Abels Tochter - Jeffrey Archer - E-Book
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Abels Tochter E-Book

Jeffrey Archer

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Beschreibung

Der Gigantenkampf zwischen Abel Rosnovski und seinem Feind William Lowell Kane, den Jeffrey Archer in »Kain und Abel« schilderte, setzt sich in der nächsten Generation fort. Florentyna, die Tochter Abels, des legendären »Chicago-Barons«, ist bildschön, hochbegabt, ehrgeizig und die Erbin einer der größten Hotelketten der Welt. Wie ihr Vater geht sie ihren eigenen Weg mit eisernem Willen. Abel liebt sie abgöttisch, und sie vergöttert ihn – aber Florentyna begeht eine Todsünde: sie liebt und heiratet den Sohn seines Todfeindes.

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DASBUCH

Florentyna, die Tochter Abel Rosnovskis, des legendären »Chicago-Barons«, ist bildschön, hochbegabt, ehrgeizig und die Erbin einer der größten Hotelketten der Welt. Der Vater liebt sie abgöttisch, und sie vergöttert ihn – aber sie begeht eine Todsünde: Sie liebt und heiratet den Sohn seines Todfeindes.

DERAUTOR

Jeffrey Archer, geboren 1940 in London, verbrachte seine Kindheit in Weston-super-Mare und studierte in Oxford. Archer schlug eine bewegte Politiker-Karriere ein, die bis 2003 andauerte. Weltberühmt wurde er als Schriftsteller. Archer verfasste zahlreiche Bestseller und zählt heute zu den erfolgreichsten Autoren Englands. Sein historisches Familienepos »Die Clifton-Saga« stürmt auch die deutschen Bestsellerlisten und begeistert eine stetig wachsende Leserschar. Archer ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in London und Cambridge.

JEFFREY ARCHER

ABELS TOCHTER

ROMAN

Aus dem Englischen

von Ilse Winger

Bearbeitet von Barbara Häusler

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe PRODIGAL DAUGHTER

erschien erstmals 1982 bei Hodder & Stoughton

Dieser Roman ist in Deutschland im Zsolnay Verlag erschienen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Vollständige deutsche Erstausgabe 04/2018

Copyright © 1982, 2010 by Jeffrey Archer

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Barbara Häusler

Umschlagillustration: Büro Süd unter Verwendung von

© Arcangel/Stephen Carroll

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-20777-9V007

www.heyne.de

Für Peter, Joy, Alison, Clare und Simon

Prolog

»Präsidentin der Vereinigten Staaten«, sagte sie.

»Ich wüsste bessere Möglichkeiten, mich kaputt zu machen«, erklärte ihr Vater, während er die Halbbrille von der Nase nahm und die Tochter über die Zeitung hinweg ansah.

»Sei nicht albern, Papa. Präsident Roosevelt hat uns bewiesen, dass es keine größere Aufgabe gibt als den Dienst am Staat.«

»Das Einzige, was Roosevelt bewiesen hat …«, setzte ihr Vater an.

Dann hielt er inne und wandte sich wieder der Zeitung zu, überzeugt, dass seine Tochter die Bemerkung respektlos finden würde.

Als wüsste sie nur zu genau, was ihrem Vater durch den Kopf ging, fuhr sie fort: »Mir ist klar, dass es aussichtslos wäre, ein solches Ziel ohne deine Unterstützung anzustreben. Dass ich eine Frau bin, ist schon ein Handikap, gar nicht zu reden von meiner polnischen Abstammung.«

Die Zeitung wurde abrupt beiseitegeschoben. »Sprich nie abfällig über die Polen«, sagte der Vater. »Die Geschichte hat bewiesen, dass wir ein ehrenwertes Volk sind, das stets sein Wort hält. Mein Vater war ein Baron …«

»Ja, ich weiß, und auch mein Großvater. Aber er lebt nicht mehr und kann mir daher nicht helfen, Präsidentin zu werden.«

»Leider Gottes«, erwiderte der Vater seufzend. »Er wäre ohne Zweifel ein großer Führer unseres Volkes geworden.«

»Warum soll seine Enkelin es dann nicht versuchen?«

»Es spricht nicht das Geringste dagegen«, sagte Abel und sah in die stahlgrauen Augen seines einzigen Kindes.

»Du wirst mir also unter die Arme greifen, Papa? Denn ohne deine finanzielle Unterstützung habe ich keine Chance.«

Ihr Vater zögerte, setzte die Brille wieder auf und faltete die Chicago Tribune zusammen. »Ich werde ein Abkommen mit dir schließen, mein Liebes – darum geht es ja in der Politik. Sollte der Ausgang der Vorwahlen in New Hampshire zufriedenstellend sein, werde ich dich bis an die Grenzen des Möglichen unterstützen. Wenn nicht, musst du das Ganze aufgeben.«

»Was verstehst du unter zufriedenstellend?«, kam blitzartig die Gegenfrage.

Wieder zögerte der Mann und überlegte. »Solltest du die Vorwahl gewinnen oder mehr als dreißig Prozent der Stimmen bekommen, hast du meine volle Unterstützung bis zum Parteitag – und wenn es mich an den Bettelstab bringt.«

Zum ersten Mal seit Gesprächsbeginn entspannte sich das Mädchen. »Ich danke dir, Papa. Mehr kann ich nicht erwarten.«

»Nein, bestimmt nicht«, erwiderte er. »Darf ich jetzt endlich herausfinden, wieso die Cubs das siebte Spiel gegen die Tigers verloren haben?«

»Ohne Zweifel waren sie die schwächere Mannschaft, wie das Resultat von 9 : 3 zeigt.«

»Junge Dame, du kannst dir einbilden, ein bisschen was von Politik zu verstehen, aber ich versichere dir, dass du absolut nichts von Baseball verstehst«, sagte der Vater, als sich die Tür öffnete und seine Frau Zaphia eintrat. Er wandte ihr seine massige Gestalt zu. »Unsere Tochter möchte Präsidentin der Vereinigten Staaten werden. Was hältst du davon?«

Das Mädchen sah sie erwartungsvoll an.

»Ich will dir sagen, was ich davon halte«, erklärte die Mutter. »Ich glaube, es ist höchste Zeit schlafen zu gehen, und es ist deine Schuld, wenn das Kind noch nicht im Bett liegt.«

»Vermutlich hast du recht«, sagte er. »Marsch ins Bett, Kleines.« Sie küsste den Vater auf die Wange und flüsterte: »Danke, Papa.« Die Augen des Mannes folgten seiner elfjährigen Tochter, als sie das Zimmer verließ. Ihre rechte Hand war zur Faust geballt, das machte sie immer, wenn sie wütend oder zu etwas wild entschlossen war. Vermutlich war sie im Augenblick beides, aber er wusste, es hatte keinen Sinn, Zaphia zu erklären, dass ihre Tochter kein gewöhnliches Kind war. Er hatte es schon längst aufgegeben, seine Frau an seinen eigenen hochfliegenden Plänen teilhaben zu lassen – aber wenigstens war sie nicht imstande, den Ehrgeiz der Tochter zu dämpfen.

Er wandte sich wieder den Cubs zu und musste feststellen, dass das Urteil seiner Tochter in diesem Fall sogar zutraf.

Zweiundzwanzig Jahre lang kam Florentyna Rosnovski nicht mehr auf dieses Gespräch zurück, doch als sie es dann tat, betrachtete sie es als selbstverständlich, dass ihr Vater seinen Teil der Abmachung einhalten würde.

Schließlich sind die Polen ein ehrenwertes Volk, das stets Wort hält.

Die Vergangenheit

1934 – 1968

1

Die Geburt war nicht leicht gewesen, aber letztlich hatten Abel und Zaphia Rosnovski es nie leicht gehabt und sich auf ihre Art damit abgefunden, um alles, was sie erreichen wollten, kämpfen zu müssen. Abel hatte sich einen Sohn und Erben gewünscht, der eines Tages Präsident der Baron-Hotelkette werden sollte. Wenn der Sohn dann alt genug war zu übernehmen, würde sein eigener Name ebenso klingend sein wie Ritz und Statler, und die Baron-Gruppe würde die größte Hotelkette der Welt sein, davon war Abel überzeugt. Er ging auf dem langen, kahlen Korridor des St. Luke Krankenhauses auf und ab und wartete auf den ersten Schrei des Kindes. Je länger es dauerte, desto deutlicher trat sein leichtes Hinken hervor. Hin und wieder spielte er mit dem Silberreif an seinem Handgelenk und starrte auf den darauf eingravierten Namen. Da sah er Dr. Dodek auf sich zukommen.

»Glückwunsch, Mr. Rosnovski«, rief er.

»Danke«, sagte Abel eifrig.

»Sie haben eine reizende Tochter.«

»Danke«, wiederholte Abel leise und versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. Dann folgte er dem Arzt in ein kleines Zimmer am Ende des Korridors. Durch eine Glasscheibe sah Abel eine Reihe kleiner faltiger Gesichter. Der Arzt zeigte dem Vater seine Erstgeborene. Anders als bei den anderen Babys waren die kleinen Finger zu einer Faust geballt. Irgendwo hatte Abel gelesen, ein Kind könne das in der Regel erst nach drei Wochen. Er lächelte stolz.

Mutter und Tochter blieben sechs Tage im Krankenhaus, und Abel besuchte sie jeden Morgen, nachdem im Chicago Baron das letzte Frühstück serviert worden war, und jeden Nachmittag, nachdem der letzte Mittagsgast den Speisesaal verlassen hatte. Telegramme, Blumen und Glückwunschkarten umrahmten Zaphias Bett – ein beruhigender Beweis, dass sich auch andere über die Geburt freuten. Am siebten Tag kamen die Mutter und das noch namenlose Kind nach Hause – Abel hatte lediglich einen Jungennamen parat gehabt …

Zwei Wochen nach der Geburt tauften sie ihre Tochter nach Abels Schwester Florentyna. Kaum war das Kind in einem Zimmer im obersten Stockwerk untergebracht, blieb Abel stundenlang bei seiner Tochter und sah zu, wie sie schlief und wieder aufwachte. Er würde noch härter arbeiten müssen als bisher, dachte er, denn Florentyna sollte einen besseren Start ins Leben haben als er. Das Elend und die Not seiner Kindheit durfte sie nie kennenlernen, oder die Erniedrigung, wie er sie erfahren hatte, als er an der Ostküste Amerikas ankam, ein paar wertlose Rubel in das Jackett seines einzigen Anzugs eingenäht.

Ebenso wollte er dafür sorgen, dass Florentyna die gute Erziehung bekam, die er selbst nie genossen hatte. Nicht dass er sich beklagen konnte. Im Weißen Haus residierte Franklin D. Roosevelt, und Abels kleine Hotelgruppe schien die Depression zu überstehen. Amerika war diesem Einwanderer wohlgesinnt. Wann immer er allein im Kinderzimmer saß, dachte er an die eigene Vergangenheit und träumte von der Zukunft seiner Tochter.

Nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten hatte er auf der Lower East Side von New York einen Job in einem Fleischerladen gefunden, wo er zwei Jahre lang arbeitete, bevor er im Plaza Hotel eine Stellung als Hilfskellner bekam. Vom ersten Tag an behandelte ihn Sammy, der alte Oberkellner, als wäre er eine Art Untermensch. Nach vier Jahren hätte sich selbst ein Sklavenhändler von der gewaltigen Überstundenleistung dieses Untermenschen beeindruckt gezeigt, um die bedeutende Stellung eines Hilfsoberkellners im Oak Room zu erlangen. In diesen Jahren verbrachte Abel fünf Nachmittage der Woche über Bücher gebeugt an der Columbia University, und wenn nach dem Abendessen die Tische abgeräumt waren, las er bis spät in die Nacht hinein weiter. Seine Kollegen fragten sich, wann er eigentlich schlief.

Abel wusste nicht recht, wie ihm sein Abschluss weiterhelfen sollte, solange er immer noch im Oak Room des Plaza Hotels servierte.

Die Frage wurde von einem gut genährten Texaner namens Davis Leroy beantwortet, der eine Woche lang beobachtet hatte, wie eifrig Abel um die Gäste bemüht war. Mr. Leroy, Besitzer von elf Hotels, bot Abel die Stellung eines stellvertretenden Direktors in seinem Vorzeigehotel, dem Richmond Continental in Chicago, an. Seine Aufgabe dort bestand darin, sich um die Leitung der Restaurants zu kümmern.

Abel kehrte aus seinen Erinnerungen in die Gegenwart zurück, als Zaphia anfing die Wiege zu schaukeln. Er streckte einen Finger aus, den seine Tochter packte, als wäre er die Rettungsleine eines sinkenden Schiffs. Mit etwas, das sie offensichtlich für Zähne hielt, biss sie ihm in den Finger.

Sobald Abel in Chicago angekommen war, stellte er fest, dass das Richmond Continental rote Zahlen schrieb, und er brauchte nicht lange, um die Ursache festzustellen. Der Direktor, Demond Pacey, fälschte die Bücher, und soweit Abel sehen konnte, hatte er das schon seit dreißig Jahren getan. Der neue stellvertretende Direktor verbrachte das erste halbe Jahr damit, die nötigen Beweise zu sammeln, um Pacey festzunageln. Dann präsentierte er seinem Arbeitgeber ein Dossier mit allen Fakten. Als Davis Leroy erfuhr, was hinter seinem Rücken vorgegangen war, wurde Pacey gefeuert, und Abel bekam dessen Stelle. Das spornte ihn noch mehr an, und er glaubte so fest daran, die Richmond-Kette wieder auf die Beine bringen zu können, dass er, als Leroys alternde Schwester ihre fünfundzwanzig Prozent der Gesellschaftsaktien zum Verkauf anbot, alles flüssig machte, was er besaß, um diese Aktien zu erwerben. Davis Leroy war gerührt über das Vertrauen, das sein Direktor in die Hotels setzte, und berief ihn zum Generaldirektor der Kette.

Von diesem Moment an waren sie Partner, und aus der Geschäftsbeziehung wurde bald enge Freundschaft. Abel wusste nur zu gut, wie schwer es einem Texaner fiel, einen Polen als ebenbürtig anzuerkennen. Zum ersten Mal, seit er nach Amerika gekommen war, fühlte er sich sicher – bis er herausfand, dass die Texaner ein mindestens ebenso stolzer Clan sind wie die Polen.

Abel konnte sich auch heute noch nicht damit abfinden, was damals geschehen war. Wenn Davis ihm nur die finanziellen Nöte der Gesellschaft anvertraut hätte – wer geriet während der schweren Depressionen nicht in Schwierigkeiten? –, gemeinsam hätten sie bestimmt eine Lösung gefunden. Mit zweiundsechzig Jahren musste Davis Leroy von seiner Bank erfahren, dass seine Hotels nicht mehr ausreichten, um die Überziehung seines Kontos abzudecken, und sie weitere Sicherheiten brauchte, bevor sie bereit wäre, die nächsten Monatsgehälter auszuzahlen. Davis Leroy aß in Gesellschaft seiner Tochter zu Abend, anschließend zog er sich mit zwei Flaschen Whiskey in die Präsidentensuite im 7. Stock seines Hotels zurück, öffnete ein Fenster und sprang hinunter. Abel würde nie vergessen, wie er um vier Uhr morgens an der Ecke der Michigan Avenue stand, um die Leiche zu identifizieren, die er nur am karierten Jackett erkannte. Der Ermittlungsbeamte erklärte, das sei bereits der siebte Selbstmord in Chicago an diesem Tag. Es war kein Trost. Wie sollte der Polizist auch ahnen, wie viel Davis Leroy für Abel getan hatte und wie sehr dieser gehofft hatte, es ihm einmal abgelten zu können? In einem hastig auf die Rückseite einer Speisekarte geschriebenen letzten Willen hatte Davis die restlichen fünfundsiebzig Prozent der Richmond-Gruppe seinem Generaldirektor hinterlassen. Obwohl ihm klar gewesen war, dass die Anteile im Augenblick wertlos waren, hatte er gemeint, Abel könne als alleiniger Eigentümer der Hotels eventuell leichter zu einem neuen Übereinkommen mit der Bank gelangen.

Florentyna schlug die Augen auf und fing an zu schreien. Liebevoll nahm Abel sie hoch und bereute es sofort, als er ihren feuchten, klammen Hintern spürte. Rasch entfernte er die nasse Windel und trocknete das Kind gut ab, bevor er die neue Windel sorgsam zu einem Dreieck faltete und die großen Sicherheitsnadeln weit von dem kleinen Körper entfernt anbrachte. Jede Amme hätte ihm große Geschicklichkeit attestiert. Florentyna schloss die Augen und schlummerte an seiner Schulter friedlich ein.

»Undankbares Geschöpf«, murmelte er zärtlich und küsste sie auf die Stirn.

Nach Davis Leroys Begräbnis war Abel zu Kane und Cabot gegangen, der Bostoner Bank der Richmond-Gruppe, und hatte einen der Direktoren beschworen, die elf Hotels nicht zu verkaufen. Er versuchte, die Bank davon zu überzeugen, dass er mit ihrer Unterstützung und der nötigen Zeit die Hotels wieder aus den roten Zahlen bringen könnte. Der aalglatte kühle Bankier hinter dem großen Schreibtisch erwies sich jedoch als hartnäckig. »Ich muss im Interesse der Bank handeln«, hatte er entschuldigend gesagt. Abel verwand die Erniedrigung nie, einen Mann seines Alters »Sir« nennen zu müssen und trotzdem mit leeren Händen wegzugehen. Der Mann musste die Seele einer Registrierkasse gehabt haben, um nicht zu begreifen, wie viele Menschen durch seine Entscheidung ihren Job verlieren würden. Abel gelobte sich zum hundertsten Mal, dass er es Mr. William Kane eines Tages heimzahlen würde.

Damals war Abel mit dem Gefühl nach Chicago zurückgefahren, in seinem Leben könne nichts Schlimmeres mehr geschehen – um festzustellen, dass das Richmond Continental abgebrannt war und die Polizei ihn der Brandstiftung bezichtigte. Es handelte sich auch um Brandstiftung, allerdings war es, wie sich herausstellte, ein Racheakt des ehemaligen Hoteldirektors Desmond Pacey. Er gab es sofort zu, als er festgenommen wurde. Alles, was er erreichen wollte, war Abels Ruin. Fast wäre es ihm auch geglückt, doch die Versicherungsgesellschaft kam Abel zu Hilfe. Bis zu diesem Augenblick hatte sich Abel gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, in dem russischen Kriegsgefangenenlager zu bleiben, aus dem er geflüchtet war, bevor er nach Amerika auswanderte. Doch als ein anonymer Geldgeber – den Abel für David Maxton, den Besitzer des Stevens Hotels hielt – die Richmond-Gruppe kaufte, begann für Abel eine Glückssträhne. Der Käufer bot Abel seine alte Stellung als Direktor der Gruppe an und gab ihm die Chance zu beweisen, dass er die Hotels gewinnbringend leiten konnte.

Abel erinnerte sich, wie er Zaphia wiederfand, jenes selbstsichere junge Mädchen, das er an Bord des Schiffes nach Amerika kennengelernt hatte. Wie unsicher und unerfahren war er damals gewesen, als sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten. Doch jetzt, da er sie als Kellnerin im Stevens Hotel wiedersah, war alles anders.

Seitdem waren drei Jahre vergangen, und obwohl die inzwischen umbenannte Baron-Gruppe im Jahr 1932 keine Gewinne abwarf, verlor sie im Jahr darauf nur dreiundzwanzigtausend Dollar, wobei sich die Hundertjahrfeier von Chicago, die mehr als eine Million Touristen in die Stadt und zur Weltausstellung lockte, als höchst hilfreich erwies.

Nachdem Pacey wegen Brandstiftung verurteilt worden war, musste Abel nur auf die Auszahlung der Versicherungssumme warten, um das Hotel in Chicago wiederaufzubauen. In der Zwischenzeit besuchte er die anderen zehn Hotels der Gruppe, fand dort Mitarbeiter, die ähnlich unredliche Neigungen zeigten wie Desmond Pacey, und ersetzte sie durch Angehörige des gewaltigen Heers von Arbeitslosen, das durch Amerika zog.

Abels ständige Reisen – von Charleston nach Mobile und von Houston nach Memphis – begannen, Zaphia zu missfallen. Abel wusste jedoch, dass wenn er die Abmachung mit seinem anonymen Gönner einhalten wollte, nicht viel Zeit blieb, um zu Hause herumzusitzen, auch wenn er seine kleine Tochter noch so sehr anhimmelte.

Man hatte ihm zehn Jahre gewährt, den Bankkredit zurückzuzahlen.

Wenn es ihm gelang, konnte er die restlichen sechzig Prozent der Gesellschaftsaktien für weitere drei Millionen Dollar erwerben. Zaphia dankte dem lieben Gott jeden Abend für das, was sie bereits hatten, und flehte ihren Mann an, etwas kürzer zu treten.

Aber nichts konnte Abel von seinem Ziel abhalten.

»Das Abendessen steht auf dem Tisch«, rief Zaphia.

Abel gab vor, nichts gehört zu haben, und betrachtete weiter seine schlafende Tochter.

»Hast du nicht gehört? Das Abendessen ist fertig.«

»Was? Nein, meine Liebe. Tut mir leid. Ich komme schon.«

Widerwillig stand er auf, um mit seiner Frau zu essen. Florentynas rote Daunendecke lag auf dem Boden neben der Wiege. Abel hob sie auf und breitete sie sorgsam über seine Tochter. Sie sollte nie erfahren, wie es ist zu frieren.

2

Florentynas Taufe blieb allen Anwesenden unvergesslich – außer Florentyna, die die gesamte Zeremonie verschlief. Nach der Taufe in der Holy Name Cathedral in North Wabash begaben sich alle hundert geladenen Gäste ins Stevens Hotel, wo Abel einen Saal gemietet hatte. George Novak, sein bester Freund und ebenfalls Pole, der auf der Überfahrt im Stockbett über ihm geschlafen hatte, war Taufpate und eine von Zaphias Cousinen, Janina, Taufpatin.

Die Gäste vertilgten ein traditionelles polnisches Abendessen mit zehn Gängen, darunter Piroggen und Bigos. Abel saß am Kopfende der Tafel und nahm im Namen seiner Tochter Geschenke entgegen, unter anderem eine silberne Klapper, amerikanische Sparbriefe, eine Ausgabe von Huckleberry Finn und, als schönstes Geschenk, einen antiken Smaragdring von Abels unbekanntem Gönner. Abel hoffte, dass sein Geschenk dem Mann ebenso viel Freude bereitete wie seiner Tochter. Abel schenkte Florentyna zur Feier des Tages einen riesigen Teddybär mit roten Knopfaugen.

»Er sieht aus wie Franklin D. Roosevelt«, meinte George und hielt den Bären hoch. »Das verlangt eine zweite Taufe – F. D. R.«

Abel hob das Glas und prostete dem Bären zu: »Mr. President.« Er behielt den Namen.

Um drei Uhr morgens war das Fest schließlich zu Ende, Zaphia hatte Florentyna da schon längst heimgebracht. Abel musste sich einen Wäschewagen des Hotels ausleihen, um alle Geschenke nach Hause zu transportieren. George winkte ihm nach, als er, den kleinen Wagen vor sich herschiebend, den Lake Shore Drive hinaufwanderte.

Der glückliche Vater pfiff vor sich hin und rief sich jeden Moment dieses wundervollen Abends noch einmal ins Gedächtnis. Erst als Mr. President zum dritten Mal vom Wagen fiel, merkte er, wie schwankend sein Gang war. Er hob den Bären auf und wollte ihn wieder auf den Geschenkhaufen setzen, als eine Hand seine Schulter berührte. Abel drehte sich empört um, bereit, Florentynas erste Besitztümer mit seinem Leben zu verteidigen. Er sah in das Gesicht eines jungen Polizisten.

»Vielleicht können Sie mir erklären, warum Sie um drei Uhr morgens einen Wäschewagen des Stevens Hotels den Lake Shore Drive lang schieben?«

»Allerdings, Herr Inspektor«, erwiderte Abel.

»Beginnen wir mit dem Inhalt der Pakete.«

»Abgesehen von Franklin D. Roosevelt habe ich keinen Schimmer.«

Auf der Stelle wurde Abel wegen Diebstahlverdachts verhaftet.

Während die Empfängerin der Geschenke im Kinderzimmer des Hauses an der Rigg Street friedlich unter ihrer roten Daunendecke schlummerte, verbrachte der Vater im lokalen Gefängnis eine schlaflose Nacht auf einer alten Rosshaarmatratze. Frühmorgens erschien dann George, um Abels Geschichte zu bezeugen.

Immer weniger gern verließ Abel Chicago und seine geliebte Florentyna, aus Angst, ihre ersten Schritte, ihr erstes Wort, ihr erstes Sonstwas zu verpassen. Seit dem Tag ihrer Geburt hatte er ihren Tagesablauf überwacht und verboten, dass im Haus Polnisch gesprochen wurde.

Sie sollte nicht den geringsten polnischen Akzent bekommen, der ihr im Umgang mit Gleichaltrigen vielleicht hinderlich werden könnte.

Ungeduldig wartete Abel auf Florentynas erstes Wort und hoffte, es würde Papa sein, während Zaphia Angst davor hatte, weil sie, wenn sie mit ihrer Tochter allein war, trotz des Verbots Polnisch mit ihr sprach.

»Meine Tochter ist Amerikanerin«, hatte Abel seiner Frau erklärt, »und muss deshalb Englisch sprechen. Viel zu viele Polen unterhalten sich auch weiterhin in ihrer Sprache, mit dem Resultat, dass ihre Kinder den Rest ihres Lebens im Nordwesten von Chicago zubringen, als dumme Polacken bezeichnet und von allen verspottet werden.«

»Aber nicht von ihren Landsleuten, die dem polnischen Reich immer noch eine gewisse Treue halten«, ergriff Zaphia ihre Partei.

»Dem polnischen Reich? In welchem Jahrhundert lebst du eigentlich, Zaphia?«

»Im zwanzigsten«, erwiderte sie mit erhobener Stimme. »Und für jemanden, dessen größter Wunsch es ist, als erster amerikanischer Botschafter nach Warschau geschickt zu werden, hast du eine merkwürdige Einstellung.«

»Ich habe dir gesagt, nie darüber zu reden, Zaphia. Nie.«

Zaphia, deren Englisch hoffnungslos fehlerhaft blieb, antwortete nicht, beklagte sich jedoch später bei ihren Cousinen und sprach, wann immer Abel nicht zu Hause war, weiter Polnisch. Dass der Umsatz von General Motors größer war als das Budget Polens, wie sie so oft von ihm zu hören bekam, beeindruckte sie nicht im Mindesten.

1935 war Abel überzeugt, dass Amerika das Schlimmste hinter sich hatte und die Depression der Vergangenheit angehörte. Er fand es daher an der Zeit, auf dem Grundstück des alten Richmond Continental ein neues Chicago Baron Hotel zu errichten. Er beauftragte einen Architekten und verbrachte jetzt mehr Zeit in der »Windy City«, statt ständig unterwegs zu sein. Das Hotel sollte das schönste im ganzen Mittleren Westen werden.

Im Mai 1936 war das Chicago Baron fertig und wurde von dem demokratischen Bürgermeister Edward J. Kelly eröffnet. Auch beide Senatoren von Illinois zeigten sich, denn Abels aufstrebende Macht war ihnen nicht entgangen und hatte sie tief beeindruckt.

»Sieht nach einer Million gut investierter Dollar aus«, bemerkte Senator J. Hamilton Lewis.

»Ihre Schätzung ist ganz gut«, entgegnete Abel, während der Senator die dicken Teppiche, die hohen Stuckdecken und die in hellen Grüntönen gehaltenen Dekorationen bewunderte. Das i-Tüpfelchen bildete das dunkelgrüne »B« auf allem, von den Handtüchern in den Badezimmern bis hin zur Fahne, die auf dem Dach des zweiundvierzigstöckigen Gebäudes wehte.

»Dieses Hotel trägt bereits den Stempel des Erfolges«, erklärte Hamilton Lewis in seiner Ansprache den zweitausend versammelten Gästen, »denn, meine Freunde, es ist nicht das Gebäude, sondern sein Erbauer, der immer als Chicago-Baron bekannt sein wird«.

Abel strahlte über den aufbrausenden Beifall und musste grinsen. Diesen Satz hatte seine PR-Abteilung dem Redenschreiber des Senators vor einigen Tagen zukommen lassen.

Abel begann, sich wohlzufühlen unter all den bekannten Geschäftsleuten und älteren Politikern. Zaphia hingegen hielt mit dem neuen Lebensstil ihres Mannes nicht Schritt. Sie blieb unsicher im Hintergrund, trank ein wenig zu viel Champagner und schlich sich schließlich noch vor dem Dinner mit der schwachen Ausrede davon, sie wolle nachsehen, ob Florentyna schlafe. In kaum verhohlenem Ärger begleitete Abel seine schweigende Frau zur Drehtür. Zaphia interessierte sich weder für seinen Erfolg noch legte sie Wert darauf.

Sie zog es vor, seine neue Welt zu ignorieren. Obwohl sie wusste, wie sehr Abel ihre Haltung verstimmte, konnte sie sich, als er sie in ein Taxi setzte, nicht verkneifen zu sagen: »Beeil dich nicht, nach Hause zu kommen.«

»Bestimmt nicht«, sagte er und versetzte der Drehtür einen so heftigen Stoß, dass sie sich noch eine Weile weiterdrehte, nachdem er sie verlassen hatte.

Im Hotelfoyer wartete Stadtrat Henry Osborne auf ihn.

»Das muss der Höhepunkt Ihres Lebens sein«, bemerkte er.

»Höhepunkt? Ich bin gerade mal dreißig geworden«, erwiderte Abel.

Ein Blitzlicht flammte auf, als er einen Arm um die Schulter des groß gewachsenen, gut aussehenden Politikers legte. Abel lächelte dem Kameramann zu, genoss es, als bekannte Persönlichkeit behandelt zu werden, und sagte gerade so laut, dass es die Umstehenden hören konnten: »Ich werde Baron-Hotels rund um den Erdball errichten. Ich habe vor, in Amerika das zu werden, was César Ritz für Europa war. Immer wenn ein Amerikaner verreisen muss, soll er ein Baron als sein zweites Zuhause betrachten.«

Der Stadtrat und Abel schlenderten zusammen in den Speisesaal, und als sie außer Hörweite waren, fügte Abel hinzu: »Essen Sie morgen mit mir zu Mittag, Henry. Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen.«

»Mit dem größten Vergnügen, Abel. Ein einfacher Stadtrat hat immer Zeit für den Chicago-Baron.«

Beide lachten herzlich, obwohl keiner von ihnen die Bemerkung besonders komisch fand.

Wieder wurde es ein langer Abend für Abel. Als er nach Hause kam, ging er direkt ins Gästezimmer, um Zaphia nicht zu wecken – das behauptete er zumindest am nächsten Morgen.

Als Abel zum Frühstück in die Küche kam, saß Florentyna in ihrem hohen Kinderstuhl und schmierte sich begeistert Haferbrei ums Kinn und biss in alles, was in ihrer Reichweite war. Nachdem er seine Waffeln mit Ahornsirup gegessen hatte, stand er auf und teilte Zaphia mit, dass er mit Henry Osborne zu Mittag essen werde.

»Ich mag diesen Mann nicht«, sagte Zaphia mit Nachdruck.

»Mir ist er auch nicht sonderlich sympathisch«, erwiderte Abel.

»Aber vergiss nicht, er sitzt im Rathaus und kann eine Menge für uns tun.«

»Auch eine Menge Schaden anrichten.«

»Mach dir keine Sorgen. Stadtrat Osborne kannst du mir überlassen.« Abel gab seiner Frau einen flüchtigen Kuss und wandte sich zum Gehen.

»Päsidunk«, sagte eine Stimme. Die Eltern starrten ihre Tochter an, die auf den Boden zeigte, wo der acht Monate alte Franklin D. Roosevelt auf seinem pelzigen Gesicht lag.

Abel lachte, hob den heißgeliebten Teddybär auf und setzte ihn neben Florentyna auf den Stuhl.

»Prä-si-dent«, sagte Abel ihr langsam und bestimmt vor.

»Päsidunk«, beharrte Florentyna.

Wieder lachte Abel und versetzte Franklin D. Roosevelt einen Klaps. F.D.R. war also nicht nur für den New Deal verantwortlich, sondern auch für Florentynas erste politische Äußerung.

Vor dem Haus warteten Abels Cadillac und der Chauffeur. Je bessere Autos Abel sich leisten konnte, desto schlechter wurden seine Fahrkünste. Als er einen Cadillac erwarb, hatte ihm George geraten, einen Chauffeur einzustellen. An diesem Morgen bat er den Mann, langsam zu fahren. Als sie sich der Gold Coast näherten, sah Abel zu den glänzenden Scheiben des Chicago Baron hinauf und erkannte, dass es keinen anderen Ort auf Erden gab, wo man so schnell so viel erreichen konnte. Was in China mit Glück in zehn Generationen zustande gebracht werden konnte, hatte er in knapp fünfzehn Jahren bewerkstelligt.

Bevor der Chauffeur den Wagenschlag öffnen konnte, war er aus dem Auto gesprungen. Er ging rasch ins Hotel und nahm den privaten Expressfahrstuhl in den 42. Stock, wo er den ganzen Morgen damit verbrachte, sich um die Kinderkrankheiten des neuen Hotels zu kümmern: Einer der Fahrstühle funktionierte nicht richtig, zwei Kellner hatten in der Küche einen Messerkampf ausgetragen, und George hatte sie bereits entlassen. Die Schadensliste nach der Eröffnungsfeier sah verdächtig lang aus – vielleicht war einiges von dem, was man als kaputtgegangen eingetragen hatte, von Kellnern gestohlen worden. In seinen Hotels überließ Abel nichts dem Zufall. Er kümmerte sich ebenso darum, wer die Präsidentensuite bewohnte, wie um den Preis der achttausend frischen Brötchen, die die Küche jede Woche benötigte. Der Vormittag verging mit Anfragen, Problemen und Entscheidungen, und Abel sah erst von der Arbeit auf, als seine Sekretärin Stadtrat Osborne meldete.

»Guten Morgen, Baron.« Henry betonte den Familientitel der Rosnovskis etwas herablassend.

Als Abel noch Hilfskellner im New York Plaza war, hatte man ihm den Titel höhnisch nachgerufen. Als stellvertretender Direktor im Richmond Continental mokierte man sich hinter seinem Rücken. Seit Kurzem aber sprach jeder ihn respektvoll mit seinem Titel an.

»Guten Morgen, Stadtrat«, sagte Abel und sah auf die Uhr auf seinem Schreibtisch. Es war fünf nach eins.«Gehen wir Mittag essen?«

Abel führte Henry in ein privates Esszimmer nebenan. Ein zufälliger Beobachter hätte sich über das Paar gewundert. Henry Osborne kam offenbar aus einem anderen Stall als Abel. In Choate und Harvard ausgebildet, was er häufig erwähnte, hatte er im Ersten Weltkrieg als Leutnant bei den Marines gedient. Er war einen Meter achtzig groß, hatte schwarzes, leicht meliertes Haar und sah jünger aus, als er war.

Die beiden Männer hatten sich nach dem Brand des alten Richmond Hotels kennengelernt. Damals hatte Henry für die Versicherungsgesellschaft Great Western gearbeitet, die die Richmond-Gruppe seit eh und je betreute. Abel war schockiert, als Henry andeutete, dass eine kleine Summe Bargeld die Auszahlung seines Anspruchs beschleunigen könne. Abel besaß keine »kleine Summe Bargeld«.

Dennoch wurde die Versicherungssumme in ziemlich kurzer Zeit ausbezahlt, da auch Henry für Abel eine große Zukunft voraussah. Damals hatte Abel zum ersten Mal von Männern erfahren, die käuflich waren.

Als Henry Osborne in den Stadtrat von Chicago gewählt wurde, konnte sich Abel »eine kleine Summe Bargeld« anbieten, und die Baubewilligung für das neue Baron wurde vom Rathaus so rasch erteilt, als liefe alles auf Rollen. Als Henry etwas später bekanntgab, sich für den neunten Bundeswahlkreis von Illinois als Kandidat für das Repräsentantenhaus aufstellen zu lassen, war Abel einer der Ersten, der einen Scheck mit einer ansehnlichen Summe für den Wahlfonds schickte.

Obwohl Abel seinem neuen Bundesgenossen misstraute, war er sich darüber klar, dass ein wohlgesinnter Politiker für die Baron-Gruppe von großem Nutzen sein konnte. Abel achtete darauf, dass die kleinen Bargeldsummen – die er nicht als Schmiergelder betrachtete – nicht in den Büchern auftauchten, und war überzeugt, dass er die Verbindung mit Henry Osborne lösen konnte, wann immer es ihm passte.

Das Esszimmer war in dem gleichen diskreten Grün gehalten wie das übrige Hotel, nur das allgegenwärtige »B« fehlte. Die Möbel aus Eichenholz stammten aus dem 19. Jahrhundert, und an der Wand hingen Ölgemälde aus derselben Zeit, die meisten von ihnen aus Europa. Waren die Türen geschlossen, glaubte man sich fast in einer anderen Welt, weitab von der Hektik eines modernen Hotelbetriebes.

Abel setzte sich ans Kopfende eines Tisches, an dem bequem acht Personen Platz hatten, aber nur für zwei gedeckt war.

»Es ist ein bisschen so, als wäre man im England des 17. Jahrhunderts«, bemerkte Henry, während er sich umsah.

»Um nicht zu sagen im Polen des 16. Jahrhunderts«, erwiderte Abel. Ein Kellner servierte geräucherten Lachs, während ein anderer die Gläser mit Bouchard Chablis füllte.

Henry sah auf den vollen Teller vor sich. »Jetzt weiß ich, warum Sie so zunehmen, Baron.«

Abel runzelte die Stirn und wechselte rasch das Thema. »Gehen Sie morgen zum Baseball?«

»Wozu? Die Cubs haben zu Hause einen schlechteren Ruf als die Republikaner. Nicht, dass meine Abwesenheit die Tribune daran hindern wird, das Match als harten Kampf zu bezeichnen und zu behaupten, nur widrige Umstände hätten den Sieg der Cubs verhindert.«

Abel lachte.

»Eines weiß ich sicher«, fuhr Henry fort. »Auf dem Wrigley Field werden wir nie ein Nachtspiel sehen. Diese schreckliche Neuerung, mit Flutlicht zu spielen, wird in Chicago nicht Mode werden.«

»Das Gleiche haben Sie letztes Jahr über Bierdosen gesagt.«

Jetzt war es an Henry, die Stirn zu runzeln. »Sie haben mich bestimmt nicht eingeladen, um meine Ansichten über Bierdosen oder Baseball zu erfahren. Bei welchem kleinen Vorhaben kann ich Ihnen diesmal helfen, Abel?«

»Sehr einfach. Ich möchte Ihren Rat in Bezug auf William Kane.«

Henry schien sich verschluckt zu haben. Ich muss mit dem Koch reden, geräucherter Lachs darf keine Gräten haben, dachte Abel, bevor er weitersprach.

»Sie haben mir einmal in allen Details erzählt, was passiert ist, als sich Ihr Weg mit dem von Mr. Kane kreuzte, und wie er Sie am Ende um Geld betrog. Nun, mir hat Kane weitaus Schlimmeres angetan. Während der Depression hat er meinem Partner und besten Freund Davis Leroy die Daumenschrauben angesetzt und ihn zum Selbstmord getrieben. Anschließend hatte Kane dann die Stirn, es abzulehnen, mich zu unterstützen, als ich die Leitung der Hotels übernehmen und die Gruppe finanziell sanieren wollte.«

»Wer hat Sie denn letztlich unterstützt?«, fragte Henry.

»Ein Privatkunde von Continental Trust. Der Direktor hat es nie zugegeben, aber ich glaube, es war David Maxton.«

»Der Besitzer des Stevens Hotels?«

»Richtig.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Als ich anlässlich meiner Hochzeit einen Empfang gab, und auch als die Taufe meiner Tochter im Stevens gefeiert wurde, kam mein Gönner für sämtliche Kosten auf.«

»Das ist kein zwingender Beweis.«

»Möglich, aber ich bin sicher, dass es Maxton ist, weil er mir einmal angeboten hat, das Stevens zu übernehmen. Ich entgegnete ihm, ich wäre mehr daran interessiert, einen Geldgeber für die Richmond-Gruppe zu finden, und innerhalb einer Woche wurde mir von seiner Bank in Chicago das Geld angeboten – von jemandem, der seine Anonymität zu wahren wünschte, um jeden Interessenkonflikt zu vermeiden.«

»Das klingt schon überzeugender. Aber erzählen sie mir, was Sie mit William Kane vorhaben«, sagte Henry und spielte, während er auf Abels Antwort wartete, mit seinem Weinglas.

»Etwas, das Sie nicht viel Zeit kosten, aber vermutlich lohnend für Sie sein wird, finanziell wie persönlich, da Sie über Kane ebenso denken wie ich.«

»Ich bin ganz Ohr«, sagte Henry und sah immer noch nicht von seinem Glas auf.

»Ich möchte ein größeres Aktienpaket von Kanes Bank in Boston erwerben.«

»Das wird nicht ganz einfach sein. Die meisten Aktien sind in Familienbesitz und können nicht ohne seine Zustimmung verkauft werden.«

»Sie scheinen gut informiert zu sein«, bemerkte Abel.

»Das ist allgemein bekannt.«

Abel glaubte ihm nicht. »Schön, beginnen wir also damit, die Namen aller Aktienbesitzer von Kane und Cabot festzustellen. Vielleicht ist ja jemand interessiert, sein Paket zu einem Preis loszuwerden, der beträchtlich über dem Börsenwert liegt.«

Abel bemerkte, wie Henrys Augen aufleuchteten, während er überlegte, was bei dieser Transaktion für ihn herausspringen könnte, wenn es ihm gelingen sollte, ein Geschäft mit beiden Seiten zu machen.

»Sollte Kane je dahinterkommen, würde er sehr unangenehm reagieren«, sagte Henry.

»Das wird er nicht«, versicherte Abel. »Und selbst wenn, haben wir immer einen Vorsprung. Wollen Sie den Auftrag übernehmen, Henry?«

»Ich kann es nur versuchen. Was stellen Sie sich vor?«

Abel wusste, dass Henry erfahren wollte, wie viel er dabei verdienen würde, aber Abel war noch nicht fertig. »Ich wünsche am Ersten jedes Monats einen schriftlichen Bericht über Kanes gesamten Aktienbesitz an Gesellschaften, seine Geschäftsverpflichtungen und sämtliche Details seines Privatlebens, die Sie in Erfahrung bringen können. Ich will alles wissen, auch wenn es noch so nebensächlich erscheint.«

»Ich kann nur wiederholen, das wird nicht einfach.«

»Werden tausend Dollar im Monat die Sache ein wenig erleichtern?«

»Tausendfünfhundert ganz sicherlich.«

»Tausend Dollar die ersten sechs Monate. Wenn Sie dann mit irgendetwas Verwertbarem aufwarten können, erhöhe ich auf eintausendfünfhundert.«

»Abgemacht«, sagte Henry.

»Gut.« Abel zog die Brieftasche aus der Innentasche seines Jacketts und entnahm ihr einen bereits ausgestellten Scheck über tausend Dollar.

Henry betrachtete ihn. »Sie waren ziemlich sicher, dass ich annehmen würde, nicht wahr?«

»Nein, nicht unbedingt«, erwiderte Abel und zeigte Henry einen zweiten Scheck über eintausendfünfhundert Dollar.

Beide Männer lachten.

»Und jetzt zu einem erfreulicheren Thema«, sagte Abel. »Werden wir gewinnen?«

»Sie meinen die Cubs?«

»Nein, die Wahl.«

»Bestimmt. Landon wird geschlagen. Die Kansas Sunflower hat keine Chance, F. D. R. zu schlagen«, meinte Henry. »Wie der Präsident sagte: Diese Blume ist gelb, hat ein schwarzes Herz, ist gut als Papageienfutter und verwelkt immer vor November.«

Wieder lachte Abel. »Und wie steht es mit Ihnen?«

»Keine Sorge. Der Sitz gehört schon immer sicher einem Demokraten. Schwierig war die Nominierung, die Wahl ist es nicht.«

»Ich freue mich, dass Sie in den Kongress einziehen werden, Henry.«

»Das glaube ich Ihnen, und ich freue mich darauf, Ihnen ebenso dienstbar zu sein wie meinen übrigen Wählern.«

Abel sah ihn prüfend an. »Ich hoffe doch wesentlich besser«, bemerkte er, während der Kellner ein fast tellergroßes Sirloin-Steak vor ihn stellte und ein frisches Glas mit einem Côte de Beaune von 1929 füllte.

Die Gespräche drehten sich nun um Gaby Hartnetts Verwundung, Jesse Owens vier Goldmedaillen und den möglichen Einmarsch von Hitler in Polen.

»Niemals«, behauptete Henry und grub Erinnerungen an die Tapferkeit der Polen bei Mons im Ersten Weltkrieg aus.

Abel überging die Tatsache, dass kein polnisches Regiment bei Mons gekämpft hatte.

Um halb drei saß Abel wieder an seinem Schreibtisch und widmete sich wieder den Problemen mit der Präsidentensuite und den achttausend frischen Brötchen.

Er kam erst um neun Uhr abends nach Hause, und Florentyna schlief schon fest. Aber kaum betrat er das Kinderzimmer, wachte sie auf und lächelte ihn an.

»Präsident, Präsident, Präsident.«

Abel lachte. »Ich nicht. Du vielleicht, aber ich nicht.« Er beugte sich hinunter und küsste sie auf die Wange, während sie unermüdlich ihr Ein-Wort-Vokabular wiederholte.

3

Im November 1936 wurde Henry Osborne als Abgeordneter des neunten Bundeswahlbezirks von Illinois ins Repräsentantenhaus gewählt. Sein Stimmenvorsprung war etwas geringer als der seines Vorgängers, eine Tatsache, die nur auf seinen fehlenden Einsatz zurückzuführen war, da Roosevelt in allen Bundesstaaten mit Ausnahme von Vermont und Maine gewonnen hatte; im Kongress hatten die Republikaner jetzt nur noch siebzehn Senatoren und einhundertdrei Abgeordnete. Abel interessierte jedoch nur, dass sein Mann im Kongress saß, und er bot ihm unverzüglich den Vorsitz im Planungskomitee der Baron-Gruppe an – was Henry dankend annahm.

Abel baute ein Hotel nach dem anderen – mithilfe des Kongressmanns Osborne, der anscheinend jede Baubewilligung beschaffen konnte. Für diese Dienste wurde er von Abel mit Bargeld in gebrauchten Scheinen bezahlt. Abel hatte keine Ahnung, wofür Henry das Geld verwendete, aber offenbar kam etwas davon in die richtigen Hände, und Näheres wollte er gar nicht wissen.

Abel und Zaphia sprachen kaum noch miteinander, trotzdem wünschte sich Abel einen Sohn und war unglücklich, dass seine Frau nicht schwanger wurde. Anfangs gab er Zaphia die Schuld, die ebenfalls gern ein zweites Kind gehabt hätte, aber schließlich brachte sie ihn dazu, einen Arzt aufzusuchen. Abel war zutiefst beschämt, als er erfuhr, dass er eine zu niedrige Spermienzahl hatte, vermutlich eine Folge von Unterernährung in der Kindheit. Der Arzt erklärte ihm, er würde wahrscheinlich kein zweites Kind mehr haben. Von diesem Moment an gab er jede Hoffnung auf und konzentrierte seine ganze Liebe und alle seine Hoffnungen auf Florentyna, die in die Höhe schoss wie Unkraut. Das Einzige, das noch schneller wuchs, war die Baron-Gruppe. Er baute ein neues Hotel im Norden und ein weiteres im Süden, parallel dazu modernisierte und sanierte er die bereits bestehenden Hotels.

Mit vier Jahren kam Florentyna in den Kindergarten. Sie bestand darauf, am ersten Tag von ihrem Vater und Franklin D. Roosevelt begleitet zu werden. Die meisten anderen Kinder wurden von Frauen begleitet, und Abel stellte erstaunt fest, dass es oft nicht die Mütter, sondern Kindermädchen waren; sogar eine Gouvernante war darunter. Am selben Abend erklärte er Zaphia, dass er sich zur Betreuung seiner Tochter eine ähnlich qualifizierte Person wünsche.

»Wieso denn?«, fragte Zaphia gereizt.

»Damit niemand in der Schule unserer Tochter etwas voraushat.«

»Ich halte das für sinnlose Geldverschwendung. Was sollte so eine Kinderfrau machen, was ich selbst nicht kann?«

Abel antwortete nicht, aber am folgenden Morgen gab er in der Chicago Tribune, in der New York Times und in der Londoner Times ein Inserat auf; gesucht wurde eine Gouvernante, die Bedingungen waren genau angegeben. Aus allen Teilen des Landes trafen Hunderte Bewerbungsschreiben von Frauen ein, die für den Vorsitzenden der Baron-Gruppe arbeiten wollten. Es kamen Briefe aus den Colleges Radcliffe, Vassar und Smith und sogar einer aus der Besserungsanstalt für Frauen in West Virginia. Die Antwort einer Dame, die offenbar noch nie etwas vom Chicago-Baron gehört hatte, gefiel Abel jedoch am besten.

Altes Pfarrhaus Much Hadham Hertfordshire/England 12. September 1938

Sehr geehrter Herr,

in Beantwortung Ihres Inserats in der heutigen Times möchte ich mich um die Stellung einer Gouvernante für Ihre Tochter bewerben.

Ich bin zweiunddreißig Jahre alt und die sechste Tochter von Reverend L. H. Tredgold. Ich bin unverheiratet und Mitglied der Kirchengemeinde von Much Hadham in Hertfordshire. Im Augenblick habe ich eine Lehrerinnenstelle an der hiesigen Mädchenschule und helfe meinem Vater in seinem ländlichen Dekanatsbezirk.

Ich wurde im Cheltenham Ladies College ausgebildet, wo ich insbesondere Latein, Griechisch, Französisch und Englisch lernte. Anschließend erhielt ich ein Stipendium für das Newnham College in Cambridge. Bei der Abschlussprüfung bekam ich erste Preise in den drei lebenden Fremdsprachen, allerdings kein Diplom, da die Universität den Titel Bachelor of Arts nicht an Frauen vergibt.

Ich bin jederzeit zu einem Vorstellungsgespräch bereit und würde mich freuen, in der Neuen Welt arbeiten zu dürfen.

In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich mit vorzüglicher Hochachtung,

Ihre W. Tredgold

Abel fiel es schwer, sich vorzustellen, dass es Institutionen wie das Cheltenham Ladies College gab oder überhaupt einen Ort wie Much Hadham, und ersten Preisen ohne entsprechendes Diplom misstraute er allemal.

Er ließ sich von seiner Sekretärin mit Washington verbinden. Der Person, die er zu sprechen wünschte, las er den Brief laut vor. Die Stimme aus Washington bestätigte, dass es keinen Grund gäbe, an der Glaubwürdigkeit des Schreibens zu zweifeln.

»Sind Sie sicher, dass es so etwas wie ein Cheltenham Ladies College überhaupt gibt?«, beharrte Abel.

»Natürlich, Mr. Rosnovski, ich bin selbst dort unterrichtet worden«, antwortete die Sekretärin des britischen Botschafters.

Am Abend las Abel den Brief noch einmal vor, diesmal Zaphia.

»Was meinst du dazu?« fragte er, obwohl er sich bereits entschieden hatte.

»Gefällt mir nicht«, erwiderte Zaphia, ohne von ihrer Zeitschrift aufzuschauen. »Wenn wir schon jemanden nehmen müssen, warum dann nicht eine Amerikanerin?«

»Überleg doch mal, wie vorteilhaft es wäre, wenn Florntyna von einer englischen Gouvernante erzogen würde.« Er machte eine Pause. »Sie wäre auch für dich eine gute Gesellschaft.«

Diesmal sah Zaphia von ihrer Zeitschrift auf. »Wieso? Hoffst du vielleicht, dass sie auch mich erziehen wird?«

Abel antwortete nicht.

Am nächsten Morgen telegrafierte er nach Much Hadham und bot Miss Tredgold die Stellung als Gouvernante an.

Als Abel die Dame drei Wochen später in der La Salle Street abholte, wusste er sofort, dass er die richtige Wahl getroffen hatte. Sie stand allein auf dem Bahnsteig, neben sich drei Koffer unterschiedlicher Größe und unterschiedlichen Alters – das konnte nur Miss Tredgold sein. Groß, schlank und ein wenig herrisch, überragte sie ihren Brotgeber um einige Zentimeter, was vor allem an ihrem imposanten Haarknoten lag, der ihr Haupt krönte.

Zaphia hingegen behandelte Miss Tredgold als Eindringling, der gekommen war, ihre Stellung als Mutter zu untergraben. Als sie die neue Gouvernante ins Kinderzimmer führte, war Florentyna nicht zu sehen. Unter dem Bett lugten zwei misstrauische Augen hervor. Miss Tredgold entdeckte das Kind zuerst und kniete sich hin.

»Ich fürchte, ich werde wenig für dich tun können, wenn du da unten bleibst, mein Kind. Ich bin viel zu groß, um unter einem Bett zu leben.«

Florentyna lachte laut und kroch hervor.

»Was du für eine komische Stimme hast«, sagte Florentyna. »Woher kommst du?«

»Aus England«, antwortete Miss Tredgold und setzte sich neben Florentyna aufs Bett.

»Wo ist das?«

»Ungefähr eine Woche weit weg.«

»Ja, aber wie weit?«

»Das hängt davon ab, auf welche Art du reist. Fallen dir drei Möglichkeiten ein, wie ich gereist sein könnte?«

Florentyna dachte angestrengt nach. »Von unserem Haus würde ich ein Fahrrad nehmen, und wenn ich das Ende von Amerika erreicht habe, würde ich …«

»Die Küste von Amerika«, korrigierte Miss Tredgold.

Keine von beiden bemerkte, dass Zaphia das Zimmer verlassen hatte.

Es dauerte nur ein paar Tage, bis Florentyna Miss Tredgold in den Bruder und die Schwester verwandelt hatte, die sie nie haben würde.

Florentyna konnte Stunden damit verbringen, ihrer neuen Gefährtin einfach zuzuhören, und Abel beobachtete stolz, wie die etwas ältliche Jungfer – dass sie erst zweiunddreißig und damit gleich alt wie er war, vergaß er immer – seine vierjährige Tochter Dinge lehrte, von denen er selbst gern mehr gewusst hätte.

Eines Morgens fragte Abel seinen Freund George, ob er die Namen der sechs Frauen Heinrichs VIII. wisse – sollte er das nicht, wäre es vielleicht ratsam, noch eine weitere Gouvernante vom Cheltenham Ladies College kommen zu lassen, bevor Florentyna am Ende mehr wusste als sie beide. Zaphia wollte weder etwas von Heinrich VIII. wissen noch von seinen sechs Frauen. Sie fand immer noch, Florentyna sollte in der einfachen polnischen Tradition erzogen werden, hatte es allerdings längst aufgegeben, Abel davon zu überzeugen. Zaphia teilte sich ihren Tag so ein, dass sie möglichst wenig von der neuen Gouvernante sah.

Miss Tredgolds Tageseinteilung hingegen wurde teils von der Disziplin eines Grenadiers, teils von den Lehren Maria Montessoris bestimmt. Florentyna stand um sieben Uhr auf.

Während sie so kerzengerade dasaß, dass ihr Rückgrat nie die Stuhllehne berührte, erhielt sie Unterricht in Tischmanieren, bis sie das Frühstückszimmer verließ. Zwischen halb acht und Viertel vor acht las sie zwei oder drei Meldungen aus der Chicago Tribune vor, die Miss Tredgold ausgewählt hatte und die sie gemeinsam besprachen. Eine Stunde später wurde Florentyna darüber befragt. Was der Präsident tat, faszinierte das Kind immer – vielleicht, weil er nach ihrem Teddybären benannt war. Miss Tredgold stellte fest, dass sie einige Zeit darauf verwenden musste, sich die ihr fremde amerikanische Regierungsform anzueignen, um alle Fragen ihres Zöglings beantworten zu können.

Von neun bis zwölf waren Florentyna und F.D.R. im Kindergarten, wo sie sich ebenso beschäftigten wie alle anderen Kinder. Wenn Miss Tredgold Florentyna nachmittags abholte, wusste sie sofort, ob sich das Kind an diesem Tag für Plastilin, Fingermalerei oder Ton entschieden hatte. Florentyna wurde nach Hause gebracht und mit dem üblichen »Warum du heute nur wieder so schmutzig bist« und der unvermeidlichen Antwort »Weiß ich auch nicht« gebadet und umgezogen.

Dann unternahmen Miss Tredgold und Florentyna einen Ausflug, den die Erzieherin vorher ohne Florentynas Wissen sorgfältig geplant hatte – was Florentyna nicht davon abhielt, jeden Plan im Voraus erraten zu wollen.

»Wohin gehen wir heute?« oder »Was machen wir heute?«, pflegte Florentyna sich zu erkundigen.

»Geduld, mein Kind.«

»Können wir es auch machen, wenn es regnet?«

»Das wird sich weisen. Aber wenn nicht, dann habe ich natürlich noch einen Ausweichplan.«

»Was ist ein Weichplan?«, fragte Florentyna verwirrt.

»Etwas, das man braucht, wenn alles, was man geplant hat, nicht klappt«, erklärte Miss Tredgold.

Zu diesen Ausflügen gehörten Spaziergänge im Park, Zoobesuche, manchmal sogar Fahrten mit der Straßenbahn, die Florentyna entzückten. Während dieser Unternehmungen brachte Miss Tredgold ihrem Schützling auch die ersten französischen Worte bei und war angenehm überrascht festzustellen, wie sprachbegabt Florentyna war. Wieder zu Hause, verbrachte das Kind vor dem Tee eine halbe Stunde mit ihrer Mutter; es folgte das abendliche Bad, und um sieben Uhr lag Florentyna im Bett. Jeden Abend las Miss Tredgold ihr ein paar Zeilen aus der Bibel oder aus Mark Twain vor – wenn auch viele Amerikaner den Unterschied nicht zu kennen schienen, dachte Miss Tredgold in einem Anflug vermeintlicher Frechheit –, und wenn das Licht gelöscht war, saß sie neben ihrem Schützling und F.D.R., bis beide eingeschlafen waren.

Diese Routine wurde eisern eingehalten und nur ganz selten wie an Feier- oder Geburtstagen durchbrochen. Bei solchen Gelegenheiten durfte Florentyna Miss Tredgold ins Kino begleiten, um Filme wie Schneewittchen und die sieben Zwerge anzusehen, aber erst nachdem Miss Tredgold sie allein angeschaut und für geeignet befunden hatte. Walt Disney wurde ebenso von ihr gebilligt wie Laurence Oliver als Heathcliff in Sturmhöhe – ein Film, den sich Miss Tredgold an ihren freien Donnerstagnachmittagen dreimal hintereinander ansah. Die Vorstellung kostete zwanzig Cent, aber sie fand, dieser Klassiker sei auch sechzig wert.

Miss Tredgold bemühte sich, jede von Florentynas Fragen zu beantworten, gleichgültig, ob sie sich nach den Nazis, dem New Deal oder dem Home Run beim Baseball erkundigte und die Antworten nicht immer verstand. Das Kind fand bald heraus, dass die Mutter seine Neugierde nicht immer befriedigen konnte, und gelegentlich musste sogar Miss Tredgold, um keine ungenaue Antwort zu geben, heimlich in ihrem Zimmer die Encyclopaedia Britannica zurate ziehen.

Mit fünf Jahren kam Florentyna in die Vorschulklasse der Latin School für Mädchen in Chicago, wo sie nach einer Woche um eine Stufe vorrückte, weil sie ihren Altersgenossen weit voraus war. In ihrer Welt schien alles heil und wundervoll.

Sie hatte eine Mama und einen Papa, sie hatte Miss Tredgold und Franklin D. Roosevelt. Und soweit sie es beurteilen konnte, schien nichts unerreichbar.

Nur die »besten Familien«, wie Abel es nannte, schickten ihre Kinder in die Latin School. Als Miss Tredgold ein paar Freundinnen Florentynas zum Tee einlud, wurden die Einladungen höflich zurückgewiesen. Miss Tredgold war schockiert. Florentynas engste Freundinnen, Mary Gill und Susie Jacobson, kamen regelmäßig, andere Eltern aber erfanden durchsichtige Ausreden, und Miss Tredgold wurde allmählich klar, dass der Chicago-Baron zwar die Ketten der Armut abgestreift, aber noch keinen Zutritt in die Salons von Chicago hatte. Zaphia gab sich keinerlei Mühe, andere Eltern kennenzulernen, geschweige denn, einem der Wohltätigkeitskomitees, Krankenhausvorstände oder schicken Klubs beizutreten, denen so viele anderen Eltern allem Anschein nach angehörten.

Miss Tredgold tat ihr Möglichstes, doch in den Augen der meisten Eltern war sie eben nur eine Bedienstete. Sie betete, Florentyna möge diese Vorurteile nie zu spüren bekommen.

Leider betete sie vergeblich.

4

Abel war viel zu beschäftigt mit dem Aufbau seines Imperiums, um groß über seinen sozialen Status oder Miss Tredgolds Probleme nachzudenken. Die Hotelgruppe florierte, und 1939 war Abel imstande, seinem Geldgeber den Kredit zurückzuzahlen. Trotz seines großen Bauprogrammes rechnete Abel für das laufende Jahr mit einem Profit von zweihundertfünfzigtausend Dollar.

Abels wirkliche Sorgen galten weder seiner Tochter noch den Hotels, sondern seinem achttausend Kilometer entfernten geliebten Heimatland.

Seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich am 1. September 1939, als Hitler in Polen einmarschierte und England zwei Tage später Deutschland den Krieg erklärte. Abel dachte ernstlich daran, seinem Freund George die Leitung der Hotels zu überlassen – der sich als vertrauenswürdiger Vertreter erwies – und nach London zu fahren, um in die polnische Exilarmee einzutreten. Nur mit Mühe konnten Zaphia und George ihm diese Idee ausreden, und stattdessen konzentrierte sich Abel darauf, dem Britischen Roten Kreuz so viel Bargeld wie möglich zukommen zu lassen und gleichzeitig demokratische Politiker zu bestürmen, in den Krieg einzutreten.

»F.D.R. braucht jetzt alle seine Freunde«, hörte Florentyna ihren Vater eines Morgens sagen.

Ende 1939 wurde Abel mithilfe eines kleinen Kredits der First City Bank von Chicago der alleinige Eigentümer der Baron-Gruppe.

In seinem Jahresbericht sagte er für das Jahr 1940 einen Gewinn von mehr als einer halben Million Dollar voraus.

Franklin D. Roosevelt – der mit den roten Knopfaugen und dem flauschigen braunen Pelz – wich auch dann kaum von Florentynas Seite, als sie in die zweite Klasse kam. Miss Tredgold fand, dass es eigentlich Zeit war, F.D.R. zu Hause zu lassen, und unter normalen Umständen hätte sie auch darauf bestanden; nach ein paar Tränen wäre die Angelegenheit vergessen gewesen. Doch gegen besseres Wissen ließ sie dem Kind seinen Willen. Eine Entscheidung, die sich als einer von Miss Tredgolds wenigen Fehlern erweisen sollte.

Jeden Montag hatten die Jungen von der Latin School gemeinsam mit den Mädchen Französischunterricht bei Mademoiselle Mettinet. Für alle, mit Ausnahme von Florentyna, war es die erste mühsame Einführung in eine Fremdsprache. Während die Klasse boucher, boulanger und épicier deklamierte, begann Florentyna mehr aus Langeweile als aus Ungehorsam ein Gespräch mit F.D.R auf Französisch. Ihr Banknachbar, ein großer, eher fauler Junge namens Edward Winchester, der offenbar nicht imstande war, den Unterschied zwischen le und la zu begreifen, zischte ihr zu, sie solle aufhören, sich so aufzuspielen. Florentyna wurde rot.

»Ich hab doch nur versucht, F.D.R. den Unterschied zwischen weiblich und männlich zu erklären.«

»Wirklich?«, fragte Edward. »Na, dann werd’ ich dir le difference mal zeigen, Mademoiselle Besserwisser.«

Wütend packte er den Teddybären und riss ihm einen Arm aus. Wie gelähmt blieb Florentyna sitzen und sah zu, wie Edward das Tintenfass aus seinem Pult nahm und dem Bären den Inhalt über den Kopf schüttete.

Mademoiselle Mettinet, die noch nie dafür gewesen war, Mädchen und Jungen in derselben Klasse zu unterrichten, stürzte an den Tatort, aber zu spät. F.D.R. war bereits von Kopf bis Fuß königsblau und lag, umgeben vom Füllmaterial aus seinem abgetrennten Arm, auf dem Boden. Florentyna packte ihren geliebten Freund, und ihre Tränen vermischten sich mit der Tinte. Mademoiselle Mettinet marschierte mit Edward zum Direktor und befahl den Kindern, sich bis zu ihrer Rückkehr ruhig zu verhalten.

Florentyna hockte auf dem Boden und versuchte vergebens, F.D.R. wieder mit seinen Innereien zu füllen, als ein blondes Mädchen, mit dem Florentyna noch nie geredet hatte, sich zu ihr beugte und zischte: »Geschieht dir ganz recht, du dumme Polackin.« Die Klasse kicherte, und einige Mädchen fingen an zu singen: »Dumme Polackin, dumme Polackin!« Florentyna presste F.D.R. an sich und betete, dass Mademoiselle Mettinet bald zurückkam.

Es schien Stunden zu dauern, obwohl die Lehrerin nach wenigen Minuten wieder in der Klasse war, gefolgt von Edward, der zerknirscht schien. Das Singen brach schlagartig ab, als Mademoiselle Mettinet den Raum betrat, Florentyna aber wagte nicht einmal aufzusehen. In der unnatürlichen Stille ging Edward zu Florentyna und entschuldigte sich ebenso lautstark wie unehrlich. Dann kehrte er auf seinen Platz zurück und grinste seinen Klassenkameraden zu.

Als Miss Tredgold ihren Schützling an diesem Nachmittag abholte, war Florentynas Gesicht noch unübersehbar vom Weinen gerötet. Das Kind ging mit gesenktem Kopf, den königsblauen F.D.R. fest am verbliebenen Arm haltend. Bis sie zu Hause waren, hatte Miss Tredgold Florentyna die ganze Geschichte entlockt. Sie bekam ihr Lieblingsabendessen, Hamburger, gefolgt von zwei Portionen Eiscreme – was absolut unüblich war –, und wurde früh zu Bett gebracht.

Nach einer Stunde, in der sie vergeblich versucht hatte, den blau gefärbten Bären mit Seife und Nagelbürste zu reinigen, musste sich Miss Tredgold geschlagen geben. Als sie das feuchte Stofftier neben Florentyna legte, flüsterte eine leise Stimme unter der Decke hervor: »Danke, Miss Tredgold, F.D.R. braucht jetzt alle seine Freunde.« Als Abel kurz nach zehn heimkehrte – er kam jetzt fast jeden Abend so spät –, bat ihn Miss Tredgold um eine Unterredung.

Erstaunt über ihre Bitte, führte Abel sie sofort in sein Arbeitszimmer. In den achtzehn Monaten seit ihrer Ankunft hatte Miss Tredgold Mr. Rosnovski jeden Sonntag zwischen zehn und halb elf, während Florentyna mit ihrer Mutter in der Kirche war, über die Ereignisse der Woche unterrichtet. Die Berichte waren immer klar und präzise gewesen, wenn überhaupt hatte sie die Leistungen des Kindes eher etwas heruntergespielt.

»Gibt es ein Problem, Miss Tredgold?«, erkundigte sich Abel und versuchte, sorglos zu wirken. Nach diesem Durchbrechen der Routine war sein erster Gedanke gewesen, sie wolle kündigen.

Miss Tredgold erzählte ihm, was sich in der Schule abgespielt hatte – sie blieb währenddessen stehen, denn es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sich in Anwesenheit ihres Arbeitgebers hinzusetzen.

Je länger er zuhörte, desto röter wurde sein Gesicht. Als Miss Tredgold geendet hatte, war Abel scharlachrot.

»Unverschämtheit«, war sein erstes Wort. »Florentyna muss dort auf der Stelle raus. Ich werde morgen Miss Allen aufsuchen und ihr sagen, was ich von ihr und ihrer Schule halte. Sie sind doch auch meiner Meinung, Miss Tredgold?«

»Nein, Sir. Keineswegs«, kam die ungewohnt bestimmte Antwort.

»Wie bitte?«, fragte Abel ungläubig.

»Ich glaube, Sie sind ebenso schuld an der Sache wie Edward Winchesters Eltern.«

»Ich? Was habe ich denn getan?«

»Die Frage ist eher, was Sie nicht getan haben. Sie hätten Ihrer Tochter längst erklären müssen, was es bedeutet, Polin zu sein, und wie man damit umgeht, wenn sich daraus irgendwelche Probleme ergeben. Sie hätten ihr von dem tief verwurzelten Misstrauen der Amerikaner gegenüber den Polen erzählen müssen, das ich ganz genauso verwerflich finde wie die englische Einstellung gegenüber den Iren und das nicht weit entfernt ist von dem barbarischen Verhalten der Nazis gegenüber den Juden.«

Abel schwieg. Schon sehr lange hatte ihm niemand mehr gesagt, dass er in einer Sache falschlag.

»Haben Sie noch etwas zu sagen?« fragte er, nachdem er sich erholt hatte.

»Ja, Mr. Rosnovski. Sollten Sie Florentyna aus der Latin School nehmen, kündige ich sofort. Wenn Sie schon bei der ersten Hürde, der sie begegnet, davonlaufen, kann ich dem Kind niemals beibringen, mit dem Leben fertigzuwerden. Ich habe zugesehen, wie mein Land in einen Krieg hineingezogen wurde, weil wir zu lange glauben wollten, Hitler wäre ein vielleicht etwas irregeleiteter, aber im Grunde vernünftiger Mann. Man kann nicht von mir erwarten, dass ich Florentyna derartige Fehldeutungen weitergebe. Es würde mir das Herz brechen, Florentyna zu verlassen – ich könnte sie nicht mehr lieben wie eine eigene Tochter –, aber sie von der Realität abzuschirmen, weil Sie genug Geld haben, um die Wahrheit der Einfachheit halber noch ein paar Jahre vor ihr geheim zu halten, das kann ich nicht billigen. Bitte entschuldigen Sie meine Offenheit, Mr. Rosnovski, vielleicht bin ich zu weit gegangen, aber ich kann die Vorurteile anderer Menschen nicht verurteilen, während ich gleichzeitig die Ihren entschuldige.«

Abel lehnte sich zurück und schwieg einen Moment, bevor er antwortete. »Miss Tredgold, Sie hätten Botschafterin werden sollen, nicht Erzieherin. Natürlich haben Sie recht. Was raten Sie mir?«

Miss Tredgolds Erwiderung kam ohne Zögern.

»Das Kind sollte vier Wochen lang jeden Tag eine halbe Stunde früher aufstehen und polnische Geschichte lernen. Es muss erfahren, warum die Polen eine große Nation sind, warum sie Deutschland Widerstand geleistet haben, obwohl sie nie auf einen Sieg hoffen konnten. Dann wird sie denen, die sie wegen ihrer Herkunft verspotten, gut informiert und nicht unwissend gegenübertreten. Und dafür gibt es keinen besseren Lehrer als Sie selbst.«

Abel sah Miss Tredgold in die Augen. »Jetzt verstehe ich, was George Bernard Shaw meinte, als er sagte, man müsse eine englische Gouvernante kennen, um zu wissen, warum England großartig ist.«

Beide lachten.

»Mich überrascht, dass Sie nicht mehr aus Ihrem Leben machen wollen, Miss Tredgold«, sagte Abel.

»Mein Vater hat sechs Töchter. Er hat sich einen Sohn gewünscht, allerdings vergeblich.«

»Was machen die anderen fünf?«

»Sie sind alle verheiratet«, erwiderte sie ohne Bitterkeit.

»Und Sie?«

»Vater sagte einmal zu mir, ich sei eine geborene Lehrerin und dass der Herr unser aller Schicksal lenkt. Vielleicht würde ich ja einmal jemanden unterrichten, der zu Höherem berufen ist.«

»Wir wollen es hoffen, Miss Tredgold.« Abel hätte sie beim Vornamen genannt, aber er kannte ihn nicht. Er wusste nur, dass sie ihre Briefe auf eine Art und Weise mit »W. Tredgold« unterschrieb, die nicht zu Nachfragen einlud. Abel lächelte sie an.

»Wollen Sie einen Drink mit mir nehmen, Miss Tredgold?«

»Danke, Mr. Rosnovski. Ein Schluck Sherry wäre sehr angenehm.«

Abel schenkte ihr einen trockenen Sherry und sich selbst einen großen Whisky ein.

»Steht es schlimm um F.D.R.?«

»Auf Lebenszeit verunstaltet, fürchte ich, aber das Kind wird deshalb umso mehr an ihm hängen. Künftig wird F.D.R. zu Hause bleiben und sich nur fortbewegen, wenn ich ihn begleite.«

»Sie klingen wie Eleanor Roosevelt, wenn sie über den Präsidenten spricht.«

Miss Tredgold lachte und nippte an ihrem Glas. »Darf ich noch einen Vorschlag machen?«

»Natürlich«, erwiderte Abel und hörte sich Miss Tredgolds Empfehlung aufmerksam an. Als sie ihren zweiten Drink geleert hatten, gab Abel seine Zustimmung.

»Gut«, sagte Miss Tredgold, »dann werde ich mich mit Ihrer Erlaubnis bei der ersten Gelegenheit darum kümmern.«

»Natürlich«, wiederholte Abel. »Doch was diesen morgendlichen Unterricht betrifft, wird es für mich schwierig sein, mich jeden Tag dafür frei zu machen.« Miss Tredgold wollte etwas sagen, als Abel hinzufügte: »Es gibt Termine, die ich nicht so kurzfristig absagen kann, das werden Sie sicher verstehen.«

»Sie müssen tun, was Sie für richtig halten, Mr. Rosnovski. Wenn Sie etwas für wichtiger halten als die Zukunft Ihrer Tochter, dann wird sie das sicherlich verstehen.«

Abel wusste, wann er geschlagen war. Er sagte einen Monat lang alle Verabredungen außerhalb von Chicago ab und stand jeden Morgen eine halbe Stunde früher auf. Selbst Zaphia gefiel Miss Tredgolds Idee.

Am ersten Tag erzählte Abel seiner Tochter von seiner Geburt in einem Wald in Polen, wie er von einer Waldhüterfamilie adoptiert wurde und später in das Schloss eines vornehmen Barons nach Slonim an der polnisch-russischen Grenze kam. »Er hat mich behandelt wie seinen eigenen Sohn«, sagte Abel.

An den folgenden Tagen erzählte er ihr, wie seine Schwester Florentyna, nach der seine Tochter benannt war, ebenfalls zu ihm ins Schloss kam und wie er entdeckte, dass der Baron sein Vater war.

»Ich weiß, ich weiß, wie du es herausgefunden hast!«, rief Florentyna.

»Woher willst du das wissen, Kleines?«