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Als Stuntman schreckt Jasper vor keiner noch so gefährlichen Szene zurück. Im Gegenteil: Je größer die Gefahr desto stärker treibt ihn das Adrenalin zu Höchstleistungen. Doch dann passiert es: ein unbekannter Anruf, ein Unfall, eine Frau im Koma und ein kleiner, auf sich allein gestellter Junge. Von einem Moment auf den anderen steht Jaspers Leben kopf.
Er kümmert sich um den Jungen, der in ihm Erinnerungen an seine eigene Kindheit wachruft. Als die Schwester des Jungen aus dem Koma erwacht, geraten Jaspers sonst so kühle Abgebrühtheit und seine Selbstbeherrschung vollends ins Wanken. Die geheimnisvolle Fremde entfacht ein leidenschaftliches Feuer in ihm, das sich nicht aufhalten lässt ...
Starke Charaktere, leidenschaftliche Hingabe und eine actionreiche Story: Lass dich fesseln vom zweiten Band der sexy Liebesroman-Reihe um die »Rebels«-Stuntcrew.
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Seitenzahl: 435
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Jasper steht als wagemutiger Stuntman für die Rebels Stuntcrew vor der Linse erfolgreicher Filmproduktionen. Kein Hadern, kein Zögern – er scheut keine brandgefährliche Szene. Im Gegenteil, das Adrenalin treibt den verschlossenen ehemaligen Boxer zu Höchstleistungen. Doch als er auf die geheimnisvolle Laila trifft, geraten seine kühle Abgebrühtheit und seine Selbstbeherrschung ins Wanken. Sie entflammt ein leidenschaftliches Feuer in ihm, das sich nicht aufhalten lässt …
L I S A M A R T E N
Tausend Volt reine Energie rauschte durch seine Adern und erschuf ein prickelndes Feuerwerk aus Adrenalin, das sich von der Scheitelspitze bis zu den Füßen zog.
»Eins, zwei …«
Die Faust des Ringrichters schlug auf den Beton. Wie in Zeitlupe zählte er hoch.
»… drei, vier …«
Jasper taxierte seinen auf dem Boden liegenden Gegner, während er ihn umkreiste. Schlagkraft, Wendigkeit – all das half nicht, wenn man seinen Gegner nicht kannte. Und so hatte er die ersten Schläge des Sturmangriffs eingesteckt, ausgehalten und dann den Schwachpunkt seines Gegners erkannt.
Dieser rappelte sich jedoch gerade unter den Jubelschreien der Zuschauer wieder auf. Angestachelt von der aufgeladenen Atmosphäre in der alten Fabrikhalle hob er schwankend die mit Tape umwickelten Fäuste. In einem regulären Boxkampf wäre schon längst Schluss gewesen, doch ein Underground-Fight wie dieser kannte kaum Regeln. Kein Wunder also, dass bloß Autoreifen den Ring begrenzten.
Für Jasper spielte das keine Rolle, er kannte jede Art von Kampf, ob im Ring oder auf der Straße. Hier und jetzt zählte einzig und allein sein Gegner. Locker tänzelte er ein paar Schritte vor, ehe seine rechte Faust nach vorne schnellte und auf die linken unteren Rippenbögen des anderen Kämpfers krachte. Einen Sekundenbruchteil später nutzte er mit der Linken die entstandene Lücke in der Deckung auf der rechten Seite und erzielte einen weiteren Treffer. Kaum war Jaspers Links-rechts-Kombination donnernd verhallt, taumelte sein Gegner, verdrehte die Augen und ging krachend zu Boden.
Im nächsten Moment spürte Jasper bereits die Hände der Zuschauer auf seinen Schultern, die ihm am nächsten standen. Sein Blick blieb auf dem roten Fleck haften, der sich auf dem Boden vor seinen Füßen ausbreitete. Das Kunstblut schimmerte und wirkte wie der einzige Farbfleck dieser trüben Szene.
»Cut!«, tönte es durch die stickige Halle.
Das Wort hallte in Jaspers Gedanken nach. Für einen Augenblick musste er sich sammeln, um aus dem Fieber dieser Actionszene zu finden. Der Regisseur hatte Stuntmen engagiert, die Boxerfahrung hatten und die sich bereit zeigten, so realistisch wie möglich abzuliefern. Und genau das hatte er getan. Boxen war sein Ding, eine Kombination aus Strategie und Kraft. Man brauchte keine Worte für einen guten Fight. Der Körper sprach für sich. Dafür brannte Jasper. Alles geben, um mit dem Stunt die perfekte Illusion zu liefern.
Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn und nickte seinem vermeintlich k. o. gegangenen Gegner zu, dann bahnte er sich einen Weg durch unzählige Statisten und Crewmitglieder zu seinem Seesack, den er an der schweren Eisentür des Studios abgestellt hatte.
Dort zog er ein graues Badehandtuch aus seinem Seesack und trocknete sich ab. Die erste Bestandsaufnahme zeigte nur kleinere Blessuren. Durch Risse in seinen Fingerknöcheln drang Blut, und unter seiner pulsierenden Nase spürte er die Feuchtigkeit ebenfalls. Kurz darauf tropfte es rot auf den Betonboden. Er lehnte die Stirn an die Wand und presste einen Zipfel des Handtuchs an seine triefende Nase. Die Farbkapsel in seiner Handfläche war geplatzt. Dadurch die blutige Nase seines Gegners. Trotzdem mischte sich in einen perfekten Stunt immer eine Prise Realität. Die ganze Szene – der Fight – war nicht ausgeartet, aber tief gegangen. Er liebte diesen Job mit jeder Faser, und wenn man fighten sollte, musste man liefern. Da gab es keine Befindlichkeiten. Die Schläge, die Manöver, selbst manche Schrittfolgen standen genauso im Drehbuch. Wenn man sich verletzte, konnte man abbrechen, oder man wog ab, wie viel noch ging. Und bei den Rebels – die Stunt Crew, die er auch seine Familie nennen konnte – ging meist sehr viel, denn alle Mitglieder brannten für ihren Job.
Inzwischen gab es die Rebels Stunt Crew seit fünf Jahren, und Jasper war mehr als froh, dass ihn Sam nach der Gründung sofort mit ins Boot geholt hatte. Der ehemalige Action-Snowboarder hatte damals etwas in ihm gesehen, auch wenn er nur als Roadie gearbeitet hatte, und ihn zu einer Pyro- und Freifallausbildung überredet. Vorfinanziert von den Rebels und unter der Bedingung, dass Jasper mit einstieg. Für ihn war das mehr als ein Angebot gewesen. Mehr ein Traum oder eine Chance, die er genutzt hatte. Abbezahlt hatte er die Schulden durch die Jobs längst, und er war stolz darauf, zu einer der besten Crews zu gehören. Die Rebels lieferten ab – professionell, wagemutig, aber sicher.
Jasper löste sich von der Wand und blickte zur Filmcrew, die die entstandenen Aufnahmen vor dem Preview-Monitor feierte. Aus der Ferne erkannte er schemenhaft, wie sich die beiden Boxer im Ring annäherten. Über dem Bild lief ein Timecode, der es ermöglichte, den externen Ton später synchron anzulegen. Problematisch würde es nur werden, wenn der Take noch mal so wiederholt werden musste. Denn trotz guter Maskenbildnerin würde man die Schwellungen in seinem Gesicht erkennen.
»Fantastisch, echt!« Der Aufnahmeleiter kam auf ihn zu und hob die Hand, damit Jasper einschlug. »Geht’s?«, fragte er, auf Jaspers Gesicht deutend.
Er nickte.
»Szene im Kasten. Geil. Das sieht so verdammt real aus. In dreißig Minuten geht’s am Studio drei weiter.« Der Typ klopfte ihm zweimal auf die Schulter.
Jasper machte ein zustimmendes Geräusch und beobachtete, wie der Aufnahmeleiter sich umdrehte und zur Crew zurückging. Dass er gleich im nächsten Studio gebraucht wurde, hatte er bereits gewusst, schließlich drehten sie nicht in der korrekten Szenenreihenfolge, sondern nach Skript und Aufwand. Erst später im Schnitt wurden die Takes korrekt montiert. Die folgende Brand-Szene, die jetzt im Studio drei folgte, würde erst in der sechsten Folge ausgestrahlt werden. Damit hatte die Continuity zu tun, die darauf zu achten hatte, dass auch später noch alle Klamotten und Details stimmig waren. Selbst wenn die Dreharbeiten zerstückelt stattfanden.
Zumindest lagen die heutigen Drehorte nicht allzu weit voneinander entfernt, und Jasper nutzte den Moment, um die nass geschwitzte Trainingshose auszuziehen und die Boxershorts darunter zu wechseln. Ob jemand dabei einen Blick auf seinen nackten Hintern warf, juckte ihn nicht. Als er wieder in trockenen Sachen steckte, schlüpfte er in den schwarzen, weiten Parka, weil der nicht mehr in den Sack passte, und zog die Mütze über die schweißnassen Haare.
Schnell warf er noch einen letzten Blick auf die Boxkulisse, die sich langsam immer mehr auflöste, und verließ dann das Studio. Draußen wurde er direkt von grellen Sonnenstrahlen begrüßt. Die Crew hatte den Drehbeginn auf sieben Uhr gelegt. Es kam selten vor, dass er in seinem Job so früh fit sein musste. Andererseits stand er sowieso jeden Morgen um fünf Uhr auf und ging trainieren. Für ihn stellte es keinen Unterschied dar, und in einem Studio wie diesem hier in Babelsberg konnte man die Nacht zum Tage machen und umgekehrt. Berlin Babelsberg wirkte wie eine eigene kleine Stadt der Illusion. Studio reihte sich an Studio. Kulissenbauten neben Sets von Soap-Operas. Die Schilder zur Kantine wirkten dagegen fast fehl am Platz.
Zielstrebig schritt Jasper zu seinem abgestellten Rad und steuerte damit das Studio drei an. Wenn er nicht an Technik, Kostüm oder andere Requisiten gebunden war, bevorzugte er diese Art der Fortbewegung. In Babelsberg bot sich das sogar an, weil er dann viel schneller von Drehort zu Drehort kam.
Wenige Minuten später lehnte Jasper sein Rad an die Pforte von Studio drei und grüßte die Crew dort knapp. Innerlich war er bereits völlig auf den nächsten Stunt fokussiert, und so dauerte es auch keine halbe Stunde, bis Jasper über und über mit Stunt-Gel eingekleistert als brennende Fackel aus der lodernden Hauskulisse stolperte. Er doubelte einen Feuerwehrmann, der nur knapp einem gefährlichen Brandherd entkommen konnte. Die feuerfesten Klamotten, das Gel und eine spezielle Haube schützten seine Haut. Trotzdem drang die sengende Hitze durch jede Ritze des Stoffes.
Schwarze Rauchschwaden quollen wie undurchdringliche Wolkenberge auf. Das Feuer nahm einem den letzten Atemhauch und fraß restlos alles; jedes Molekül Sauerstoff in seiner Nähe verpuffte in Millisekunden. Aber er musste Ruhe bewahren, denn die Schwierigkeit bei Brand- oder pyrotechnisch herausfordernden Szenen war nicht das Element Feuer. Der Mensch stellte die Schwachstelle dar. Da konnte man so viele erfahrene Stuntleute finden, wie man wollte. Die Beklemmung durch die alles fressende, sengende Hitze, die bei Bränden entstand, konnte nur schwer kontrolliert werden. Unberechenbar, was geschah, wenn ein Funken Panik übersprang und bei gestandenen Crewmitgliedern Todesangst ausbrach. Jeder alte Hase konnte austicken, sobald es um Feuer oder Wasser ging. Es war die Auseinandersetzung mit einer Urkraft, einem unbesiegbaren Element. Der absolute Kontrollverlust.
Jasper war jedoch weit davon entfernt, in Panik zu verfallen. Stattdessen warf er sich nach ein paar Schritten kontrolliert auf den Boden und wälzte sich auf dem Beton der Kulissen-Straße hin und her. Er hielt sich exakt an den geprobten Ablauf. Um ihn zischte und tobte es. Die Gluthitze leckte an seiner Haut, aber sie war aushaltbar. Schließlich lag ihm Feuer auch. Bei Wasser sah das anders aus. Maria, das dritte feste Crewmitglied der Rebels, konnte sich in einem Auto versenken lassen – dafür hatte sie seinen vollen Respekt. Eingeklemmt in einer Blechbüchse unterzugehen, erschien ihm wie begraben zu werden. In Flammen zu stehen kam ihm leichter vor.
Die Hitze schoss wie unzählige kleine scharfe Pfeilspitzen durch seine Haut. Doch im nächsten Moment begann die Crew mit dem Löschen. Weiße Fetzen des Löschpulvers mischten sich mit dem Qualm, bevor sich der feine Nebel Sprühschaum um ihn ausbreitete.
Währenddessen schlug Jaspers Puls regelmäßig wie der Takt eines Metronoms – langsam und stoisch. Das lag an dem intensiven Training, hatte ihm mal ein Arzt erklärt. Nicht am Boxen, sondern an den Ausdauersportarten wie Laufen und Schwimmen. Körperliche Anpassung an die Dauerbelastung. Das Resultat war ein vergrößertes Herzvolumen. Ein perfekt durchbluteter Muskel, der in ruhigen Momenten stark herunterfuhr und quasi selten schlug. Der Gedanke kam ihm abstrus vor. Er sollte ein großes Herz besitzen. Er, der mit dem Großteil der Menschen nichts anfangen konnte.
Wenigstens am Set konnte er diese Facette seines Wesens mit Professionalität und Abgebrühtheit kaschieren.
Nach der Brand-Szene zog er die qualmdurchtränkten, nassen Schutzklamotten aus und rubbelte provisorisch mit einem Handtuch den groben Schmutz und Schweiß ab. Duschen würde er später bei den Rebels. Jetzt musste er nur warten, bis er das Go für den Feierabend bekam. Er setzte sich auf die Treppenstufen des Studios, seine Jacke um die Schultern gelegt, und wollte gerade etwas Wasser trinken, als sein Smartphone klingelte.
»Sam?«, fragte er, als er es fahrig aus der Jackentasche gefischt hatte. Doch statt einer Begrüßung seines Freundes klang ein unsicheres »O Mist« aus dem Hörer.
Auf dem Display leuchtete eine ihm unbekannte Mobilnummer. Er nahm das Smartphone wieder ans Ohr und lauschte dem unsicheren »Hallo« der Kinderstimme.
Unter seiner Jacke sammelte sich Schweiß. Er hatte Sam erwartet und nicht die Stimme eines kleinen Jungen. Wen zur Hölle hatte er da am Telefon?
Aus dem Hörer dröhnte ein Hupen, das abrupt in ein kreischendes Blechdonnern überging. Ein dumpfes Rumpeln verhallte gespenstisch. Eine Geräuschkulisse wie aus einem Actionfilm, schoss Jasper in den Sinn.
Sekundenlang Stille. Nur eine immer schneller werdende Atemfrequenz war zu hören.
Das anschließende leise Schluchzen jagte ihm einen Schauder über das Rückgrat. Ein Wispern drang durch den Hörer. Eine fremde Sprache. Es klang melodisch, vielleicht arabisch. Dann folgte ein zermürbend klägliches Wimmern.
Verflucht.
Jasper warf die Jacke von den Schultern, stand auf und ignorierte das aufkeimende Gezeter des Aufnahmeassistenten. Was er hier hörte, wirkte nicht wie ein scheiß Witz. »Hey, bist du noch da?«, hakte er nach. »Woher hast du diese Nummer?« Kein verdammter Stunt, so riskant er auch sein mochte, konnte ihn aus der Ruhe bringen. Dafür ließ diese zitternde Kinderstimme am Telefon sein Blut in den Adern gefrieren.
»Ich …« Der Junge brach ab, dafür wurde die Geräuschkulisse immer lauter. Stimmengemurmel, Straßenlärm, eine Sirene.
»Sprich weiter!« Jasper fluchte innerlich, weil er so streng und hart klang. Ganz im Gegensatz zu diesem verlorenen Zittern der Kinderstimme. In seinem Kopf formte sich ein Bild aus den Geräuschfetzen. Da musste was verdammt Schlimmes geschehen sein.
»Ich weiß nicht, was passiert ist«, schluchzte der Junge. »Da war ein Auto, ich bin hingefallen. Jetzt liegt sie auf der Straße und bewegt sich nicht.«
Fuck! Jaspers innere Alarmsirenen hatten schon geschrillt, als er dieses Poltern und das Gehupe gehört hatte. Keine Ahnung, wie alt der Junge war, doch der Kleine musste Zeuge einer furchtbaren Szene geworden sein.
»Sie bewegt sich nicht«, wimmerte er.
Dieser Satz ließ Jasper das Blut in den Adern gefrieren. Diese hemmungslose Machtlosigkeit. Blanke Verzweiflung, als wäre er verlassen worden. Verloren.
Ein Gefühl, das Jasper kannte.
»Atme!« Jasper folgte seinem Bauchgefühl. »Langsam. Alles kommt in Ordnung.« Der Kleine stand unter Schock. Jemand, offensichtlich eine Frau, die ihm nahestand, lag regungslos da. Er war allein.
»Meine Hose ist nass«, wimmerte der Kleine.
Jasper klopfte sich mit den Fingerknöcheln der Faust an die Stirn. »Wie heißt du, Kleiner?«
Eine kurze Pause, in der das Stimmengemurmel im Hintergrund zunahm.
»Karim«, schluchzte der Kleine.
»Okay, Karim.« Jasper versuchte, seine Stimme weich und einfühlsam klingen zu lassen. »Hör mal, Karim. Das ist wie ein Fight, okay?«
»Ein was?«
»Ein Boxkampf. Du musst bei dir bleiben. Wenn du jetzt aus dem Takt gerätst, gehst du zu Boden.«
Scheiße, er redete wirres Zeug, und das mit einem traumatisierten Kind. Verzweifelt suchte Jasper in seiner Erinnerung nach Fetzen, die ihm geholfen hatten.
Karim murmelte zustimmend und unterdrückte sein Schluchzen.
»Atme«, wiederholte Jasper stoisch. Es klang wie eine lächerliche Ansage, doch der Junge war nicht bei sich. Vermutlich stand er starr da und beobachtete alles wie aus einer Blase heraus. Gefangen und angreifbar.
Zu seiner Verwunderung hörte Jasper, wie Karim tief Luft holte und der Atem zitternd aus seiner Lunge strömte.
»Du schaffst das, okay? Ist ein Krankenwagen da?«, fragte Jasper.
Karim bejahte.
»Siehst du Polizisten?«
Wieder tönte ein zitterndes »Ja« aus dem Smartphone.
»Geh dahin, sie helfen dir«, wies Jasper den Kleinen an.
»Nein«, folgte die hastige Antwort.
Aus den Augenwinkeln nahm Jasper wahr, dass der Aufnahmeassistent wild mit den Händen wedelte, bis er ihm seine Aufmerksamkeit schenkte. Der Typ deutete auf seine Armbanduhr und warf die Hände theatralisch in die Luft.
»Der Polizist ist der Schiedsrichter, okay?« Jasper versuchte, seine Stimme weiter ruhig klingen zu lassen, obwohl er kurz davorstand, den Assi zusammenzustauchen. Keine Ahnung, ob Karim Schuldgefühle hatte oder ob da was anderes lauerte, weshalb er nicht mit der Polizei sprechen wollte.
Verunsichert murmelte Karim etwas Unverständliches.
»Du atmest jetzt tief durch, und dann gehst du zu einem Polizisten. Die werden dir helfen.«
»Du hilfst mir.« Die zitternde Stimme des Jungen drang wie ein leiser, hoffnungsloser Windhauch zu ihm durch.
Jasper stand wie angewurzelt da. Erschüttert von diesem bedingungslosen Satz. Er konnte sich nicht erinnern, wann jemand so etwas schon mal zu ihm gesagt hatte. Zumal er den Jungen überhaupt nicht kannte.
»Geh zu einem der Polizisten«, wiederholte er stoisch.
Karims Atemfrequenz wurde schneller, er setzte sich in Bewegung. Zumindest hörte sich die Geräuschkulisse danach an.
»Ich darf das nicht.« Karims Stimme bebte.
»Da, der kleine Junge war bei der Frau«, drang eine fremde weibliche Stimme durch den Hörer.
Kurze Schnapp-Atemfetzen und wieder dieses Flüstern in dem melodischen Slang, der orientalisch klang. Der Junge schien hin- und hergerissen. Vermutlich handelte es sich bei der verunfallten Frau um seine Mutter. Und die beiden hatten Dreck am Stecken. Zumindest hatte ihm jemand eingeimpft, sich nicht an die Polizei zu wenden.
Was hast du erlebt, Kleiner?
Jasper spürte seinen Puls überdeutlich. Jeder Schlag dröhnte nahezu durch seinen Brustkorb. Die Geschichte machte etwas mit ihm. Sie erinnerte ihn daran, wie es war, mutterseelenallein zu sein.
Du hilfst mir doch.
Verdammt!
»Hör mal, Karim. Mein Name ist Jasper. Okay?« Er musste den Kleinen irgendwie erreichen und dafür sorgen, dass er in Sicherheit kam. »Wie alt bist du?«
»Sechs«, kroch ein zögerliches Wispern durch den Hörer.
»Mit sechs Jahren passiert dir nichts, die Polizei kann dir gar nichts, aber du bist ein wichtiger Zeuge, und du kannst vielleicht im Krankenwagen mitfahren.«
»Sie machen da irgendwas mit ihr.« Die Verzweiflung ließ ihn die Worte abgehackt und hastig hervorstoßen. »Und jetzt kommt da ein Mann zu mir.«
»Karim, sie können dir gar nichts. Schau, dass du dich ruhig verhältst, und frage, ob du im Krankenwagen mitfahren darfst«, sagte Jasper.
»Aber sie werden mich ihr wegnehmen!«, wimmerte er.
»Du schaffst das, Karim«, sagte Jasper mit fester Stimme.
»Hey«, der Aufnahmeassistent stand mit nach oben gestreckten Händen neben ihm und starrte ihn herausfordernd an. »Wir warten«, erklärte er hektisch.
Jasper wollte nicht unprofessionell sein, aber das hier war ein Notfall. Und der Kerl war ihm momentan vollkommen egal.
Er nahm das Telefon kurz vom Ohr und zog die Augenbrauen zusammen. »Genauso ist es. Du wartest jetzt, bis ich fertig bin!«
Kurz bebte die Miene des Assis, als würde er abwägen, wie weit er gehen konnte.
Ein eiskalter Blick von Jasper genügte, und der Typ zog ab.
Er nahm das Telefon wieder ans Ohr. »Hey, Kleiner!« Angespannt wartete er auf ein zustimmendes leises Geräusch.
»Niemand kann dich ihr wegnehmen, Karim.« Der Junge konnte jetzt keine realistische Einschätzung gebrauchen. Und die konnte er ihm auch nicht geben. »Egal, was geschehen ist … dieser Unfall überschattet erst mal alles, und du musst in den Krankenwagen kommen.«
Plötzlich schoss ihm in den Sinn, dass es sehr wohl sein könnte, dass Karims Mutter den Unfall nicht überlebt hatte.
»Kann ich zu ihr?«, hörte er Karim sagen.
Ein Mann, vermutlich ein Polizist, fragte drauflos. Wie er heiße? Wer die Frau sei?
Viel zu viel, viel zu hastig. Verdammt! Jasper war weder Psychologe noch ein besonders guter Menschenkenner, doch die Stakkato-Fragen brachten Karim nur mehr aus der Fassung.
»Bleib ruhig und sag ihm einfach, dass du zu ihr gehörst und dass du wissen musst, wie es ihr geht«, soufflierte Jasper.
Ein zustimmendes Murmeln folgte.
»Ist da jemand am Telefon?«, fragte der Mann.
Rascheln, dann meldete sich die Stimme am Telefon: »Peter Scheuer, Ersthelfer der Unfallrettung St. Joseph. Mit wem spreche ich bitte?«
Jasper nahm das Smartphone vom Ohr und legte auf.
»Na endlich.« Der Assistent vom Set machte eine wegwerfende Handbewegung.
Jasper fühlte sich orientierungslos wie im Nebel. Als hätte er vor Sekunden noch einen Blick in eine andere Welt geworfen, die dann vor seinen Augen zu Staub zerstoben war.
Du schaffst das, Kleiner.
Das Rattern des Wäschewagens zerrte an ihren Nerven. Jeder Raumwechsel stellte eine Herausforderung dar. Nicht wegen der Arbeit, die sie so akkurat und zügig wie möglich erledigte. Sondern wegen der kleinen Raupe, die sie da im Wäschewagen versteckt vor sich herschob.
»Wusstest du …«, drang es flüsternd unter dem hellen Berg Leinentücher hervor.
Laila machte ein zischendes Geräusch durch die angespannten Lippen, bevor sie sich zu allen Seiten umblickte. Kein Mensch befand sich auf dem Hotelflur, trotzdem beeilte sie sich, an die nächste Tür zu klopfen. Der Gast sollte längst ausgecheckt haben, doch die Regeln des Hauses schrieben vor, dass man stets vorsichtig sein musste.
Keine Antwort. Erleichtert schob sie die Chipkarte in das Lesegerät, wartete auf das Piepen und öffnete die Tür. Wie schon so oft stemmte sie sich gegen den Wagen vor ihr und bugsierte ihn rumpelnd über die Schwelle. Im Zimmer lehnte sie sich gegen die Wand und zog das oberste Leinentuch vom Wäschesack.
»Ich wollte nur sagen, ich finde, dass Watson besser ist. Eigentlich ist er der Detektiv.« Karim kletterte gekonnt aus dem Wäschewagen und begann sich im Zimmer umzusehen.
»Mann, Raupe!«, seufzte Laila streng. »So läuft das nicht. Es heißt Abmachung, damit sich beide daran halten, okay?«
Schuldbewusst ließ Karim den Kopf sinken. »Ja.«
Laila atmete tief durch. Ihr Ton gefiel ihr selbst nicht. »Komm schon. Es sind noch drei Zimmer, wäre doch gelacht, wenn wir die nicht auch schaffen.« Sie zog seinen dunklen Wuschelkopf an ihren Bauch und drückte ihm einen Kuss auf. Dann ging sie zum bodentiefen Fenster und öffnete den oberen Teil, um zu lüften.
Je schneller sie mit der Arbeit fertig wurde, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Ramona in der Küche noch nicht zu beschäftigt war und ein paar Minuten Zeit hatte.
»Ich finde, dass Sherlock die Fälle allein nie gelöst hätte«, führte Karim seine Brandrede in Sachen Detektiv-Gerechtigkeit fort.
»Ich hätte dich Quasselstrippe nennen sollen«, seufzte sie und sammelte die teilweise nassen Handtücher von den Fliesen des schmalen Badezimmers auf. Karim redete quasi ununterbrochen. Und in letzter Zeit lag sein Augenmerk auf Dr. Watson und Sherlock Holmes. Und wenn er mal nicht darüber sprach, versuchte er, die alten Detektivgeschichten in Form der zerfledderten Heftchen zu entziffern, die sie aus einem »Zu verschenken«-Karton von der Straße mitgenommen hatten.
»Quasselstrippe, komisches Wort.« Kopfschüttelnd, die Hände in die Seiten gestemmt, funkelte Karim sie an.
Laila musste schmunzeln. Der Kleine hatte manchmal Anwandlungen, sich wie ein cooler Draufgänger zu artikulieren, was bei einem nicht mal Siebenjährigen irre komisch wirkte. »Raupe …«
Prompt presste er die Lippen zusammen und stieß die Luft durch den schmalen Spalt. Was ein abschätziges Zischen werden sollte, klang wie ein fehlgeleiteter Pups und steigerte ihr Grinsen nur mehr. Auch wenn Karim das Kosewort nicht immer gern hörte, so war es doch ein Rudiment ihrer Geschichte. Ein schönes, warmes Kosewort, das so gar nichts mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte. Es stand dafür, dass er sich entpuppen und davonfliegen konnte – irgendwann. Karim war ihre kleine Raupe, noch unfertig und winzig. Trotzdem hatte er schon mehr erlebt, als es für ein Kind gesund sein konnte.
»Hier.« Sie warf ihm zwei der abgepackten Kekse zu, die unangetastet auf dem Tischchen im Zimmer lagen. Wenn man Glück hatte, sah der Raum fast unbenutzt aus. Meistens hinterließen Geschäftsreisende alles sauber. Manchmal fand man die kleinen Geschenke des Hotels noch verschlossen vor. Kekse, Teebeutel, kleine Seifen und besonders wertvoll: die kleinen Nähsets, mit denen Laila Klamotten flicken konnte.
Gierig riss Karim die Verpackungen auf und stopfte sich beide Karamell-Kekse gleichzeitig in den Mund, bis seine Wangen so aufgebläht aussahen wie die eines Eichhörnchens, das Nüsse hortete.
Laila unterdrückte ein weiteres Grinsen und widmete sich dem Bett. Nachdem sie neue Wäsche aufgezogen hatte, richtete sie Decke und Kissen akkurat her. So, wie ihre Vorgesetzte es ihr vor zwei Wochen gezeigt hatte. Vierhundertfünfzig Euro bekam sie für diesen Minijob. Und sie hatte nicht vor, sich Fehler zu erlauben. Denn sie hatte weder Referenzen noch alle Papiere, die man normalerweise benötigte, wenn man arbeiten wollte. Bei ihrer Bewerbung hatte sie eine frei erfundene Adresse angegeben, denn eine Meldebescheinigung besaß sie nicht.
Zumindest hatten sie ein Dach über dem Kopf. Seit ihrer Ankunft in Berlin vor fast einem Monat wohnten sie in einem kleinen Zimmer der Bahnhofsmission in der Franklinstraße. Peter, der Leiter der Einrichtung, hatte sie aufgenommen, ohne viele Fragen zu stellen.
Damals hatte sie die Größe der Stadt fast erschlagen. Auf den zweiten Blick war der Gedanke aufgetaucht, dass man hier untergehen konnte. In dieser Masse an Menschen wurden sie unsichtbar, und genau das war gut. Außerdem brauchten sie Geld und ein wenig Zeit, um durchzuatmen. Und so waren sie bei Peter gelandet.
Dieser war es auch gewesen, der sie an die Adresse des Hotels T. Comfort in Mitte verwiesen hatte. Er kannte den Hotelleiter und hatte ein gutes Wort für sie eingelegt. Außerdem hatte er ihr mit Klamotten für das Vorstellungsgespräch ausgeholfen. Bei ihrer Bewerbung hatte sie dem Hotelier auch erklärt, dass sie momentan kein Konto besaß, und ihn darum gebeten, das Gehalt bar zu erhalten. Dank ihres arabisch-deutschen Passes hatte er diese Lüge geschluckt. Das empfangene Gehalt musste sie zwar mit einer Bestätigung quittieren, doch diese Unterschrift war ihr lieber, als ihre Daten bei einer Bank anzugeben. Und obwohl sie die Bürokratie heillos überfordert hatte, als sie nach Berlin gekommen waren, verstand sie mittlerweile, wie man die Systeme umgehen konnte. Ein Pass und eine Adresse zählten – mit einem Minijob brauchte man keine Steuererklärung oder andere Dinge. Das alles stellte Herausforderungen dar, mit denen sie kaum gerechnet hatte. Doch sie gaukelte sich in guten Momenten vor, dass sie zumindest einen Anfang gemacht hatte. Sie hatte eine Chance bekommen.
Die Tatsache, dass die kleine Raupe in einem Monat eingeschult werden musste, schob sie weg. Trotzdem: Dass sie dem kleinen Jungen, der ihr so viel bedeutete, nicht mehr bieten konnte als ein Stockbett und die vage Idee einer Zukunft, machte sie fertig. Doch es gab keine freie Alternative. Zumindest nicht für sie, und Karim hatte viele schlimme Dinge angedroht, falls sie ohne ihn gegangen wäre. Und irgendwie würde sie eine Lösung finden.
Das hier war nicht mehr als ein Boxenstopp, eine notwendige Pause auf ihrer Reise, um an etwas Geld zu kommen und Kraft zu tanken. Und bislang standen ihre Chancen gut, nie wieder nach Frankfurt zurückkehren zu müssen.
Laila schüttelte den Gedanken ab und widmete sich ihren restlichen Aufgaben. Sie wischte Staub und lauschte Karims Ausführungen über Conan Doyles Der Hund von Baskerville.
»Wann gehen wir?«, nölte Karim irgendwann.
Sie konnte es ihm nicht verdenken. Sich den Schweiß von der Stirn wischend seufzte sie. »Noch zwei Zimmer, dann sind wir durch, okay? Und du musst mir dringend diese Sache mit dem Stiefel erklären.«
Sofort leuchteten seine blauen Augen auf, obwohl sie Richtung Wäschewagen nickte, um anzudeuten, dass er wieder einsteigen musste.
»Na, ist doch klar!« Er kletterte hinein und kauerte sich auf dem Wäscheberg zusammen. »Den Stiefel brauchten sie, um den Hund auf die Fährte zu bringen. Wegen dem Geruch«, erklärte Karim langsam und deutlich, als wäre sie schwer von Begriff.
Sie nickte, bevor sie ein Laken über ihn legte und ein zischendes Geräusch machte. Prompt wurde er still, und sie beeilte sich, die letzten Zimmer fertig zu machen. Am Ende ihrer Schicht fuhren sie schließlich mit dem Fahrstuhl in die erste Etage zum Restaurant.
»Na, ist mein kleiner Neffe wieder zu Besuch?«, witzelte die Köchin Ramona, als Laila vorsichtig durch den Türspalt linste. Falls jemand Fragen stellte, tat Ramona so, als wäre Karim ihr Neffe. Da sie eine angesehene Kollegin war, die schon seit über zehn Jahren für das Hotel kochte, konnte sie es sich eher leisten, ein Familienmitglied mit zur Arbeit zu bringen. Diese Notlüge hatte sie Laila angeboten. Ramona war sicher schon Mitte fünfzig, doch diese Tatsache allein machte die mütterliche Attitüde, die sie ausstrahlte, nicht aus. Zwischen ihnen hatte es von Anfang an diese innige Wärme gegeben.
»Na, kommt schon rein«, flüsterte Ramona verschwörerisch grinsend.
Lächelnd steckte Karim seinen Wuschelkopf aus der Wäsche und schnupperte, ehe er so hastig aus dem Wagen stieg, dass er sich fast mit den Füßen in den Laken verhedderte.
»Buletten«, verriet Ramona, während sie mit ihrer großen Hand ausholte, Karim an sich zog und ihm einen Kuss auf den Kopf drückte. Ramona war höchstens eins sechzig. Die dichten schwarzen Locken hatte sie zu einem Zopf gebunden, über der karierten Kochhose trug sie eine Schürze, deren Oberteil über ihrer großen Oberweite spannte. Alles an ihr schien weich. Karim versank quasi in ihrer Umarmung. »Setzt euch, heute sind wir nur zu viert in der Küche.«
»Ich bin gleich zurück«, sagte Laila und machte sich mit dem nun um einiges leichter zu schiebenden Wagen auf den Weg in den Keller. Dort schleuderten bereits zwei Waschmaschinen. Sie stellte den neuen Berg Schmutzsachen neben den anderen vollen Wagen ab und lehnte sich an die kühle Betonwand. Sie atmete tief durch und schloss die Augen. Manchmal schoss ihr Puls so hoch, dass sie Angst hatte, niemals mehr aus diesem Zustand herauszukommen. Sie hatte die Zukunft genullt – so nannte sie es im Geist. Was nun kam, wusste sie nicht. Das hier war ein Anfang, ein Zurück stand nicht zur Debatte. Sie musste ruhig bleiben und sich um Karim kümmern. Entschlossen drückte sie die Schultern durch, fuhr wieder nach oben und ging zur Küche zurück. Karim saß bereits am schmalen Küchentisch in der Nische der Hotelküche. Alles hier erstrahlte im Industriesilber, war sauber und ordentlich sortiert. Der kleine weiße Tisch bildete mit der bunten Wachstischdecke voller Blumen den einzigen Farbtupfer. Dort nahm Laila Karim gegenüber Platz, schlüpfte aus den dunklen Ballerina-Schuhen und massierte ihre Waden.
Ramona hatte sie erwischt, schon am zweiten Tag. Weil Laila in Hektik verfallen war, als sich die Tür des Diensteingangs nicht öffnen ließ und Karim neben ihr gewartet hatte. Ramona jedoch hatte kein Wort darüber verloren. Und es auch nicht gemeldet, dass Laila den Kleinen mit zur Arbeit nahm. Mehr noch, seit dem Tag versorgte sie die beiden abends regelmäßig mit Essen. Manchmal kam eine vorsichtige Frage nach ihrer Herkunft, doch sobald Laila ins Stocken kam, brach Ramona ab.
Laila hatte das Lügen mittlerweile verinnerlicht, aber bei Ramona haderte sie. Die Köchin besaß feine Antennen. Sie war mitfühlend und liebenswert. Außerdem hatte sie von Anfang an einen Draht zu Karim gehabt. Der Kleine ließ normalerweise niemanden wirklich an sich heran. Er war vorsichtig und misstrauisch geworden, was Laila schmerzte. Denn daran trug sie die Schuld. Aus Angst, man könnte ihre Spuren nach Berlin verfolgen, sagte sie ihm immer wieder, dass er mit niemandem sprechen sollte.
In diesem Moment rief Ramona dem Küchengehilfen, der ihr in der Küche zuarbeiten sollte, forsch zu, dass sie keine faulen Säcke in ihrer Schicht duldete. Ihr Regiment wirkte streng, doch wenn jemand wirklich wollte und Potenzial hatte, konnte aus ihr die beste Fürsprecherin werden, die man sich vorstellen konnte. Ihr gutes Herz sprengte alle Angst, die Laila in sich verspürt hatte. Die Küche im Hotel blieb dank Ramona für Laila der sicherste Ort. Hier blieben sie für ein paar Minuten frei. Entspannt saß sie Karim gegenüber und beobachtete, wie die Raupe gierig an einer riesengroßen Bulette nagte, bis der Fleischsaft von seinem Kinn tropfte.
Sie zog eine Serviette aus dem Spender auf dem Tisch und legte sie neben Karims Teller.
»Ich sagte dir, du musst die Handschuhe tragen«, tadelte Ramona. Sie schaufelte gerade eine Portion Kartoffelsalat auf Karims Teller, bevor sie Lailas Hände packte. Die Haut war von den scharfen Badezimmerreinigern stark angegriffen und pochte unangenehm.
Ramona streichelte über ihre Finger. Eine liebevolle Berührung, die Lailas Kehle zuschnürte.
Schnell zog sie ihre Hände zurück und versteckte sie unter der Tischplatte. Sie hatte ein Problem mit den üblichen Latexhandschuhen, die sie hier zum Putzen zur Verfügung gestellt bekamen. Das Gefühl des feinen Puders auf der Haut und die Enge des Materials mochte sie nicht. Anscheinend hatte sie eine ähnliche Abneigung gegen diese Faktoren, wie andere sie bei dem Geräusch von Kratzen auf Tafeln kannten. Deshalb mied sie die Teile und nahm die gereizte Haut in Kauf.
»Ich besorge dir welche aus Baumwolle, so geht das doch nicht weiter!« Wutschnaubend stapfte Ramona wieder zum Herd zurück. Der Dampf in der Luft mischte sich mit den würzigen Kräutern. Paprika, Zwiebel, Pfeffer. Es zischte und brodelte wie in einer Hexenküche. Dafür roch es aber himmlisch, und das Klappern des Geschirrs ließ Laila an einen unbeschwerten Alltag denken, den sie sich so sehr wünschte.
»Essen«, ordnete Ramona an, bevor sie auf den dampfenden Teller deutete, den sie vor Laila auf den Tisch schob.
Aus den Gedanken gerissen, schnappte sie sich die Gabel und pikte ein Stück des lauwarmen Kartoffelsalats auf. Die goldgelben Scheiben glänzten unter einem feinen Ölfilm gespickt mit kurzen Schnittlauchstückchen. Ein Gedicht. Beinahe ehrfürchtig schob sie sich eine Gabel davon in den Mund. Sie schloss die Augen und genoss jede Knospe an Geschmack, die sich auf ihrer Zunge entfaltete.
»Du musst dich endlich auf dem Bürgeramt melden«, sagte Ramona vorsichtig.
Den Bissen kauend, nickte Laila, obwohl sie das nie und nimmer tun konnte.
»Dann bekommst du einen Schulplatz für Karim, das ist überhaupt kein Problem.« Das Brutzeln der Buletten wurde immer lauter, je mehr der runden, noch rohen Fleischküchlein in die Pfannen gesetzt wurden. Es mischte sich zu dem Rauschen in Lailas Kopf. Sie konnte Karim unmöglich in Berlin anmelden, weil sie auf keinen Fall entdeckt werden durften.
Der köstliche Geschmack des Salats wurde bitter in ihrem Mund. Sie kam sich lächerlich vor. Hier zu sitzen und so zu tun, als stellte die Tatsache, dass sie putzte und sie beide in einer Obdachlosenunterkunft untergekommen waren, einen Hoffnungsschimmer dar. Die Wahrheit war eine andere. Sie spürte Tränen in ihren Augen, als sie Karim weiter beim Essen beobachtete. Er sah ihr ähnlich, die Gesichtszüge, die dunklen Haare, nur seine Augen strahlten blau. Ihre waren rabenschwarz. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht, ihn aus seinem gewohnten Umfeld herauszureißen? Sie hätte seiner Bitte, ihn mitzunehmen, niemals nachgeben dürfen.
Ein ohrenbetäubendes Scheppern klang durch die Küche und ließ sie abrupt hochschießen. Der Küchengehilfe hatte eines der metallenen Auslagebleche des Buffets fallen lassen.
»Hey.« Karims Stimme zog sie aus dem Schrecken.
Sie starrte ihn an, bis er besorgt auf ihre Hände deutete. Die Fingernägel ihrer rechten Hand hatten sich in ihren linken Handrücken gebohrt. Wegen der Spannung auf der angegriffenen Haut drang aus einem der Risse Blut. Erschrocken ließ sie los, schnappte sich eine der Servietten und presste sie auf die Wunde, während sie zurück auf den Stuhl sackte. Der beißende Schmerz erreichte ihre Sinne erst jetzt, verzögert.
»Alles gut, ich habe mich nur erschrocken. Iss auf, wir müssen gleich los.« Sie zauberte sich ein Lächeln auf ihre Lippen, das Karim kurz argwöhnisch beäugte, ihr dann aber durchgehen ließ.
Sie aß weiter und beobachtete, wie Ramona über das entstandene Küchenchaos schimpfte. Sobald sie ihrem Ärger etwas Luft gemacht hatte, kam sie wieder zu ihnen an den Tisch zurück.
»Und das habe ich von meiner Schwägerin bekommen, sie braucht es nicht mehr. Eine Prepaidkarte steckt bereits drin.« Ramona knallte ein Smartphone auf den Tisch.
Laila starrte das Ding an und verschluckte sich. Hustend setzte sie zu Protest an, doch Ramona hob ihre Hand und erstickte jeden Keim von Widerspruch mit hochgezogenen Augenbrauen. Aus ihrer blanken Handfläche löste sich ein Zeigefinger, der so viel bedeuten sollte wie: Sei vorsichtig, was du nun sagst.
Laila biss sich auf die Unterlippe, während Karim vor ihr kicherte. Kleine Kaukrümel landeten auf dem Tisch, bevor er die Hand vor den Mund schlug und losprustete.
»Danke«, brachte Laila hervor, ehe sie den Kopf sinken ließ. Ramona meinte es gut und konnte nicht ahnen, dass es keine Menschenseele auf der Welt gab, die sie hätte anrufen können.
Trotzdem nahm sie das Smartphone an sich und starrte unverwandt auf das aufleuchtende Display. Es fühlte sich skurril an. Früher war sie neidisch auf die Telefone anderer Mädchen und Frauen gewesen. Sie selbst hatte kein eigenes besessen. Für ihre Sicherheit war ihr Fahrer verantwortlich gewesen. Und ein eigenes Telefon hätte ihr es ermöglicht, Kontakte zu pflegen oder noch schlimmer: soziale Medien zu nutzen. Beides hätte bei ihr nicht oben auf der Prioritätenliste gestanden. Nein. Für sie wären die Nachrichten spannend gewesen und allein die Tatsache, dass man jemanden anrufen konnte. Eine Tür zu einer anderen Welt, die ihr verschlossen geblieben war.
Einmal hatte sie es riskiert und sich ein altes Telefon einer Schulkameradin geliehen. Sie hatte das Handy im Badezimmer unter dem Waschschrank mit Klebeband befestigt. Einen Tag später war es einfach weg gewesen. Ihr Vater hatte keinen Hehl aus der Tatsache gemacht, dass er ihr Zimmer regelmäßig durchsuchen ließ. Ab diesem Tag hatte sie gewusst, dass dieses Prozedere auch alle anderen Zimmer betraf.
Hier, in diesem so ganz anderen Leben, gab es keinen Fahrer und auch keine Durchsuchungen, sondern Freiheit und sogar Geschenke. Denn so etwas war es wohl, das Smartphone von Ramona. Sie drehte es in der Hand und strich mit den Fingerkuppen über das Display. Es fühlte sich überwältigend an, so etwas geschenkt zu bekommen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie überhaupt schon mal etwas bekommen hatte, das sie sich wirklich gewünscht hatte. Jedes Kleid, das sie getragen hatte, war passend auf eine Funktion oder einen Anlass abgestimmt gewesen. Immer kostspielig, exklusiv und edel. Damit sie funktionierte. Nach außen perfekt, ein Accessoire ohne eigenen Willen.
Doch das alles war nun vorbei. Ein kleines Lächeln schlich sich auf Lailas Lippen, und sie bedankte sich. Vorsichtig steckte sie das Smartphone in die Bauchtasche, die sie über der Putzuniform trug, und kratzte dann den letzten Rest des fein gewürzten Kartoffelsalats zusammen, um sich die Gabel in den Mund zu schieben.
»Ich ruf dich an, dann hast du meine Nummer. Ich weiß nicht, worunter mich mein kleiner Bruder abgespeichert hat. Warte.« Ratschend riss Ramona ein paar der Papiertücher aus dem Spender neben dem Waschbecken und wischte sich die Hände ab, bevor sie ihr Smartphone aus der Hintertasche zerrte. Die Hose saß so eng, dass sie mit den Beinen wippte, um mehr Spiel in dem Material des Kleidungsstücks zu bekommen. Ein polterndes Triumph-Kichern drang aus ihrer Kehle, als die Tasche nachgab und das Smartphone herausrutschte.
Laila zog das Handy wieder hervor und las auf dem aufleuchtenden Display des vibrierenden Telefons: big sista Ramidemi.
Sie biss sich auf die Unterlippe und steckte das Telefon wieder hastig zurück.
»Und, worunter hat er mich abgespeichert? Sag schon.« Ramona kam auf sie zu.
Laila sah zu Karim und bedeutete ihm, dass sie aufstehen sollten.
»Welchen Namen hat er mir gegeben? Ist es so schlimm?«, hakte Ramona nach. »Das war sein Diensttelefon, er wurde darunter immer als Komparse gebucht. Denkt, er kommt groß raus beim Film. Pah!« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.
Laila schüttelte den Kopf. »Nein.« Vielleicht hätte ihre Antwort nicht wie eine Frage klingen sollen.
»Na ja.« Ramona stemmte die Hände in die breiten Hüften und warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Lügen kannst du nicht besonders gut, aber immerhin nimmst du das Ding mit.«
»Wenn sie lügt, kratzt sie sich hinterm linken Ohr«, erklärte Karim.
Ruckartig drehte sich Laila zu ihm und starrte ihn irritiert an.
»Ist so!« Er zuckte mit den Schultern.
»Danke für den Tipp, ich werde darauf achten.« Ramona zog Karim zu sich und drückte ihm einen dicken Schmatzer auf den Wuschelkopf. »Bitte schön.« Sie gab ihm zwei kleine Plastikschälchen, die so vollgefüllt mit Schokomousse waren, dass sich die Deckel schon nach oben wölbten.
»Danke«, sagte Laila. Eine Freundschaft wie die zu Ramona kam ihr vor wie ein Wunder. Ihre Nähe zu Karim, ihre Hilfsbereitschaft, dieses Umsorgen – all das erlebten sie zum ersten Mal. Aus blanker Herzlichkeit.
»So, jetzt haut ab. Ich muss hier einheizen, läuft ja nicht, wenn ich zu nett bin.« Ramona deutete auf den Küchengehilfen, bevor sie mit ihrer Hand wild in der Luft wedelte.
Laila und Karim wandten sich ab und steuerten auf den Personalraum zu. Dort tauschte sie rasch die Uniform gegen eine weite Jogginghose, ein graues Shirt und den grünen leichten Parka. Zum Schluss schlüpfte sie barfuß in die Ledersandalen. Ein solches Outfit wäre in ihrem früheren Leben unmöglich gewesen. Umso besser fühlte es sich an. Sie band ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und spähte vorsichtig durch die Tür.
»Jetzt könntest du auch das Telefon benutzen«, flüsterte Karim hinter ihr.
»Wen soll ich denn anrufen?«
»Na, du könntest es durch den Schlitz nach draußen halten und zum Beispiel ein Foto machen. Dann ziehst du es wieder zurück und schaust, was darauf zu sehen ist. Voll detektivmäßig.«
»Du möchtest nur so schnell wie möglich an das Telefon kommen.« Sie öffnete die Tür und wartete, bis er hinausgehüpft war.
»Na ja, wenn du es schon mal in der Hand hast …«, sagte Karim mit seinem zuckersüßen, breiten Grinsen.
»Vergiss es.« Sie überhörte das leise Genöle und ging unbeeindruckt weiter. Der Kleine wurde erst sieben Jahre alt, doch die Vorschule, die Privatlehrer und das alles hatten sich bezahlt gemacht.
»Können wir laufen?«, fragte Karim kleinlaut.
Sie seufzte. »Natürlich.« Ihre Füße taten jetzt schon weh, die Müdigkeit machte sie zusätzlich platt, die kleine Raupe mochte es jedoch nicht, mit den Öffentlichen zu fahren. In der U-Bahn lief er regelmäßig gelbgrün an.
Also machten sie sich notgedrungen zu Fuß auf den Weg. Die sechs Kilometer bis zur Franklinstraße hatten es in sich, wenigstens hatte es draußen noch mindestens achtzehn Grad.
»Hier.« Sie gab Karim den kleinen Camping-Löffel, den sie seit ihrer Reise in dem ausgeleierten kleinen Rucksack mit sich herumschleppte. Dass ihre langen Haare bei der Bewegung an ihrem Nacken kitzelten, kam ihr immer noch vor wie ein Wunder. Selten hatte sie sich in der Öffentlichkeit mit offenen Haaren gezeigt. Und unter dem schützenden Tuch hatte sie feste Hochsteckfrisuren getragen. Nun strich sie sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht und beobachtete schmunzelnd, wie Karim den ersten Schoko-Nachtisch im Gehen verspeiste. Im Licht der untergehenden Sonne wirkte diese Szene fast schon schmerzlich friedlich.
Laila wandte den Blick ab und entdeckte die Siegessäule, die vor ihnen in die Höhe ragte. Das Gold der geflügelten Frauenstatue auf der Spitze glitzerte im rötlichen Licht und bildete einen faszinierenden Kontrast zum hupenden und rauschenden Feierabendverkehr auf der mehrspurigen Straße des großen Sterns.
Sie durchquerten den Englischen Garten und tauchten wieder in die urbane Welt Berlins. Hochhäuser, Industrie-Kolosse und Auto-Chaos, das sich mit den vielen Radfahrern mischte. Jetzt, mit einem Smartphone, könnten sie eines der vielen Mieträder nutzen oder sogar einen der Roller, sobald sie die App herunterlud. Doch bevor sie den Gedanken laut aussprach, lächelte sie und beschloss, das vorher auszuprobieren und Karim erst davon zu erzählen, wenn es funktionierte. Wenn sie eines gelernt hatte, dann, dass es besser war, keine vorschnelle Hoffnung zu wecken. Und sie hatte zwar auf Smartphones von Schulfreundinnen gesehen, wie das funktionierte, selbst gemacht hatte sie es jedoch noch nie.
Karim murmelte genießerisch, während er die letzten Reste des Nachtischs aus dem Becher schabte.
Er hatte sich beachtlich Zeit gelassen. »Du kannst meinen auch haben.«
»Ehrlich?«, fragte er fast beiläufig, während er schon den Deckel von der Plastikschale löste.
»Er gehört dir.«
Sie spazierten an den Glasfassaden der Autohäuser vorbei, bis sie vor dem vierstöckigen Backsteinaltbau standen. Vom grünen, mannshohen Zaun um den kargen Vorgarten blätterte der Lack, darunter blitzte es rostfarben. Immer, wenn ihr Blick auf das Schild neben dem Tor fiel, wurde ihr mulmig. »Notübernachtung« stand dort. Not. Das klang seltsam, wo sie ihre Flucht doch als Befreiungsschlag betrachtete.
Sie drückte auf die kleine Klingel und wartete, bis Peters Stimme blechern über die Sprechanlage ertönte. Nachdem sie geantwortet hatte, summte das Türschloss, und sie konnte das Tor aufdrücken.
Anfangs hatte sie sich vor den Menschen gefürchtet, die hier zeitweise Obdach suchten. Das Leben auf der Straße roch. Der Alkohol machte viele unberechenbar, und andere Drogen machten noch mehr aus den Menschen. Trotzdem blieb es ein geschützter Ort. Drogen, Waffen oder Sonstiges wurden nicht geduldet. Eine unausgesprochene Tatsache: Bei Peter verhielt man sich gesittet, sonst flog man raus und kam besser nie wieder.
Karim hatte ihr letztlich die Angst genommen. In den ersten Momenten hatte sie sich regelrecht gelähmt gefühlt und einfach wie eine Statistin in einem Low-Budget-Film verfolgt, wie ein älterer Mann Karim angesprochen hatte. Direkt an ihrem zweiten Abend in der Einrichtung, als sie vollkommen verzweifelt hinter jeder Tür eine potenzielle Gefahr vermutet hatte. Der Geruch nach Alkohol hatte sie würgen lassen. Tränen waren in ihre Augen geschossen, während sie Karims Hand so fest gepackt hatte, dass er sich losgerissen hatte, weil es ihn sonst geschmerzt hätte. Der ältere Mann, der sich damals schwallartig übergeben hatte, motzte ihn an. Anscheinend hatte ihn Karim zu lange gemustert.
Laila erinnerte sich an das Gefühl, dass sie sich einen Schirm gewünscht hatte. Etwas, das sie in der Hand halten konnte. Etwas, das sie gegen all die schlimmen Dinge richten konnte, um Karim zu schützen. Etwas, das Abstand schaffte. Und plötzlich hatte sie erkannt, wie naiv sie gewesen war. Hineingeboren in ein strenges Korsett aus Regeln, das mit der wahren Realität nichts zu tun hatte. Und plötzlich stank ebendiese wirkliche Welt, die ihr schützend und frei vorgekommen war, nach Urin und Erbrochenem – und hatte sie starr verharren lassen. Wie eingefroren hatte sie alles schweigend verfolgt.
Karim hingegen hatte sich ein paar wilde Beschimpfungen in zahnlosem Berliner Slang gefallen lassen, dann war er es gewesen, der sie an der Hand gepackt und weitergezogen hatte.
Taff und sachlich hatte er hinterher erklärt, dass der Mann wohl einfach schlecht erzogen sei und misstrauisch geworden war. Sie erinnerte sich, wie sie bei der Formulierung schlecht erzogen beinahe in sich zusammengesunken war. Doch dann war da dieser kleine Junge gewesen, der ihr erklärte, es gäbe eben manchmal üble Eigenschaften, die aber nicht den ganzen Menschen ausmachten. Und dass sie dem älteren Mann vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal neu begegnen sollten. Und sie hatte sich bei der Frage ertappt, woher Karim dieses Wissen nahm. Ob ihr Vater Tarek vielleicht doch auch gute Gedanken in ihm gesät hatte.
Schnell schob sie den Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf ihre Umgebung. Sie waren inzwischen im Essensraum angekommen. Hier herrschte gähnende Leere. Nur die Schärfe des Zitrusreinigers hing in der Luft. Sie durchquerten den Raum und gelangten über eine Steintreppe mit Eisengeländer in den ersten Stock zu Peters Büro. Sobald der Chef der Einrichtung sie entdeckte, schob er die rahmenlose ovale Brille von der Nase auf den Kopf und begrüßte sie. Karim leckte hastig mit der Zunge um seine Mundwinkel, um auch den letzten Rest Schokolade wegzuwischen.
»Alles ruhig heute. Und bevor du fragst: Nein, du kannst heute nichts mehr tun hier.« Peter schüttelte den Kopf, was seine schütteren grauen Haare in Bewegung versetzte. Mittlerweile nannte er es einen Running Gag, dass sie jedes Mal nachfragte, ob sie noch einen Raum putzen oder in der Küche aushelfen konnte. Sie wollte etwas zurückgeben und sich dankbar zeigen, schließlich zahlte sie keine Miete. Doch Peter lehnte ab.
»Na, ne Runde Kicker, Karim?« Peter lehnte sich vor, und auch heute hing über der Lehne des ausgeleierten Drehstuhls seine derbe schwarze Lederjacke. Die Bikerjacke trug er immer, selbst bei über zwanzig Grad – sein Markenzeichen, wie das Cape eines Superhelden.
Der Kleine nickte so kräftig, dass das ganze Kind in Bewegung kam. Lächelnd formte Laila mit den Lippen ein unhörbares Danke in Peters Richtung und überließ die beiden ihrem Spiel im Aufenthaltsraum.
Während die klackenden Geräusche des Tischfußballs hinter ihr verhallten, stieg sie die Treppen nach oben. Im vierten, dem obersten Stockwerk, lag das Zimmer Nummer dreiundzwanzig. Sie brachte ihre Tasche hinein und holte sich ihr Handtuch und das Stück Seife, das sie aus dem Hotel hatte.
Wie immer wählte sie die vorderste der Duschkabinen im Sammelbadezimmer, dessen vergittertes Fenster offen stand und die letzten Sonnenstrahlen hereinließ. Sie stellte sich vor, dass vermutlich alle, die auf der Suche nach der saubersten Dusche waren, die hinterste Kabine nahmen. Und es dann genau zu dem umgekehrten Phänomen kam: dass alle dieselbe nutzten.
Sie zog die Klamotten aus, hängte sie an einen der Haken und drehte die Dusche auf. Zwei der großen Fliesen unter ihren Füßen hatten Risse, ein kleiner Spalt formte ein V. Mit nassen Händen schäumte sie die Seife auf, bis der Schaum auf den Boden tropfte. Unter dem Wasserstrahl stehend atmete sie tief durch.
Jetzt wird alles anders, dachte sie. Auf der Odyssee von Frankfurt nach Berlin hatte sie sich immer dagegen gesträubt zu denken, dass alles gut werden würde. Denn das war unmöglich. Nein, gut konnte es nicht mehr werden. Aber anders, neu. Und alles schien besser als das Davor. Und sie hatten die Chance, den Weg selbst zu wählen. Kostbare Freiheit, dafür hatte es sich gelohnt. Alles.
Die Möglichkeit hatte sich spontan ergeben. Der Fahrer war in einem Stau ausgestiegen. Lailas Puls war schon hochgeschossen, sobald das Klicken der Verriegelung beim Einsteigen nicht erklungen war. Ein Geräusch, auf das sie zu achten gelernt hatte. Dieses leise Klacken klang anders als die Verriegelung der Türen im Haus. Irgendwie schneller, metallisch. Sie erinnerte sich daran, dass sie erst wieder zu atmen gewagt hatte, sobald sie geduckt mit Karim an der Hand an den wartenden Autos vorbeigerannt war. Seltsam, dass sie sich immer vorgestellt hatte, wie es sein musste, doch als es dann so weit gewesen war, hatte es sich vollkommen fremd angefühlt.
Ihr Vater hielt zwar den arabischen Pass unter Verschluss, doch wegen der doppelten Staatsbürgerschaft hatte sie ihren deutschen Pass an sich nehmen können. Der schmale Umschlag mit etwas Geld und dem Ausweis hatte zu dem Zeitpunkt bereits seit dreieinhalb Monaten in ihrem Schulschließfach gelegen.
Zurück zur Schule waren sie so schnell gerannt, dass Karim hinter ihr gekeucht hatte. Mit zweiundzwanzig Jahren hatte sie ihren Abschluss längst in der Tasche gehabt, trotzdem war sie dank ihres Ausweises ins Gebäude der Privatschule gekommen. Sie hatte dort weiter Kurse in Sprachen und die riesige Bibliothek besucht, deshalb hatte sie auch ihr Schließfach behalten können. Sie hatte den Umschlag geholt und das Gebäude so schnell wie möglich verlassen. Immer wieder hatte sie sich umgeblickt. Auf der Suche nach dem Fahrer oder Mitarbeitern ihres Vaters. Nach Kameras oder einem bekannten Gesicht. Sie erinnerte sich an Karims weit aufgerissene Augen, als sie ihren Hidschab, den arabischen Schleier, der normalerweise ihre Haare bedeckte, abgezogen hatte. Ein paar Haarklammern hatten sich verfangen, sodass sie sich ein paar Haare ausriss, als sie an dem Stoff gezerrt hatte. Den edlen Stoff hatte sie in eine öffentliche Mülltonne gestopft, bevor sie mit Karim in Richtung des Autobahnzubringers gelaufen war. Sie war zu dem Zeitpunkt noch nie getrampt, hatte nur davon gelesen. Trotzdem hatte sie den Daumen selbstbewusst nach oben gestreckt und gewartet, bis ein Auto hielt.
Laila fröstelte. Die Erinnerung fühlte sich unwirklich an, als würde sie die Geschichte einer Fremden erzählen. Doch so war es nicht. Hastig wusch sie die Schaumkronen von der Haut, drehte das Wasser ab und trocknete sich ab. Der Zedern-Zitrusduft der Seife blieb an ihrer Haut haften. Auch wenn sie den Duft nicht aktiv ausgesucht hatte, mochte sie das. Weil es anders roch, nicht wie zuvor. Es roch nach einem Neubeginn.
Sobald sie in Unterwäsche, Shorts und in ein Shirt geschlüpft war, machte sie sich auf den Weg zu Karim und Peter. Vom Flur aus beobachtete sie, wie die kleine Raupe am Kicker in Gejohle ausbrach, als der Ball klackernd ins Tor kullerte.
»Wollt ihr noch fernsehen?«, fragte Peter ihr zuzwinkernd.
Das bedurfte keiner Antwort. Schnell wie der Blitz saß Karim auf der blauen Cord-Couch und starrte gierig auf den schwarzen Bildschirm der uralten Röhre.
Kurz darauf flackerte ET – der Außerirdische über den Schirm. Per VHS. Dass dieses Medium in einem Haushalt überlebt hatte, füllte ihr Innerstes mit Melancholie.
Da Karim abgelenkt war, nutzte sie die Chance, holte das Smartphone heraus und drehte es in der Hand. Sicher hilfreich, doch sie hatte niemanden, den sie anrufen wollte oder konnte. Höchstens Ramona. Ansonsten war das Problem an Telefonen – man konnte erreicht werden. Und das durfte auf keinen Fall geschehen. Diese Nummer hatte niemand. Das musste sie sich immer wieder sagen. Von diesem Ding ging keine Gefahr aus. Trotzdem beäugte sie das Smartphone misstrauisch und öffnete die Kontaktliste. Die Apps waren deinstalliert worden, aber das Telefonbuch poppte mit Kontakten auf. Neugierig scrollte sie durch die lange Liste voll unbekannter Namen. Bilder waren keine mehr abgespeichert. Hinter manchen Einträgen prangte ein Kürzel wie Cam oder pro.
Laila beschloss, Ramona morgen zu fragen, ob sie die Kontakte löschen sollte oder ob ihr Bruder diese benötigte.
Eine Weile starrte sie noch gedankenverloren auf die vielen Namen, bis sie sich schließlich einen Ruck gab und sich zu Karim auf die Couch gesellte. Doch die Müdigkeit meldete sich bald lautstark zu Wort, und so war Laila froh, als sie endlich in ihre Betten krabbelten. Mitten in der Nacht ließ sie jedoch ein lautes Wimmern hochschrecken.