A Thousand Brains - Jeff Hawkins - E-Book

A Thousand Brains E-Book

Jeff Hawkins

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Riva
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Wie entsteht eigentlich Intelligenz? Eine Kernfrage, auf die die moderne Hirnforschung bis heute keine befriedigende Antwort geben kann. Für den Neurowissenschaftler Jeff Hawkins ist der Grund offensichtlich: weil wir ein falsches Bild von der Funktionsweise des menschlichen Gehirns haben. Deshalb verfolgt er in A Thousand Brains einen radikal neuen Ansatz, indem er die hartnäckigsten Probleme der Neurowissenschaften neu bewertet und spannende Antworten auf die wichtigsten Fragen gibt: Wie werden unsere vielfältigen Sinneseindrücke zu einer einzigen Erfahrung zusammengeführt? Was geschieht, wenn wir denken? Wie können zwei Menschen aufgrund der gleichen Beobachtungen zu unterschiedlichen Überzeugungen gelangen? Und warum haben wir eigentlich ein Ich- Bewusstsein, eine Selbstwahrnehmung? Ein wegweisendes Buch, das aufzeigt, wie menschliche Intelligenz funktioniert und wie wir dieses Wissen im Hinblick auf künstliche Intelligenz sinnvoll für uns nutzen können.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 430

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



JEFF HAWKINS

A THOUSAND BRAINS

JEFF HAWKINS

A THOUSAND BRAINS

EINE NEUE THEORIE DER INTELLIGENZ

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

1. Auflage 2022

© 2022 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 bei Basic Books unter dem Titel A Thousand Brains: A New Theory of Intelligence. © 2021 by Jeffrey C. Hawkins. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Simone Fischer

Redaktion: Matthias Michel

Umschlaggestaltung: Karina Braun

Umschlagabbildung: ©iStockphoto.com/alexsl; Shutterstock.com/Dmitri Gomon

Abbildungen im Innenteil: S.12: stock.adobe.com/Bill Fehr; S. 14: adaptiert von »Distributed Hierarchical Processing in the Primate Cerebral Cortex« von D. J. Felleman und D. C. Van Essen, 1991, Celebral Cortex, 1(1):1.; S. 16: S. R. y Cajal; S. 109: E. H. Adelson; S. 177: B. Derksen; S. 177: nachgedruckt unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation

Satz: Satzwerk Huber, Germering

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-7423-2212-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1974-3

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1975-0

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

INHALT

Vorwortvon Richard Dawkins

TEIL 1: EIN NEUES VERSTÄNDNIS DES GEHIRNS

Kapitel 1: Altes Gehirn – neues Gehirn

Kapitel 2: Vernon Mountcastles große Idee

Kapitel 3: Ein Modell der Welt im Kopf

Kapitel 4: Das Gehirn offenbart seine Geheimnisse

Kapitel 5: Karten im Gehirn

Kapitel 6: Konzepte, Sprache und komplexes Denken

Kapitel 7: Die Thousand-Brains-Theorie der Intelligenz

TEIL 2: KÜNSTLICHE INTELLIGENZ

Kapitel 8: Warum es kein »Ich« in der KI gibt

Kapitel 9: Maschinen mit Bewusstsein

Kapitel 10: Die Zukunft der künstlichen Intelligenz

Kapitel 11: Die existenziellen Risiken der künstlichen Intelligenz

TEIL 3: MENSCHLICHE INTELLIGENZ

Kapitel 12: Falsche Überzeugungen

Kapitel 13: Die existenziellen Risiken der menschlichen Intelligenz

Kapitel 14: Die Verschmelzung von Gehirnen und Maschinen

Kapitel 15: Nachlassplanung für die Menschheit

Kapitel 16: Gene vs. Wissen

Abschließende Gedanken

Literaturempfehlungen

Danksagung

Über den Autor

VORWORT

VON RICHARD DAWKINS

Lesen Sie dieses Buch nicht vor dem Schlafengehen. Nicht, dass es beängstigend wäre. Es wird Ihnen keine Albträume bereiten. Aber es ist so erfrischend, so anregend, dass es Ihren Geist in einen wirbelnden Strudel von aufregend provokativen Ideen verwandelt – Sie werden lieber losstürmen und jemandem davon erzählen wollen, als schlafen zu gehen. Der Verfasser des Vorworts ist ein Opfer dieses Strudels, und ich denke, das wird sich erweisen.

Charles Darwin war unter den Wissenschaftlern insofern eine Ausnahmeerscheinung, als er über die Mittel verfügte, außerhalb der Universitäten und ohne staatliche Forschungsgelder zu arbeiten. Jeff Hawkins wird es vielleicht nicht gefallen, als das Silicon-Valley-Äquivalent eines Gentleman-Wissenschaftlers bezeichnet zu werden, aber – Sie verstehen sicher die Parallele. Darwins mächtige Idee war zu revolutionär, um in Form eines kurzen Artikels verstanden zu werden, und die gemeinsamen Veröffentlichungen von Darwin und Wallace aus dem Jahr 1858 wurden so gut wie ignoriert. Wie Darwin selbst sagte, musste die Idee in Buchlänge ausgebreitet werden. Und tatsächlich war es sein großes Buch, das ein Jahr später die viktorianischen Grundüberzeugungen erschütterte. Auch Jeff Hawkins’ Thousand-Brains-Theorie bedarf einer buchfüllenden Abhandlung. Und sein Konzept der Bezugsrahmen – »Der eigentliche Akt des Denkens ist eine Form der Bewegung« – ist eine Glanzleistung! Diese beiden Ideen sind jeweils tiefgründig genug, um ein ganzes Buch zu füllen. Aber das ist noch nicht alles.

Thomas Henry Huxley sagte nach der Lektüre von Darwins Über die Entstehung der Arten bekanntlich: »Wie ausgesprochen dumm von mir, nicht daran gedacht zu haben.« Ich behaupte natürlich nicht, dass Hirnforscher dasselbe sagen werden, wenn sie dieses Buch zuklappen. Es ist ein Buch mit vielen spannenden Ideen statt einer einzigen großen Idee wie der von Darwin.

Ich glaube allerdings, dass nicht nur T. H. Huxley, sondern auch seine drei brillanten Enkel es geliebt hätten: Andrew, weil er entdeckte, wie der Nervenimpuls funktioniert (Hodgkin und Huxley sind der Watson und der Crick des Nervensystems); Aldous wegen seiner visionären und poetischen Reisen in die entlegensten Winkel des Geistes; und Julian, weil er dieses Gedicht schrieb, in dem er die Fähigkeit des Gehirns preist, ein Modell der Realität, einen Mikrokosmos des Universums zu konstruieren:

Die Welt der Dinge kam in deinen kindlichen Verstand,

um das Kristallkabinett zu bevölkern.

Innerhalb seiner Wände trafen sich die seltsamsten Partner,

und aus Dingen wurden Gedanken, die ihre Art fortpflanzten.

Denn, einmal drinnen, fand die körperliche Realität einen Geist.

Die Realität und du in gegenseitiger Schuld

habt dort euren kleinen Mikrokosmos erschaffen,

der doch seinem kleinen Selbst die größten Aufgaben zugewiesen hatte.

Tote können dort leben und sich mit den Sternen unterhalten:

Der Äquator spricht mit dem Pol, die Nacht mit dem Tag;

Der Geist löst die materiellen Schranken der Welt auf.

Eine Million Abgrenzungen verglühen.

Das Universum kann leben und arbeiten und planen.

Endlich wurde Gott im Geist des Menschen geschaffen.

Das Gehirn sitzt im Dunkeln und nimmt die Außenwelt nur durch einen Hagelsturm von Andrew Huxleys Nervenimpulsen wahr. Ein Nervenimpuls aus dem Auge unterscheidet sich nicht von einem aus dem Ohr oder dem großen Zeh. Es kommt darauf an, wo sie im Gehirn landen. Jeff Hawkins ist nicht der erste Wissenschaftler oder Philosoph, der behauptet, dass die von uns wahrgenommene Realität eine konstruierte Realität ist, ein Modell, das durch die von den Sinnen einströmenden Informationen aktualisiert und informiert wird. Aber Hawkins ist meines Erachtens der Erste, der der Idee wortgewaltig Raum bietet, dass es nicht nur ein einziges solches Modell gibt, sondern Tausende, und zwar eines in jeder der vielen fein säuberlich gestapelten Säulen, die den Kortex des Gehirns bilden. Es gibt etwa 150.000 dieser Säulen, und sie sind die Stars des ersten Teils des Buches, zusammen mit dem, was er »Bezugsrahmen« nennt. Hawkins’ Thesen zu diesen beiden Themen sind provokant, und es wird interessant sein zu sehen, wie sie von anderen Hirnforschern aufgenommen werden; gut, vermute ich. Nicht zuletzt fasziniert seine Idee, dass die kortikalen Säulen bei ihrer Weltmodellierung halbautonom arbeiten. Was »wir« wahrnehmen, ist eine Art demokratischer Konsens zwischen den Säulen.

Demokratie im Gehirn? Konsens und sogar Streit? Was für eine erstaunliche Idee. Sie ist ein Hauptthema des Buches. Wir menschlichen Säugetiere sind die Opfer eines immer wiederkehrenden Streits: einem Gerangel zwischen dem alten Reptiliengehirn, das unbewusst die Überlebensmaschine steuert, und dem Neokortex der Säugetiere, der sozusagen den Fahrersitz besetzt. Dieses neue Säugetiergehirn – die Großhirnrinde – denkt. Die Großhirnrinde ist der Sitz des Bewusstseins. Sie ist sich der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft bewusst, und sie sendet Anweisungen an das alte Gehirn, das diese ausführt.

Das alte Gehirn, das durch natürliche Selektion über Millionen von Jahren trainiert wurde, als Zucker knapp und wertvoll für das Überleben war, sagt: »Kuchen. Ich will Kuchen. Mmmm, Kuchen. Gib her.« Das neue Gehirn, das von Büchern und Ärzten in nur zehn Jahren trainiert wurde, als Zucker im Überfluss vorhanden war, sagt: »Nein, nein. Kein Kuchen. Das darf nicht sein. Bitte, iss diesen Kuchen nicht.« Das alte Gehirn entgegnet: »Schmerz, Schmerz, schrecklicher Schmerz, lass den Schmerz sofort aufhören«. Das neue Gehirn fordert: »Nein, nein, ertrage die Folter, verrate dein Land nicht, indem du dich ihm hingibst. Loyalität gegenüber dem Land und den Kameraden kommt sogar vor deinem eigenen Leben.«

Der Konflikt zwischen dem alten Reptilien- und dem neuen Säugetiergehirn liefert die Antwort auf solche Rätsel wie »Warum muss Schmerz so verdammt schmerzhaft sein?«. Wozu ist Schmerz überhaupt gut? Schmerz ist ein Stellvertreter für den Tod. Er ist eine Warnung an das Gehirn: »Tu das nicht noch einmal: ärgere keine Schlange, hebe keine heiße Glut auf, springe nicht aus großer Höhe. Diesmal hat es nur wehgetan; beim nächsten Mal könnte es dich umbringen.« Nun könnte ein Konstrukteur sagen, was wir hier brauchen, ist das Äquivalent einer schmerzfreien Flagge im Gehirn. Wenn die Flagge in die Höhe schießt, darfst du nicht wiederholen, was du gerade getan hast. Doch statt der einfachen und schmerzfreien Flagge des Ingenieurs bekommen wir in Wirklichkeit Schmerzen – oft quälende, unerträgliche Schmerzen. Und warum? Was ist falsch an dieser so sinnvollen Flagge?

Die Antwort liegt wahrscheinlich in der umstrittenen Natur der Entscheidungsprozesse des Gehirns: dem Ringen zwischen dem alten und dem neuen Gehirn. Da es für das neue Gehirn zu einfach ist, das Votum des alten Gehirns zu überstimmen, würde das schmerzfreie Flaggensystem nicht funktionieren. Genauso wenig wie Folter.

Das neue Gehirn würde sich dazu berechtigt fühlen, meine hypothetische Flagge zu ignorieren und jede Menge Bienenstiche, verstauchte Knöchel oder Daumenschrauben der Folterknechte zu ertragen, wenn es das aus irgendeinem Grund »wollte«. Das alte Gehirn, dem es wirklich wichtig ist zu überleben, um die Gene weiterzugeben, könnte vergeblich »protestieren«. Vielleicht hat die natürliche Auslese im Interesse des Überlebens den »Sieg« des alten Gehirns sichergestellt, indem sie den Schmerz so verdammt schmerzhaft gemacht hat, dass das neue Gehirn ihn nicht überwinden kann. Ein anderes Beispiel: Wäre sich das alte Gehirn des Verrats am darwinistischen Ziel des Geschlechtsverkehrs »bewusst«, wäre das Überstreifen eines Kondoms unerträglich schmerzhaft.

Hawkins gehört zur Mehrheit der informierten Wissenschaftler und Philosophen, die mit dem Dualismus nichts anfangen können: Es gibt keinen Geist in der Maschine, keine gespenstische Seele, die so weit von der Hardware entfernt ist, dass sie den Tod der Hardware überlebt, kein »kartesisches Theater« (Dan Dennetts Begriff), in dem ein Farbbildschirm einem beobachtenden Ich einen Film von der Welt zeigt. Stattdessen schlägt Hawkins mehrere Modelle der Welt vor, konstruierte Mikrokosmen, die durch den Regen von Nervenimpulsen, die von den Sinnen einströmen, informiert und angepasst werden. Übrigens schließt Hawkins nicht völlig aus, dass man langfristig dem Tod entgehen kann, indem man sein Gehirn in einen Computer hochlädt, aber er glaubt nicht, dass das viel Spaß machen würde.

Zu den wichtigsten Modellen des Gehirns gehören die Modelle des Körpers selbst, die sich damit auseinandersetzen müssen, wie die Eigenbewegung des Körpers unsere Perspektive auf die Welt außerhalb der Gefängnismauer des Schädels verändert. Und dies ist relevant für das Hauptthema des mittleren Teils des Buches, nämlich der Intelligenz von Maschinen. Jeff Hawkins hat, wie ich auch, großen Respekt vor jenen klugen Menschen, Freunden von ihm und mir, die das Herannahen superintelligenter Maschinen fürchten, die uns verdrängen, unterjochen oder sogar ganz beseitigen könnten. Aber Hawkins fürchtet sie nicht, auch weil die Fähigkeiten, die zur Beherrschung von Schach oder Go führen, nicht die sind, die mit der Komplexität der realen Welt fertig werden können. Kinder, die kein Schach spielen können, wissen, »wie Flüssigkeiten verschüttet werden, Bälle rollen und Hunde bellen. Sie wissen, wie man Stifte, Marker, Papier und Klebstoff benutzt. Sie wissen, wie man Bücher aufschlägt und dass Papier reißen kann«. Und sie haben ein Selbstbild, ein Körperbild, das sie in der Welt der physischen Realität verortet und es ihnen ermöglicht, sich mühelos in ihr zurechtzufinden.

Es ist nicht so, dass Hawkins die Macht der künstlichen Intelligenz und der Roboter der Zukunft unterschätzt. Ganz im Gegenteil. Aber er ist der Meinung, dass die meisten aktuellen Forschungen in die falsche Richtung gehen. Der richtige Weg besteht seiner Meinung nach darin zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert, und seine Methoden zu übernehmen, sie aber enorm zu beschleunigen.

Und es gibt keinen Grund (wirklich nicht), die Verhaltensweisen des alten Gehirns zu übernehmen, seine Begierden und seinen Hunger, sein Verlangen und seine Wut, seine Gefühle und Ängste, die uns auf Wege treiben können, die vom neuen Gehirn als schädlich angesehen werden. Schädlich zumindest aus der Perspektive, die Hawkins und ich, und wahrscheinlich auch Sie, schätzen. Denn er ist sich darüber im Klaren, dass unsere aufgeklärten Werte stark von dem primären und primitiven Wert unserer egoistischen Gene abweichen müssen und dies auch tun – dem rohen Imperativ, sich um jeden Preis fortzupflanzen. Ohne ein altes Gehirn gibt es nach seiner Ansicht (die, wie ich vermute, umstritten ist) keinen Grund zu erwarten, dass eine KI uns gegenüber böswillige Gefühle hegt. Aus demselben Grund, und vielleicht ist auch dies umstritten, hält er das Ausschalten einer bewussten KI nicht für einen Mord: Warum sollte sie ohne ein altes Gehirn Angst oder Traurigkeit empfinden? Warum sollte sie überleben wollen?

In Kapitel 16, »Gene vs. Wissen«, werden wir über die Diskrepanz zwischen den Zielen des alten Gehirns (egoistischen Genen zu dienen) und des neuen Gehirns (Wissen) ausführlich aufgeklärt. Es ist der Ruhm der menschlichen Großhirnrinde, dass sie – einzigartig unter allen Tieren und beispiellos in allen geologischen Zeiten – die Macht hat, sich dem Diktat der egoistischen Gene zu widersetzen. Wir können Sex genießen, ohne uns fortzupflanzen. Wir können unser Leben der Philosophie, der Mathematik, der Poesie, der Astrophysik, der Musik, der Geologie oder der Wärme der menschlichen Liebe widmen, entgegen dem genetischen Drängen des alten Gehirns, dass dies Zeitverschwendung sei – Zeit, die stattdessen mit dem Kampf gegen Rivalen und der Jagd nach mehreren Sexualpartnern verbracht werden »sollte«: »Meiner Meinung nach müssen wir eine tiefgreifende Entscheidung treffen. Wir müssen uns entscheiden, ob wir das alte Gehirn oder das neue Gehirn bevorzugen. Genauer gesagt: Wollen wir, dass unsere Zukunft von den Prozessen bestimmt wird, die uns hierhergebracht haben, nämlich von natürlicher Auslese, Wettbewerb und dem Antrieb egoistischer Gene? Oder wollen wir, dass unsere Zukunft von Intelligenz und dem Wunsch, die Welt zu verstehen, bestimmt wird?«

Ich begann mit einem Zitat von T. H. Huxley, einer liebenswert bescheidenen Bemerkung zur Lektüre von Darwins Über die Entstehung der Arten. Ich schließe mit einer der vielen faszinierenden Ideen von Jeff Hawkins – er fasst sie auf nur wenigen Seiten zusammen –, die mich an Huxley denken ließen. Hawkins verspürt das Bedürfnis nach einem kosmischen Grabstein, etwas, das die Galaxie wissen lässt, dass wir einmal hier waren. Und dieser kosmische Grabstein muss in der Lage sein, diese Tatsache zu verkünden. Hawkins stellt fest, dass alle Zivilisationen vergänglich sind. Auf der Skala der universellen Zeit ist das Intervall zwischen der Erfindung der elektromagnetischen Kommunikation durch eine Zivilisation und ihrem Aussterben wie das Aufleuchten eines Glühwürmchens. Die Chance, dass ein solches Aufleuchten mit einem anderen zusammenfällt, ist unglücklicherweise gering. Was wir also brauchen – weshalb ich ihn Grabstein genannt habe –, ist eine Botschaft, die nicht sagt: »Wir sind hier«, sondern »Wir waren einmal hier«. Und der Grabstein muss von kosmischer Dauer sein: Er muss nicht nur aus Parallaxensekunden sichtbar sein, sondern auch Millionen, wenn nicht Milliarden von Jahren überdauern, sodass er seine Botschaft noch verkündet, wenn andere Geistesblitze ihn lange nach unserem Aussterben abfangen. Es reicht nicht aus, Primzahlen oder die Ziffern der Kreiszahl π (Pi) zu senden. Jedenfalls nicht als Funksignal oder als gepulster Laserstrahl. Sie künden zwar von biologischer Intelligenz, weshalb sie das Hauptthema von SETI (Search for Extraterrestrial Intelligence, deutsch: Suche nach außerirdischer Intelligenz) und Science-Fiction sind, aber sie sind zu kurz und zu gegenwärtig. Welches Signal würde also lange genug anhalten und aus einer sehr großen Entfernung in jeder Richtung wahrnehmbar sein? An dieser Stelle hat Hawkins meinen inneren Huxley geweckt.

Heute können wir das nicht, aber in der Zukunft, bevor unser Glühwürmchen-Aufleuchten verbraucht ist, könnten wir eine Reihe von Satelliten in eine Umlaufbahn um die Sonne bringen, »die einen Teil des Sonnenlichts in einem Muster blockieren, das in der Natur nicht vorkommt. Diese kreisenden Sonnenblocker würden die Sonne noch Millionen von Jahren umkreisen, lange nachdem wir nicht mehr da sind, und sie könnten aus großer Entfernung entdeckt werden«. Selbst wenn die Abstände dieser schattenwerfenden Satelliten nicht buchstäblich eine Reihe von Primzahlen sind, könnte die Botschaft unmissverständlich gemacht werden: »Hier gab es intelligentes Leben.«

Was ich sehr erfreulich finde – und ich biete Jeff Hawkins diese Zeilen an, um ihm für das Vergnügen zu danken, das mir sein brillantes Buch bereitet hat –, ist, dass eine kosmische Botschaft, die in Form eines Musters von Intervallen zwischen Spikes (oder in seinem Fall Anti-Spikes, da seine Satelliten die Sonne abdunkeln) kodiert ist, dieselbe Art von Code wie ein Neuron verwenden würde.

Dies ist ein Buch darüber, wie das Gehirn funktioniert. Das Gehirn funktioniert auf eine Art und Weise, die geradezu berauschend ist.

TEIL 1

Ein neues Verständnis des Gehirns

Die Zellen in Ihrem Kopf lesen diese Wörter. Stellen Sie sich bitte einmal vor, wie bemerkenswert das ist. Zellen sind einfach gestrickt. Eine einzelne Zelle kann weder lesen noch denken noch irgendetwas anderes tun. Wenn wir jedoch genügend Zellen zusammensetzen, um daraus ein Gehirn zu bilden, lesen diese Zellen nicht nur Bücher, sie schreiben sie auch. Sie entwerfen Gebäude, erfinden Technologien und entschlüsseln die Geheimnisse des Universums. Doch wie ein Gehirn, das aus einfachen Zellen besteht, Intelligenz hervorbringt, ist eine hochinteressante Frage und nach wie vor ein Rätsel.

Die Erforschung der Funktionsweise des Gehirns ist eine der großen Herausforderungen der Menschheit. Diese Aufgabe hat eine Vielzahl nationaler und internationaler Initiativen ins Leben gerufen, wie beispielsweise das Human Brain Project der Europäischen Kommission und die International Brain Initiative. Zehntausende von Neurowissenschaftlern aus Dutzenden von Fachgebieten arbeiten in praktisch jedem Land der Welt daran, das Gehirn zu verstehen. Obwohl Neurowissenschaftler die Gehirne unterschiedlicher Tierarten untersuchen und sich mit den verschiedensten Fragestellungen beschäftigen, besteht das ultimative Ziel der Neurowissenschaft darin herauszufinden, wie das menschliche Gehirn die menschliche Intelligenz hervorbringt.

Meine Behauptung, dass das menschliche Gehirn immer noch ein Rätsel ist, überrascht Sie vielleicht. Denn Jahr für Jahr werden neue Entdeckungen im Zusammenhang mit der Hirnforschung bekanntgegeben und unzählige neue Bücher über das Gehirn veröffentlicht. Zudem behaupten Forscher auf verwandten Gebieten wie der künstlichen Intelligenz, dass ihre Schöpfungen bereits der Intelligenz einer Maus oder einer Katze nahekommen. Daraus könnte man leicht schließen, dass die Wissenschaftler eine ziemlich gute Vorstellung davon haben, wie das Gehirn funktioniert. Fragt man jedoch Neurowissenschaftler, ob das tatsächlich so ist, so werden fast alle zugeben, dass wir noch im Dunkeln tappen. Wir haben eine enorme Menge an Wissen und Fakten über das Gehirn zusammengetragen, aber wir wissen nur wenig darüber, wie das Ganze funktioniert.

1979 schrieb Francis Crick, berühmt für seine Arbeit an der DNA, einen Artikel über den Stand der Gehirnforschung mit dem Titel »Think-ing about the Brain« (»Gedanken über das Gehirn«). Er beschrieb die umfangreiche Menge an Fakten, die Wissenschaftler über das Gehirn gesammelt hatten, und kam zu dem Schluss, dass »trotz der kontinuierlichen Anhäufung von Detailwissen die Funktionsweise des menschlichen Gehirns immer noch zutiefst rätselhaft ist«. Er fuhr fort: »Was ganz offensichtlich fehlt, ist ein breiter gedanklicher Rahmen, in dem diese Ergebnisse interpretiert werden können.«

Crick stellte fest, dass Wissenschaftler zwar seit Jahrzehnten Daten über das Gehirn gesammelt und viele Erkenntnisse gewonnen hatten, dass jedoch niemand in der Lage war, diese Fakten zu etwas Sinnvollem zusammenzusetzen. Das Gehirn war wie ein riesiges Puzzlespiel mit Tausenden von Teilen. Die Puzzlestücke lagen vor uns, doch wir konnten sie nicht sinnvoll zusammensetzen, weil niemand wusste, wie die Lösung aussehen sollte. Crick zufolge war das Gehirn nicht deswegen ein Rätsel, weil wir nicht genug Daten gesammelt hatten, sondern weil wir nicht wussten, wie wir die vorhandenen Puzzleteile anordnen sollten. In den mehr als vierzig Jahren, die seit Cricks Artikel vergangen sind, hat es viele bedeutende Entdeckungen über das Gehirn gegeben, auf die ich später noch eingehen werde, aber im Großen und Ganzen ist seine Aussage immer noch richtig. Wie aus den Zellen in unserem Kopf Intelligenz entsteht, ist immer noch ein großes Rätsel. Da jedes Jahr weitere Puzzleteile gesammelt werden, wirkt es manchmal so, als kämen wir dem Verständnis des Gehirns nicht näher, sondern entfernten uns immer weiter davon.

Als ich Cricks Artikel als junger Mann las, inspirierte mich dies. Ich hatte das Gefühl, dass wir das Rätsel des Gehirns noch zu meinen Lebzeiten lösen könnten, und seitdem verfolge ich dieses Ziel. In den letzten fünfzehn Jahren habe ich ein Forschungsteam im Silicon Valley geleitet, das einen Teil des Gehirns, den Neokortex, untersucht. Der Neokortex nimmt etwa 70 Prozent des Volumens des menschlichen Gehirns ein und ist für alles verantwortlich, was wir mit Intelligenz in Verbindung bringen, von unseren Seh-, Tast- und Hörsinnen über Sprache in all ihren Formen bis hin zu abstraktem Denken, wie Mathematik und Philosophie. Ziel unserer Forschung ist es, die Funktionsweise des Neokortex so genau zu verstehen, dass wir die Biologie des Gehirns erklären und intelligente Maschinen bauen können, die nach denselben Prinzipien arbeiten.

Anfang 2016 änderte sich der Fortschritt unserer Forschung dramatisch, da wir einen Durchbruch in unserem Verständnis erzielten. Wir erkannten, dass sowohl wir als auch andere Wissenschaftler einen wichtigen Bestandteil übersehen hatten. Dank dieser neuen Erkenntnis verstanden wir endlich, wie die Puzzleteile zusammenpassen. Mit anderen Worten: Ich glaube, dass wir den Rahmen entdeckt haben, über den Crick geschrieben hat, einen Rahmen, der nicht nur die Grundlagen der Funktionsweise des Neokortex erklärt, sondern auch eine neue Art, über Intelligenz nachzudenken, hervorbringt. Wir haben noch keine vollständige Theorie des menschlichen Gehirns entwickelt – davon sind wir weit entfernt. Auf dem Feld der Wissenschaft beginnt man in der Regel mit einem theoretischen Rahmen, und erst später werden die Details ausgearbeitet. Das vielleicht berühmteste Beispiel ist Darwins Evolutionstheorie. Darwin schlug eine kühne neue Denkweise über den Ursprung der Arten vor, aber die Details, wie zum Beispiel die Funktionsweise der Gene und der DNA, wurden erst viele Jahre später bekannt.

Um intelligent zu werden, muss das Gehirn sehr viele Dinge über die Welt lernen. Dies beinhaltet nicht nur das, was wir in der Schule lernen, sondern auch grundlegende Dinge, beispielsweise wie Alltagsgegenstände aussehen, sich anhören und anfühlen. Wir müssen begreifen, wie sich Gegenstände verhalten, wie sich also Türen öffnen und schließen oder was die Apps in unseren Smartphones tun, wenn wir den Bildschirm berühren. Außerdem müssen wir lernen, wo sich alles auf der Welt befindet, vom Aufbewahrungsort unserer persönlichen Gegenstände in der Wohnung bis hin zur Lage der Bibliothek und des Postamts in unserer Stadt. Und natürlich erlernen wir auch übergeordnete Konzepte, wie die Bedeutung von »Mitgefühl« oder von »Regierung«. Darüber hinaus lernt jeder von uns die Bedeutung von Zehntausenden von Wörtern. Jeder einzelne Mensch verfügt über eine enorme Menge an Wissen über die Welt. Dabei sind einige unserer grundlegenden Fähigkeiten durch unsere Gene festgelegt, etwa wie wir essen oder wie wir vor Schmerzen zurückschrecken. Aber das meiste, was wir über die Welt wissen, haben wir erlernt.

Nach Ansicht einiger Wissenschaftler erlernt das Gehirn ein Modell der Welt. Das Wort »Modell« impliziert, dass das, was wir wissen, nicht nur als eine Ansammlung von Fakten gespeichert wird, sondern auf eine Weise organisiert ist, die die Struktur der Welt und alles, was diese enthält, widerspiegelt. Um zum Beispiel zu wissen, was ein Fahrrad ist, erinnern wir uns nicht an eine Reihe von Fakten über Fahrräder. Stattdessen erstellt unser Gehirn ein Modell von Fahrrädern, das die verschiedenen Bestandteile, die Anordnung dieser Teile zueinander und die Bewegungsabläufe und das Zusammenspiel der verschiedenen Teile umfasst. Um etwas zu erkennen, müssen wir zunächst lernen, wie es aussieht und sich anfühlt. Und um Ziele zu erreichen, müssen wir lernen, wie sich die Dinge in der Welt normalerweise verhalten, wenn wir mit ihnen interagieren. Intelligenz ist eng mit dem Weltmodell des Gehirns verbunden. Wenn wir verstehen wollen, wie das Gehirn Intelligenz hervorbringt, müssen wir herausfinden, wie das Gehirn, das aus einfachen Zellen besteht, ein Modell der Welt und aller Dinge darin erlernt.

Unsere Entdeckung von 2016 erklärt, wie das Gehirn dieses Modell erlernt. Wir kamen zu dem Schluss, dass der Neokortex alles, was wir wissen, also unser gesamtes Wissen, in sogenannten Bezugsrahmen speichert. Ich werde dies später ausführlicher erklären, möchte es aber für den Moment mit dem Beispiel einer Landkarte veranschaulichen. Eine Landkarte oder auch ein Stadtplan ist eine Art Modell. Stellen Sie sich dies so vor: Ein Stadtplan ist ein Modell der Stadt, und die Gitternetzlinien, wie Breiten- und Längengrade, sind eine Art Bezugsrahmen. Die Gitternetzlinien einer Karte, ihr Bezugsrahmen, bilden die Struktur der Karte. Ein solcher Bezugsrahmen gibt Auskunft darüber, wo sich die Dinge im Verhältnis zueinander befinden, und er kann uns sagen, wie wir Ziele erreichen können, zum Beispiel, wie wir von einem Ort zu einem anderen gelangen. Wir haben erkannt, dass das Weltmodell des Gehirns auf kartenartigen Bezugssystemen beruht. Es gibt nicht nur einen Bezugsrahmen, sondern Hunderttausende von ihnen. Tatsächlich wissen wir jetzt, dass die meisten Zellen im Neokortex damit beschäftigt sind, Bezugsrahmen zu erstellen und zu verarbeiten, die das Gehirn zum Planen und Denken verwendet.

Dank dieser neuen Erkenntnis zeichneten sich Antworten auf einige der größten Fragen der Neurowissenschaften ab. Fragen wie: Wie werden unsere vielfältigen Sinneseindrücke zu einer einzigen Erfahrung zusammengeführt? Was geschieht, wenn wir denken? Wie können zwei Menschen aufgrund der gleichen Beobachtungen zu unterschiedlichen Überzeugungen gelangen? Und warum haben wir eigentlich ein Ich-Bewusstsein, eine Selbstwahrnehmung?

Dieses Buch erzählt die Geschichte dieser Entdeckungen und die Auswirkungen, die sie für unsere Zukunft haben. Der größte Teil des Materials wurde in wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht, zu denen Sie Angaben am Ende des Buches finden. Beachten Sie dabei bitte, dass wissenschaftliche Abhandlungen nicht wirklich dazu geeignet sind, um komplexe Theorien zu erklären, vor allem nicht in einer Weise, die für Nicht-Fachleute verständlich ist.

Ich habe das Buch in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil beschreibe ich unsere Theorie der Bezugsrahmen, die wir die Thousand-Brains-Theorie – Theorie der tausend Gehirne – nennen. Diese Theorie basiert zum Teil auf logischer Deduktion, daher werde ich Ihnen die Schritte erläutern, die wir unternommen haben, um zu unseren Schlussfolgerungen zu gelangen. Ich werde Ihnen auch ein wenig historischen Hintergrund vermitteln, damit Sie sehen, wie die Theorie mit der Geschichte des Denkens über das Gehirn zusammenhängt. Ich hoffe, dass Sie am Ende des ersten Teils verstehen werden, was in Ihrem Kopf vor sich geht, während Sie sich in der Welt bewegen und darin denken und handeln, und dass Sie eine Vorstellung davon haben, was es bedeutet, intelligent zu sein.

Der zweite Teil des Buches befasst sich mit künstlicher Intelligenz (KI). Das 21. Jahrhundert wird von intelligenten Maschinen genauso verändert werden, wie das 20. Jahrhundert von Computern transformiert wurde. Die Thousand-Brains-Theorie erklärt, warum die heutige KI noch nicht intelligent ist und was wir tun müssen, um wirklich intelligente Maschinen zu bauen. Ich beschreibe, wie intelligente Maschinen in der Zukunft aussehen werden und wie wir sie nutzen können. Zudem erkläre ich, warum einige Maschinen ein Bewusstsein haben werden und was wir dagegen tun sollten – wenn wir denn etwas dagegen unternehmen sollten. Schließlich sind viele Menschen besorgt, dass intelligente Maschinen ein existenzielles Risiko darstellen, dass wir im Begriff sind, eine Technologie zu schaffen, die die Menschheit vernichten wird. Ich bin da anderer Meinung. Unsere Entdeckungen zeigen, warum künstliche Intelligenz für sich genommen gutartig ist. Aber da sie eine mächtige Technologie ist, liegt das Risiko darin, wie der Mensch sie einsetzen könnte.

Im dritten Teil des Buches betrachte ich den Zustand des Menschen aus der Perspektive des Gehirns und der Intelligenz. Das Weltmodell des Gehirns beinhaltet auch ein Modell unseres Selbst. Daraus ergibt sich die seltsame Wahrheit, dass das, was Sie und ich von Augenblick zu Augenblick wahrnehmen, eine Simulation der Welt ist, nicht die wirkliche Welt. Eine Schlussfolgerung der Thousand-Brains-Theorie ist, dass unsere Überzeugungen über die Welt falsch sein können. Ich erkläre, wie es dazu kommen kann, warum es schwierig ist, falsche Überzeugungen zu beseitigen, und wie falsche Überzeugungen in Verbindung mit unseren primitiveren Emotionen unser langfristiges Überleben gefährden.

In den abschließenden Kapiteln gehe ich auf die meiner Meinung nach wichtigste Entscheidung ein, die wir als Spezies treffen müssen. Wir können uns auf zwei verschiedene Arten betrachten. Die eine ist die als biologische Organismen, Produkte der Evolution und der natürlichen Auslese. Aus dieser Betrachtungsweise heraus wird der Mensch durch seine Gene definiert, und der Zweck des Lebens besteht darin, diese Gene zu reproduzieren. Doch wir sind gerade dabei, uns von unserer rein biologischen Vergangenheit zu lösen. Wir haben uns zu einer intelligenten Spezies entwickelt. Wir sind die erste Spezies auf der Erde, die die Größe und das Alter des Universums kennt. Wir sind die erste Spezies, die weiß, wie sich die Erde entwickelt hat und wie wir entstanden sind. Wir sind die erste Spezies, die Werkzeuge entwickelt hat, die es uns ermöglichen, das Universum zu erforschen und seine Geheimnisse zu entdecken. Aus dieser Betrachtungsweise heraus wird der Mensch durch seine Intelligenz und sein Wissen definiert, nicht durch seine Gene. Wenn wir über die Zukunft nachdenken, stehen wir vor der Wahl: Sollen wir uns weiterhin von unserer biologischen Vergangenheit leiten lassen oder uns stattdessen für unsere neu entwickelte Intelligenz entscheiden?

Vielleicht können wir nicht beides gleichzeitig tun. Wir entwickeln leistungsstarke Technologien, die unseren Planeten grundlegend verändern, die Biologie beeinflussen und bald auch Maschinen hervorbringen können, die intelligenter sind als wir selbst. Aber wir verfügen immer noch über die primitiven Verhaltensweisen, die uns an diesen Punkt gebracht haben. Diese Kombination ist das wahre existenzielle Risiko, dem wir uns stellen müssen. Wenn wir bereit sind, Intelligenz und Wissen – und nicht unsere Gene – als das zu akzeptieren, was uns definiert, dann können wir vielleicht eine Zukunft schaffen, die länger andauert und ein höheres Ziel hat.

Der Weg, der zur Thousand-Brains-Theorie führte, war lang und verschlungen. Ich habe Elektrotechnik studiert und hatte gerade meinen ersten Job bei Intel angetreten, als ich Francis Cricks Artikel las. Diese Lektüre hatte eine so tiefgreifende Wirkung auf mich, dass ich beschloss, den Beruf zu wechseln und mein Leben der Erforschung des Gehirns zu widmen. Nach einem erfolglosen Versuch, bei Intel eine Stelle im Bereich der Hirnforschung zu bekommen, bewarb ich mich als Doktorand am MIT-Labor für künstliche Intelligenz. (Ich war der Meinung, dass der beste Weg zur Entwicklung intelligenter Maschinen darin besteht, zuerst das Gehirn zu studieren.) In meinen Vorstellungsgesprächen beim MIT wurde mein Vorschlag, intelligente Maschinen auf der Grundlage der Gehirntheorie zu entwickeln, abgelehnt. Man sagte mir, das Gehirn sei nur ein chaotischer Computer und es habe keinen Sinn, es zu studieren. Enttäuscht, aber nicht entmutigt, schrieb ich mich daraufhin an der University of California (UC), Berkeley, für ein neurowissenschaftliches Doktorandenprogramm ein. Ich begann mein Studium im Januar 1986.

Angekommen in Berkeley wandte ich mich an den Vorsitzenden der Graduiertengruppe für Neurobiologie, Professor Dr. Frank Werblin, und bat ihn um Rat. Er trug mir auf, einen Entwurf über die Forschungsarbeiten zu verfassen, die ich für meine Doktorarbeit durchführen wollte. Darin erklärte ich, dass ich an einer Theorie des Neokortex arbeiten wollte. Ich wusste, dass ich das Problem angehen wollte, indem ich untersuchte, wie der Neokortex Vorhersagen macht. Professor Werblin gab meinen Vorschlag mehreren Fakultätsmitgliedern zum Lesen, von denen er gut aufgenommen wurde. Er teilte mir mit, dass meine Ambitionen bewundernswert seien, mein Ansatz solide und das Problem, an dem ich arbeiten wollte, eines der wichtigsten in der Wissenschaft sei. Aber – und das hatte ich nicht kommen sehen – er sah nicht, wie ich meinen Traum zu diesem Zeitpunkt verfolgen konnte. Als Doktorand der Neurowissenschaften müsste ich für einen Professor arbeiten und dabei ähnlichen Fragen nachgehen wie die, an denen dieser Professor bereits forschte. Und niemand in Berkeley oder an irgendeiner anderen Universität, von der er wusste, widmete sich einem Gebiet, das dem, was ich mir vorstellte, nahe genug kam.

Der Versuch, eine umfassende Theorie der Gehirnfunktion zu entwickeln, wurde als zu ehrgeizig und daher als zu riskant angesehen. Würde ein Student fünf Jahre lang daran arbeiten und keine Fortschritte erzielen, könnte er seinen Abschluss nicht machen. Ähnlich risikoreich war es für Professoren, die unter Umständen deswegen keine Anstellung auf Lebenszeit bekamen. Auch die Stellen, die Forschungsgelder verteilten, hielten es für zu riskant. Forschungsvorschläge, die sich auf Theorien konzentrierten, wurden routinemäßig abgelehnt.

Ich hätte in einem experimentellen Labor arbeiten können, aber nach einigen Vorstellungsgesprächen wusste ich, dass das nicht zu mir passte. Ich würde dort die meiste Zeit damit verbringen, Tiere zu trainieren und zu konditionieren, Versuchsanordnungen zu bauen und Daten zu sammeln. Alle Theorien, die ich entwickeln würde, würden sich auf den Teil des Gehirns beschränken, der in diesem Labor untersucht wurde.

In den folgenden zwei Jahren verbrachte ich meine Tage in der Universitätsbibliothek und las eine neurowissenschaftliche Abhandlung nach der anderen. Ich studierte Hunderte dieser Arbeiten, darunter alle wichtigen Veröffentlichungen der letzten fünfzig Jahre. Ich beschäftigte mich auch damit, was Psychologen, Linguisten, Mathematiker und Philosophen über das Gehirn und die Intelligenz dachten. Ich erhielt eine erstklassige, wenn auch unkonventionelle Ausbildung. Nach zwei Jahren des Selbststudiums war eine Veränderung vonnöten. Deshalb fasste ich einen Plan. Ich würde noch einmal vier Jahre lang in der Industrie arbeiten und dann meine Chancen in der Wissenschaft neu bewerten. So kam es, dass ich zurück ins Silicon Valley ging, um dort an Personal Computern zu arbeiten.

Dort wurde ich nach und nach als Unternehmer erfolgreich. Von 1988 bis 1992 konstruierte ich einen der ersten Tablet-Computer, das GridPad. Dann gründete ich 1992 Palm Computing und entwickelte im Laufe der nächsten zehn Jahre einige der ersten Handheld-Computer und Smartphones wie den PalmPilot und den Treo. Alle, die mit mir bei Palm zusammenarbeiteten, wussten, dass mein Herz an den Neurowissenschaften hing und dass ich meine Arbeit im Bereich der mobilen Computer als etwas Vorübergehendes betrachtete. Die Entwicklung der Handheld-Computer und Smartphones war eine spannende Aufgabe, weil ich wusste, dass sich Milliarden von Menschen letztlich auf diese Geräte verlassen würden. Dennoch war ich der Meinung, dass das Verständnis des Gehirns noch wichtiger sei. Ich glaubte, dass die Gehirntheorie einen größeren positiven Einfluss auf die Zukunft der Menschheit haben würde als die Computertechnik. Und genau deshalb musste ich zur Hirnforschung zurückkehren.

Da sich kein günstiger Zeitpunkt zum Gehen ergab, wählte ich einfach ein Datum, zu dem ich die Unternehmen, die ich mit aufgebaut hatte, verließ. Mit der Unterstützung und dem Anstoß einiger befreundeter Neurowissenschaftler (vor allem Bob Knight von der UC Berkeley, Bruno Olshausen von der UC Davis und Steve Zornetzer vom NASA Ames Research Forschungszentrum) gründete ich 2002 das Redwood Neuroscience Institute (RNI). Das RNI konzentrierte sich ausschließlich auf die neokortikale Theorie und beschäftigte zehn Vollzeitwissenschaftler. Wir alle interessierten uns für groß angelegte Theorien des Gehirns, und das RNI war eines der wenigen Institute weltweit, an dem dieser Schwerpunkt nicht nur toleriert, sondern erwartet wurde. Im Laufe der drei Jahre, in denen ich das RNI leitete, hatten wir über hundert Gastwissenschaftler, von denen einige für ein paar Tage, andere für Wochen blieben. Wir hielten wöchentlich öffentlich zugängliche Vorträge, die in der Regel in stundenlangen Diskussionen und Debatten mündeten.

Alle, die am RNI arbeiteten, einschließlich mir, fanden es großartig. Ich lernte viele der weltweit führenden Neurowissenschaftler kennen und durfte mit ihnen Erfahrungen austauschen. Dadurch konnte ich mir Kenntnisse in verschiedenen Bereichen der Neurowissenschaften aneignen, was in einer typischen akademischen Position nur schwer möglich ist. Es gab bloß ein Problem: Ich wollte die Antworten auf eine Reihe spezifischer Fragen wissen, merkte aber, dass sich das Team nicht auf einen Konsens bei diesen Fragen einließ. Die einzelnen Wissenschaftler waren damit zufrieden, ihr eigenes Ding zu machen. Nach drei Jahren der Institutsleitung kam ich zu dem Schluss, dass ich meine Ziele am besten erreichen konnte, indem ich mein eigenes Forschungsteam leitete.

Dem RNI ging es in jeglicher Hinsicht gut, und so beschlossen wir, es an die UC Berkeley zu verlegen. Ja, genau die Universität, die mir gesagt hatte, ich könne keine Gehirntheorie studieren, entschied neunzehn Jahre später, dass ein Zentrum für Gehirntheorie genau das war, was sie brauchte. Das RNI besteht heute als Redwood Center for Theoretical Neuroscience weiter.

Als das RNI an die UC Berkeley umzog, gründeten mehrere Kollegen und ich Numenta. Numenta ist ein unabhängiges Forschungsunternehmen. Unser primäres Ziel liegt darin, eine Theorie darüber zu entwickeln, wie der Neokortex funktioniert. Unser sekundäres Ziel ist es, das, was wir über Gehirne lernen, auf maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz anzuwenden. Numenta ist vergleichbar mit einem typischen Forschungslabor an einer Universität, besitzt jedoch wesentlich mehr Flexibilität. Ich kann hier ein Team leiten, sicherstellen, dass wir uns alle auf dieselbe Aufgabe konzentrieren, und so oft wie nötig neue Ideen ausprobieren.

Während ich diese Zeilen schreibe, besteht Numenta bereits seit über fünfzehn Jahren, doch in mancher Hinsicht sind wir immer noch wie ein Start-up. Der Versuch herauszufinden, wie der Neokortex funktioniert, stellt eine enorm große Herausforderung dar. Um Fortschritte zu erzielen, brauchen wir die Flexibilität und den Schwung einer Start-up-Firma. Wir brauchen allerdings auch viel Geduld, was für ein Start-up nicht typisch ist. Unsere erste bedeutende Entdeckung – wie Neuronen Vorhersagen treffen – machten wir 2010, fünf Jahre nach unserer Gründung. Die Entdeckung von kartenähnlichen Bezugsrahmen im Neokortex erfolgte sechs Jahre später, im Jahr 2016.

Im Jahr 2019 starteten wir unsere zweite Forschungsinitiative, die Anwendung von Gehirnprinzipien auf maschinelles Lernen. In diesem Jahr begann ich auch, dieses Buch zu schreiben, weil ich unsere Erkenntnisse mit anderen Menschen teilen wollte.

Ich finde es erstaunlich, dass das Einzige im Universum, das weiß, dass das Universum existiert, die drei Pfund schwere Masse von Zellen ist, die in unserem Kopf schwimmt. Das erinnert mich an das alte Rätsel: Wenn ein Baum im Wald fällt und niemand da ist, um es zu hören, hat er dann ein Geräusch gemacht? In ähnlicher Weise können wir fragen: Wenn das Universum entstand und wieder verschwand und es keine Gehirne gab, die davon wussten, hat das Universum dann wirklich existiert? Wer würde es wissen? Ein paar Milliarden Zellen in Ihrem Schädel wissen nicht nur, dass das Universum existiert, sondern auch, dass es groß und alt ist. Diese Zellen haben ein Modell der Welt gelernt, ein Wissen, das, soweit wir das beurteilen können, nirgendwo sonst existiert. Ich habe ein Leben lang versucht zu verstehen, wie das Gehirn dies tut, und ich bin begeistert von dem, was wir gelernt haben. Ich hoffe, Sie werden auch begeistert sein. Lassen Sie uns beginnen.

KAPITEL 1

ALTES GEHIRN – NEUES GEHIRN

Um zu verstehen, wie das Gehirn Intelligenz entwickelt, muss man zunächst ein paar Grundlagen zur Kenntnis nehmen.

Kurz nachdem Charles Darwin seine Evolutionstheorie veröffentlicht hatte, erkannten Biologen, dass sich auch das menschliche Gehirn im Laufe der Zeit weiterentwickelt hat und dass seine Entwicklungsgeschichte sofort erkennbar ist, wenn man bloß einen Blick darauf wirft. Im Gegensatz zu anderen Spezies, die häufig dann verschwinden, wenn neue Arten auftreten, entwickelte sich das Gehirn, indem neue Teile zu den älteren hinzukamen. Zu den ältesten und einfachsten Nervensystemen gehören beispielsweise die Neuronen, die auf dem Rücken winziger Würmer verlaufen. Diese Neuronen ermöglichen es dem Wurm, einfache Bewegungen auszuführen, und sie sind der Vorläufer unseres Rückenmarks, das ebenfalls für viele unserer grundlegenden Bewegungen verantwortlich ist. Als Nächstes trat eine Ansammlung von Neuronen an einem Ende des Körpers auf, die Funktionen wie Verdauung und Atmung steuerte. Dies ist der Vorläufer unseres Stammhirns, das ebenfalls unsere Verdauung und Atmung steuert. Das Stammhirn erweiterte das vorhandene Gehirn, doch es ersetzte es nicht. Im Laufe der Zeit bildete das Gehirn immer komplexere Verhaltensweisen aus, indem es neue Teile zu den älteren hinzufügte. Diese Methode des Wachstums durch Hinzufügung gilt für die Gehirne der meisten komplex entwickelten Tiere. Es ist leicht zu erkennen, warum die alten Gehirnteile noch vorhanden sind. Ganz gleich, wie intelligent und hoch entwickelt wir sind, so sind Atmung, Essen, Sex und Reflexe nach wie vor entscheidend für unser Überleben.

Der jüngste Teil unseres Gehirns ist der Neokortex, was so viel wie »neue äußere Schicht« bedeutet. Alle Säugetiere – und nur sie – haben einen Neokortex. Der menschliche Neokortex ist besonders groß und nimmt etwa 70 Prozent des Volumens unseres Gehirns ein. Könnte man den Neokortex aus dem Kopf nehmen und flach bügeln, wäre er etwa so groß wie eine große Serviette und doppelt so dick (etwa 2,5 Millimeter). Er wickelt sich um die älteren Teile des Gehirns, sodass man beim Betrachten eines menschlichen Gehirns größtenteils den Neokortex (mit seinen charakteristischen Falten und Knicken) sieht, während Teile des alten Gehirns und des Rückenmarks unten herausragen.

Der Neokortex ist das Organ der Intelligenz. Fast alle Fähigkeiten, die wir als Intelligenz bezeichnen – wie Sehen, Sprechen, Musik, Mathematik, Wissenschaft und Technik – werden vom Neokortex erzeugt. Wenn wir über etwas nachdenken, ist es überwiegend der Neokortex, der das Denken übernimmt. Ihr Neokortex liest dieses Buch oder hört es sich als Audiodatei an, und mein Neokortex hat dieses Buch geschrieben. Wenn wir Intelligenz verstehen wollen, dann müssen wir begreifen, was der Neokortex tut und wie er es tut.

Ein Tier braucht keinen Neokortex, um ein komplexes Leben zu führen. Das Gehirn eines Krokodils entspricht in etwa unserem Gehirn, allerdings ohne einen richtigen Neokortex. Ein Krokodil hat ausgeklügelte Verhaltensweisen, kümmert sich um seine Jungen und weiß, wie es sich in seiner Umgebung zurechtfindet. Die meisten Menschen würden sagen, dass ein Krokodil ein gewisses Maß an Intelligenz besitzt, die aber nicht annähernd an die menschliche Intelligenz heranreicht.

Ein menschliches Gehirn

Der Neokortex und die älteren Teile des Gehirns sind über Nervenfasern miteinander verbunden, daher können wir sie nicht als völlig getrennte Organe betrachten. Sie sind eher wie WG-Mitglieder, mit unterschiedlichen Zielen und Persönlichkeiten, die aber zusammenarbeiten müssen, um etwas zu erreichen. Der Neokortex befindet sich dabei in einer ausgesprochen unfairen Position, da er das Verhalten nicht direkt steuert. Im Gegensatz zu anderen Teilen des Gehirns ist keine der Zellen im Neokortex direkt mit den Muskeln verbunden, sodass er von sich aus keine Muskeln bewegen kann. Wenn der Neokortex etwas tun möchte, sendet er ein Signal an das alte Gehirn und bittet es gewissermaßen, seine Befehle auszuführen. So ist beispielsweise die Atmung eine Funktion des Stammhirns, die keine Denkleistung oder Eingabe des Neokortex erfordert. Der Neokortex kann die Atmung vorübergehend kontrollieren, zum Beispiel wenn wir uns bewusst dafür entscheiden, den Atem anzuhalten. Wenn das Stammhirn jedoch feststellt, dass der Körper mehr Sauerstoff benötigt, ignoriert es den Neokortex und übernimmt wieder die Kontrolle. Ähnlich könnte der Neokortex denken: »Iss dieses Stück Kuchen nicht. Es ist nicht gesund.« Wenn aber die älteren und primitiveren Teile des Gehirns sagen: »Sieht gut aus, riecht gut, iss ihn«, kann es ziemlich schwer sein, dem Kuchen zu widerstehen. Dieser Kampf zwischen dem alten und dem neuen Gehirn ist ein Grundthema dieses Buches. Er wird eine wichtige Rolle spielen, wenn wir die existenziellen Risiken diskutieren, denen die Menschheit gegenübersteht.

Das alte Gehirn besteht aus Dutzenden von einzelnen Organen, die jeweils eine bestimmte Funktion haben. Sie sind visuell unterscheidbar, und ihre Formen, Größen und Verbindungen spiegeln wider, was sie tun. So gibt es beispielsweise in der Amygdala, einem älteren Teil des Gehirns, mehrere erbsengroße Organe, die für verschiedene Arten von Aggression zuständig sind, etwa für vorsätzliche und impulsive Aggression.

Der Neokortex ist auf überraschende Weise anders. Obwohl er fast drei Viertel des Gehirnvolumens einnimmt und für eine Vielzahl kognitiver Funktionen verantwortlich ist, hat er keine offensichtlichen visuellen Unterteilungen. Seine Falten und Knicke sind notwendig, damit der Neokortex in den Schädel passt, ähnlich wie wenn man eine Serviette in ein Weinglas drückt. Ignoriert man die Falten und Knicke, sieht der Neokortex aus wie ein großes Blatt mit Zellen, jedoch ohne offensichtliche Unterteilungen.

Dennoch ist der Neokortex in mehrere Dutzend Bereiche oder Regionen unterteilt, die unterschiedliche Funktionen erfüllen. Einige der Regionen sind für das Sehen, andere für das Hören und wieder andere für den Tastsinn zuständig. Es gibt auch Regionen, die für Sprache und Planung verantwortlich sind. Wenn der Neokortex beschädigt wird, hängen die auftretenden Defizite davon ab, welcher Teil des Neokortex betroffen ist. Eine Schädigung des Hinterkopfes führt zu Blindheit, und eine Schädigung der linken Seite könnte zum Verlust der Sprache führen.

Die Regionen des Neokortex sind über Bündel von Nervenfasern miteinander verbunden, die unter dem Neokortex verlaufen; man bezeichnet diesen Teil als die weiße Substanz des Gehirns. Indem sie diese Nervenfasern sorgfältig untersuchen, können Wissenschaftler feststellen, wie viele Regionen es gibt und wie sie miteinander verbunden sind. Da es jedoch schwierig ist, menschliche Gehirne zu untersuchen, war das erste komplexe Säugetier, das auf diese Weise analysiert wurde, der Makakenaffe. Im Jahr 1991 kombinierten zwei Wissenschaftler, Daniel Felleman und David Van Essen, Daten aus Dutzenden von Einzelstudien, um eine mittlerweile berühmte Abbildung des Neokortex des Makakenaffen zu erstellen. Die Abbildung zeigt eines der Bilder, die sie erstellt haben (eine Karte des menschlichen Neokortex würde im Detail anders aussehen, aber in der Gesamtstruktur ähnlich sein).

Die Dutzenden von kleinen Rechtecken in diesem Bild stellen die verschiedenen Regionen des Neokortex dar, und die Linien zeigen, wie Informationen von einer Region zur anderen durch die weiße Substanz fließen.

Verbindungen im Neokortex

Eine gängige Interpretation dieses Bildes lautet, dass der Neokortex hierarchisch aufgebaut ist, wie ein Flussdiagramm oder Programmablaufplan. Eingaben von den Sinnesorganen kommen unten an (in diesem Diagramm ist die Eingabe von der Haut links und die Eingabe von den Augen rechts). Die Eingabe wird in einer Reihe von Schritten verarbeitet, von denen jeder immer komplexere Merkmale aus der Eingabe extrahiert. Die erste Region, die Eingaben von den Augen erhält, kann beispielsweise einfache Muster wie Linien oder Kanten erkennen. Diese Informationen werden an die nächste Region weitergeleitet, die möglicherweise komplexere Merkmale wie Ecken oder Formen erkennt. Dieser schrittweise Prozess wird fortgesetzt, bis einige Regionen vollständige Objekte erkennen.

Für die Interpretation der Flussdiagramm-Hierarchie gibt es zahlreiche Belege. Wenn Wissenschaftler beispielsweise die Zellen in den Regionen am unteren Ende der Hierarchie betrachten, stellen sie fest, dass diese am besten auf einfache Merkmale reagieren, die Zellen in der nächsten Region hingegen auf komplexere Merkmale. Und manchmal finden sie Zellen in höheren Regionen, die auf vollständige Objekte reagieren. Es gibt andererseits jedoch auch viele Hinweise darauf, dass der Neokortex nicht wie ein Flussdiagramm aufgebaut ist. Wie Sie in der Abbildung sehen können, sind die Regionen nicht übereinander angeordnet, wie es in einem Flussdiagramm der Fall wäre. Auf jeder Ebene befinden sich mehrere Regionen, und die meisten Regionen sind mit mehreren Ebenen der Hierarchie verbunden. Tatsächlich passen die meisten Verbindungen zwischen den Regionen überhaupt nicht in ein hierarchisches Schema. Außerdem fungieren nur einige der Zellen in jeder Region als Merkmalsdetektoren. Die Wissenschaftler waren bislang nicht in der Lage zu ermitteln, was die Mehrheit der Zellen in jeder Region tut.

Wir stehen also vor einem Rätsel. Das Organ der Intelligenz, der Neokortex, ist in Dutzende von Regionen unterteilt, die unterschiedliche Aufgaben haben, oberflächlich betrachtet aber alle gleich aussehen. Diese Regionen sind in einem komplexen Mischmasch miteinander verbunden, der ein wenig wie ein Flussdiagramm wirkt, was aber überwiegend wiederum nicht zutrifft. Es ist nicht sofort klar, warum das Organ der Intelligenz so aussieht.

Werfen wir als Nächstes einen Blick in das Innere des Neokortex und schauen uns die detaillierten Schaltkreise innerhalb seiner 2,5 Millimeter dicken Struktur an. Auch wenn verschiedene Bereiche des Neokortex von außen gleich aussehen, könnte man annehmen, dass die detaillierten neuronalen Schaltkreise, die für das Sehen, den Tastsinn und die Sprache verantwortlich sind, im Inneren ein unterschiedliches Bild zeigen. Aber das ist nicht der Fall.

Der erste Wissenschaftler, der die detaillierten Schaltkreise im Inneren des Neokortex untersuchte, war Santiago Ramón y Cajal. Ende des 19. Jahrhunderts wurden Färbetechniken entdeckt, die es ermöglichten, einzelne Neuronen im Gehirn mit einem Mikroskop zu betrachten. Cajal nutzte diese Färbungen, um Bilder von jedem Teil des Gehirns zu erstellen. Er schuf Tausende von Bildern, die zum ersten Mal zeigten, wie Gehirne auf zellulärer Ebene aussehen. Alle diese schönen und komplizierten Bilder des Gehirns zeichnete Cajal von Hand. Für seine Arbeit erhielt er später den Nobelpreis. Folgend sehen Sie zwei Zeichnungen, die Cajal vom Neokortex anfertigte. Das linke Bild zeigt nur die Zellkörper der Neuronen, das rechte die Verbindungen zwischen den Zellen. Diese Bilder stellen einen Schnitt durch die 2,5 Millimeter dicke Schicht des Neokortex dar.

Die Substanzen, die für diese Bilder verwendet werden, färben nur einen kleinen Prozentsatz der Zellen ein. Das ist ein Glücksfall, denn wenn alle Zellen gefärbt wären, würden wir nur schwarz sehen, schließlich ist die tatsächliche Anzahl der Neuronen viel größer als das, was wir hier sehen.

Das Erste, was Cajal und andere Wissenschaftler beobachteten, war, dass die Neuronen im Neokortex in Schichten angeordnet zu sein scheinen. Die Schichten, die parallel zur Oberfläche des Neokortex verlaufen (im Bild horizontal), werden durch Unterschiede in der Größe der Neuronen und der Dichte ihrer Anordnung verursacht. Stellen Sie sich vor, Sie gäben jeweils zwei Zentimeter Erbsen, Linsen und Sojabohnen in einen Glaszylinder. Wenn man den Zylinder von der Seite betrachtet, würde man drei Schichten sehen. Sie können die Schichten in den Bildern oben ebenfalls erkennen. Wie viele Schichten es gibt, hängt davon ab, wer die Zählung vornimmt und welche Kriterien er für die Unterscheidung der Schichten verwendet. Cajal sah sechs Schichten. Einer einfachen Interpretation zufolge erfüllt jede Schicht von Neuronen eine andere Aufgabe.

Neuronen in einem Schnitt durch den Neokortex

Heute wissen wir, dass es im Neokortex Dutzende verschiedener Arten von Neuronen gibt, nicht nur sechs. Die Wissenschaftler verwenden allerdings weiterhin die Terminologie des sechsschichtigen Aufbaus. So kann zum Beispiel ein Zelltyp in Schicht 3 und ein anderer in Schicht 5 zu finden sein. Schicht 1 befindet sich an der äußersten Oberfläche des Neokortex, die dem Schädel am nächsten ist, oben in Cajals Zeichnung. Schicht 6 befindet sich in der Mitte des Gehirns und ist am weitesten vom Schädel entfernt. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die Schichten nur ein grober Anhaltspunkt dafür sind, wo eine bestimmte Art von Neuronen zu finden sein könnte. Vielmehr kommt es darauf an, mit was sich ein Neuron verbindet und wie es sich verhält. Wenn man Neuronen nach ihrer Konnektivität klassifiziert, gibt es Dutzende von Typen.

Die zweite Beobachtung, die sich aus diesen Bildern ergab, war, dass die meisten Verbindungen zwischen Neuronen vertikal, zwischen den Schichten, verlaufen. Neuronen sehen wie Bäume aus, haben astartige Fortsätze, Axone und Dendriten genannt, die es ihnen ermöglichen, einander Informationen zu übermitteln. Cajal stellte fest, dass die meisten Axone zwischen den Schichten verlaufen, und zwar senkrecht zur Oberfläche des Neokortex (in den Bildern oben und unten). Die Neuronen in einigen Schichten stellen horizontale Verbindungen über große Entfernungen her, aber die meisten Verbindungen sind vertikal. Das bedeutet, dass Informationen, die in einer Region des Neokortex ankommen, hauptsächlich zwischen den Schichten auf und ab wandern, bevor sie an eine andere Stelle weitergeleitet werden.

In den 120 Jahren, seit Cajal das Gehirn zum ersten Mal abgebildet hat, haben Hunderte von Wissenschaftlern den Neokortex untersucht, um so viele Details wie möglich über seine Neuronen und Schaltkreise zu erfahren. Es gibt Tausende von wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema, weit mehr als ich zusammenfassen kann. Stattdessen möchte ich drei allgemeine Beobachtungen hervorheben.

1. Die lokalen Schaltkreise im Neokortex sind komplex

In einem Quadratmillimeter des Neokortex (etwa 2,5 Kubikmillimeter) befinden sich etwa einhunderttausend Neuronen, fünfhundert Millionen Verbindungen zwischen Neuronen (die man Synapsen nennt) und mehrere Kilometer von Axonen und Dendriten. Stellen Sie sich vor, Sie verlegen mehrere Kilometer Draht entlang einer Straße und versuchen dann, ihn auf zwei Kubikmillimeter zu quetschen, was etwa der Größe eines Reiskorns entspricht. Auf jedem Quadratmillimeter befinden sich Dutzende verschiedener Arten von Neuronen, und jede Art von Neuronen stellt prototypische Verbindungen zu anderen Arten von Neuronen her. Wissenschaftler beschreiben die Regionen des Neokortex oft so, dass sie eine einfache Funktion erfüllen, wie zum Beispiel das Erkennen von Merkmalen. Es braucht jedoch nur eine Handvoll Neuronen, um bestimmte Merkmale zu erkennen. Die präzisen und äußerst komplexen neuronalen Schaltkreise, die überall im Neokortex zu finden sind, zeigen uns, dass jede Region etwas weitaus Komplexeres tut als das Erkennen von Merkmalen.

2. Der Neokortex sieht überall ähnlich aus

Die komplexen Schaltkreise des Neokortex sehen in den visuellen Regionen, den Sprachregionen und den Tastregionen bemerkenswert ähnlich aus. Sogar bei verschiedenen Spezies wie Ratten, Katzen und Menschen hat der Neokortex ein ähnliches Aussehen. Es gibt aber auch Unterschiede. So sind in einigen Regionen des Neokortex bestimmte Zellen in größerer Zahl vorhanden und andere in geringerer Zahl, und in manchen Regionen gibt es einen zusätzlichen Zelltyp, der anderswo nicht zu finden ist. Was auch immer diese Regionen des Neokortex tun, so profitieren sie vermutlich von diesen Unterschieden. Insgesamt jedoch sind die Unterschiede zwischen den Regionen im Vergleich zu ihren Gemeinsamkeiten relativ gering.

3. Jeder Teil des Neokortex erzeugt Bewegung