Aachener Scheinheilige - Ingrid Davis - E-Book

Aachener Scheinheilige E-Book

Ingrid Davis

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Beschreibung

Ein Stich mitten ins klösterliche Wespennest An einem kalten Januarabend stürzt ein Mann vom Dach des Aachener Doms in den Tod – direkt vor die Füße von Privatdetektivin Britta Sander. Ein tragisches Unglück oder doch ein kaltblütiger Mord? Der Tote heißt Rikkard Deile, und die Nachforschungen zu seiner Person führen Britta und Kommissar Körber ins Kloster der Brüder des Heiligen Silas, wo es gar nicht lange dauert, bis der heilige Schein zu bröckeln beginnt. Je tiefer die Ermittler im klösterlichen Leben herumstochern desto mehr Abgründe tun sich auf, und mehr als ein Mitbruder des Toten hatte gute Gründe, dessen Lebenslicht zu löschen. Bevor es Britta & Co. gelingen kann, das Geflecht aus Habgier, Neid und Zorn zu entwirren, das sich ihnen offenbart, geschieht ein weiterer Mord, und die Ermittler müssen ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um den erbarmungslosen Killer zur Strecke zu bringen …

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Seitenzahl: 466

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Ingrid Davis

Aachener Scheinheilige

Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Aachener Todesreigen

Aachener Intrigen

Aachener Gangster

Aachener Untiefen

Aachener Abgründe

Aachener Abrechnung

Aachener Zwietracht

Aachener Hindernisse

Ingrid Davis (Jahrgang 1969) ist gebürtige Aachenerin und begann bereits im Alter von zehn Jahren mit dem Schreiben von Kurzgeschichten, Novellen und Gedichten. Ihr Weg führte sie nach dem Studium (Englische Literatur und Geschichte) jedoch zunächst nicht in die Schriftstellerei, sondern ins Marketing und Projektmanagement. Hauptberuflich ist sie auch heute noch als Marketingmanagerin tätig und lebt bei Aachen. Neben dem Krimischreiben verbringt sie ihre Freizeit gerne mit Reisen, Kino, Literatur und Strategiespielen.

Aachener Scheinheilige ist der neunte Band der Reihe um die schlagfertige Privat-Ermittlerin Britta Sander, die ein verhängnisvolles Talent besitzt, in gefährliche Situationen zu geraten.

Ingrid Davis

AACHENER SCHEINHEILIGE

Britta Sanders neunter Fall

Originalausgabe

© 2024 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Krampunter Verwendung von © Markus - Fotolia.de

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

ISBN 978-3-95441-677-6 (Taschenbuch)

ISBN 978-3-95441-688-2 (eBook)

Für Maria Dombrowa,

Powerfrau mit unendlich großem Herzen

INHALT

REGISTER DER HAUPTFIGUREN

PROLOG: FREITAG, 3. JANUAR

FREITAG, 3. JANUAR

SAMSTAG, 4. JANUAR

SONNTAG, 5. JANUAR

FREITAG, 10. JANUAR

EPILOG: SAMSTAG, 11. JANUAR

DANKE

REGISTER DER HAUPTFIGUREN

Britta Sander

Privatdetektivin in der Detektei Schniedewitz & Schniedewitz

Anne-Roos de Vries

Eric Lautenschläger

Silke Juratha

Steffi Zurek

Marc Achten

Brittas Kolleginnen und Kollegen

Kriminalhauptkommissar (KHK) Matthias Körber

Brittas Partner

Sammy

Brittas kleine, schwarze und immer hungrige Promenadenmischung

Tom Hartwig

Ex-Gangsterboss und enger Freund Brittas

Daria May

Tom Hartwigs Geschäftspartnerin

Tahar Karim

französischer IT-Sicherheitsexperte und Brittas bester Freund

Jyoti Chandra

Brittas älteste Freundin

Petra Hoffmann, geb. Sander

Brittas Schwester

Gregor Hoffmann

Brittas Schwager

Felix, Finn, Pip und Ronja Hoffmann

Brittas Neffen und Nichte

Elise Dion

alias »Die blaue Elise«

Geschäftsführerin bei Schniedewitz & Schniedewitz

Martin Sander

Brittas zweitältester Bruder und Inhaber von Schniedewitz & Schniedewitz

Holger Sander

alias »Chefarzt Dr. Holger«

Brittas ältester Bruder

Jürgen Sander

Brittas drittältester Bruder

Polizeikommissar (PK)

Lukas Körber

Körbers jüngster Bruder

Oberst a. D. Krause

Brittas Nachbar

Harry Schlüper

geläuterter Ex-Knacki und Privatdetektiv

Erster Kriminalhauptkommissar (EKHK)

Eduard Bienwald

Leiter des KK 11

PROLOG

FREITAG, 3. JANUAR

20:05 Uhr

Als Rikkard Deile den Vorhof des altehrwürdigen Kaiserdoms zu Aachen betrat, blieb er wie immer stehen und ließ seinen Blick langsam am Glockenturm emporwandern. Egal, wie oft er hierherkam, der Krönungsort mittelalterlicher Könige verfehlte nie seine Wirkung auf ihn.

Der stolze Turm, der sich dem Himmel entgegenreckte, beschirmte gen Westen das Herz der Marienkirche Karls des Großen – das weltberühmte Oktogon mit seinem reich verzierten Gewölbe, dem Krönungsthron und dem ausladenden Barbarossa-Leuchter.

Auch wenn er sie von seiner Position aus nicht sehen konnte, wanderten seine Gedanken durch das zentrale Achteck gemächlich in die mehr als dreißig Meter hohe gotische Chorhalle mit dem Schrein, der die Gebeine Karls des Großen barg. Wie jedes Mal, wenn er hier stand und sein inneres Auge gemächlich durch den so vertrauten Dom wandern ließ, neigte er leicht den Kopf und schloss für eine Minute die Augen. Damit ehrte er bei jedem Besuch die jungen Leute der Feuerlöschgruppe, die im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs vier Jahre lang dafür gesorgt hatten, dass der Aachener Dom nicht in Flammen aufging. Der jüngste von ihnen war nur zehn Jahre alt gewesen.

Rikkard hob den Kopf und öffnete die Augen. Mit einem leisen Schmunzeln im Mundwinkel nahm er die Gänsehaut zur Kenntnis, die ihn jedes Mal überlief, wenn er an die Jungs der alten Feuerwache dachte.

Ohne den anderen Menschen im Domhof auch nur die geringste Beachtung zu schenken, schritt er entspannt auf die sagenumwobene Wolfstür zu, während er in seiner Tasche nach dem Schlüssel griff. Der Dom war um diese Zeit längst geschlossen, aber der Innenraum war auch gar nicht sein Ziel. Er hielt auf die unauffällige, blaue Holztür links neben dem Eingangsportal des Doms zu, schloss sie auf und betrat den Vorraum des Treppenaufgangs.

Mit einem Mal fühlte er Ungeduld in sich aufsteigen. Ungeduld, den einen Ort zu erreichen, an dem er wirklich zur Ruhe kam; an dem ihn niemand störte; an dem er so gut nachdenken konnte wie nirgendwo sonst. Eilig schloss er die Eingangstür hinter sich, knipste die mitgebrachte Taschenlampe an und begann mit großen Schritten die flachen Steinstufen zu erklimmen, die ihn bis in die Dachstühle des Doms führen würden. Dort war sein Refugium – und das nicht nur, weil außer dem Dombaumeister nur wenige Menschen dort Zutritt hatten.

Die schmiedeeiserne Gittertür, die sich ihm nach zahlreichen Stufen in den Weg stellte, öffnete er mit seinem Schlüssel und ließ sie hinter sich offen. Außer ihm war niemand hier, und er würde auf dem gleichen Weg wieder herunterkommen.

Ohne den Gipsabgüssen verschiedener Zierelemente des Doms Beachtung zu schenken, kletterte er im sogenannten Gips-Raum zügig die knarzende Holztreppe hinauf, durchquerte den kleinen Raum unter dem Glockenstuhl und trat auf die steinerne Brücke zwischen Westturm und Oktogon, von der früher bei den Heiligtumsfahrten die Reliquien gezeigt worden waren.

Hier machte er kurz Halt, um das ameisenhafte Treiben weit unter ihm eine Weile zu betrachten. Es war dunkel und kalt, aber trocken. Glück für die Veranstalter des neu ins Leben gerufenen »Öcher Neujahrsfests«, das am ersten Januarwochenende die graue, nachweihnachtliche Stimmung vertreiben und die Innenstadt im Glanz Tausender Lichter erstrahlen lassen sollte. Die Buden und Stände des Neujahrsfests erstreckten sich vom Katschhof bis zum Münsterplatz, und es war so gut besucht, dass das Stimmengemurmel als lebhaftes Raunen zu ihm nach oben drang. Er stützte sich mit den Unterarmen auf der massiven, steinernen Balustrade ab und ließ seinen Blick über das bunte Treiben schweifen. Warm und einladend sah es aus, und immer wieder einmal drang helles Gelächter an seine Ohren. Trotzdem fühlte er eine leichte Verärgerung. Am liebsten hatte er es bei seinen Besuchen auf dem Domdach, wenn sich keine Menschenmassen durch die Innenstadt wälzten. Aber gut. Das Leben war nun mal kein Wunschkonzert.

Nach einer Weile wandte Rikkard sich ab und machte sich wieder auf den Weg zu seinem eigentlichen Ziel. Er war nicht hier, um Menschen zu beobachten, sondern um in Ruhe nachzudenken. Er war noch nie ein ängstlicher Typ gewesen und hatte schon immer ruhig und besonnen agiert, auch in Situationen, in denen andere in nackte Panik verfallen würden. Aber das Problem, mit dem er sich jetzt konfrontiert sah, stellte selbst ihn vor eine Herausforderung, von der er noch nicht wusste, ob er ihr gewachsen war. Er nahm die beiden Stufen zu der rostroten Holztür und betrat den Dachstuhl des Oktogons. Ohne sich aufzuhalten, umrundete er den gipsummantelten Eisenanker, der die Chorhalle sicherte und aussah wie eine Mischung aus einer Kralle und einem Spinnennetz.

Die offene Metalltreppe auf der gegenüberliegenden Seite führte ihn geradewegs auf den Laufgitterweg durch den Dachstuhl der Chorhalle. Achtlos schritt er an den hohen Holztreppen vorbei, die man erklimmen musste, wollte man den obersten Bereich des Dachstuhls betreten.

Als er die niedrige Holztür mit Glaseinsatz öffnete, die ihn auf die Galerie der Chorhalle führte, atmete er erleichtert auf. Endlich war er dort, wo er sein wollte. Allein und buchstäblich über den Dingen. Vielleicht würde sich ihm hier oben endlich eine Lösung für sein Problem eröffnen. Stören würde ihn hier sicher niemand. Schon gar nicht zu dieser fortgeschrittenen Uhrzeit.

Er schloss die Tür wieder, die von dieser Seite eher wie ein Fenster aussah, und ging auf die Südseite des Gebäudes. Auch hier blickte man auf den Münsterplatz und die Dächer der umliegenden Häuser. Die steinerne Balustrade, die den Dachumlauf umfasste, ging dem groß gewachsenen Rikkard ungefähr bis zum Bauchnabel. Er hatte es schon immer als positive Fügung empfunden, dass er frei von Schwindelgefühlen oder gar Höhenangst war. Wenn er als Junge mal wieder vollkommen ohne Angst auf dem Dach des elterlichen Bauernhauses herumgeklettert war, hatte sein Vater so manches Mal gescherzt, dass er wohl amerikanische Ureinwohner unter seinen Vorfahren gehabt haben müsse.

Deshalb dachte Rikkard gar nicht groß nach, als er sich rückwärts aufstützte und mit dem Gesäß auf die Balustrade setzte. Dann schwang er erst das rechte und dann das linke Bein über das steinerne Geländer, rutschte zur Sicherheit mit dem Gesäß noch ein wenig nach hinten und kam so in seiner angestammten Denkhaltung hoch oben auf der Balustrade der Chorhalle zu sitzen.

Endlich Ruhe, dachte er, endlich ungestört nachdenken.

Durch das Stimmengewirr, das wie das Summen eines Bienenschwarms klang, hörte Rikkard das leise, scharrende Geräusch hinter sich nicht. Und die Hände, die ihn unbarmherzig in die Tiefe stießen, spürte er erst, als es bereits zu spät war.

FREITAG, 3. JANUAR

20:05 Uhr

Entspannt ließ ich mein Fahrrad die Jakobstraße in Richtung Innenstadt hinunterrollen. Sammy, der normalerweise neben dem Rad herlief, saß wegen des Neujahrsfestverkehrs sicherheitshalber im Lenkradkorb und ließ sich den kalten Fahrtwind um die schwarzen Ohren wehen. Ich überquerte gerade die Kreuzung Karlsgraben, als sich meine Smartwatch mit einer Nachricht meiner Freundin Jyoti meldete: Sind am Münsterplatz, direkt beim Dom, vor der Chorhalle. Beeil dich, dein Met wird kalt!!!

»Den setz ich der blauen Elise auf die Rechnung«, knurrte ich, während ich energisch in die Pedale trat und kurz darauf mit etwas zu viel Schwung die Kurve in die Klappergasse nahm.

Ich hatte schon längst unterwegs sein wollen, als Elise Dion, Geschäftsführerin der Detektei Schniedewitz & Schniedewitz, mich wieder einmal in letzter Sekunde mit Rückfragen zu einer Abrechnung überfallen hatte, die locker bis nach dem Wochenende hätten warten können. Wir hatten schon vor Wochen begonnen, ein Muster zu erkennen – jedes Mal, wenn der Uhrzeiger sich Richtung Feierabend bewegte, stand die blaue Elise mit vorwurfsvoll zusammengekniffenen Lippen in der Tür und hatte irgendwelche Fragen, deren vermeintliche Dringlichkeit sich außer ihr niemandem erschloss.

Nach dem Einbiegen in die Klappergasse musste ich mein Tempo drastisch drosseln, sonst hätte es den armen Sammy aus dem Körbchen katapultiert. Meiner bescheidenen Meinung nach ging der Name Klappergasse weder auf die Skelettknochen auferstandener Bischöfe zurück noch auf die früher nahe gelegene Brudermühle – sondern darauf, dass einem als Radfahrer auf dem Kopfsteinpflaster die Zähne aufeinanderschlugen.

Am Fischpüddelchen stieg ich ab, hob Sammy aus dem Korb und kettete mein Rad im Dunstkreis des Domshops an einer der Laternen fest. Nachdem Sammy sich direkt unter dem Schaufenster seufzend erleichtert hatte, eilten wir über den kleinen Hof vor dem Westturm des Doms, auf dem für diese Uhrzeit überraschend reger Publikumsverkehr herrschte.

Als ich über den kleinen Durchgang den Münsterplatz betrat, sah ich schon, was Jyoti gemeint hatte. Offenbar hatte ganz Aachen beschlossen, dem neuen Öcher Neujahrsfest einen abendlichen Besuch abzustatten. Um ihn vor versehentlichen Fußtritten zu schützen, nahm ich Sammy auf den Arm und bahnte mir einen Weg zu der Stelle, an der ich meine Freunde vermutete. Es dauerte nicht lange, da hatte ich meinen Kollegen Eric Lautenschläger entdeckt. Zwei Meter große, blonde Wikinger übersah man nicht so leicht.

»Meine Fresse, haben die alle kein Zuhause?«, ächzte ich, als ich endlich mein Ziel erreichte.

»Du müsstest mal den Katschhof sehen«, sagte Jyoti, als sie mich zur Begrüßung umarmte, »als gäbe es morgen nichts mehr zu trinken.«

»Apropos«, sagte ich hoffnungsfroh, als ich nacheinander meinen besten Freund Tahar Karim, meine holländische Kollegin Anne-Roos und schließlich meinen Partner, Kriminalkommissar Körber, begrüßte. »Wo ist denn mein alkoholhaltiges Heißgetränk?«

Aller Augen richteten sich gleichzeitig auf Körber, der wenigstens den Anstand besaß, leicht zu erröten. »Der Met drohte kalt zu werden, da konnte ich doch nicht tatenlos zusehen«, brummte er mit einem unschuldigen Augenaufschlag.

»Auf der Couch wird es heute Nacht auch sehr einsam und kalt«, grinste ich.

»Ich glaubö, du sorgst bessör für Nachschub, Körbör.« Tahar wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. »Sonst wird das einö sehr langö, einsamö Nacht.«

Körber warf einen Blick auf seine Armbanduhr und wiegte den Kopf hin und her. »Das wäre jetzt eine klassische Kosten-Nutzen-Rechnung. Bis ich mich bis zum Katschhof und wieder zurückgekämpft habe, ist vermutlich sowieso das Morgengrauen angebrochen.«

»Hier bricht gleich noch ein ganz anderes Grauen an, wenn ich den ganzen Weg völlig umsonst gefahren bin«, sagte ich mit bedrohlichem Unterton.

»Abör, abör«, protestierte Tahar entrüstet. »Allein unserö erlauchtö Gesellschaft muss es doch w…«

Ein schriller, spitzer Schrei irgendwo von der gegenüberliegenden Seite des Münsterplatzes unterbrach Tahar mitten im Wort. Eine Sekunde später prallte etwas mit einem dumpfen, schweren Geräusch auf den Boden des schmalen Domgartens. Alle Gespräche um uns herum verstummten schlagartig. Körber und Tahar, die mit dem Rücken zur Metallumzäunung des Doms gestanden hatten, fuhren wie der Blitz herum und gaben den Blick auf den kleinen Domgarten frei.

Es dauerte vielleicht ein oder zwei Sekunden, bis wir begriffen, was wir sahen. Im gleichen Moment brach um uns herum panisches Gekreische aus.

Jyoti reagierte am schnellsten. »Körber, ruf den Notarzt! Und deine Kollegen. Hier muss sofort alles abgeriegelt werden! Eric, Tahar, helft Britta und mir da rüber und versucht dann, die Sicht zu blockieren. Anne-Roos, halt nach den Rettungskräften Ausschau, damit die wissen, wo sie hinmüssen. Los, los, los!«

Während Körber sich geistesgegenwärtig Sammy schnappte, sein Handy aus der Hosentasche riss und schnelle, kernige Befehle hineinbellte, fackelten auch Eric und Tahar nicht lange. Sie stellten sich nebeneinander vor das mannshohe Gitter, das den kleinen Domgarten vom Münsterplatz trennte, und falteten ihre Hände zur Räuberleiter. Im Nu waren Jyoti und ich auf der anderen Seite.

Jyoti stürzte zu dem Mann, der reglos auf dem begrünten Boden lag, und begann sofort damit, ihn nach Lebenszeichen zu untersuchen. Ich hatte mein Handy gezückt und schoss in blinder Eile ein paar Fotos. Wer wusste schon, ob wir es mit einem Unfall zu tun hatten oder mit etwas anderem.

»Hilf mir mal, schnell!«, rief Jyoti, »wir müssen ihn umdrehen!«

»Atmet er noch?«, fragte ich leise, während wir gemeinsam zupackten.

»Ich glaube nicht, aber ich will ganz sichergehen«, gab Jyoti noch leiser zurück. Mit vereinten Kräften drehten wir den großen, gut trainierten Mann so vorsichtig wie möglich auf die Seite. Hinter uns kämpften Eric und Tahar auf verlorenem Posten gegen den Ansturm der sensationsgierigen Neujahrsfestbesucher.

Jyoti war als Rechtsmedizinerin Schlimmes gewöhnt, und auch mich hauten hässliche Verletzungen normalerweise nicht um, aber als wir erblickten, wie das Gesicht des Mannes nach dem Absturz aus bestimmt dreißig Metern Höhe aussah, tauschten wir einen kurzen Blick.

Dass der Schädel massiv verformt war, hatte man schon von hinten gesehen. Jetzt sahen wir aber erst, dass sowohl die Kopfhaut als auch verschiedene Stellen des Gesichts Reißwunden aufwiesen.

Jyoti beugte sich tief über das blutige Gesicht, um nach Atemgeräuschen zu lauschen, und suchte gleichzeitig am Hals des Mannes nach einem Puls.

Ich weiß nicht, wo sie sie herhatte, aber Anne-Roos warf plötzlich zwei Decken zu uns rüber. Eine gab ich Jyoti, die andere warf ich als notdürftigen Sichtschutz über das Gitter.

Es fühlte sich wie eine halbe Ewigkeit an, bis wir endlich die erste Sirene hörten und ein Blaulicht begann, sich langsam, aber bestimmt einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen, die nur widerwillig Platz machte.

Jyoti, die auf dem Boden kniete, richtete sich schließlich auf und kam auf die Füße. »Der Notarzt braucht sich nicht mehr zu beeilen«, sagte sie ruhig, als sie den unbekannten Mann zudeckte. »Er kann hier nichts mehr tun.«

* * *

Als ich einige Zeit später auf dem Domhof zu Körber stieß, hatte der immer noch oder schon wieder das Handy am Ohr und lauschte mit grimmiger Miene seinem Gesprächspartner am anderen Ende. Sammy saß ungewöhnlich brav zu seinen Füßen und beobachtete neugierig das aufgeregte Treiben.

Mit einigen knappen Worten beendete Körber das Telefonat und wandte sich mir zu. »Wie sieht es da drüben aus?«

»Immer noch heilloses Chaos. Vier Streifenwagenbesatzungen gegen ein Neujahrsfest voller Leute – wenn das Gitter nicht wäre, hätte man die schon längst totgetrampelt. Jyoti bleibt auf ihrem Posten, bis jemand durchkommt, der den Toten abtransportieren kann; Eric und Tahar fragen rum, ob jemand beobachtet hat, wie es zu dem Sturz gekommen ist.«

»Wo zum Teufel ist der denn überhaupt hergekommen?«, knurrte Körber.

»Der muss vom Dach der Chorhalle runtergefallen sein«, mutmaßte ich. »Sonst wäre er woanders gelandet.«

»Und was zur Hölle hat jemand an einem eiskalten Januarabend um kurz nach acht auf dem Dach des Aachener Doms zu suchen?«

»Keinen blassen Schimmer. Und ich weiß auch nicht, ob die Truppe hier im Dom sich für deine Ausdrucksweise wird erwärmen können«, grinste ich.

»Ach verflucht«, schimpfte Körber, »die sollen besser darauf achten, dass da oben keiner rumkraxelt. Stell dir mal vor, der wäre in die Menge reingekracht statt ins Gärtchen.«

»Unwahrscheinlich«, gab ich zurück. »Die normale Flugkurve geht gerade nach unten. Da hätte er schon sehr viel Anlauf nehmen müssen. Abgesehen davon: Viel wichtiger ist die Frage, ob er abgerutscht ist, selbst gesprungen oder ob ihn jemand beseitigen wollte. Und zu wissen, wer er ist, würde auch nicht schaden.«

Körber sah auf die Uhr. »Ich habe schon den Küster rausgeklingelt, der musste sich nur noch schnell was überziehen. Lag in der Badewanne«, fügte er hinzu, als er meinen fragenden Blick sah.

»Was ist mit Bienwald und Ritchie?«

Eduard Bienwald war Körbers Chef und leitete das Kriminalkommissariat 11 der Aachener Kripo, unter anderem zuständig für Todesermittlungen und Brandstiftung. Ritchie Nowarra war Leiter des Aachener Erkennungsdienstes. Solange nicht klar war, wie und warum der Mann vom Dom gestürzt war, wurde der Fall behandelt wie eine potenzielle Straftat.

»Sind schon unterwegs«, brummte Körber. »Ah, da ist er ja.«

Aus der blauen Tür mit der Hausnummer zwei trat ein spindeldürrer, kleiner Mann mit noch feucht schimmernden Haaren und einer runden Nickelbrille. Sorgsam zog der Mann, der vielleicht fünfundvierzig Jahre alt sein mochte, die Tür hinter sich zu, schloss ab und kam dann schnurstracks auf uns zu. »Albin Hörmann«, sagte er, als er mir zur Begrüßung die Hand schüttelte. »Bitte entschuldigen Sie, dass es ein wenig gedauert hat«, sagte er dann zu Körber. »Ich bin völlig von der Rolle. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir schon einmal einen solchen tragischen Vorfall gehabt hätten. Außerdem musste ich selbstverständlich noch den Dompropst informieren.«

Auf meinen fragenden Blick ergänzte er: »Er ist Hausherr und Vorsteher des Domkapitels.«

Körbers Miene verfinsterte sich. »Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass wir verdammt noch mal eilig da hochmüssen«, grollte er.

»Äh, ja, ich äh, also …« Seine erstaunlich kleine Faust krampfte sich nervös um den beachtlichen Schlüsselbund, den er in der Hand hielt. »Aber ich habe doch meine Verpfl…«

»Ihre Verpflichtungen sind mir völlig egal«, schnauzte Körber. »Unsere Verpflichtung gilt dem armen Schwein, das hier eben in den Tod gestürzt ist. Und deshalb müssen wir jetzt pronto da rauf. Die Domkapelle wird sich wohl oder übel noch etwas gedulden müssen. Und jetzt machen Sie auf, aber dalli!«

»Domkapitel«, murrte der Küster aufmüpfig, beeilte sich aber, den Schlüssel ins Schloss der kleinen, blauen Holztür direkt links neben dem Haupteingangsportal zu stecken.

»Moment noch eben«, sagte ich und hielt dem Küster das am wenigsten gruselige Foto des Toten unter die Nase. »Wissen Sie zufällig, wer das ist?«

Schon beim ersten Blick auf das Bild lief Albin Hörmann grün an und wandte sich ab. »Das ist ja furchtbar«, presste er heraus.

»Allerdings«, sagte ich ungerührt. »Also kennen Sie ihn oder nicht?«

Er warf einen ganz kurzen zweiten Blick und schüttelte dann den Kopf. »Kommt mir nicht bekannt vor.«

Kein Wunder bei den Verletzungen.

»Hier ist ja gar nicht abgeschlossen!«, rief der Küster entsetzt. Hastig zog er den Schlüssel wieder ab und öffnete die Tür. Drinnen war es dunkel.

Ich tauschte einen Blick mit Körber und steckte mein Handy wieder ein. Der Küster knipste das Licht an, und wir wollten ihm gerade ins Innere des Westturms folgen, als hinter uns eine junge Stimme rief: »’schuldigung?«

Ich drehte mich in der Tür um.

»Ja, Sie! Jehören Sie dazu?«, fragte ein junger Punk mit schwarz-violetter Stachelfrisur und Berliner Akzent.

»Wozu?«, fragte ich. Körber und der Küster hatten wohl nichts gehört, sondern begannen bereits, die Steintreppe nach oben zu nehmen.

»Na, zu den Bullen. Die ermitteln doch bestümmt jetzt.«

»Haben Sie etwas beobachtet?«

»Und ob!« Er kam ein paar Schritte näher.

»Von hier aus?«, fragte ich skeptisch. Die Absturzstelle konnte man von hier aus nicht sehen.

»Ja sicher von hier aus«, sagte er amüsiert, »oder wie soll ick von da drüben die Tür sehen?« Er zeigte auf den Türrahmen, in dem ich stand.

»Was genau haben Sie denn beobachtet?«, fragte ich vorsichtig. Er sah nicht aus wie ein Wichtigtuer, aber in solchen Situationen konnte man nie wissen.

»Na ja, ick war austreten, da hinten«, er wedelte in eine unbestimmte Richtung, und ich nahm an, er hatte irgendwo Richtung Rennbahn an eine Hauswand gepinkelt. »Kaum komm ick zurück, hör ick dat Jeschrei da auf dem großen Platz. Muss wat passiert sein, denk ick noch so bei mir und geh wat schneller. Da fliegt plötzlich die kleene Tür auf, wo Sie jerade stehn, und ’n Typ kommt da raus, als wär der Teufel hinter ihm her.«

Und das in der Bischofskirche …

»Mann oder Frau?« Der junge Mann hatte inzwischen meine volle Aufmerksamkeit.

Er wiegte unschlüssig den Kopf hin und her. »Hätte beidet sein können, aber ick denke, eher en Mann. Konnte aber nich viel sehen, der hatte een ordentlichet Tempo drauf.«

»Die Person ist also gerannt.«

»Na ja, jerannt. Sehr schnell jejangen, würd ick eher sagen.«

»Kleidung?«

»Schwarz. Allet schwarz. Hose, Kapuzenjacke. Auch die Schuhe.«

»Das Gesicht konnten Sie also nicht erkennen?«

»Nee, der hatte die Kapuze tief ins Jesicht jezogen«, sagte er in bedauerndem Ton. »Aber auf jeden Fall war die Person schlank und unjefähr so jroß wie ich, also um die 1,78 Meter. Und hatte schwarze Lederhandschuhe an. Ick glaub, der war vorbereitet.« Der Punk sah mich aus hellwachen grünen Augen an.

Das Gefühl könnte einen tatsächlich beschleichen. Und du sprichst immer von ›er‹. Vielleicht hat dein Unterbewusstsein doch das Geschlecht registriert.

Laut sagte ich: »Haben Sie gesehen, wo die Person hin ist?«

Er drehte sich halb um und wies in Richtung Eingangstor zum Domhof. »Da lang. Als er da am Domladen ums Eck verschwunden is, hat er noch ein Mädel anjerempelt. Und dann war er weg. Wie vom Erdboden verschluckt.«

»Sind Sie ihm nachgelaufen oder woher wissen Sie, dass er wie vom Erdboden verschluckt war?«

»Na ja, ick war schon neugierig, wo der mich doch fast umjenietet hätte. Aber als ick beim Tor ankam, war schon nix mehr von dem zu sehen. Ich würd ja sagen, den hat jemand mi’m Auto abgeholt, aber hier is doch allet Fußgängerzone.«

Nicht alles, und einem flüchtigen Mörder wäre das vermutlich auch herzlich egal.

»Und das Mädchen, das er angerempelt hat? Ist die vielleicht noch hier?«

Er ließ den Blick über den Domhof schweifen und zuckte bedauernd mit den Achseln. »Nee, ich seh se nich. Die ging aber auch vom Dom weg, war wahrscheinlich auf dem Heimweg.«

»Schade. Ist Ihnen sonst noch was aufgefallen?«

Er schüttelte stumm den Kopf, und ich bedankte mich für seine Hilfe. Nachdem ich eilig seine Kontaktdaten in mein Handy getippt hatte, schickte ich ihm eine Nachricht mit meinem Kontakt. »Wenn Ihnen noch irgendwas einfällt, melden Sie sich bitte bei mir, ja? Zu jeder Tages- und Nachtzeit.«

»Und ick dachte, dit sagen se nur im Fernsehen«, grinste er. »Dann ma viel Erfolg. Ick hoff, ihr bringt den Typen zur Strecke, wenn der dat war.«

»Worauf du dich verlassen kannst«, sagte ich grimmig, bevor ich auf dem Absatz kehrtmachte, um Körber und dem Küster gemeinsam mit Sammy hinterherzueilen.

* * *

Das Problem mit dem Hinterhereilen war, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich eigentlich hinmusste. »Körber?«, rief ich auf Verdacht. Kaum hatte ich den Namen gesagt, drehte Sammy sich um und begann, die Nase eifrig am Boden, die flachen Stufen der Wendeltreppe nach oben zu laufen.

Während ich hinter Sammy herkletterte, überlegte ich, ob ich nicht doch vielleicht jemanden hinter dem mysteriösen Flüchtenden hätte herschicken sollen, kam aber zu dem Schluss, dass dieser mit Sicherheit längst über alle Berge war und mit der vorhandenen Beschreibung sowieso nicht viel zu reißen gewesen wäre.

Sammy blieb ab und zu stehen und sah sich ungeduldig nach mir um.

»Komme schon, komme schon«, brummte ich, denn zu meinem Leidwesen meldete sich schon nach Kurzem mein lädiertes linkes Bein schmerzhaft zu Wort. Die Spuren, die ein brennender Dachbalken dort vor wenigen Jahren hinterlassen hatte, würden mich wohl den Rest meines Lebens begleiten und waren im Winter stets deutlicher zu spüren als im Sommer.

Trotzdem schnaufte ich deutlich weniger als der dürre Küster, als ich ihn und Körber auf der Galerie des Westturms einholte.

»Zapperlot«, entfuhr es mir, als ich einen Blick auf den Domhof unter uns warf. »Ganz schön hoch. Aber von hier kann er ja kaum runtergefallen sein, oder?«

»Nein, nein, natürlich nicht«, sagte Albin Hörmann und schob seine Brille auf dem verschwitzten Nasenrücken wieder nach oben. »Ich dachte nur, Sie wollten vielleicht einen Überblick …?« Dann erspähte der Küster Sammy, der schwanzwedelnd auf seine Belohnung wartete.

»Ein Hund? In einem Gotteshaus? Ich muss auf das Schärfste prot…«, echauffierte er sich.

Ein finsterer Blick aus Körbers schwarzen Augen brachte ihn zum Schweigen

»Das geht aber wirklich nicht«, maulte Hörmann.

»Sammy ist ein hochqualifizierter Spürhund«, sagte ich freundlich. Dass dieser spezielle Spürhund immer nur nach Essbarem suchte, ließ ich elegant unter den Tisch fallen.

»Ach so, na ja, wenn das so ist. Aber dem Herrn Dompropst sagen Sie besser nicht, dass … Sie wissen schon.«

»Nein, nein, keine Sorge«, seufzte Körber. »Wenn wir dann vielleicht weitergehen könnten?«

»Selbstverständlich, sofort.« Albin Hörmann wischte sich mit dem Handrücken die schweißnasse Stirn ab und ging tapfer voran.

Wieso schwitzt der eigentlich so?

Während wir ihm mit etwas Abstand folgten, flüsterte ich Körber die wichtigsten Infos aus meiner Begegnung mit Timo Vell, dem jungen Punk, ins Ohr.

»Kapuze und Handschuhe, was?«, raunte Körber zurück, ohne Hörmann aus den Augen zu lassen. »Da kam wohl jemand nicht zum stillen Gebet über den Wolken. Die Kollegen haben sich übrigens eben gemeldet – der Tote hatte keine Papiere bei sich«, brummte er, bevor wir wieder zu Hörmann aufschlossen.

Zu unserem Leidwesen wollte der Küster offenbar seinen touristischen Pflichten nachkommen und erklärte uns an jeder Station langatmig, wo wir uns befanden, was wir sahen und warum das wichtig war. Er betonte ein ums andere Mal, dass der Besuch der Dachstühle ein sehr seltenes Privileg sei, das nur wenigen Menschen zuteilwerde, und war offensichtlich etwas pikiert, dass wir an den Dachstuhlkonstruktionen, karolingischen Mauerresten oder Details zur alle sieben Jahre stattfindenden Heiligtumsfahrt wenig Interesse zeigten. Unser Desinteresse fachte bedauerlicherweise seinen missionarischen Eifer erst recht an, und je weniger wir reagierten, desto mehr begann er zu erklären. Bis Körber der Kragen platzte.

»HIMMELHERRGOTTNOCHMAL!«, polterte der im Dachstuhl des Oktogons los. »Was glauben Sie eigentlich, warum wir hier mit Ihnen herumlaufen? Wenn wir was über Dachstuhlpflege, Brandschutz oder karolingische Besonderheiten im Kirchenbau wissen wollen, kommen wir noch mal vorbei! Wir …«

»Ich finde es nicht in Ordnung, dass Sie in einer Kirche fluchen, Herr Kommissar«, piepste Hörmann wagemutig dazwischen. »Außerdem kann man Sie höchstwahrscheinlich unten im Oktogon hören, wenn Sie hier oben so herumbrüllen.«

»Und wen soll das verdammt noch mal stören?«, bellte Körber zurück. »Da unten IST um diese Uhrzeit niemand.«

»Der Herr hört und sieht alles«, gab Hörmann trotzig zurück.

»Wenn er was zu meckern hat, schicken Sie ihn zu mir. Und jetzt bringen Sie uns auf direktem Weg zum Dach der Chorhalle – BLICKRICHTUNG MÜNSTERPLATZ, AUSSEN!«

Gehen Sie nicht über Los, ziehen Sie keine 2.000 Euro ein.

»Aber …«

»Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist – der Ort, wo dieser bedauernswerte Mann runtergekommen ist, lässt nur eine Absturzstelle zu. Alles andere ist physikalisch unmöglich!«

Gut, dass neben der Wolfstür ein Modell des Doms steht. Sonst hätten wir uns da nicht so sicher sein können.

»Und deshalb wollen wir da hin«, schimpfte Körber weiter. »Und zwar JETZT GLEICH!«

»Ja doch«, sagte Hörmann verschnupft und drehte sich um, um voranzugehen. Ich meinte, ein gemurmeltes »Banause« gehört zu haben, aber zu Hörmanns Glück hatte Körber das nicht mitbekommen.

Kurz darauf betraten wir den Dachstuhl der Chorhalle, und unser beider Blick ging automatisch nach oben. Wenn unser Toter geschubst worden war und wenn der Schubser ihm nicht gefolgt war, sondern hier auf ihn gewartet hatte, hätte er sich vielleicht oben im Gebälk verbergen können.

Hörmann ging mit missbilligend zusammengekniffenen Lippen voran und hielt uns am anderen Ende die verglaste Tür auf, damit wir hinter ihm her auf den Umgang der Chorhalle klettern konnten. Unser erster Blick über die Brüstung nach unten fiel auf den Eingang von St. Foillan. Dann wandten wir uns um in Richtung Münsterplatz, und Körber versuchte, mit einem seitlichen Blick zu sehen, wo die wahrscheinlichste Absturzstelle war, ohne dort herumzutrampeln und mögliche Spuren zu verwischen. Wir wussten nicht, wie genau der Mann über die Brüstung gegangen war, aber normalerweise ging ein Sturz mehr oder weniger gerade nach unten – und die Stelle des Aufschlags war aufgrund der Beleuchtung des Münsterplatzes auch von hier oben deutlich zu erkennen.

Hörmann war demonstrativ von uns weg auf die dem Katschhof zugewandte Seite gewandert, trotzdem sprachen wir leise.

»Viel Platz für ein Handgemenge hast du hier nicht«, brummte Körber, der sein Handy als Taschenlampe benutzte und die vermutliche Stelle des Geschehens beleuchtete.

Tatsächlich war der Umlauf ums Dach breit genug für eine Person; bei zwei wurde es schon eng.

»Vielleicht gab es auch gar kein Handgemenge«, überlegte ich. »Es kann ja sein, dass er selbst gesprungen ist und der Typ, der weggelaufen ist, gar nichts mit dem Absturz zu tun hat. Oder die beiden kannten sich.«

»Selbst wenn sie sich sehr gut gekannt hätten – du lässt dich doch nicht in dreißig Metern Höhe von jemandem über eine Brüstung werfen, ohne dich mit aller Kraft zu wehren. Und unser Toter sah ja nun nicht unbedingt schwächlich aus«, wandte Körber ein.

»Vielleicht sind die beiden hier oben auf der Brüstung entlangbalanciert und einer ist abgerutscht«, spekulierte ich weiter. »Dämliche Mutproben gibt es ja nicht nur unter Teenagern.«

»Mrmpf.« Körber war nicht überzeugt.

»Wie auch immer – selbst wenn es einen Kampf gab, würde man das mit bloßem Auge wahrscheinlich gar nicht sehen. Ist doch alles aus Stein hier oben.«

»Klarer Fall für Ritchie und sein Team«, brummelte Körber. Ich schoss auch hier ein paar Fotos, damit wir schon mal was hatten, bis die professionellen Bilder gemacht werden konnten.

Wir suchten noch den Rest des Dachumgangs nach Spuren ab, konnten aber nicht das Geringste finden und gingen schließlich zu Hörmann hinüber, der seinen Blick wortlos über den Katschhof schweifen ließ.

»Wer hat denn Schlüssel für hier oben?«, fragte ich den Küster. Dass das Türschloss ganz unten unversehrt gewesen war, hatten wir sofort gesehen. Wer auch immer hier oben gewesen war, musste die passenden Schlüssel gehabt haben. »Wenn es so ein Privileg ist, hier heraufzukommen, vermutlich nicht allzu viele Leute?«

Nach einem geringschätzigen Blick in Richtung Körber dachte Hörmann kurz nach und antwortete mir dann betont freundlich: »Nun ja, da wären meine Wenigkeit, der Dompropst, der Dombaumeister und einige Mitglieder des Domkapitels. Die Dom- und Nachtschweizer sowie die Kollegen aus der Dombauhütte haben zwar keine eigenen Schlüssel, wissen aber, wo sie einen finden können …«

Sehr exklusiv, der Zugang zum Dach.

»Okay«, unterbrach ich ihn. »In dem Fall brauchen wir tatsächlich eine Liste dieser ganzen Personen – mit Namen, Kontaktdaten und in welcher Eigenschaft sie etwas mit dem Dom zu tun haben.«

»Da muss ich Sie an die Domverwaltung verw…«

Ein Blick von Körber führte zu einer wundersamen Wandlung.

»Also, äh, natürlich, ich kümmere mich darum. So schnell wie möglich.«

»Ist der Weg, den wir hier heraufgekommen sind, der einzige?«, fuhr ich fort.

»Ja und nein«, erwiderte der Küster. »Es gibt im Westturm zwei Treppenaufgänge – den einen sind wir eben heraufgekommen – den zweiten können wir, wenn Sie möchten, auf dem Weg nach unten nehmen. Auf Höhe der Thronebene gibt es die Möglichkeit, zwischen den beiden Treppenaufgängen zu wechseln. Und Sie müssen auch nicht unbedingt den Weg nehmen, auf dem wir gekommen sind, sondern Sie können auch aus dem Inneren des Doms zu den Treppenaufgängen gelangen – von der Thronebene aus.«

»Mit Thronebene meinen Sie die Galerie, wo der Krönungsthron steht?«

»Wenn Sie es so nennen wollen, ja.«

»Da kommt aber auch nicht jeder hin, oder?«

Hörmann schüttelte den Kopf. »Normales Publikum nicht, nein. Die haben nur im Rahmen einer Führung Zugang zur Thronebene. Aber jemand, der einen Schlüssel für die Dachstühle oder gar einen Generalschlüssel hat, kommt auch dorthin.«

Körber und ich tauschten einen Blick. Fing an, sich nach einem Insiderjob anzuhören.

»Könnte sich jemand unrechtmäßig Zugriff auf die Schlüssel verschafft haben? Gab es in den letzten Wochen einen Diebstahl? Ein Handwerker, der vielleicht seinen Schlüssel nicht zurückgegeben hat?«

»Nicht, dass ich wüsste«, sagte Hörmann.

»Hat der Dom eigentlich eine Alarmanlage?«

»Derzeit noch nicht.«

»Nur kurz zum Mitschreiben«, brummte Körber, »der Aachener Dom, Teil des Weltkulturerbes, hat keine Alarmanlage?«

»Ich sagte doch bereits – noch nicht. Das Ganze ist in Arbeit. Und bis dahin haben wir unsere treuen Dom- und Nachtschweizer.«

»Ach ja, gut, dass Sie es erwähnen, das wollte ich eben schon gefragt haben«, sagte ich. »Diese Schweizer – wer oder was ist das denn eigentlich?«

»Nun, die Domschweizer sorgen tagsüber während der Besuchszeiten für Ordnung, und die Nachtschweizer bewachen den Dom des Nachts, ab 22 Uhr. Bis zu dieser Uhrzeit ist auch meist noch Betrieb im Dom – wir haben viele Veranstaltungen, die Frühmesse muss vorbereitet werden, der Organist probt, und so weiter.«

»Heute Abend auch?«, fragte ich hoffnungsvoll. Vielleicht hatte ja doch jemand etwas mitbekommen.

»Nein, heute Abend nicht. Der Januar ist einer der wenigen Monate, in denen hier abends nicht so viel los ist.«

Na toll.

»Wie viele von diesen Dom- und Nachtschweizern gibt es denn?«

»Derzeit fünfzehn. Die meisten sind Rentner oder Studenten«, erklärte Hörmann.

»Es ist also immer jemand im Dom?«

»Ja, selbstverständlich. So ein Gebäude können Sie doch nicht unbewacht lassen.«

»Und wie viele sind es abends beziehungsweise über Nacht?«

»Ab 22 Uhr ist immer nur einer hier. Heute Abend ausnahmsweise auch, da ja nichts auf dem Programm stand.«

»Eine Person? Über Nacht? Ist das nicht ein bisschen wenig?«, fragte Körber skeptisch.

»Bisher war das ausreichend«, sagte Albin Hörmann spitz.

»Soso. Dann bringen Sie uns bitte geradewegs zu dem Kollegen, der heute Abend Wache hat«, brummelte Körber, der sich um einen etwas freundlicheren Tonfall bemühte, jetzt, wo der Küster sich nicht mehr in bauhistorische Details verstieg.

»Bei dem Lärm von draußen bekommen Sie doch im Innern der Kirche nicht mit, was sich oben auf dem Dach abspielt«, wandte Hörmann ein.

»Das mag sein. Wir möchten trotzdem mit ihm sprechen, wenn’s genehm ist. Also – nach Ihnen.«

Auf dem Rückweg führte der Küster uns wie angekündigt durch den zweiten Treppenaufgang nach unten. Hier war nichts weiß getüncht oder sonst wie aufgehübscht, und man hatte viel eher das Gefühl, echte mittelalterliche Geschichte zu sehen als im ansehnlicheren der beiden Aufgänge. Wenig später standen wir mitten im Dom, wo in der Zwischenzeit jemand alle Lichter eingeschaltet hatte und reges Treiben herrschte.

Jemand hatte die Stühle, die normalerweise in Reihen unter dem riesigen Barbarossa-Leuchter standen, verschoben, um für den Toten Platz zu machen, der auf zwei braunen Bundeswehrdecken lag und dessen tote Augen an das reich verzierte Deckengewölbe starrten.

»Hey, Ritchie«, begrüßte ich den Leiter des Aachener Erkennungsdienstes und fragte mit einem Blick auf den Toten staunend: »Seid ihr draußen schon fertig mit dem Spurensichern?«

»Ach was, wo denkst du hin!« Man hörte, dass er auf 180 war. »Wir waren kaum hier, da mussten wir den armen Kerl hier drin in Sicherheit bringen. Da draußen kommst du dir vor wie auf der Jahrestagung des Paparazzi-Weltverbands. Wie die Hyänen hängen sie da rum. Jeder versucht, die Leiche zu fotografieren und als Erster auf Instagram zu stellen – oder besser noch ein Gruselfilmchen auf TikTok. Zum Kotzen ist das!«

»Unglaublich!«

»Die Kollegen da draußen sind hoffnungslos in der Unterzahl. Wir haben Verstärkung angefordert, aber es dauert noch, bis die hier sind. Anne-Roos, Eric und Tahar hatten sich schon als menschlicher Schutzschild davorgestellt, aber selbst das hat nichts genützt. Also haben wir notdürftig ein paar Fotos gemacht und ihn dann hier reingebracht. Er lag ja sowieso schon nicht mehr so da, wie er gefallen war. Hoffen wir, dass die uns die Meute vom Hals halten können, bis wir alle Spuren gesichert haben. Ich nehme an, danach müssen wir irgendwo nach oben aufs Gebäude? Kommt ihr da gerade her?«

Ich winkte Ede Bienwald und Jyoti, die im Eingangsbereich des Doms in ein Gespräch vertieft waren, zu uns herüber, damit wir nicht alles dreimal erzählen mussten. Nachdem wir Ede begrüßt hatten, fassten Körber und ich unsere bisherigen Erkenntnisse kurz zusammen und zeigten den dreien die Fotos, die wir oben auf dem Dach gemacht hatten.

»Da drüben steht der Küster, der kann euch nach oben bringen, wenn ihr so weit seid.« Dann weihte ich sie noch in die Geschichte mit dem flüchtigen Unbekannten ein. »Mir kam der junge Mann sehr glaubwürdig vor«, schloss ich an Ede gewandt.

»In Ordnung«, nickte der. »Wenn du das sagst, wird etwas dran sein.« Dann wandte er sich an Jyoti. »Wir machen es wie eben besprochen, Frau Chandra. Sie fahren direkt mit dem Leichnam in die Rechtsmedizin nach Köln. Der Wagen müsste jeden Moment hier sein. Wir versuchen weiterhin, Dr. Heller zu erreichen. Die Obduktion muss so schnell wie möglich durchgeführt werden. Bei dieser Kulisse hier wird der Druck aus Politik und Kirche riesengroß sein, schnelle Ergebnisse zu liefern. Wir müssen so bald wie möglich wissen, was passiert ist.«

Er wollte gerade noch etwas hinzufügen, als eine von Ritchies Kolleginnen im weißen Ganzkörperkondom auftauchte. Sie hielt schnurstracks auf uns zu.

»Hast du was gefunden, Jessica?«, fragte Ritchie erfreut.

Jessica Schwedler zog sich die weiße Maske vom Gesicht, bevor sie sagte: »Ich glaube schon, allerdings habe ich keine Ahnung, was es ist.« Sie gab Ritchie einen durchsichtigen Asservatenbeutel aus Plastik, der in ihrer säuberlichen Handschrift mit Datum, Uhrzeit und Asservatennummer markiert war. »Also, ich weiß, dass es ein Ansteckknopf ist, von dem ich tippe, dass der Tote ihn getragen hat. Er lag nämlich genau da, wo er gelandet ist. Aber ich habe keinen blassen Schimmer, was der Anstecker darstellen soll. Dieses Zeichen hab ich noch nie irgendwo gesehen.«

Gespannt beugten wir uns alle über den kleinen, runden Anstecker, der die Farben Grün und Grau zeigte sowie, wenn man genauer hinsah, ein stark stilisiertes Kreuz.

»Irgendjemand eine Idee, was das sein kann?«, sagte Bienwald ratlos.

»Nee«, brummte Körber, »aber dahinten haben wir doch ’nen Kirchenfachmann stehen.« Er wies mit dem Daumen hinter sich auf den Küster, der sich in ein paar Metern Entfernung aufgeregt mit einem jungen Mann unterhielt, wahrscheinlich dem diensthabenden Domschweizer. Körber winkte Hörmann, zu uns herüberzukommen, was der gleich mit einer sorgenvollen Miene quittierte. Er sah zweimal auf seine Armbanduhr, bevor er zu uns herübereilte. Wahrscheinlich wartete er auf eine hierarchisch höherstehende Ablösung, die sich dann mit dem ganzen Schlamassel herumschlagen konnte.

Bienwald stellte sich vor und hielt dem Küster flugs den Asservatenbeutel unter die Nase. »Ist Ihnen dieses Symbol schon einmal begegnet? Wir nehmen an, dass es dem Toten gehört hat.«

Albin Hörmann warf kaum ein halbes Auge auf den Anstecker, bevor er sagte: »Ja, selbstverständlich kenne ich dieses Emblem.«

»Und?«, hakte Bienwald mit höflicher Ungeduld in der Stimme nach. Rate mal mit Rosenthal konnte er auch nicht leiden.

»Das ist das Zeichen der Brüder des Heiligen Silas.«

Auf unsere fragenden Mienen hin setzte er hinzu: »Wenn dieser Anstecker dem Toten gehörte, war er ein Mönch.«

SAMSTAG, 4. JANUAR

07:15 Uhr

Ich war nicht die Einzige, die bei der Lagebesprechung am nächsten Morgen den Mund vor lauter Gähnen gar nicht mehr zubekam. Es war sehr spät geworden, unter anderem, weil sich weitere Zeugen gemeldet hatten, die eine dunkel gekleidete Gestalt mit hochgezogener Kapuze den Domhof eilig hatten überqueren sehen. Die Spur hatte sich leider in der Kockerellstraße endgültig verloren.

Jetzt saßen Körber und ich mit den anderen Polizei-Ermittlern in einem der großen Besprechungsräume im Polizeipräsidium und warteten auf Jyotis Bericht von der Obduktion. Sammy lag leise schnarchend auf meinen Füßen.

Die Zusammenarbeit unserer Detektei mit der Aachener Polizei hatte sich im Lauf der letzten Jahre ergeben und mit der Zeit kontinuierlich weiterentwickelt. Nachdem der Landesinnenminister diese gemeinsame Arbeit zunächst als Leuchtturmprojekt bezeichnet hatte, war man seitens der Polizei Anfang des Jahres auf uns zugekommen, ob man die Kooperation nicht auch formell auf festere Füße stellen wolle.

»Die habön Angst, dass die wiedör alleinö ermittöln müssön, solltöst du dich mal von Körbör trennön«, hatte Tahar gegrinst.

Tatsächlich kämpfte die Aachener Kripo wie so viele andere Behörden auch mit Personalmangel, und im Bereich Todesermittlungen konnte man nicht mal eben neue Leute einstellen. Zwar gingen die Bewerberzahlen für die Polizeiausbildung stetig nach oben, aber bis jemand so weit war, bei der Kripo mitarbeiten zu können, vergingen Jahre. Also hatte die Aachener Polizei dem Innenministerium einen ungewöhnlichen Vorschlag unterbreitet, der zu unser aller Erstaunen tatsächlich genehmigt worden war.

Und so war Polizeipräsidentin Viktoria Schaller zusammen mit der Staatssekretärin des NRW-Innenministeriums an Martin und die blaue Elise herangetreten, um einen Rahmenvertrag zwischen dem Land und Schniedewitz & Schniedewitz auszuhandeln.

Das, was das Land als Vergütung anbieten konnte, entsprach natürlich nicht mal ansatzweise den überzogenen Honorarvorstellungen unserer geldgierigen Chefetage. Trotzdem war man sich schließlich handelseinig geworden, und seitdem gab es einen Rahmenvertrag, der unsere Mitarbeit an Polizeiermittlungen abdeckte und die Vergütung für die geleisteten Stunden regelte.

Eric und Körbers jüngerer Bruder Lukas, der seinen Dienst noch in Uniform versah, waren schon ganz früh wieder in Richtung Innenstadt gestartet. Wir mussten wissen, ob in den Häusern, die dem Dom gegenüberlagen, irgendjemand die Geschehnisse auf dem Dach der Chorhalle beobachtet hatte. Und in der Nacht zuvor hatten sie nicht alle Anwohner angetroffen.

Ede Bienwald, der als Letzter den Raum betrat und die Tür hinter sich schloss, hatte besonders dunkle Ringe unter den Augen. Er war in der vergangenen Nacht überhaupt nicht zu Hause gewesen. Zusammen mit der Polizeipräsidentin Viktoria Schaller hatte er hochrangige Kirchenvertreter beruhigen müssen, deren einziges Interesse der Frage zu gelten schien, in welchem Licht dieses Ereignis die Kirche erscheinen lassen würde.

»Jahrzehntelanges systematisches Vertuschen von Kindesmissbrauch bis in die höchsten Ebenen hinein, aber jetzt ums Image besorgt«, hatte Körber wütend geknurrt, als er um vier Uhr morgens für eine Mütze Schlaf nach Hause gekommen war.

Nachdem Ede sich gesetzt hatte, drückte Nico von der Polizei-IT eine Taste auf seinem Laptop, und auf der großen Leinwand erschien Jyoti, die im makellosen, weißen Kittel an einem großen Schreibtisch saß, neben sich ein Laptop, auf dem sie uns Fotos aus dem Prozess der Leichenöffnung würde zeigen können, sollte das nötig sein.

»Guten Morgen, Frau Chandra«, sagte Bienwald freundlich. »Warten wir noch auf Doktor Heller?«

»Guten Morgen allerseits. Dr. Heller hat mich gebeten, den Bericht zu übernehmen, da er gerade zu einer weiteren Leichenöffnung gerufen wurde. Wir sind hier momentan ein bisschen knapp besetzt.«

»In Ordnung, schießen Sie los.«

Jyoti nickte, drückte eine Taste auf ihrem Laptop, und ein Foto der entkleideten Leiche auf dem Seziertisch erschien.

»Zunächst zur wahrscheinlich dringlichsten Frage – der Todesursache. Wir gehen davon aus, dass die schweren inneren Verletzungen, die der Tote beim Absturz aus dreißig Metern Höhe erlitten hat, ursächlich für den Tod waren. Hinweise auf andere mögliche Ursachen wie beispielsweise Stichwunden, Schusswunden, Würgemale oder anders geartete Verletzungen haben wir keine gefunden. Das chemisch-toxikologische Gutachten ergab keinerlei Hinweise auf giftige Substanzen, hochdosierte Betäubungsmittel oder Ähnliches. Der Mann hatte keinen Alkohol getrunken, und auch eventuell eingenommene Medikamente konnten nicht nachgewiesen werden.«

Ich meldete mich zu Wort. »Ist vielleicht eine blöde Frage, aber außer am Kopf und ein paar komisch stehenden Knochen sehe ich überhaupt keine Verletzungen.«

Jyoti nickte. »Es mag ein bisschen paradox erscheinen, aber wenn die Person bekleidet ist und auf Rasen oder einem ähnlichen Untergrund landet, sind selbst bei einem Sturz aus dieser Höhe oft keine großen äußerlichen Verletzungen erkennbar. Die Katastrophe spielt sich innerhalb des Körpers ab.« Sie klickte mit der Maus, und ein Bild des geöffneten Körpers erschien. Ein entsetztes Stöhnen lief durch den Raum.

»Wie man hier gut sehen kann«, fuhr Jyoti fort, »ist nach einem solchen Sturz innerlich fast alles kaputt. So gut wie jeder Knochen in seinem Körper ist gebrochen. Die großen Blutgefäße und viele Organe sind zerrissen oder abgerissen.«

Ein Foto des geöffneten Schädels erschien. »Hier sieht man deutlich, dass er auch im Gehirn schwerste Zerreißungen erlitten hat, ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. All das zusammengenommen führt natürlich unweigerlich zum Tod. Was wir auch sagen können, ist, dass er lebend abgestürzt ist. Nach dem Aufprall wird er aber sofort bewusstlos gewesen sein. Selbst wenn er zu diesem Zeitpunkt noch geatmet hat – was durchaus möglich ist –, wäre der irreversible Hirntod sicher nach circa fünf Minuten eingetreten.«

»Können Sie denn sagen, ob er gesprungen oder gefallen ist?«, fragte Bienwald.

»Nein, leider nicht. Bei einem Suizidanten würde man erwarten, dass er mit den Füßen zuerst springt. Der Tote ist jedoch nicht mit den Füßen aufgekommen, sondern mit der ganzen vorderen Körperoberfläche aufgeschlagen. Insofern halten wir einen Suizid für die etwas unwahrscheinlichere Situation. Aber sicher sein kann man nicht.« Jyoti trank schnell einen Schluck aus ihrer Tasse und sprach dann weiter. »Wir haben allerdings auch keine Abwehrverletzungen gefunden. Wir gehen davon aus, dass der Mann zwischen 35 und 45 Jahren alt war, körperlich vollkommen gesund und recht fit – soweit man das in seinem Zustand noch beurteilen kann. Es ist also kaum vorstellbar, dass er sich bei einem vermeintlichen Angriff nicht gewehrt hätte.«

»Also entweder doch selbst gesprungen oder der Mörder kam unbemerkt von hinten«, sagte Anne-Roos.

»Da oben ist es allerdings so eng, dass man sich nur schwerlich von hinten anpirschen kann«, merkte ich an. »Und die Brüstung ist hoch genug, dass man einen erwachsenen Mann nicht mal eben gegen seinen Willen da runterwirft.«

»Wie gesagt – wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob er nicht vielleicht doch gesprungen ist. Es ist nur nach unserer Einschätzung die unwahrscheinlichere der beiden Situationen.«

»Haben Sie sonst noch etwas für uns, Frau Chandra?«

»Nicht viel, aber hoffentlich besser als nichts.« Sie klickte wieder mit der Maus und zeigte uns ein Porträt des Toten. Offensichtlich hatten sich die Rechtmedizinerinnen im Anschluss an die Obduktion die Mühe gemacht, die schlimmsten Spuren im Gesicht des Mannes zu bereinigen. Herausgekommen war dabei ein Bild des Toten, anhand dessen ihn jemand, der ihn kannte, hoffentlich identifizieren konnte, ohne seinem Frühstück wieder zu begegnen.

»Wunderbar«, freute sich Ede. »Das ist auf jeden Fall sehr hilfreich, vielen Dank. Gab es sonst noch Merkmale, die die Identifizierung erleichtern könnten?«

»Wir haben natürlich Fingerabdrücke genommen und mit den üblichen Datenbanken abgeglichen. Das ergab keine Treffer. Der Tote hatte keine Tätowierungen oder Piercings …«

»Das wär’s noch gewesen«, flüsterte Anne-Roos mir grinsend zu, »ein Mönch mit Schniedel-Piercing.«

»Wenn er denn wirklich einer war – kann ja auch sein, dass der Anstecker schon da lag, als er gelandet ist«, wisperte ich zurück.

»… aber«, sprach Jyoti weiter, »ein recht auffälliges Muttermal auf dem Rücken, und der rechte Unterarm hat vor Jahren eine komplizierte Fraktur erlitten, die operiert wurde.« Sie blendete ein Foto eines Muttermals ein, das ein bisschen aussah wie Australien, und danach ein Röntgenbild eines Unterarms. »Wir haben natürlich auch den Zahnstatus dokumentiert. Aber ich weiß nicht, ob das weiterhilft. Ein so gesundes Gebiss sieht man selten in dieser Altersgruppe. Keine fehlenden Zähne, keine Füllungen, kein Zahnersatz, gar nichts. Gut möglich, dass der Mann nie beim Zahnarzt war. Und wenn doch, hätte der eigentlich keine Veranlassung gehabt, Abdrücke oder Röntgenaufnahmen anzufertigen. Es ist also unwahrscheinlich, dass man ihn hierüber wird identifizieren können.«

»Nun ja, das werden wir hoffentlich auf anderen Wegen hinbekommen. Das war alles, Frau Chandra?«, sagte Ede.

»Ja, das wäre es erst einmal von uns. Viel Erfolg bei der Suche!« Jyoti winkte uns noch kurz zu, dann verschwand ihr Antlitz vom Bildschirm.

»Das bereinigte Bild des Toten kommt uns natürlich gerade recht. Britta, möchtest du gleich weitermachen?«, sagte Ede.

»Ja klar«, nickte ich. »Geht auch ganz schnell. Der Erkennungsdienst hat ja gestern an der Stelle, wo der Tote aufgeschlagen ist, einen Anstecker gefunden«, sagte ich in die Runde. »Der Küster hatte recht – es ist in der Tat das Abzeichen einer Ordensgemeinschaft, der sogenannten Brüder des Heiligen Silas. Ich hatte den Namen noch nie gehört, das muss aber nichts heißen. Mönchsorden sind echt nicht mein Fachgebiet. Aber dank des Internetauftritts waren die Brüder nicht schwer zu finden. Es scheint mir ein für heutige Verhältnisse recht großer Orden zu sein; die meisten Abteien oder Gemeinschaften sind in Deutschland angesiedelt, aber es gibt auch in Europa verstreut noch kleinere Niederlassungen, vor allem in Italien, Irland, Frankreich und Spanien. Aber das Interessante ist, dass das Gründungshaus der Gemeinschaft hier ganz in der Nähe liegt, ein Stück östlich von der A44, zwischen Brand und Stolberg. Ich war so frei, eben schon mal kurz anzurufen und zu fragen, ob ein Ordensmitglied vermisst wird, aber man wollte mir am Telefon keine Auskunft geben.«

»Wenigstens sind die im Kloster schon wach, wenn Frau Sander morgens um kurz vor halb sieben anruft«, brummte Körber amüsiert.

»Na ja, hat schon eine Weile gedauert, bis jemand ans Telefon kam. Vielleicht dürfen die samstags mal ausschlafen«, grinste ich.

»Unwahrscheinlich«, schmunzelte Ede. »Aber wenn es da schon einen Kontakt gegeben hat, fährst du nach der Besprechung mit Matthias dorthin. Versucht herauszubekommen, ob unser Toter zur dortigen Gemeinschaft gehörte oder ob sie uns wenigstens sagen können, wer er ist. Wir geben natürlich gleich mit dem bereinigten Foto noch eine Fahndung ins System, aber wer weiß, wann wir da Ergebnisse bekommen. Frau de Vries?«

Anne-Roos räusperte sich. »Wir haben gestern Abend noch mit dem wachhabenden Domschweizer gesprochen. Der war erstaunlich cool angesichts der Ereignisse.«

»Wie meinen Sie das?«, hakte Bienwald sofort nach.

»Na ja, der Junge, Valentin Straub heißt er, ist 23 Jahre alt und Student, macht erst seit ein paar Wochen abendliche oder auch mal Nachtwachen im Dom. Der Küster hat uns gestern noch erzählt, dass es nachts schon ein bisschen gruselig im Dom sein kann. Es gibt zwar eine Notbeleuchtung, aber wenn keine Veranstaltungen sind, ist die abendliche Wache – wie auch die Nachtwache – ganz alleine dort und dreht ihre einsamen Runden – und man weiß ja, wie viele Geräusche so alte Gebäude machen. Da hatte wohl so mancher nachts schon mal die Hosen voll. Nicht so dieser junge Mann. Und dass während seiner Wache jemand vom Dach gestürzt ist – Ursache wohlgemerkt noch unbekannt –, hat ihn erstaunlich kalt gelassen.«

»Würde denn ausgerechnet ein junger Mann in diesem Alter Angst oder Unbehagen eingestehen?«, fragte Ede.

»Womöglich nicht«, räumte Anne-Roos ein, »aber der kam uns doch arg ungerührt vor. Noch dazu …«

Bienwalds Handy klingelte, und nach einer kurzen gemurmelten Konversation bedeutete er Anne-Roos weiterzusprechen.

»Noch dazu wurde er wohl, als man ihn suchte, nicht im Dom angetroffen, sondern er kam von draußen herein.«

»Ach nee«, entfuhr es Körber.

»Ach doch. Angeblich habe er sich über das laute Geschrei und Gekreische gewundert und wollte nachsehen, was da los gewesen sei.«

»Klingt doch einleuchtend?«, fragte Christina, eine der jungen, uniformierten Kolleginnen, die das KK 11 schon bei den letzten größeren Fällen immer mit unterstützt hatte.

»Eigentlich schon, das Komische ist nur, dass das Geschrei ja vom Münsterplatz kam – der junge Mann ist aber nicht durch die Tür in der unteren Annakapelle in den Domgarten gegangen, um nachzugucken. Stattdessen wurde er gesehen, wie er aus Richtung Rennbahn über den Domhof ging und eine der Seitentüren neben der Wolfspforte benutzt hat, um wieder in den Dom zu gelangen. Das heißt, er hat den Dom während seiner Schicht verlassen, ohne jemanden zu informieren, und ist ausgerechnet aus der Richtung zurückgekommen, in die der schwarz gekleidete Unbekannte kurz zuvor geflüchtet ist.«

»Von wem wurde er denn bei seiner Rückkehr gesehen?«, fragte ich.

»Vom Küster«, erwiderte Anne-Roos.

»Der auch kein Alibi hat«, merkte Körber an. »Es sei denn, seine Badewanne kann sprechen.«

»Keiner von beiden hat ein Alibi, dafür hatten aber beide einen Generalschlüssel und damit Zugang zum Dach«, fügte Anne-Roos hinzu.

»Mannomann, wir wissen noch nicht mal, wie der Tote heißt, aber zwei Verdächtige haben wir schon«, sagte ich. »Wenn das so weitergeht, sind wir heute Abend fertig.«

»Haben wir denn schon die Liste der Leute, die die notwendigen Schlüssel haben, um aufs Dach zu gelangen?«, fragte Körber.

Ede schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider nein. Und ich kann nicht sagen, ob kirchliche Mühlen langsam mahlen oder ob die selbst erst einmal herausfinden müssen, wer denn alles einen Schlüssel hat. Der Personenkreis scheint mir nicht so klein, wie man bei einem so bedeutenden Gebäude vermuten würde.«

Die Tür öffnete sich und ein völlig übernächtigter Ritchie Nowarra kam herein, bewaffnet mit einem großen Thermobecher und einer Bäckertüte. Stöhnend ließ er sich neben Ede nieder und holte ein dick belegtes Brötchen aus der raschelnden Tüte. Nach einem herzhaften Biss und einem großen Schluck aus dem Becher nuschelte er: »Tut mir leid, wenn ich euch was vorfuttere, Leute, aber ich hab seit gestern Abend sechs Uhr nix mehr gegessen und fall gleich um.«

»Kein Problem, Ritchie«, sagte Ede freundlich. »Wir sind ja dankbar, dass ihr euch die Nacht um die Ohren geschlagen habt. Habt ihr denn schon was für uns?«

»Nicht viel, fürchte ich. Die gute Nachricht ist, dass wir wissen, wie er nach oben aufs Dach gekommen ist – er hatte den passenden Schlüssel in einer seiner Hosentaschen. Darüber braucht ihr euch also nicht mehr eure hübschen Köpfchen zu zerbrechen. Und am gleichen Schlüsselring hing ein Autoschlüssel – ein Passat, älteres Baujahr. Wo der dazugehörige Wagen ist, wissen wir noch nicht. Sobald der Mann identifiziert ist, wissen wir, wonach wir suchen müssen. Kann sein, dass er von außerhalb kam und mit dem Auto in die Stadt gefahren ist, aber möglicherweise wohnt er auch in der Innenstadt und hat seinen Autoschlüssel an seinem normalen Schlüsselbund. Neben den Schlüsseln zum Dom hatte er noch einen weiteren Schlüssel am gleichen Ring. Wozu der gehört, wissen wir noch nicht.«

»Im Moment nehmen wir alles, was wir an Hinweisen bekommen können«, sagte Ede.

»Ansonsten ist die Spurenlage leider eher mau – mit einer Ausnahme.« Ritchie trank einen Schluck Kaffee. »Wir haben überall auf dem Weg nach oben Fingerabdrücke genommen, also da, wo es Sinn macht – Türklinken, Geländer und so. Das waren doch ordentlich ein paar mehr, als wir gedacht hatten. Ich habe eben mit jemandem von der Dombauhütte telefoniert, und der sagte mir, dass da oben zwar nur selten Publikumsverkehr ist, aber Handwerker gehen da öfter ein und aus. Ist halt ein sehr, sehr altes Gebäude, und da gibt’s immer was zu reparieren. Kurzum, erkennungsdienstlich nicht so eine Katastrophe, wie es im Innenbereich gewesen wäre, aber es ist auch nicht so, dass da im Jahr nur drei Leute hochgehen, die man dann einfach nur eliminieren müsste. Haltet also besser nicht die Luft an, bis wir raushaben, wer da oben rumgelaufen ist und ob die da was zu suchen hatten.« Erneut biss er ein großes Stück Brötchen ab und trank an seinem Kaffee.

»Das Dach der Chorhalle oder besser gesagt der Umgang dort oben ist auch nicht gerade ein erkennungsdienstlicher Traum«, sagte er kauend. »Draußen, stark exponiert, raue Steinoberflächen, furchtbar. Aber dafür haben wir was anderes gefunden, und zwar an den Klamotten des Toten.« Er nickte Nico zu, dem er offenbar ein paar Bilder zugeschickt hatte, die dieser jetzt anzeigte. Wir sahen eine auf einem Tisch ausgebreitete graue Cordhose.

»Das ist die Hose, die der Mann getragen hat. Wie man sieht, nichts Spektakuläres.« Er gab Nico ein Zeichen, und ein neues Bild erschien. »Interessant wird es am Hosenboden.«

Grinsend wartete er, bis das allgemeine Gelächter nachgelassen hatte. »Nein, im Ernst. Wenn man sich diesen Teil der Hose genauer anguckt«, Nico vergrößerte das Bild, »sieht man einen Abrieb. Und wenn man den genauer anschaut, stellt man fest, dass der Abrieb von der Steinbalustrade auf dem Dach der Chorhalle kommt. Im Stoff haben sich winzige Partikel des Steins verfangen – und das nicht nur am Gesäß, sondern auch an den hinteren Hosenbeinen.«

»Das heißt, der Mann hat mit dem Hintern auf der Steinbalustrade gesessen?«, formulierte Körber die Schlussfolgerung. »Wie bescheuert ist das denn?«

»Es kommt noch besser. Wir haben nur