfel getragen. Dort habe er eine Weile gehockt und auf die Welt hinabgeschaut. Als er hinabstieg, ließ er seinen Thron oben stehen. Der Bön-Priester sei derweil gestorben, doch die Geister des Berges hätten seine Trommel behalten. Jedes Mal, wenn jetzt eine Lawine abgehe, glaubten die Menschen nun zu hören, wie die Dämonen des Berges das Musikinstrument des Priesters schlagen.

Dass die Menschen in Khumbu ganz generell die Götter und Dämonen der Natur verehren, ist bekannt. Es gilt für den gesamten tibetischen Kulturkreis, in dem die alte Bön-Religion in den Buddhismus integriert wurde. Auf den Gipfeln hocken mächtige Wesen, die Natur ist belebt, auch heute noch, Jahrhunderte nach der Buddhisierung der Region durch indische Missionare. Die Sherpas wie auch die Tibeter verehren Berge, so wie sie Quellen und Bäume verehren.

Deshalb finden sich natürlich sogenannte Manimauern, aufgeschüttet aus Natursteinen, und eine Stupa am Fuße des Everest. Am Thokla-Pass, zwischen Dingboche und Lobuche gibt es außerdem eine Gedenkstätte für die Toten des Everest. Und allenthalben am Everest wehen vielfarbige Gebetsfahnen. Aber wo wehen sie nicht im Himalaja?

Vergleiche hinken immer – aber in Hinblick auf seine Heiligkeit, seine mythologische Bedeutung, kann der Everest es wohl kaum mit dem Berg Kailash in Zentraltibet oder mit dem Amnye Machen in Osttibet aufnehmen. Vermutlich eben nicht einmal mit dem Khumbila, der den Sherpas heilig ist. Es gilt, ähnlich wie in Hinsicht auf seine bergsteigerische Dimension: Eigentlich ist er nichts Besonderes – er ist eben nur der Größte.

5 Die Einheimischen

Eins, zwei, drei. Noch ein Schritt. Ich sehe die Zedern über mir, den blauen Himmel. Ich höre das Lachen der Sherpa-Jungs mit den kurzen Hosen und den 45-Kilo-Lasten, die sie nur mit einem Seil an der Stirn auf dem Rücken schleppen. Dann breche ich zusammen. Noch einmal blicke ich hinauf zu den schneebedeckten Bergen im Norden, dann sinke ich rücklings auf die braune Erde.

Wie sieht es zu Füßen des Everest aus, wer sind die Menschen, die am höchsten Berg der Welt leben und arbeiten? Um das herauszufinden, habe ich mich nach Khumbu aufgemacht, in die Region, in der dieses Volk – denn dafür steht der Name Sherpa eigentlich, der meist einfach als »Träger« missverstanden wird – siedelt.

An einem taufeuchten, leuchtenden Maimorgen bin ich in dem Ort Lukla gelandet, in einer kleinen Propellermaschine voller Reissäcke, Plastikbeuteln und auch Eierkartons, auf jenem Flughafen, der als einer gefährlichsten der Welt gilt, weil die Flieger steil zum Hang landen, gebremst durch die Steigung. Ich bin ein enges Tal hinauf durch nasses Gras marschiert, auf breiten Sandwegen und mit Steinplatten befestigten Passagen, durch kleine, mediterran wirkende Dörfer. Die Fenster der ein- und zweistöckigen Häuser waren mit Geranien in ausgedienten Konservendosen geschmückt, die rund geschnittenen, kleinen Terrassenfelder von hüfthohen Steinmauern begrenzt. Ein junger Maisbauer grüßte mich auf Deutsch und erzählte mir, dass er eine Zeit in Heidelberg gelebt habe. Auf halbem Weg machte ich eine Pause, um in einem kleinen Café Zweiminutennudeln zu futtern, und beobachtete, wie die Träger aus der Region an einer alten Raststation auf Bänken aus gewaltigen Granitklötzen ihre Lasten ablegten und Bidis rauchten: Säcke voller Getreide und Zucker, gebündeltes Baumaterial wie Rohre und Holzlatten. Maultierkarawanen zogen vorbei, Yak-Karawanen, die ganze Expeditionen zum Everest-Base-Camp oder zurück brachten. Ein einzelner Reiter stürmte auf einem Pferd ohne Sattel vorbei.