Aachener Hindernisse - Ingrid Davis - E-Book

Aachener Hindernisse E-Book

Ingrid Davis

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Beschreibung

Ein brutaler Mord erschüttert den Aachener CHIO – eines der wichtigsten Reitturniere der Welt Wolfram Sander, Investmentbanker und einflussreicher Sportpferdebesitzer, wird mitten im Turnier tot auf der Geländestrecke der Vielseitigkeitsreiter gefunden. Nicht nur seine Tochter, die Privatdetektivin Britta Sander, will dringend wissen, welcher seiner zahlreichen Feinde ihn eiskalt erstochen hat. Verdächtige und Motive gibt es mehr als genug. Britta ermittelt undercover, um gemeinsam mit ihren Kollegen und der Aachener Kripo den rücksichtslosen Killer zu jagen, der sich geschickt im internationalen Turniergewimmel verbirgt. Finden sie den Täter, ehe die Verdächtigen sich nach dem weltberühmten »Abschied der Nationen« in alle Winde zerstreuen? Auch in ihrem 8. Fall ermittelt Britta Sander hinter den Fassaden der altehrwürdigen Kaiserstadt Aachen.

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Von der Autorin bisher bei KBV erschienen:

Aachener Todesreigen

Aachener Intrigen

Aachener Gangster

Aachener Untiefen

Aachener Abgründe

Aachener Abrechnung

Aachener Zwietracht

Ingrid Davis (Jahrgang 1969) ist gebürtige Aachenerin und begann bereits im Alter von zehn Jahren mit dem Schreiben von Kurzgeschichten, Novellen und Gedichten. Ihr Weg führte sie nach dem Studium (Englische Literatur und Geschichte) jedoch zunächst nicht in die Schriftstellerei, sondern ins Marketing und Projektmanagement. Hauptberuflich ist sie auch heute noch als Marketingmanagerin tätig und lebt in Aachen. Neben dem Krimischreiben verbringt sie ihre Freizeit gerne mit Reisen, Kino, Literatur und Strategiespielen.

Aachener Hindernisse ist der achte Band der Reihe um die schlagfertige Privat-Ermittlerin Britta Sander, die ein verhängnisvolles Talent besitzt, in gefährliche Situationen zu geraten.

Ingrid Davis

AACHENER HINDERNISSE

Britta Sanders achter Fall

Originalausgabe

© 2023 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlaggestaltung: Ralf Kramp unter Verwendung von

© Markus - Fotolia.de, © Wirestock - stock.adobe.com

und © CHIO Aachen, Andreas Steindl

Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln

Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-95441-645-5

E-Book-ISBN 978-3-95441-652-3

Für Bernd Heinrichs

Auch wenn Worte nicht genug sind: Tausend Dank.

INHALT

REGISTER DER HAUPTFIGUREN

PROLOG DIENSTAG, 16. JULI

MITTWOCH, 17. JULI

DONNERSTAG, 18. JULI

FREITAG, 19. JULI

SAMSTAG, 20. JULI

EPILOG DIENSTAG, 23. JULI

DANKE!

REGISTER DER HAUPTFIGUREN

Britta Sander

Privatdetektivin in der Detektei Schniedewitz & Schniedewitz

Anne-Roos de Vries

Brittas Kolleginnen

Eric Lautenschläger

und Kollegen

Silke Juratha

Steffi Zurek

Marc Achten

Kriminalhauptkommissar

Brittas Partner

(KHK) Matthias Körber

Sammy

Brittas kleine, schwarze und immer hungrige Promenadenmischung

Tom Hartwig

Ex-Gangsterboss und enger Freund von Britta

Tahar Karim

französischer IT-Sicherheitsexperte und Brittas bester Freund

Petra Hoffmann, geb. Sander

Brittas Schwester

Gregor Hoffmann

Brittas Schwager

Felix, Finn, Pip

Brittas Neffen und Nichte

und Ronja Hoffmann

Elise Dion alias »Die blaue Elise«

Geschäftsführerin bei Schniedewitz & Schniedewitz

Martin Sander

Brittas zweitältester Bruder und Inhaber von Schniedewitz & Schniedewitz

Holger Sander alias

Brittas ältester Bruder

»Chefarzt Dr. Holger«

Jürgen Sander

Brittas drittältester Bruder

Polizeikommissar (PK)

Körbers jüngster Bruder

Lukas Körber

PROLOGDIENSTAG, 16. JULI

23:55 Uhr

Der Schlüssel drehte sich samtweich im Schloss, und die große, repräsentative Eichentür schwang lautlos nach innen. Der alte Mann im eleganten, hellen Sommeranzug und teuren Wildlederschuhen betrat sein Haus. Wie immer legte er den Schlüssel in die Schale auf der Kommode neben der Tür und warf einen zufriedenen Blick in den Spiegel.

Plötzlich ruckte sein Kopf herum. Er meinte, ein Geräusch gehört zu haben. Aufmerksam lauschte er ins Haus hinein.

Hatte seine Haushälterin etwa erneut vergessen, beim Verlassen des Hauses die Hunde in den Außenzwinger zu sperren? Das war ihr in den ganzen Jahren, die sie für ihn arbeitete, zwar noch nicht oft passiert, aber in letzter Zeit hatte es sich etwas gehäuft. Er wusste, dass sie die Hunde lieber im Haus lassen würde, wo sie mehr Bewegungsfreiheit hatten als im Zwinger. Sie begann doch nicht etwa damit, sich stiekum seinen Anweisungen zu widersetzen?

»Romulus? Remus?«, rief er nach den beiden altdeutschen Schäferhunden.

Vielleicht hatte es einen Notfall gegeben, und sie hatte überhastet aufbrechen müssen. Er hielt sich nicht an den persönlichen Angelegenheiten von Bediensteten auf, aber hatte seine ältere Tochter nicht einmal etwas über eine pflegebedürftige Mutter gesagt? Ärgerlich runzelte er die Stirn. So etwas war keine Ausrede, seinen Pflichten nicht nachzukommen. Er würde einen ernsten Tadel aussprechen müssen, wenn sie Anfang der kommenden Woche aus ihrem Kurzurlaub zurückkam.

Er lauschte noch einmal kurz und schüttelte dann den Kopf. Er musste sich verhört haben. Wären die Hunde im Haus gewesen, wären sie längst zu ihm gekommen. Erneut wandte er sich seinem Spiegelbild zu.

Mit seinen 75 Jahren konnte er sich noch immer sehen lassen. Schneeweiße, militärisch kurz geschnittene Haare, ein markantes, ausdrucksstarkes Gesicht und eisgraue Augen blickten ihm entgegen. Der kurze Aufenthalt in Cannes Anfang des Monats hatte ihm gutgetan, auch wenn er aus geschäftlichen Gründen dort gewesen war. An der Côte d’Azur gab es viele sehr reiche Menschen. Und wo viele reiche Menschen waren, war viel Geld zu verdienen.

Auch an diesem Abend hatte er hervorragende Geschäfte gemacht. Nicht, dass er das noch nötig hatte. Aber es war so selbstverständlich für ihn wie Atmen. Warum sollte er mit dem aufhören, was er am besten konnte und ihn so sehr belebte wie nichts anderes auf der Welt? Geld verdienen war so einfach. Wenn man, wie er, keine Skrupel kannte. Und wenn sich dann, wie heute Abend, auch noch seine ganz persönlichen Interessen mit dem Mehren seines beträchtlichen Vermögens vereinten, war seine Welt in Ordnung.

Er würde noch einen Branntwein trinken, die Hunde aus dem Zwinger holen und sich dann zur Ruhe begeben. Auch der nächste Tag würde sicher lang, ereignisreich und profitabel werden.

Der alte Mann wandte sich in Richtung Salon, lockerte im Gehen die seidene Krawatte und öffnete den obersten Hemdknopf. Er schaltete das Licht im Salon ein, ging zur großen Schrankwand hinüber und öffnete die Klapptür, hinter der sich die beleuchtete und verspiegelte Bar mit zahlreichen Flaschen erlesenen, hochprozentigen Inhalts verbarg.

Er wählte eine der Branntwein-Flaschen aus und schenkte sich ein. Als er die Bar wieder geschlossen hatte, hielt er mitten in der Bewegung inne. Er meinte erneut, ein Geräusch gehört zu haben. Im Haus war es jedoch totenstill.

Mit dem Glas in der Hand trat er zum Vorhang, der die große Fensterfront zum Garten hin verbarg und bei diesen sommerlichen Temperaturen tagsüber die Hitze draußen hielt. Er zog den Vorhang zur Seite und öffnete eine der großen Terrassentüren. Er würde einfach ein paar Minuten hier stehen und die laue Sommernachtsluft einatmen, bevor er die Hunde aus dem Zwinger ließ. Romulus und Remus liefen aufgeregt hin und her, als sie ihn sahen.

In aller Ruhe ließ er den langen Tag vor seinem inneren Auge Revue passieren und runzelte verärgert die Stirn, als er an die Auseinandersetzungen dachte, mit denen er sich im Laufe des Tages konfrontiert gesehen hatte. Nicht, dass es ihm schwerfiel, seine Entscheidungen durchzusetzen. Im Gegenteil. Er wunderte sich jedoch einmal mehr, wie energisch er dabei oft werden musste. Es gab einfach immer wieder Leute, die meinten, es besser zu wissen als er.

Daran merkte man, dass die meisten Menschen sich in der verweichlichten westlichen Zivilisation zu weit von ihren Instinkten entfernt hatten. Wenn das Alpha-Tier etwas sagte, hatte man das umzusetzen. Sofort und ohne Widerworte.

Nun, wer das nicht tat, musste eben mit den Konsequenzen leben. Besonders, wenn man versuchte, ihn zu hintergehen, ihn zu bedrohen oder gar zu betrügen. Grimmig trank er den letzten Schluck seines Branntweins, als die beiden Schäferhunde plötzlich wie wild anfingen zu bellen und sich gegen das Gitter des Zwingers zu werfen.

»Ist ja gut, ich komme sofort zu euch.« Wohlwollend lächelte der Alte über die Aufregung seiner beiden Gefährten, die es nicht erwarten konnten, ihn zu begrüßen.

Durch das laute Bellen hörte er nicht, wie sich von hinten leise Schritte näherten. Deshalb zuckte er erschreckt zusammen, als eine sanfte Stimme direkt hinter ihm sagte: »Guten Abend.«

Verärgert über die Schwäche, die er gezeigt hatte, drehte er sich betont langsam um. »Was hast du hier zu suchen?«, herrschte er sein Gegenüber an. »Verlass sofort mein Haus!«

»Keine Sorge, ich bleibe nicht lange. Ich wollte noch einmal …«

»Den Weg hättest du dir sparen können«, sagte der alte Mann verächtlich. »Ich habe meine Entscheidung getroffen.«

»Ich hatte befürchtet, dass du das sagen würdest. Du lässt mir keine Wahl.«

Das teure Branntweinglas fiel zu Boden, als das Gegenüber des alten Mannes das erste Mal zustach, und zersprang in tausend Stücke.

MITTWOCH, 17. JULI

17:50 Uhr

Und nun Killer Queen VDM und Daniel Deußer, Deutschland.« Applaus brandete rund ums Aachener Reitstadion auf, als der lange, schlaksige Mann auf seiner schicken, braunen Stute nach dem traditionellen Gruß anritt und konzentriert das erste Hindernis ansteuerte.

Meine Kollegin Anne-Roos de Vries hielt mir ihre große Weingummitüte hin, ohne Reiter und Pferd aus den Augen zu lassen. Beherzt griff ich zu. Auf unseren überdachten Plätzen hatten wir nicht nur eine hervorragende Aussicht über den Parcours, sondern auch jederzeit unsere Zielperson im Blick, die einige Reihen vor uns im benachbarten Tribünenblock saß.

Ich steckte mir ein quietschblaues Stück Weingummi in den Mund und nuschelte: »Könnte alles viel schlimmer sein, oder?«

Wie schon im vergangenen Jahr hatten wir von einem höchst eifersüchtigen, aber gut betuchten Internisten auch diesmal wieder den Auftrag bekommen, seiner pferdenärrischen Gattin während des gesamten CHIO auf Schritt und Tritt zu folgen. Ein Super-Job, denn alles, was die gute Frau tat, war, sich an jedem einzelnen der zehn Turniertage mit ihren zahlreichen, ebenso pferdeverrückten Freundinnen zu treffen und so viele Wettbewerbe wie möglich live zu verfolgen.

Im Jahr zuvor hatten wir nach Ende des Turniers vergeblich versucht, unserem Auftraggeber klarzumachen, dass er sein Geld aus dem Fenster warf. Da er jedoch eine erstaunliche Beratungsresistenz an den Tag legte, hatten wir irgendwann achselzuckend aufgegeben und nahmen den Auftrag in diesem Jahr einfach als das, was er war – bezahlter Urlaub auf einem der renommiertesten Reitturniere der Welt.

»Sag das mal Eric«, grinste Anne-Roos. Unser Kollege Eric Lautenschläger hatte heute das kurze Streichholz gezogen und lungerte schon seit der ersten Springprüfung am späten Vormittag auf den Stehplätzen vor der Haupttribüne herum – bei dem warmen Wetter und den unzähligen Schülern, die das Gelände einen großen Teil des Tages bevölkert hatten, nicht immer ein Vergnügen.

»Ach was, du hast das gestern gemacht, und ich bin morgen dran, außerdem ist er viel schneller bei den Fressbuden und am Eisstand«, wandte ich ein. »Einer muss nun mal den Ausgang Richtung Ladenstraßen im Auge behalten. Wenn wir ihr jedes Mal von hier aus hinterherdackeln, wenn sie ihren Platz verlässt, fällt das selbst Hedi irgendwann auf.«

Auf dem weitläufigen Turniergelände mit seinem hohen Publikumsverkehr waren drei Personen für eine lückenlose Überwachung eigentlich viel zu wenig. Das funktionierte nur, weil Zielperson Hedi Buschmann bei den Wettkämpfen die meiste Zeit konzentriert zusah, alle Ergebnisse notierte und – wenn sie nicht auf ihrem Platz saß – selten allein und meist abgelenkt war.

»Was macht eigentlich Körber, wenn du die ganze Woche hier auf dem Turnier bist?«, fragte Anne-Roos über den Applaus hinweg, der aufkam, als Killer Queen den Parcours fehlerfrei absolviert hatte.

»Der langweilt sich«, sagte ich und hielt ihr meine Lakritz-Tüte hin.

Mein Partner, Matthias Körber, arbeitete im Kommissariat 11 der Aachener Kripo – Todesermittlungen, Gewalttaten, Waffen und Brandstiftung.

»Also zu tun haben die ja immer was, aber seit fünfzehn Monaten kein Mord, wo sie den Täter nicht im Handumdrehen hatten; nichts, woran du dir als anständiger Kriminalist mal wieder so richtig die Zähne ausbeißen kannst …«

»Geht uns ja nicht anders«, seufzte Anne-Roos. »Vielleicht liegt’s an mir. Seit ich letztes Jahr bei Schniedewitz & Schniedewitz angefangen habe, haben wir keinen einzigen spektakulären Fall mehr gehabt.«

»Dafür war dein Einstieg aber umso turbulenter«, grinste ich. »Von unserer Verfolgungsjagd auf deinem giftgrünen Feuerstuhl erzählt sich das Spezialeinsatzkommando heute noch am Lagerfeuer.«

»Das war auf jeden Fall das erste Mal, dass ich in Voerendaal im Lokalblättchen stand«, lachte Anne-Roos, die knapp fünfzehn Kilometer von der niederländischen Grenze in der kleinen Nachbargemeinde von Heerlen wohnte.

»Nur gut, dass der Präsidiumsumzug in diese Zeit gefallen ist. Hat ja lang genug gedauert, bis alle Nachwehen und Kinderkrankheiten ausgestanden waren.«

Seit das Aachener Polizeipräsidium vier Monate zuvor von der Soers in ein schickes, neues Gebäude in Aachen-Brand gezogen war, hatte sich der allgemeine Trubel zwar gelegt und man hatte sich eingelebt, aber Körber raufte sich immer noch regelmäßig die Haare. Während der Bauphase hatte nämlich das Leben die Planungen ein- und überholt, und so gab es am neuen Standort viel zu wenige Parkplätze. Wer morgens nicht mit den Hühnern aus den Federn kam, hatte das Nachsehen.

»Fährt Körber eigentlich inzwischen mit dem Fahrrad zur Arbeit?«, grinste Anne-Roos.

Ich wollte gerade antworten, als mein Handy vibrierte. Ohne den belgischen Reiter aus den Augen zu lassen, der gerade eingeritten war, zog ich es aus der Hosentasche.

»Britta Sander.«

»Guten Abend, Frau Sander. Können Sie frei sprechen?«, sagte eine weibliche Stimme, die ich inzwischen gut kannte.

»Bedingt«, gab ich zurück. Anne-Roos konnte das Gespräch ruhig mithören, aber wir saßen nicht allein auf der Tribüne.

»Verstehe«, sagte die Präfektin der Gilde der Unsichtbaren. »Ich wollte nur kurz erfragen, wo Sie momentan unterwegs sind und wie Ihre Pläne für die nächsten Tage aussehen. Den Hintergrundgeräuschen nach zu urteilen sind Sie auf dem CHIO?«

»Korrekt. Und wenn alles nach Plan läuft, wird das bis zum Abschied der Nationen am Sonntagabend auch so bleiben.«

»Das trifft sich gut.«

»Haben Sie denn etwas für uns?«

Anne-Roos sah mich so hoffnungsvoll an, wie ich mich fühlte.

»Das weiß ich noch nicht, aber es wäre möglich.«

»Worum geht es denn?«

»Sobald ich Genaueres weiß, erfahren Sie es als Erste.«

»Etwas Großes oder etwas Kleines?«

»Wir haben bisher nur Andeutungen, aber eher etwas Großes.«

Ich zeigte Anne-Roos den Daumen nach oben. »Ich hatte so gehofft, dass Sie das sagen würden«, seufzte ich.

»Ich mache Ihnen wirklich gerne eine Freude«, sagte die Stimme trocken. »Aber Zeiten wie die ruhigen letzten fünfzehn Monate sind uns natürlich sehr lieb.«

»Sie haben ja recht.«

»Einen angenehmen Abend. Ich melde mich wieder.« Damit legte sie auf.

»Die Gilde?«, fragte Anne-Roos leise, während ein Schweizer auf einer Grauschimmelstute einritt.

»Ja. Vielleicht haben sie was für uns«, gab ich leise zurück.

Die Gilde der Unsichtbaren war eine Art Geheimbund, der seit den 1970er-Jahren bestand. In diesem Bund hatten sich Menschen zusammengefunden, die – sei es in ihrem Beruf oder aufgrund der gesellschaftlichen Schicht, der sie angehörten – behandelt wurden, als wären sie unsichtbar oder nicht anwesend. Von der Reinigungskraft über den Chauffeur bis hin zum Obdachlosen einte diese Menschen das Bestreben, einen Beitrag zur Verbrechensbekämpfung zu leisten, denn gerade die relative »Unsichtbarkeit« ließ sie oft Dinge erfahren, die nicht zu den Regeln des gesellschaftlichen Miteinanders passten.

Da die Gilde-Mitglieder nicht selbst Miss Marple spielen wollten, arbeitete jedes Regionalkapitel mit festen Ermittlerinnen oder Ermittlern zusammen. Nach einem Kontaktprozess, der sich ein gutes Jahr hingezogen hatte, war diese Ermittlerrolle im Jahr zuvor mir zugefallen. Anfänglich hatten sowohl ich als auch meine Kollegen uns des Öfteren gefragt, ob wir es womöglich mit einer Horde durchgeknallter Spinner zu tun hatten. Aber spätestens seit die Hinweise der Gilde uns auf die Spur des gefährlichsten Serienmörders in Aachens Stadtgeschichte geführt hatten, gab es keine Zweifel mehr, dass ihr Wort Gewicht hatte.

»Hat sie schon gesagt, worum es geht?«, fragte Anne-Roos gespannt.

»Leider nein. Wir müssen abwarten. Und das, wo Geduld doch eine meiner größten Stärken ist.« Seufzend steckte ich mir noch ein Stück Lakritz in den Mund und wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen im Parcours zu.

***

Wenig später stieß mir Anne-Roos unauffällig den Ellbogen in die Seite und flüsterte: »Guck mal, was da für ein lekker ding die Treppe hochkommt.«

»Lekker ding?«, fragte ich und folgte ihrem Blick mit den Augen.

»Na, ein appetitlicher Mann. Wie sagt ihr das denn?«

»Ein Sahneschni…« Als ich sah, wen sie meinte, versagte mir die Stimme.

Der Enddreißiger, der gerade die Tribünentreppe heraufstieg, war nicht im klassischen Sinne schön, aber definitiv ein sehr lekker ding. Sein Gesicht mit den etwas zu vollen Lippen und den ausdrucksstarken, dunkelblauen Augen war sonnengebräunt, und der teure Sommeranzug schmiegte sich so schmeichelhaft um seinen massigen, muskelbepackten Körper, dass mir schlagartig warm wurde. Die braunen Haare trug er wie immer in einem kurzen Undercut, und in der Knopfleiste seines blütenweißen Hemdes steckte eine dunkle Sonnenbrille.

Ich musste wohl unbewusst einen kleinen Seufzer getan haben, denn Anne-Roos blickte kurz von mir zu ihm und von ihm zurück zu mir und zählte eins und eins zusammen: »Ist das etwa der berüchtigte Tom Hartwig?«

»Wie er leibt und lebt«, murmelte ich versonnen und konnte meine Augen nicht abwenden. »Man merkt, dass du ihn länger nicht gesehen hast«, grinste Anne-Roos, nachdem sie mir einen kurzen Seitenblick zugeworfen hatte.

»Fast fünfzehn Monate«, brummelte ich, während sich mein Puls mit jeder Stufe, die er nahm, weiter beschleunigte.

Anne-Roos neigte den Kopf leicht zur Seite. »In echt sieht er anders aus als auf den Zeitungsfotos. Irgendwie … bedrohlicher.«

Ich wandte ihr den Blick zu. »Er hat seinen Job als Gangsterboss vor Jahren an den Nagel gehängt, aber er ist alles andere als zimperlich.«

»Ach, ich dachte, der Tod des Postkartenkillers damals war ein bedauerlicher Unfall?«

Ob Anne-Roos ahnte, dass Tom Hartwig dem Serienmörder mit bloßen Händen das Genick gebrochen hatte, um mich zu beschützen?

»Die meisten Menschen, die ihm das erste Mal begegnen, finden ihn furchteinflößend«, sagte ich ausweichend.

»Du auch?«, fragte Anne-Roos interessiert.

Tom war auf der Treppe stehen geblieben, weil ein großer, schlanker Mann mit schwarzen Haaren und mediterranem Teint ihn angesprochen hatte. Ich versuchte, mir ins Gedächtnis zu rufen, was mir durch den Kopf gegangen war, als Tom an jenem schicksalhaften Märzmorgen in Begleitung von vier Bodyguards in mein Büro marschiert war. Alles, woran ich mich erinnern konnte, war, wie unglaublich attraktiv und sexy ich ihn von der ersten Sekunde an gefunden hatte.

Ich kratzte mich am Kopf. »Sagen wir so – ich hab die bedrohliche Ausstrahlung deutlich wahrgenommen, aber sie hat mich nicht abgeschreckt. Im Gegenteil.«

»Verstehe«, zwinkerte Anne-Roos. »Wo hat er denn die ganze Zeit gesteckt? Fünfzehn Monate sind eine ganz schön lange Zeit.«

»Wem sagst du das«, seufzte ich. »Er ist kreuz und quer durch die Welt gereist. Soweit ich weiß«, schob ich schnell nach. Auch wenn ich ihn lange nicht gesehen hatte – der Kontakt war nie abgerissen.

»Vielleicht musste er nach den sechs Monaten Untersuchungshaft seine Geschäfte wieder ans Laufen bringen«, spekulierte Anne-Roos. »Er handelt doch noch mit Kunst und Antiquitäten?«

Ich nickte. »Oberstes Preissegment, und das spielt sich vor allem international ab. Viele von den wirklich lukrativen Geschäften in dem Bereich gehen wohl am deutschen Kunstmarkt vorbei.«

»Ist das so?« Anne-Roos hob interessiert eine Augenbraue.

»Offensichtlich. Aber frag mich nicht warum.«

»Vermutlich spielt sich in so einem Markt auch viel auf der persönlichen Ebene ab«, sinnierte Anne-Roos. »Wenn du ein halbes Jahr aus dem Verkehr gezogen wirst, machen andere die Geschäfte.«

Ich dachte an Daria May, Toms rechte Hand, die sein Business genauso gut kannte wie er selbst. Was persönliche Kontakte anging, hatte Daria jedoch ein schweres Handicap. Jemand hatte ihr viele Jahre zuvor mit einem Messer das ganze Gesicht zerfetzt, und den meisten Menschen fiel es schwer, sie anzusehen, ohne zu schaudern. Sie hatte Toms Geschäfte während seiner U-Haft so gut es ging weitergeführt, und auch Tom war in der JVA nicht untätig gewesen. Trotzdem hatte er sehr viel aufzuholen gehabt, als er endlich wieder auf freien Fuß gekommen war.

Während Tom seinem Gegenüber höflich, aber reserviert zuhörte, konnte ich mich kaum sattsehen. Meine Gefühle für ihn, die in den vergangenen Monaten aufgrund seiner Abwesenheit auf erträglicher Sparflamme vor sich hin geköchelt hatten, brachen mit Wucht wieder über mich herein. Ich musste mich schwer beherrschen, um nicht aufzuspringen und mich in seine Arme zu werfen.

Automatisch gingen meine Gedanken zu Körber. Bevor ich Tom begegnet war, hätte ich es nie für möglich gehalten, aber ich liebte beide gleichermaßen und doch völlig anders. Ich konnte nicht erklären wie, aber die Liebe für den einen hatte mit der Liebe für den anderen nichts, aber auch rein gar nichts zu tun.

»Nee, in dem Geschäft wartet echt keiner auf dich, dafür geht’s da um viel zu viel Geld. Klassisches Haifischbecken.«

»Es gibt sicher Schlimmeres, als sich unter den Reichen und Schönen zu tummeln und ihnen für horrende Preise Kunst anzudrehen, von der sie wahrscheinlich nicht mal was verstehen«, sagte Anne-Roos trocken. »Ich wusste, ich hab bei der Berufswahl was falsch gemacht«, grinste sie.

Tom verabschiedete sich mit einem knappen Nicken von seinem Gegenüber und stieg die Treppe weiter hoch. Vermutlich war er auf dem Weg in den VIP-Bereich, der sich am oberen Ende der Turkish-Airlines-Tribüne an die regulären Sitzplätze anschloss.

Als er an unserer Reihe vorbeikam, ohne uns zu sehen, fragte Anne-Roos verblüfft: »Willst du ihn nicht ansprechen?«

»Er sieht aus, als hätte er es eilig. Ich seh ihn noch früh genug«, log ich und lenkte meinen Blick mit viel Mühe wieder auf den Parcours.

DONNERSTAG, 18. JULI

10:50 Uhr

Der Däne Anders Dahl hatte seine Prüfung im Dressurstadion gerade beendet und ließ seinen kastanienbraunen Wallach am langen Zügel in Richtung Ausgang schreiten, als mein Handy sich vibrierend zu Wort meldete. Ich zog es aus der Hosentasche, glitt aus meinem Sitz am Ende der Reihe und kletterte eilig die Stufen hoch in Richtung Ausgang, denn im Dressurstadion galt es von jeher als besondere Todsünde, Pferd und Reiter durch unnötige Geräusche in ihrer Konzentration zu stören.

»Wo bist du?«, knarrte Körbers Reibeisenstimme, als ich den Anruf entgegennahm.

»Beim CHIO, weißt du doch, Schatzilein.«

»Und wo da?«

»Im Dressurstadion. Im Springstadion ist heute Morgen noch nichts los.«

»Hrmpf«, machte Körber und zog hörbar an einer Zigarette. »Also sitzt du?«

»Äh, nein. Ich stehe gerade an einem der Ausgänge, damit ich nicht vom Dressurpublikum gelyncht werde.«

»Dann such dir pronto ’nen Stuhl.«

»Ist was passiert?«

»Das kannst du laut sagen.«

»Und?«

»Eigentlich müsste ich dir das persönlich …«

»Ist was mit Petra? Mit den Kids? Gregor?« Bei dem Gedanken, meiner Schwester oder ihrer Familie könnte etwas zugestoßen sein, sackten mir fast die Knie weg.

»Nein, nein«, brummte Körber beruhigend.

»Tahar? Jyoti? Sammy? Doch nicht etwa Eric?« Eric hatte diesen Vormittag freigenommen, da Hedi Buschmann ihren Platz im Dressurstadion vor der Mittagszeit vermutlich sowieso nicht verlassen würde. Da reichten Anne-Roos und ich als Aufpasserinnen. Weil das Dressurstadion mit seinen gut sechstausend Plätzen aber deutlich kleiner war als das Hauptstadion, hatte ich mich an diesem Tag mit blonder Perücke und Hornbrille ausstaffiert und war in meiner Undercover-Identität als »Franziska Decker« unterwegs.

»Nein, auch nicht.«

»Körber, willst du hier Quizduell spielen, oder wieso rückst du nicht mit der Sprache raus. Wo bist du überhaupt?«

»Auf der Geländestrecke der Vielseitigkeitsreiter«, knurrte er, »hinter dem Hauptstadion.«

»Ich weiß, wo die Geländestrecke ist, Schatzi. Die Frage ist nur: Was machst du da?«, fragte ich verdutzt. Körber hatte mit Pferden und Reitsport aber auch gar nichts am Hut.

»Der Veranstalter des CHIO hat uns um kurz nach neun angerufen. Die Richter haben heute Morgen beim Streckenrundgang eine Leiche gefunden. Ermordet.«

»Nein!«

»Doch!«

»Dann kann ja der Wettkampf gar nicht stattfinden!«

»Na, wenn du weiter keine Sorgen hast«, sagte Körber trocken.

»Sorry, hast ja recht. Aber du weißt, dass mir diese Disziplin besonders am Herzen liegt.«

Nur nicht, warum.

»Hrmpf«, machte Körber erneut.

»Weiß man denn schon, wer es ist?«

»Ja.«

»Körber, muss ich erst persönlich zu euch rüberstiefeln, oder sagst du mir jetzt endlich, wer da liegt?«

Ich hörte, wie Körber sich eine neue Kippe anzündete. »Es ist dein Vater.«

***

Ich stand wie vom Donner gerührt da, das Handy am Ohr, vollkommen sprachlos. Die Wucht der Gefühle, die mich in diesen ersten Momenten durchfuhren, ließ erst mal keinen Raum für Worte, und Anne-Rooses Hand, die sich im nächsten Moment auf meine Schulter legte, spürte ich kaum.

»Britta, ist alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt. »Du bist weiß wie ein Laken.«

Wie in Trance reichte ich ihr mein Handy.

Ich nahm an, dass Körber ihr sagte, was passiert war, denn ihre Augen weiteten sich und nahmen einen Ausdruck tiefen Mitgefühls an. Völlig fehl am Platz, denn es gab niemanden, den ich so abgrundtief hasste wie meinen Vater – ein Gefühl, das auf Gegenseitigkeit beruhte. Beruht hatte.

»Ja, mach ich, Körber.« Anne-Roos beendete das Gespräch und gab mir mein Handy zurück. »Da drüben ist ein Sanitätsraum, da kannst du dich bestimmt erst mal hinsetzen und durchatmen. Was für ein Schock.«

»Ich will mich aber gar nicht hinsetzen«, hörte ich mich sagen. »Ich muss da hin.« Als ich mich umdrehen wollte, in Richtung Hauptstadion, versuchte Anne-Roos mich zurückzuhalten.

»Nee, echt niet, Britta, das ist keine gute Idee. Wahrscheinlich lassen die dich da sowieso nicht hin.«

»Das sollen sie ruhig probieren«, erwiderte ich und drehte mich zum Gehen um.

»Dann lass mich wenigstens mitgehen.«

»Und wer behält dann Hedi im Auge? Nee, eine von uns muss hierbleiben, wenigstens bis Eric nachher kommt.«

»Ach was, dieser Klootzak-Arzt mit seiner lächerlichen Eifersucht kann doch bleiben, wo der Pfeffer wächst. Das ist doch jetzt nicht wichtig!«

Trotz der Situation musste ich lachen. Jedes Mal, wenn Anne-Roos dieses in Holland sehr beliebte Schimpfwort benutzte, hatte ich Kopfkino von einem wandelnden Hodensack – für unseren internistischen VIP-Kunden auf jeden Fall eine sehr treffende Bezeichnung.

Der kleine Lacher hatte mich aus meiner kurzen Schockstarre herausgeschüttelt. Ich sah Anne-Roos an. »Du brauchst dir echt keine Sorgen um mich zu machen. Mein Vater ist … oder besser gesagt war ein riesengroßes, gewissenloses Arschloch, das für Geld über Leichen ging und sich im Dritten Reich mit seinen politischen Ansichten nicht hätte verstecken müssen.«

»Charmant«, erwiderte Anne-Roos trocken.

»Genau.«

Die lange Version der Geschichte, warum mein Vater und ich uns so sehr hassten, würde Anne-Roos im Laufe der Ermittlungen vermutlich erfahren – das konnte man auch niemandem in fünf Minuten erklären.

»Geh du wieder rein und pass auf Hedi auf, ja? Eric kommt um halb eins, und Silke ist auf Abruf, falls ihr Verstärkung braucht. Ich lauf zur Geländestrecke rüber. Ich will wissen, was da passiert ist.«

»Ist in Ordnung, Britta. Ich soll dir von Körber noch sagen: Sie sind am großen Wasserhindernis. Der Tote liegt auf der Brücke.«

Ich nickte und machte mich zügigen Schrittes auf den Weg Richtung Hinterausgang am Soerser Weg. Im Gehen rief ich meine Schwester Petra an.

»Hoffmann«, meldete sie sich, etwas außer Atem.

»Stör ich?«

»Nein, nein« seufzte sie. »Ich konnte nur in diesem Chaos das Telefon nicht so schnell finden.«

Im Hintergrund hörte ich meine drei Neffen – auch »die drei Orgelpfeifen« genannt – laut schreiend durchs Haus toben, begleitet von wildem Gekläffe. Sammy, meine kleine, schwarze Promenadenmischung, hatte sich dort schon immer wie zu Hause gefühlt. Direkt am Hörer krähte meine fünfzehn Monate alte Nichte Ronja fröhlich vor sich hin.

»Sind schon Ferien?«

»Seit drei Tagen«, stöhnte Pe. »Ich muss verrückt gewesen sein, am Anfang der Ferien alleine Urlaub zu nehmen. In der ersten Woche sind sie immer am schlimmsten.«

»Was ist denn mit Gregor?«

»Der muss diese Woche noch die letzten Arbeiten an einer Holzhaus-Baustelle fertigstellen. Ab Sonntag hat er auch frei. Bis dahin bin ich wahrscheinlich reif fürs Müttergenesungswerk.«

»Sobald wir den aktuellen Fall abgeschlossen haben, nehm ich euch die Racker mal wieder ein paar Tage ab.«

»Du bist echt ein Schatz. Aber du und Körber habt die vier in den letzten Monaten so oft bespaßt. Ich will nicht, dass ihr es irgendwann leid werdet.«

»Quatsch, Schwesterchen. Du weißt doch, wie gern wir die Rasselbande haben. Und spätestens wenn Körber seine Dienstwaffe auspackt, sind die drei hochkonzentriert und mucksmäuschenstill.«

Pe lachte. »Und der aktuelle Fall ist immer noch der kontrollsüchtige Internist?«

»Der auch.«

»Oh? Es gibt also was Neues?«

Ich blieb stehen. »Vater ist tot.«

Stille am anderen Ende.

»Pe? Bist du noch dran?«

»Ja natürlich. Ist das ein schlechter Scherz, Britta?«

»Ich fürchte nein.«

»Aber was … Und warum weißt du …«

»… als Erste davon, obwohl der Alte nicht mehr als drei Worte im Jahr mit mir gewechselt hat? Das liegt vermutlich daran, dass er heute Morgen ermordet aufgefunden wurde und Körber schon vor Ort ist. Er hat mich eben angerufen.« Ich setzte mich langsam wieder in Bewegung und entschied mich für den Weg, der hinter der Haupttribüne durch die Ladenstraße führte.

»Und wo ist ›vor Ort‹?«, fragte Pe.

»Hier in der Soers, auf der Eventing-Geländestrecke.« Die Soers wird langsam zum heißen Pflaster. Unser letzter Fall begann nur einen Steinwurf von hier entfernt.

»Ermordet, sagst du?«

»Ja. Mehr weiß ich noch nicht, ich bin gerade auf dem Weg dorthin. Ich wollte dir nur schon Bescheid sagen. Kannst du …«

»… die anderen informieren? Ja, sicher.«

»Okay. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß.«

»Britta?«

»Hm?«

»Wie geht es dir damit?«

Ich rückte die Fensterglas-Brille auf meiner Nase zurecht. »Gute Frage. Kurzer Schock eben. Meine Trauer hält sich allerdings in Grenzen, wenn du das meinst. Du?«

»Ehrlich gesagt weiß ich es auch noch nicht. Ich habe nicht vergessen, was er uns allen angetan hat und besonders dir. Aber er ist auch unser Vater.«

»Gewesen«, sagte ich nüchtern und legte auf.

Außer ein paar Ladenbetreibern sah ich auf meinem weiteren Weg niemanden, und als das Tor zum Soerser Weg in meinem Blickfeld auftauchte, sah ich Körber schon dort stehen, die obligatorische Kippe im Mundwinkel. Ein Ordner im klassischen CHIO-Outfit – Strohhut und grünes Jackett – stand neben ihm und wirkte reichlich blass um die Nase.

Als ich bei den beiden Männern ankam, nahm Körber mich wortlos in den Arm und küsste mich auf die Stirn. »Alles in Ordnung?«, brummte er besorgt.

»Ja, alles okay. Wisst ihr schon, was passiert ist?«

»Das schaust du dir am besten selbst an«, sagte er leise. Und zum Ordner: »Frau Decker hier gehört zum Ermittlungsteam.«

Der Ordner nickte und öffnete das Tor einen Spaltbreit, sodass wir durchschlüpfen konnten.

Auf der anderen Straßenseite sah Körber mich eindringlich an. »Wenn wir gleich da hinten ankommen, vergisst du Britta Sander. Du bist und bleibst ab jetzt Franziska Decker, klar?«

Ich nickte. Bisher war mir das noch gar nicht in den Sinn gekommen, aber jetzt, wo Körber es ansprach, war auch mir schlagartig klar, dass ich als Tochter des Mordopfers nicht nur nicht zum Tatort durchkäme, sondern allein schon mein Nachname alle Ermittlungen für mich unmöglich machen würde. Wer erzählte schon einer Verwandten des Opfers die – in diesem Fall vermutlich an vielen Stellen unschöne – Wahrheit über das Opfer eines Gewaltverbrechens? Insgeheim dankte ich Hedi Buschmann für ihre Leidenschaft fürs Dressurreiten. Hätten wir heute Morgen im weitläufigen Springstadion gearbeitet, wäre ich ohne Tarnung unterwegs gewesen.

»Was ist mit Bienwald und Ritchie?« Körbers Chef Ede Bienwald und Erkennungsdienstleiter Ritchie Nowarra kannten aus früheren Ermittlungen meine Tarnidentität als Franziska Decker.

»Ede habe ich auf dem Weg hierher schon in Kurzfassung über eure … schwierigen Familienverhältnisse ins Bild gesetzt. Ich hoffe, das war in Ordnung?« Körber wusste, dass ich mit Informationen über unsere dysfunktionale Familie nicht hausieren ging.

Ich nickte kurz.

»Ich habe da so ein Gefühl, dass wir bei diesem Fall eine Insider-Perspektive brauchen werden«, fuhr Körber fort. »Ede ist nicht glücklich mit der Situation, stellt sich aber auch nicht quer, solange wir in der Öffentlichkeit unter dem Deckel halten, wer du bist.«

»Okay«, nickte ich. »Und Ritchie?«

»Ritchie weiß nur, dass du bei diesen Ermittlungen um keinen Preis außen vor sein willst. Er wird der Letzte sein, der dir Steine in den Weg legt.«

»Gut. Dann lass uns gehen.«

»Und denk dran, Ede wieder zu siezen, wenn wir nicht alleine sind.«

»Ist gut.«

Eine Weile gingen wir schweigend querfeldein. Je näher wir dem Hinderniskomplex mit der großen Wasserfläche und der Holzbrücke kamen, desto mehr überschlugen sich meine Gedanken. »Hat der Veranstalter den Vielseitigkeitswettbewerb schon abgesagt? Eigentlich …«, ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr, »wäre doch jetzt die Streckenbesichtigung für die Reiter?«

Körber schüttelte den Kopf. »Abgesagt ist noch gar nichts. Ich glaube, die hoffen noch, dass wir hier schnell fertig werden und die Prüfungen doch noch stattfinden können. Der Vierspänner-Marathon am Samstag ist ja auch betroffen.« Körber warf mir aus seinen tiefschwarzen Augen einen Blick zu. »Es geht um viel Geld.«

»Das schon, aber bestimmt nicht um so viel wie bei den Springwettbewerben. Die haben echt Glück, dass der Killer die Leiche nicht im Springstadion oder sonst wo auf dem großen Turniergelände deponiert hat. Sonst wäre der CHIO für dieses Jahr gelaufen gewesen.«

»Richtig. Bin mir aber nicht sicher, ob die zum jetzigen Zeitpunkt schon zu dieser optimistischen Lesart in der Lage sind«, brummte er.

»Kannst du’s ihnen verdenken? Ein Jahr Arbeit und im schlimmsten Fall Millionen von Euro durch den Schornstein?«

»Versteh ich. Wenn wir den Täter haben, können sie ihm ja ’ne Rechnung schicken.«

Ich sah mich auf dem großen Gelände um. »Sonst scheint aber noch niemand was bemerkt zu haben.«

»Nein, Gott sei Dank. Hoffen wir, dass das noch eine Weile so bleibt. Presse und Schaulustige können wir jetzt nicht brauchen. Das gesamte Gelände hier abzuriegeln, ist völlig unmöglich.«

Vor uns tauchte der flache Mini-See auf, in dessen Mitte sich ein Sandhügel erhob, auf dem wiederum eine große, breite Holzbrücke stand. Die Reiter würden in der Geländeprüfung nicht über die Brücke selbst reiten, sondern mehrere der buchenfarbenen Hindernisse nehmen, die im und ums Wasser herum positioniert waren. Warum ich, als wir uns unter dem rot-weißen Absperrband hindurchduckten, selbst solche unwichtigen Details wie den fröhlichen, gelben Blumenschmuck an Brücke und Hindernissen registrierte, wusste der liebe Himmel.

Was sich auf der Brücke selbst befand, konnte man derzeit nicht sehen, da der Erkennungsdienst bereits das obligatorische weiße Zelt über der Leiche aufgeschlagen hatte. Auf einer Seite der Brücke war ein metallener, mobiler Steg aus einiger Entfernung bis zum weißen Zelt gelegt worden, damit keine Spuren zertrampelt oder verwischt wurden.

Ein Stück entfernt stand einer der großen, weißen Transporter des Erkennungsdienstes auf dem Rasen, und als erste Amtshandlung legten wir Ganzkörperkondome, Handschuhe und Schuhüberzieher an. Als ich die Kapuze über den Kopf zog, musste ich höllisch aufpassen, dass mir die blonde Kurzhaarperücke nicht verrutschte.

Dann balancierten wir vorsichtig über den Steg, um uns die Brücke und die sterblichen Überreste meines Vaters anzusehen.

***

Im Leichenzelt war Ritchie Nowarra gerade allein am Werk. Als wir uns durch den Eingang duckten, wandte er sich um und verstellte mit seinem Köper den Blick auf den Leichnam. »Bist du wirklich sicher, dass du das sehen willst?«, sagte er leise.

»Ja, mach dir keine Sorgen, Ritchie.«

Er tauschte noch einen Blick mit Körber und trat dann zur Seite.

Ich weiß nicht, wie Menschen auf einen solchen Anblick reagieren würden, die ein normales, liebevolles Verhältnis zu ihren Eltern haben. Als mein Blick auf den leblosen Körper meines Vaters fiel, musste ich mit aller Gewalt den Impuls unterdrücken, in hysterisches Gelächter auszubrechen. Was ihm widerfahren war, war weiß Gott nicht zum Lachen, aber es passte einhundert Prozent zu den Prioritäten in seinem Leben.

Wolfram Adolphus Leopold Sander lag in Abendgarderobe auf dem Rücken, mitten auf dem obersten Punkt der Brücke, wie eine leblose Puppe, die jemand verächtlich weggeworfen hat. Das gestärkte, weiße Hemd war blutgetränkt, Brustkorb und Bauch waren von Stichwunden übersäht.

»Da war aber jemand richtig stinkig«, sagte ich trocken.

»So sieht’s aus«, bestätigte Ritchie, der mir besorgt die Hand auf den Arm gelegt hatte.

»Lass mich raten, worum es ging«, knurrte Körber.

In den grotesk weit aufgerissenen Mund und in beide Hände hatte man dem Toten einen Haufen zerknitterter Geldscheine gestopft.

»Ein passenderer Abgang ist kaum vorstellbar«, konnte ich mir nicht verkneifen. »Wissen wir, wie lange er schon hier liegt?«

Ritchie kratzte sich am Kopf. »Tja, das ist das Seltsame. Hier an diesem Hindernis-Komplex sitzt nachts ein Sicherheitsposten. Die Fernsehkamera da drüben kostet wohl schlappe 250.000 Euro, deshalb wird sie auch nachts bewacht.«

»Und der Posten hat nichts gehört oder gesehen?«

»Nee, scheinbar nicht. Wir konnten noch nicht mit ihm selbst sprechen, sie haben ihn noch nicht erreicht. Aber er hat am Ende seiner Schicht nichts gesagt, also gehen wir momentan davon aus, dass er es nicht mitbekommen hat.«

»Vielleicht ist er eingeschlafen«, spekulierte ich.

»Soll vorkommen«, brummte Körber. »Sehr schade. Normalerweise ist es hier auf dem Feld nachts vermutlich duster, aber wenn mich nicht alles täuscht, haben wir gerade Vollmond. Wenn er was bemerkt hätte, hätte er die Täter womöglich sogar beschreiben können.«

»Vielleicht haben wir Glück und jemand dort drüben in den Häusern oder da hinten auf dem Bauernhof hat was gesehen oder gehört.«

»Hoffentlich. Bisher wissen wir nur, dass der Tote gegen zwei Uhr morgens definitiv noch nicht hier gelegen hat. Zu diesem Zeitpunkt ist eine andere Sicherheitsmitarbeiterin mit einem der Wachhunde hier vorbeigekommen, und sie schwört Stein und Bein, dass hier nichts zu sehen war. Der Kollege, der die Kamera bewachen sollte, war da wohl auch noch hellwach.«

»Die Sonne geht momentan so gegen zwanzig vor sechs auf«, ergänzte ich. »Ich vermute, der oder die Täter wollten das Risiko vermeiden, gesehen zu werden. Wenn sie die Dunkelheit genutzt haben, hätten er oder sie also ein Zeitfenster von maximal dreieinhalb Stunden gehabt, um den Alten abzulegen.«

»Ganz ausschließen können wir aber nicht, dass sie erst nach halb sechs hier waren«, wandte Ritchie ein. »Schließlich hat bei der Wachablösung im Hellen niemand den Toten auf der Brücke gesehen – sonst wären wir ja schon viel früher benachrichtigt worden.«

»Es sei denn, die hatten die Augen beim Wachwechsel noch nicht auf. Je nachdem, wie die gesessen oder gestanden haben, muss er auch nicht unbedingt zu sehen gewesen sein«, sagte Körber.

»Haben die denn ein festes Patrouillenschema?«, fragte ich.

»Der Chef vom Sicherheitsdienst sagt Nein – und zwar absichtlich nicht. Die wollen natürlich verhindern, dass man ihre Routen oder Zeiten kalkulieren kann. Gerade in den Stallungen stehen ja buchstäblich Millionen von Euro in den Boxen, da darf niemand ein sicheres Zeitfenster sehen, um nachts irgendwo Unheil anzurichten«, erwiderte Körber.

»Andererseits sind die festen Posten, zum Beispiel die für die drei Fernsehkameras, eigentlich immer die gleichen. Wo also jemand nachts fest Wache schiebt, wäre demnach nicht so schwer herauszubekommen, wenn man die Gegebenheiten vorher auskundschaftet.«

»Und die Person dann zu bestechen oder außer Gefecht zu setzen«, dachte ich laut.

Körber nickte. »Möglich. Wir sprechen nachher mit denen. Der Chef vom Sicherheitsdienst schickt uns gleich den Dienstplan und die Kontaktdaten der Truppe von gestern Nacht. Vielleicht haben wir Glück und es hat doch noch jemand was gesehen.«

»Nach dem Ablegen sollte er aber auf jeden Fall gesehen werden. So, wie er hier drapiert wurde, ist das doch eine Botschaft, oder?«, sagte ich.

»Seh ich genauso«, knurrte Körber. »Fragt sich nur, für wen die Botschaft bestimmt ist.«

»Wer weiß denn eigentlich, dass du die ganze Woche hier bist?«, fragte Ritchie an mich gewandt.

»Du meinst, die Botschaft ist für mich?« Ich sah ihn entgeistert an.

»Ist doch möglich?«

»Möglich, aber unwahrscheinlich«, gab ich zurück. »Wer auch immer das getan hat, scheint mir nicht der Schlag Mensch, der mir einen Gefallen tun will.«

»Autsch. So schlimm?«

»Lange Geschichte, Ritchie. Sagen wir, unsere Wege haben sich in den letzten dreizehn Jahren nicht mehr allzu oft gekreuzt.«

»Verstehe.«

»Also gehen wir für den Moment mal davon aus, dass er letzte Nacht zwischen frühestens zwei Uhr und halb sechs hier abgelegt wurde«, knurrte Körber. »Kannst du was zum Todeszeitpunkt sagen?«

»Körber, echt jetzt?«, stöhnte Ritchie.

»Ja, ja, ich weiß, wir müssen auf die Rechtsmediziner warten und Gewissheit erst nach der Leichenöffnung. Aber abgesehen davon?«

»Unmöglich zu sagen, da sind mir viel zu viele Unbekannte in der Gleichung. Allerdings nehme ich an, dass er hier nur abgelegt, aber woanders getötet wurde. Es ist jede Menge Blut geflossen, und die Brücke ist nahezu jungfräulich sauber. Wenn man ihn hier getötet hätte, hätte man das Blut nie wieder aus dem Holz rausgekriegt.«

»Das leuchtet ein«, nickte Körber. »Also müssen wir nicht nur den Täter, sondern auch noch den Tatort suchen.«

»Vermutlich, es kann aber auch sein, dass man mit großen Abdeckplanen gearbeitet hat oder ihn in irgendeinem der zahlreichen Gebüsche auf der Strecke gemeuchelt und dann hierhergetragen hat. Das muss alles gründlich überprüft werden, bevor wir uns festlegen können. Was ich mich nur frage …«, Ritchie sah mich an, »was zum Teufel hat ein Investmentbanker mit dem Reitturnier zu tun?«

»Das kann ich dir genau sagen«, erwiderte ich. »Mein Vater war einer der einflussreichsten Turnierpferdebesitzer in Deutschland.«

***

14:05 Uhr

Wir hörten die lauten Stimmen schon, als wir in der Geschäftsstelle des Aachen-Laurensberger Rennvereins, Veranstalter des Turniers, die Treppe hochkletterten. Vor der Tür des großen Besprechungsraums, den man uns seitens des ALRV zur Verfügung gestellt hatte, hielten wir kurz an.

»Sieht so aus, als sei die Frage, ob das Turnier weiterläuft, doch noch nicht geklärt«, brummte Körber, der die Hand schon zum Anklopfen gehoben hatte.

»Dann werfen wir uns besser mal auf der Pro-Weiterlaufen-Seite in die Waagschale. Wenn die abbrechen, verstreut sich der Turnierzirkus in alle Himmelsrichtungen, und wir gucken blöd aus der Wäsche.«

Körber nickte grimmig, klopfte an und öffnete die Tür, ohne auf ein »Herein« zu warten.

»… können doch nicht die größte Sportveranstaltung in Deutschland einfach abbrechen! Wissen Sie, was das finanziell für uns bedeutet? Und sportlich für die Teilnehmer? Im August sind die Europameisterschaften der Spring-, Dressur- und Vielseitigkeitsreiter. Sie können nicht einfach kurz davor eins der wichtigsten Sichtungs- und Vorbereitungsturniere beenden!« Kilian Aschenbrenner, Präsident des Aachen-Laurensberger Rennvereins und eine elegante Erscheinung in einem smarten Sommeranzug, stand neben dem großen Konferenztisch und funkelte sein Gegenüber aufgebracht an.

»Ich fürchte, das können wir, und wenn die Sachlage es erfordert, werden wir es auch tun«, sagte Polizeipräsidentin Viktoria Schaller ruhig, aber bestimmt.

»Frau Schaller, die wichtigste Veranstaltung des Jahres, ich bitte Sie!«, sagte der Aachener Oberbürgermeister eindringlich.

Die Schaller strich sich die kastanienbraunen Locken aus der Stirn und fixierte abwechselnd den OB und den ALRV-Präsidenten. »Sie brauchen wirklich keine weiteren Superlative zu bemühen. Ich weiß um die große wirtschaftliche Bedeutung, die der CHIO für Aachen hat. Und als ehemalige Leistungsschwimmerin ist mir auch bewusst, dass bei einem Turnierabbruch immense sportliche Kollateralschäden entstehen. Aber bitte versuchen Sie auch, mich zu verstehen. Wir haben es mit einem Kapitalverbrechen zu tun, und so leid es mir tut, bei Mord tritt alles andere in den Hintergrund.«

Kilian Aschenbrenner atmete tief durch, setzte sich und sagte etwas ruhiger: »Das versteht sich doch von selbst, Frau Schaller. Niemand hier hat ein Interesse daran, einen Verbrecher ungeschoren davonkommen zu lassen. Noch dazu den Mörder einer der einflussreichsten Personen im deutschen Turniersport. Sobald das offiziell die Runde macht, wird hier der Teufel los sein, das garantiere ich Ihnen, aber …« Er hielt inne, als er Körber und mich bemerkte.

Kriminalhauptkommissar Ede Bienwald, Leiter des KK 11, der neben der Polizeipräsidentin saß, winkte uns zum Tisch und bedeutete uns, Platz zu nehmen. »Herr Aschenbrenner, Herr Oberbürgermeister, darf ich vorstellen: Hauptkommissar Körber und unsere Kollegin, Frau … ehm … Decker.«

Der Blick der Polizeipräsidentin sagte mir, dass sie wusste, wer sich hinter Brille und Perücke verbarg. Sie verzog keine Miene.

Als wir uns gesetzt hatten, beugte Bienwald sich zu Körber hinüber, und die beiden tauschten flüsternd ein paar Informationen aus. Dann nickte Bienwald und wandte sich wieder den anderen Beteiligten zu.

»Hauptkommissar Bienwald«, sagte die Schaller, »sind Sie und Ihr Team inzwischen zu einer Einschätzung gekommen?«

Bienwald räusperte sich. »Wenige Stunden nach dem Auffinden des Toten ist die ganze Situation natürlich noch sehr unübersichtlich. Wir wissen noch sehr wenig über die genauen Umstände der Tat; wir hatten noch keine Gelegenheit, in Ruhe mit den Angehörigen zu sprechen oder in Erfahrung zu bringen, wer Herrn Sander wann und wo zuletzt gesehen hat. Unsere Ermittlungen stehen also ganz am Anfang, und deshalb – wenn ich das hier einmal so ungeschützt sagen darf – haben wir noch keine Vorstellung davon, in welche Richtungen sie uns führen werden.«

Er trank gemächlich einen Schluck Wasser, und ich fragte mich, ob er es bewusst spannend machte, um bei der Stadt und beim Veranstalter mehr Erleichterung und Dankbarkeit zu ernten, wenn er schließlich seine Entscheidung über das Schicksal des laufenden CHIO verkündete.

»Wir konnten uns in der Kürze der Zeit auch noch kein vollständiges Bild von Wolfram Sander machen. Da wir jedoch wissen, dass er in der Welt des Reitsports eine bedeutende Figur war …«

»Nicht nur bedeutend, sondern auch kontrovers«, unterbrach ihn Kilian Aschenbrenner.

Bienwald nickte und sprach weiter: »… gibt es natürlich eine Verbindung zum CHIO, ganz zu schweigen vom Fundort und dem Bild, das sich uns dort geboten hat. Wir gehen davon aus, dass der oder die Täter hier nicht einfach eine Leiche losgeworden sind, weil es dort nachts auf dem Feld so schön dunkel ist. Der Tote lag mitten auf der Geländestrecke, gut sichtbar auf einem der auffälligsten Hindernisse des Wettbewerbs, und – diese Information verlässt bitte auf keinen Fall diesen Raum! – die Auffindesituation wurde unseres Erachtens bewusst inszeniert. Diese Tat war nicht einfach ein Mord. Der Täter hatte eine Botschaft. Wir wissen nur noch nicht, welche und an wen sie sich richtet.«

»Heißt das, Sie vermuten den Täter in Reiterkreisen?«, fragte Aschenbrenner, der unter seiner dezenten Sommerbräune blass wurde.

»Unsere Arbeit besteht nicht aus Vermutungen, Herr Aschenbrenner«, antwortete Bienwald sanft. »Wir tragen alle Informationen zusammen, derer wir habhaft werden können, und setzen daraus ein Bild zusammen. Ein Bild des Opfers, seiner Lebensumstände und zu Beginn ganz besonders ein Bild der Stunden und Tage direkt vor der Tat. Wobei wir dann auch schon bei der Frage sind, die Sie und unseren werten Herrn OB am meisten interessiert. Matthias?« Er nickte Körber zu.

»Wir halten es aus ermittlungstaktischen Gründen derzeit für besser, wenn die Spring- und Dressurwettbewerbe weiterlaufen«, knurrte Körber, und Aschenbrenner stieß erleichtert die Luft aus. »Das Turniergelände auf dieser Seite des Soerser Wegs ist momentan nicht von der erkennungsdienstlichen Arbeit betroffen, lediglich der An- und Abreiseverkehr sowie einige der Parkplätze werden für einige Zeit etwas beeinträchtigt sein. Das lässt sich nicht vermeiden. Was die anderen Wettbewerbe angeht …«

»Bitte sagen Sie mir, dass wir die Vielseitigkeit und die Fahrwettbewerbe nicht absagen müssen«, stöhnte Kilian Aschenbrenner, dessen Erleichterung schnell wieder verflogen war.

»Das können wir Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen«, brummte Körber. »Das wird in der Hauptsache davon abhängen, wie lange der Erkennungsdienst braucht, um alle Beweise zu sichern. Dabei wiederum wird entscheidend sein, ob Herr Sander lediglich hier gefunden oder ob er auch hier getötet wurde. Falls es sich ›nur‹ um den Fundort handelt, gibt es eine echte Chance, dass die Strecke rechtzeitig vor Samstagmorgen freigegeben werden kann. Dann könnten alle geplanten Wettkämpfe auch außerhalb des Stadiongeländes stattfinden. Falls er jedoch auf der Brücke oder anderswo auf der Geländestrecke getötet wurde …« Körber zuckte vielsagend mit den Schultern.

»Und wann wissen Sie das?«, fragte Aschenbrenner, dem man das Wechselbad der Gefühle deutlich ansah.

»Hoffentlich sehr bald. Diese Frage ist auch für uns von zentraler Bedeutung.«

»Inwiefern?« Aschenbrenner runzelte die Stirn.

»Falls die Tat irgendetwas mit der Reitsportwelt zu tun hat, ist die Frage, warum ausgerechnet die Geländestrecke als Ablageort gewählt wurde«, schaltete ich mich das erste Mal ein. »Lag die Leiche dort, weil man dort nachts ungestörter ist als im Hauptstadion? Oder hat die Tat konkret etwas mit der Disziplin Vielseitigkeit zu tun? Wie Sie sicher wissen, hatte Wolfram Sander sowohl Spring- als auch Vielseitigkeitspferde in seinem Besitz. Wenn die Disziplin eine Rolle spielt, wollen wir natürlich nicht, dass sich die Beteiligten in alle Winde verstreuen, weil die Wettbewerbe abgesagt werden. Für uns als Ermittler ist es wesentlich einfacher, sie alle hier versammelt zu haben. Wir können Ihnen aber – wie der Kollege schon sagte – nicht versprechen, dass der Vielseitigkeitswettbewerb auch zu Ende gebracht werden kann.«

Der dunkelhaarige Mann neben dem ALRV-Präsidenten hatte die ganze Zeit auf den Block gekritzelt, der vor ihm lag. Jetzt hob er den Kopf und sagte: »Kilian, wenn wir die Besichtigung der Geländestrecke auf Freitagabend legen – direkt im Anschluss an die Eventing-Springprüfung –, könnte das doch ein Weg sein? Ich müsste mit der FEI sprechen, aber da wird man sicher auch alle Türen so lange wie möglich offen halten wollen. Für die Reiterinnen und Reiter nicht optimal, aber es wird ihnen allemal lieber sein, als unverrichteter Dinge wieder nach Hause zu fahren. Es ist abends lange hell, und die Besichtigung des Streckenendes im Hauptstadion kann vor 20:30 Uhr sowieso nicht stattfinden, weil es erst dann fertig aufgebaut ist.«

»Und du meinst, die Teilnehmer sind bereit, auf Verdacht eine Dressur- und Springprüfung zu reiten, ohne zu wissen, ob der letzte Teil des Wettkampfs stattfinden wird?«, fragte Aschenbrenner.

»So kurz vor den Europameisterschaften denke ich schon. Die wollen sich alle noch mal einem echten Leistungstest stellen. Wenn wir die Besichtigung verschieben, gewinnen wir eine Menge Zeit – vielleicht schafft der Erkennungsdienst es ja rechtzeitig und kann die Strecke doch noch freigeben. Ich bin sicher, das ist absolut im Sinne der Reiterinnen und Reiter. Und wenn es zudem noch die Ermittlungsarbeit begünstigt, ist es doch umso besser.« Er sah uns an. »Ich denke, alle hier wollen wissen, ob wir einen Mörder in unserer Mitte haben.«

Kilian Aschenbrenner überlegte nur kurz und nickte dann entschlossen. »Gut. Dann machen wir das so. Hajo, du veranlasst bitte alles?«

Der dunkelhaarige Enddreißiger nickte, stand sofort auf und verließ eilig den Raum.

Kilian Aschenbrenner schaute Bienwald, Körber und mich nacheinander an. »Was brauchen Sie von uns?«

***

Während der große Sitzungssaal eilig zur Schaltzentrale für die Ermittlungen umgeräumt wurde, hatten Körber und ich uns mit meiner Schwester Petra in einen kleineren Besprechungsraum zurückgezogen, als sie auf dem Turniergelände eintraf.

»Ich kann das alles noch gar nicht richtig glauben. Träume ich wirklich nicht?«, sagte sie und strich sich die dunkelblonden Haare aus dem Gesicht.

»Ich fürchte nein«, sagte ich. »Vater ist definitiv tot.« Da Pe nicht fragte, sagte ich zum Zustand der Leiche erst einmal nichts. »Wann hast du ihn denn zum letzten Mal gesehen?«

Pe winkte ab. »Ach, das ist Monate her, an Weihnachten. Das sollte nach langer Zeit noch mal ein Versuch sein, den Jungs vielleicht doch einen Kontakt zu ihrem Großvater zu ermöglichen. Gregors Eltern leben ja beide nicht mehr, er war also der einzige Opa-Kandidat. Aber er war wieder so ungehalten und unwirsch, weil die Jungs laut waren und viel herumgetobt haben. Klein-Ronja dagegen hat er kaum eines Blickes gewürdigt. Und als Pip ihm Widerworte gegeben hat, ist er ausgerastet und hat ihm eine gescheuert, dass ihm das Blut aus der Nase gespritzt ist. Du weißt ja, wie er … war.«

Das wusste ich leider nur zu gut. Solche und viel schlimmere Szenen waren in unserer Kindheit gang und gäbe gewesen.

»Das war es dann endgültig«, fuhr Pe fort. »Ich musste Gregor buchstäblich mit vollem Körpereinsatz davon abhalten, Vater unangespitzt in den Boden zu rammen.«

»Nicht, dass er das nicht längst verdient gehabt hätte«, murmelte ich.

»Leider kann ich dir da nicht widersprechen«, sagte Pe nüchtern. »Auf jeden Fall war das das letzte Mal, dass wir ihn gesehen haben. Und ich musste Gregor in die Hand versprechen, dass ich keinen weiteren Kontakt mehr zu den Kindern zulasse.«

»Habt ihr große Küchenmesser?«, fragte Körber unvermittelt.

»Wie meinst du das?« Pe sah ihn verständnislos an.

»Habt ihr große Küchenmesser?«, wiederholte Körber.

»Du weißt, dass wir große Küchenmesser haben. Du hast doch selbst schon damit geschnippelt.«

»Und die sind alle noch da, wo sie hingehören?«, hakte Körber nach.

»Ja sicher. Moment. Ist er etwas erstochen worden? Du glaubst doch nicht etwa …?«

»Natürlich nicht«, knurrte Körber. »Wir wissen alle drei, dass Gregor kein Messer benutzen würde, sondern jemandem eins in die Fresse haut, wenn er ein Problem mit ihm hat. Aber Ermittler, die das nicht wissen, könnten auf die Idee kommen, dass ein Vater wie Gregor vor nichts zurückschreckt, um seine Kinder zu beschützen.«

»Davor würde er auch nicht zurückschrecken, aber wie du schon sagst – Gregor würde nicht zum Messer greifen, sondern hätte Vater zu Klump geschlagen. Vater wurde also erstochen?«

»Sagen wir besser abgeschlachtet. Ritchie schätzt zwischen fünfundzwanzig und dreißig Einstichwunden.«

»Oh mein Gott«, Petra schlug schockiert die Hände vor den Mund.

»Hast du schon mit den anderen gesprochen?«, fragte ich.

»Holger habe ich noch nicht erreicht. Zu Hause geht niemand ans Telefon, und sein Handy scheint er ausgeschaltet zu haben. Auf Station hat man mir gesagt, er hätte bis einschließlich Sonntag Urlaub. Ich habe Nachrichten auf dem AB zu Hause und auf seiner Mailbox hinterlassen.« Unser ältester Bruder Holger war Chefarzt der Chirurgie in der Aachener Uniklinik. »Martin habe ich beim Champagner-Frühstück im Hotel Am Waldstadion erwischt, angeblich sei er unabkömmlich, weil er kurz vor Abschluss eines Mega-Deals stehe. Aber ich könne ihn gern wieder anrufen, wenn der Termin für die Testamentseröffnung fix sei.«

»Warum bin ich nicht überrascht?«, sagte ich. Martin war der zweitälteste Sander, windiger Investor und Finanzjongleur. Und bedauerlicherweise seit einiger Zeit auch Besitzer der Detektei Schniedewitz & Schniedewitz, für die ich schon seit einigen Jahren arbeitete.

»Du sagst es. Allerdings wusste er zu berichten, dass er Vater vorgestern Abend bei der Media Night hier auf dem Turnier gesehen und kurz mit ihm gesprochen hat.«

»Was ist denn die Media Night?«, fragte Körber.

»Das ist der Gala-Abend zur Eröffnung«, antwortete ich. »Da kommt viel Prominenz – Sportlerinnen, Politiker, Stars und Sternchen; findet drüben im Champions’ Circle statt.« Auf Körbers verständnislosen Blick hin ergänzte ich: »Das ist der VIP-Bereich, das mehrstöckige Zelt direkt vor der Geschäftsstelle.«

»Und wenig überraschend, dass Vater dort war«, ergänzte Petra. »Seit er sich aus dem ganz großen Investmentbanking-Geschäft zurückgezogen hat und – wie er das immer nannte – nur noch seine ›eigenen‹ Geschäfte machte, ist er ja viel öfter zu großen Rennen und Turnieren gefahren als früher.«

»Rennen?«, fragte Körber. »Formel Eins?«