Abgedreht - Susanne Rüster - E-Book

Abgedreht E-Book

Susanne Rüster

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Beschreibung

Die bekannte Film- und Fernsehschauspielerin Sophie Graf wird ermordet im Garten ihrer Potsdamer Villa aufgefunden. Für Hauptkommissar Wolff und seine Kollegen steht schnell fest, dass der Täter nur der Ehemann des Opfers sein kann: Daniel Brandt, Drehbuchautor und Schriftsteller, hat kein Alibi, außerdem berichten Nachbarn und Bekannte von heftigen Auseinandersetzungen zwischen ihm und seiner Frau. Die junge hübsche Anwältin Verena Starke verfolgt eine andere Spur, und kann doch nicht verhindern, dass Brandt in Untersuchungshaft gerät. Als aber dann ein zweiter Mord geschieht, scheint alles wieder offen … In Abgedreht wirft Susanne Rüster einen Blick hinter die Kulissen der Filmstadt Babelsberg. Ist wirklich alles so glitzernd, wie uns die Hochglanzmagazine weißmachen wollen? Gekonnt spielt die Autorin mit den Klischees, die man mit der schillernden Welt der Stars und Sternchen verbindet, und zeigt sie fernab des Blitzlichtgewitters in einem düsteren, dunklen, blutig roten Licht …

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Susanne Rüster

Abgedreht

Ein Potsdam-Babelsberg-Krimi

Bild und Heimat

eISBN 978-3-95958-711-2

1. Auflage

© 2015 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: © fotolia, B. W. Schneider

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Das Filmprojekt der Schauspielerin und Produzentin Sophie Graf, das sie infolge ihres gewaltsamen Todes nicht mehr verwirklichen konnte, dreht sich um Aufstieg und Absturz der Filmschauspielerin Elly Bartók im Berlin der neunzehnhundertzwanziger Jahre.

Titel: Bestes Mädchen

Genre: Melodrama

Schauspielerin werden, das ist alles, was ich möchte.

Für die Filmkarriere ist Elly Bartók bereit, über Leichen zu gehen.

Produzenten, Regisseure, Kollegen, auch Familie und Freunde halten sie für das Beste Mädchen.

Nur einer kennt ihre Ränkespiele.

Er ist ihr Feind.

Der Scheinwerfer, der ihr schönes Gesicht ausgeleuchtet hat, wird zur zentnerschweren Waffe.

Sie liegt am Boden.

Alles wird dunkel.

Der Tod ist angekommen.

Samstag, 29. August 2015, Mitternacht

Leon hatte seine Haare zum zweiten Mal heute gegelt, damit sie stachlig vom Kopf abstehen sollten. Er hatte etwas Aufregendes vor. Mit angehaltenem Atem schlich er in den Flur, drehte den Hausschlüssel vorsichtig zweimal nach links, steckte ihn in die Tasche, öffnete die Tür, zog sie so leise wie möglich ins Schloss und schlich durch den Vorgarten auf die Straße. Nur fünfundfünfzig Schritte, er zählte mit, und mit jedem Schritt kam er seinem Ziel näher. Das Haus war sehr groß und rosa angestrichen, es erinnerte ihn an ein Märchenschloss, mit einem riesigen Garten drumherum und ohne Zaun. Das zog ihn geradezu auf das Grundstück, bis in die äußerste Ecke, wo der Pavillon stand, und der war sein Schloss, und heute um Mitternacht würde das Schloss Maria und ihm gehören.

Leon wusste, dass im rosafarbenen Haus eine Filmschauspielerin wohnte. Manchmal, wenn er zur Schule ging, stieg sie in ihren BMW, und sie hatte immer eine große Sonnenbrille auf, egal ob die Sonne schien oder nicht. Wahrscheinlich fuhr sie dann zum Set. Die Frau hatte auch einen Mann, der trug meist bunte T-Shirts und fuhr mit einem Rennrad, obwohl sie doch bestimmt viel Geld hatten.

Auf dem Weg zum Pavillon blickte Leon sich um. Es war still. Nur aus einem kleinen, nach hinten versetzten Haus schräg gegen­über sah er bläuliches Licht in der Dunkelheit, wahrscheinlich ein Fernseher. Jetzt hatte er sein Ziel erreicht, da war die Lücke im Gebüsch, wo er durchschlüpfen konnte. Dann nur ein Stückchen über den Rasen, da musste er sich am Rand entlangdrücken, um nicht ins Licht der Scheinwerfer zu geraten, und dann wäre er an ihrem gemeinsamen Schloss. Maria würde gleich kommen, es war noch nicht ganz Mitternacht. Leon tastete in seine Tasche, fühlte, dass die weißen Pralinen mit der Haselnuss anfingen, weich zu werden. Süßigkeiten für Maria, die sie so liebte. Und er liebte Maria. Sie war schon vierzehn, ein Jahr älter als er. Und sie sollte bei ihm sein.

Leon trat ein und setzte sich auf die Holzbank, sein übergeschlagenes Bein wippte auf und ab. Das Schwierigste war geschafft. Sich wach halten, nachdem er sich um elf, als seine Mutter nach ihm sah, schlafend gestellt hatte, mit dem I-Phone unter der Bettdecke, dabei alle fünf Minuten die Zeit checken. Und das Ganze in Klamotten, denn er fürchtete, Lärm zu machen, wenn er seine Lieblingsjeans und das frische Hemd erst kurz vor Mitternacht zusammensuchte.

Sein I-Phone stand auf Aufnahme. Er wollte die zwölf Schläge der Kirchturmuhr aufnehmen, als Auftakt für sein romantisches Date. Ein Geräusch ließ ihn zusammenfahren, er lauschte. War das Maria, die ihn rief? Aber es war eine andere Stimme, hoch und wütend, die zu ihm herüberdrang. Die Stimme der Schauspielerin.

Shit, hätte er sich ja denken können, dass die noch wach war. Leon spähte hinaus. Von Maria keine Spur. Aber es war ja auch gerade erst zwölf. Anrufen wollte er sie noch nicht.

Die Stimme wurde immer lauter, verstehen konnte er nichts, aber jetzt trat die Frau auf die Terrasse, von da führte eine große Treppe hinunter auf den Rasen. Sie hatte einen weißen Bademantel an. Hoffentlich ging sie jetzt endlich ins Bett. Aber die Tante dachte nicht daran. Und dann kam ihr Mann hinterher, noch angezogen, im orangefarbenen T-Shirt und Jeans. Die beiden stritten, das hatte Leon schon öfter gehört. Vor ein paar Tagen hatte der Mann, als die Frau in ihrem Cabriolet wegfuhr, hinterhergebrüllt: »Fahr zur Hölle!« Machte denen wohl nichts, wenn alle mithörten. Wenn’s bei ihm zu Hause Zoff gab, raste seine Mutter immer zum Fenster und knallte es zu. Aber die da drüben seien halt Künstler, sagte Mutter, und das kam gleich nach den Leuten, die seine Mutter als ›Harzer‹ bezeichnete. Was das war, wusste Leon nicht so genau.

»Das Ding kannst du dir abschminken!«, schrie die Frau.

Dann brüllte der Mann: »Das kannst du nicht mit mir machen.«

Er packte die Frau bei den Schultern und schüttelte sie. Nun holte die Frau aus und gab dem Mann eine Ohrfeige, dass es klatschte.

»Schlampe!«

»Du mieser Versager!«

Leon hielt sich die Ohren zu. »Haut endlich ab«, flüsterte er. Wie sollte er sich mit Maria Liebe für immer schwören, wenn die Erwachsenen sich fast umbrachten.

Endlich lief die Schauspielerin ins Haus und der Mann ging ihr nach. Leon hörte die Kirchturmuhr zwölfmal schlagen, er beschloss, sich noch einmal zurückzutasten, um vom Bürgersteig aus nach Maria Ausschau zu halten. Da rannte die Frau wieder auf die Terrasse, fuchtelte mit den Armen. Jetzt kam der Mann hinterher. Er hatte etwas in der Hand, hob den Arm. Leon hielt den Atem an. Der Mann schlug der Frau von hinten mit einer Flasche auf den Kopf. Sie begann zu schreien, dann kämpften sie, die Frau schlug mit Fäusten auf den Mann ein, aber sie war zu schwach. Leon hörte, wie ihr Schreien in ein Gurgeln überging. Mit angehaltenem Atem starrte er hinüber. Jetzt gab der Mann der Frau einen Stoß und sie stürzte die lange Steintreppe hinunter. Leon hörte einen hohen, langen, furchtbaren Schrei, den er nicht vergessen würde.

Musste er der Frau helfen? Sie lag so komisch verrenkt vor den Stufen und stand nicht mehr auf. Aber Leon traute sich nicht zu ihr, er hätte mitten im hellen Licht gestanden, und vielleicht würde der Mann ihn dann auch mit der Flasche schlagen, obwohl Leon ihm nichts getan hatte. Und es durfte niemand außer Maria wissen, dass er nachts auf dem fremden Grundstück war. Schnell versteckte er sich hinter dem dicken Stamm der riesigen Blut­buche.

Mit aufgerissenen Augen spähte Leon hinüber. Jetzt kam der Mann aus der Haustür. Er hatte ein schwarzes Baseball-Cap auf, blickte ein paarmal rundum. Leons Finger kratzten am Stamm. Hoffentlich war er hinter dem Baum nicht zu sehen. Der Mann ging zur Garage, nahm sein Rennrad, stieg auf und fuhr in die Nacht davon.

Leon stand wie erstarrt. Es war plötzlich so still, das Schimpfen und Schreien der Frau hatte schon lange aufgehört. Sie lag immer noch so da, Hals und Kopf verdreht, ein Bein angezogen. Er traute sich nicht näher. Vielleicht kam der Mann schnell wieder zurück. Er legte sich lang hin und robbte zurück ins Gebüsch. Als er weit genug entfernt vom Grundstück der Schauspielerin war, erhob er sich vorsichtig und schlich nach Hause.

Plötzlich bemerkte er, dass er sein I-Phone verloren hatte. Der Schreck fuhr ihm durch die Glieder. Er musste zurück. Er drückte sich an den Hecken entlang, blickte sich immer wieder um. Im Mondlicht sah er sein I-Phone auf dem Rasen liegen. Er hechtete hin, griff es, eilte wieder zurück auf die Straße. Plötzlich kam der Mann auf seinem Rennrad zurück. Leon drückte sich an einen Baum. Der Mann fuhr vorbei, in die andere Richtung. Leon rannte nach Hause, schlug das Gartentor hinter sich zu, steckte den Schlüssel mit zitternden Fingern ins Türschloss.

Maria war nicht gekommen, aber das fiel ihm erst ein, als er wieder im Bett lag, noch in Straßenklamotten und die Decke bis zum Kinn gezogen. Oder war Maria später gekommen? War sie etwa auch dem Mann begegnet? Er hörte seinen keuchenden Atem und spürte, dass er eingepinkelt hatte. Aber er schaffte es nicht, sich zu rühren und die Jeans auszuziehen. Alles, was er wusste, war, dass er mit niemand über sein Erlebnis sprechen durfte.

»Lieber Gott, lass die Frau nicht tot sein«, flüsterte er. »Und lass Maria nichts passieren.«

Sonntag, 30. August

1

Kriminalhauptkommissar Uwe Wolff war dabei, die Schweine auf dem Bauernhof seiner Mutter im Fläming zu füttern. Er entleerte aus einem Metalleimer eine Mischung aus Sojaschrot, Acker­bohnen, Getreide, dazu den Küchenabfall der letzten Woche, der zwar nicht zum artgerechten Futter in ökologisch lizenzierter Qualität gehörte, von den Schweinen aber gern genommen wurde. Suse hatte seit seinem letzten Besuch Ferkel geworfen, die jetzt dicht nebeneinander an den Zitzen der Sau lagen.

»In sechs Wochen geht’s weg von Muttern in die Mast und dann zum Schlachter«, sagte Wolff, der immer mit den Tieren sprach. »Aber bis dahin sollt ihr’s gut haben.« Er verfütterte mehrere Eimerfüllungen, bis im Stall nur noch Schmatzen und Schlürfen zu hören war, und strich Suse, die ihre Ferkel für kurz abgeschüttelt hatte, um selbst zu fressen, über den rosa-schwarzen Rüssel. »Na, altes Hybrid-Schwein, gleich geht’s an die frische Luft.« Nach dem Fressen würde er die Schweine hinaustreiben auf die Wiese, wie er das auch schon vor fünfundvierzig Jahren als Sieben­jähriger getan hatte.

Wolff trat aus dem Stall, betrachtete die Kühe und Pferde, die übers Sommerhalbjahr draußen weideten, sog die vertraute würzige Luft ein. Den Hof der Mutter zu übernehmen, hatte er nie ernsthaft überlegt. Wolff brauchte das Treiben und die Geräusche Potsdams, wo er bereits als Volkspolizist bei der 20. VP-Bereitschaft Dienst getan hatte. Aber Wolff genoss die freien Wochenenden auf dem Land, seit in Potsdam immer mehr Neubauten im Einheitsstil für die vielen zugezogenen Menschen errichtet wurden, immer mehr Bioläden und Latte-macchiato-Cafés eröffneten, immer mehr modisch und teuer gekleidete Mütter mit ebenso ausstaffierten Kindern herumspazierten. Nach Erledigung seiner bäuerlichen Pflichten ging er gern in die Wirtschaft im Dorf, und das war immer noch dasselbe Gasthaus, was man von seiner alten Kneipe in der Potsdamer Altstadt nicht mehr sagen konnte.

Nur seine Freunde wussten, dass ihn keine Frau mehr in ­Potsdam hielt, seit Eleonore ihm vor ein paar Jahren, noch dazu an seinem fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläum, wegen der ­ständigen Schichtarbeit die Ehe aufgekündigt und sich mit einem Finanzbeamten zusammengetan hatte. Er mietete eine kleine Wohnung in Potsdam, genoss, dass die Ermahnungs- und Kontrollanrufe auf seinem Privathandy abgeebbt waren, und fühlte doch Verlassenheit, Enttäuschung, Wut.

»Uwe, ich denke, das Ding geht am Wochenende nicht!«

Seine achtzigjährige Mutter kam in Schürze und Gummi­stiefeln durch die Hintertür aus der Küche, sein Handy in der hoch­erhobenen Hand. Wolff hatte sich Anrufe außerhalb seiner Schicht verbeten, es sei denn, es ginge um Leben und Tod, was bei einem für Tötungsdelikte zuständigen Kommissar keine wesent­liche Reduzierung der Anrufe bedeutete.

»Die Sophie Graf is ermordet worden«, schleuderte ihm seine Kollegin, Oberkommissarin Katja Eickelbaum, in einer Laut­stärke entgegen, dass er sein Gerät vom Ohr riss. Nach einer Weile, in der sie unentwegt und aufgeregt geredet hatte, stellte er seine knappen, üblichen Fragen, die immer damit endeten, ob nicht sie oder der mit frischer Bachelor-Urkunde aus Nordrhein-Westfalen versehene Kommissar Sven Noack zum Tatort fahren könnten.

»Doch nich bei Sophie Graf«, sagte Katja erregt, und da Wolff schon seit einiger Zeit mit seiner Kollegin zusammenarbeitete, wusste er, dass sie wirklich aufgeregt war.

»Is Sophie Graf jemand, den ich kennen müsste?«

Wolff beobachtete die Nachbarin, die auf der Wiese nebenan in hellen engen Hosen und grasgrünem Poloshirt mit ihrem Gaul in einem großen Oval herumtrabte. Seine Mutter hatte einen Teil ihrer Wiesen an einen Filmfritzen aus Babelsberg verkauft, der sich bodenständig gab und Frau und Kinder auf dem Land leben und reiten ließ. Den Typen selbst hatte Wolff nur einmal beim Notar gesehen.

»Na, die Schauspielerin.« Katja zählte ungeduldig eine Reihe von Titeln auf, wahrscheinlich Filme und Fernsehserien der Graf, und endete triumphierend: »Die Tierärztin. Fällt jetzt der Groschen?«

Kenn ich trotzdem nicht, dachte er und sagte: »Ich denke, mit der kommt ihr allein klar.« Katja rief aber eigentlich nur an, wenn es dringend war.

»Die Graf liegt vor ihrer Villa. Is die Treppe runtergestoßen worden, Genickbruch. Der Gärtner hat sie gefunden. Tatortsicherung hab ich schon angeordnet, der Gärtner is verdonnert, auf keinen Fall mit der Presse zu sprechen. Hier stehn nämlich schon Babelsberg-Touris vorm Grundstück. Wenn du dich gleich auf den Weg machst, kannst du in ’ner Stunde hier sein. Tschüss.« Es knackte.

Also Wochenende abschreiben, dafür unzählige Stunden Freizeitausgleich, die er an Sankt Nimmerlein abbummeln würde, oder vor seiner Pensionierung, was aufs selbe hinauskam. Wolff schnaufte und machte einen ärgerlichen Schritt beiseite, wobei er neben das Brett trat, das schlammfrei aus dem Stall führen sollte, und umknickte. Der Schmerz schoss durch und durch. Sprunggelenk, wieder das kaputte Gelenk. Er zog den Atem scharf ein und wartete auf Linderung. Musste er wickeln. Zur Ablenkung warf er einen letzten Blick auf die Nachbarin, die mit ihrem Gaul die Richtung wechseln wollte, links Druck gab, den Zügel kurz nahm, aber das Tier wollte wohl nicht linksherum laufen, was Wolff nachvollziehen konnte.

»Hast du es wieder mit dem Gelenk?«, fragte seine Mutter, als er in die Küche hinkte. »Arthur hat heute frei.«

Wenn der Hofarbeiter frei hatte, fiel noch einiges an schwerer Arbeit an. Ausmisten und die Tröge für die Zufütterung der Weide­rinder vorbereiten, Grundfutter und Proteine, nicht ökologisch optimal, aber Standard bei den meisten Landwirten, wegen der Milchproduktion. Die Nachbarin verwendete für ihre Pferde Getreide aus biologisch korrektem Anbau, wie Wolff bei der stellvertretenden Entgegennahme einer Lieferung gesehen hatte.

»Geht schon.« Er nahm seine zierliche, befehlsgewohnte Mutter in die Arme und gab ihr einen Schmatz auf den weißen Dutt. Je älter er wurde, je wohler fühlte er sich hier, ab und an jedenfalls, und seit Eleonore weg war, umso öfter.

Er wickelte den Fuß und machte sich an die Arbeit. Länger würde sie dauern, als wenn Arthur sie erledigte. Wolff hinkte ein wenig, seit er als junger NVA-Soldat gestürzt und sich einen komplizierten Sprunggelenksbruch am rechten Fuß zugezogen hatte. Damit war seine Karriere als Mitglied der Handball-Nationalmannschaft beendet. Wie der Unfall sich tatsächlich abgespielt hatte, wusste niemand: Wolff hatte sich aus seiner Kaserne in die Kneipe gestohlen und war nach mehreren Bieren und Klaren auf dem Rückweg über eine Wurzel gestürzt. Es war ein Dienstvergehen, unangemeldet die Kaserne zu verlassen. Und es war Dienstpflicht, nach genehmigten Ausgängen nicht den kurzen Weg zur Kneipe durch den Wald zu nehmen, sondern den längeren über die gepflasterte Straße.

Von da an war Wolff nicht mehr Teil der Handball-Nationalmannschaft, außerdem trennte sich seine Freundin von ihm, und das schmeichelhafte Interesse mehrerer junger Frauen aus der Gegend an dem jungen, athletischen Mann erlosch schlagartig. Er wurde mehrmals operiert, aber nie erfolgreich, und seitdem hinkte er. Unfall im Betriebssport, so nannte er seine Gehbehinderung. Seine Legende hatte sich bis heute gehalten. Ob seine Mutter auch daran glaubte, hinterfragte er nicht. Und dass in alten NVA-Akten, so es sie noch geben sollte, was von einer Disziplinarstrafe wegen unerlaubten Entfernens von der Kaserne stand, war nicht einmal bei seiner Einstellung in die Volkspolizei aufgefallen.

Wolff holte, so schnell es ging, die Säcke mit dem Kraftfutter. Es zog ihn nun doch zum Tatort. Das würde sozusagen seine ganz persönliche Premiere werden: Mord in Babelsberg.

2

Neu-Babelsberg. Das einstige Nobelviertel Potsdams, errichtet in den siebziger Jahren des vorletzten Jahrhunderts hinter dem Schloss, war Wolff immer fremd geblieben. Die Villen, in denen einst Industrielle, Bankiers, Künstler oder Wissenschaftler gewohnt hatten, lagen in großem Abstand voneinander, weit hinten inmitten parkähnlicher Gärten. Es gab nur wenige Geschäfte und Autos. Wälzte sich keine Touristengruppe zum Park hinunter, war es still.

Zwei Stunden nach dem Anruf von Oberkommissarin Eickel­baum war Wolff auf seinem Motorroller, den er bei schönem Wetter gern auch für lange Fahrten benutzte, in Babelsberg angelangt. Die Bemühungen Katjas um Absperrung des Tatorts waren vergeblich gewesen. Eine Gruppe älterer Menschen mit Wanderschuhen und Rucksäcken stand vor dem Grundstück, und alle starrten in dieselbe Richtung. Einen Augenblick dachte Wolff an Dreharbeiten in der Villa, aber dann sah er, wie die Schutzpolizei das rot-weiße Absperrungsband zog und ein weiterer Polizeiwagen mit Verstärkung herankam.

»Ge-hen Sie bit-te wei-ter«, befahl eine Megaphonstimme. Niemand ging weiter. Wolff parkte seinen Roller, nahm den Helm ab und genoss das Gefühl, wie der Wind durch sein Haar fuhr. Das konnte sich immer noch sehen lassen, mittlerweile zwar grau, aber dicht und gelockt.

»Willst du ’nen Kamm? Der RBB is vor Ort.« Katja trat auf ihn zu, ihre rote, sackartige Tasche über der Schulter.

»Nee, danke. Meine Haare kommen zerzaust am besten zur Geltung.«

»Wer sagt das?«

»Meine Friseuse. Die is ganz verliebt, jedenfalls in meine Haare.« Wolff musterte grimmig die Passanten, die sich das unerwartete Schauspiel einer vor ihrer Villa liegenden toten Schauspielerin nicht entgehen lassen wollten. Am Tatort tolerierte er nur die Leute von der Spurensicherung und im Hintergrund einen Polizei­wagen. Am liebsten war er mit der Leiche allein.

»Auf in den Kampf.« Katja zog die nachgemalten Brauen hoch. Ihre Haare trug sie kurz und derzeit in Schwarz mit einer blonden Strähne, die ihr bis über die Augenbrauen fiel. Welche Farbe das Haar seiner Kollegin wirklich hatte, wusste Wolff nicht. Zu Katjas grünen Augen hätte Rotblond gepasst, aber das ging ihn nichts an.

Wolff ging zu Sven Noack, der ihm neu zugeteilte dreiundzwanzigjährige Kommissar aus Nordrhein-Westfalen. Er sprach gerade etwas in sein Diktiergerät.

»So, da bin ich«, sagte Wolff, was überflüssig war, aber bei dem jungen Kollegen ein erleichtertes Lächeln hervorrief.

»Die Touristengruppe erreichte den Tatort unmittelbar vor unserem Eintreffen«, berichtete Sven in seinem perfekten Polizei­schul-Deutsch.

»Sagen Sie dem Führer, er soll mit seiner Kolonne weiter­marschieren.«

Sven ging auf einen Mann zu, der einen Stab mit Fähnchen in der Hand hielt und sprach ihn an.

»Be-hin-dern Sie bit-te nicht die Arbeit der Po-li-zei!«, dröhnte es aus dem Megaphon.

Das Haus der Sophie Graf war eine rosa angestrichene Villa von 1912, wie die Jahreszahl über dem Eingang auswies. Es lag in einem großen, für Wolffs Geschmack allzu durchgestalteten Garten. Er trat durch das schmiedeeiserne Gartentor. Auf beiden Seiten stand auf einem Sockel eine nackte Frau aus Stein, die sich notdürftig mit Haar und faltenwerfendem Tuch bedeckte. Am linken vorderen Ende des Grundstücks befand sich, eingerahmt von Koniferen, ein Pavillon, der sicher nicht zum Abstellen von Gartengeräten oder Düngemitteln diente. Wolff ging den Kiesweg entlang, eingegrenzt von blühenden Rosenbüschen, alle in Rosa, dahinter englischer Rasen. Vor der Garage, die selbst so groß wie ein Einfamilienhaus war, parkte ein nachtblaues BMW-Cabriolet. Er pfiff durch die Zähne.

Ein paar Jungs standen herum, die Hände in den Hosen­taschen, und grinsten ihn schief an. Ein Sportlicher hatte sich einen Logenplatz auf der Astgabelung einer riesigen Blutbuche verschafft.

»Haut ab, das ist Hausfriedensbruch«, bellte Wolff sie an. Auf seine Stimme, die er überfallartig einsetzte, konnte er sich verlassen. Der Typ sprang vom Baum, die anderen Jugendlichen schlenderten langsam in Richtung Straße, wobei einer auf den Rasen spuckte. Nur ein hübscher Junge mit stachligen braunen Haaren blieb stehen. Er sah Wolff aus unglücklichen dunklen Augen an und senkte dann den Blick.

»Wohnst du hier?«, blaffte Wolff ihn an.

Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein, nebenan.«

»Raus hier!« Wolff machte eine energische Kopfbewegung in Richtung Straße. Der Junge warf einen letzten Blick auf die Leute von der Spurensicherung in ihren weißen Schutzanzügen und rannte davon.

Wolff stand an der Freitreppe, die Sophie Graf hinabgestürzt war. Auf der Veranda hatte Katja Position bezogen und befehligte wie eine Dirigentin ein eingeübtes Orchester. Wolff sah, dass sie einen dazutretenden RBB-Reporter am Ärmel packte und ihn weg von der Leiche in eine ruhige Ecke zog.

Sophie Graf lag auf dem Rücken vor den unteren Treppenstufen. Jemand hatte ihre Leiche mit einem grünen Tuch zugedeckt, aber Wolff sah noch eine nackte Fußsohle. Der Polizeifotograf lief herum und schoss Aufnahmen, und ein Typ mit einem Notizbuch machte eine Tatortskizze.

»Es muss einen heftigen Streit zwischen der Toten und einer anderen Person gegeben haben, der in einen Zweikampf ausge­artet ist.« Sven war hinzugekommen und berichtete in seinem geschmeidigen Hochdeutsch. »Im Verlauf des Kampfes wurde die Frau die Treppe hinuntergestoßen. Genickbruch.«

Wolff schaltete sein Gehirn auf detaillierte Sicht. An einem Tatort in so ungewohntem Umfeld war noch mehr Aufmerksamkeit nötig. Er hockte sich hin und zog das grüne Tuch weg.

Sophie Graf lag auf dem Rücken, Hals und Kopf schräg nach oben verdreht, ein Bein angewinkelt. Ihre blauen Augen waren offen und trüb. Der Blick in tote Augen war das Schlimmste. Immer stand darin etwas Ungläubiges, Verzweifeltes. Wolff regis­trierte die Touristen nicht mehr, nicht den Wagen des RBB, nicht die Schutzpolizei. Niemals würde er zugeben, dass auch er dieses Kribbeln, den schnellen Herzschlag kannte. Alte Hasen spielten halt den abgebrühten Kriminalisten, und bestimmt erwartete Sven das auch von ihm.

Die Tote trug nichts als einen weißen Bademantel, der offen und zur Seite gefallen war. Sie wirkte sehr gepflegt, die Haut glatt und weiß. Umso deutlicher hoben sich die lila-roten Totenflecke an der Rückseite des Körpers ab. Wolff schätzte die Frau auf Mitte dreißig. Eine Stelle am Hinterkopf mit blutverkrusteten Haaren fiel ihm auf. Er ließ sich von einem Mitarbeiter der Spusi dünne Handschuhe geben, fuhr mit dem Finger über die Kopfhaut und tastete eine massive Beule.

»Hast du das gesehn?«, fragte er Sven.

»Der Defekt sieht nicht nach einer Verletzung aus, die vom Treppensturz herrührt. Zu eng begrenzt und zu rund.«

»Sag der Spusi, sie solln nach ’nem Schlagwerkzeug Ausschau halten.«

Der junge Kommissar nickte, als sei dies ein besonders guter Gedanke, und rieb sich vorsichtig die Augen. Er war kurzsichtig und trug meist Kontaktlinsen, hatte aber empfindliche und häufig gerötete Augen. Sven ging in die Villa, wo die Kollegen von der Spusi das gesammelte Material für die Untersuchungen in spezielle Behälter verpackten.

Wolff konnte sich denken, dass Sven dieselbe Anweisung bestimmt schon gegeben hatte, aber ihm das nicht gesagt hatte. Die jungen Kommissare waren heute mit der Bachelor-Urkunde und viel kriminalistischem Wissen ausgerüstet und anscheinend gehörte Sozialkompetenz zu den Unterrichtsfächern.

Wolff wandte sich wieder der Toten zu. Die Brüste standen hoch und waren nicht zur Seite gefallen. Kunstbusen. Die Augenbrauen waren dünn ausgezupft und verliefen in einer schwungvollen Linie, die Lippen waren auffallend voluminös. Und jetzt braun.

Schauspielerin, dachte Wolff, festgelegt auf Rollen von zehn Jahre jüngeren Frauen. Sie hatte vor ihrem Tod einen Bademantel getragen und sonst nichts. Das konnte zweierlei bedeuten: Ent­weder war Sophie Graf von ihrem Mörder überrascht worden. Oder der Mörder war jemand, den sie sehr gut kannte.

»Sei erfolgreich, werde reich und zeige es«, rief Katja von ihrem Podestplatz auf der Terrasse herunter. »Zehn-Zimmer-Villa.«

»Na, viel hat die Graf nicht mehr davon.«

»Hab schon mal den Gärtner vernommen. Kann im Büro gleich getippt werden.« Die Kollegin war stolz auf jede technische Neuerung wie die elektronischen Diktiergeräte.

»Hat der Mensch was gesagt?«

»Heute früh waren Ehemann und Rennrad verschwunden.«

»Verreist?« Vielleicht war der auch Schauspieler und hatte irgendwo ein Engagement.

»Gestern Abend war er noch da.« Katja stieg mit leicht nach außen gedrehten Fußspitzen die Stufen hinunter. Sie ließ Arme und Hände schweben, als wolle sie jemanden umarmen. Nicht ihn, das war Wolff klar. Außerarbeitsbeziehung – die Akte hatten die beiden gar nicht erst angelegt, als Katja vor zwei Jahren zur Mordkommission Potsdam versetzt worden war. Oberkommis­sarin Eickelbaum, tatkräftige Frau von sechsunddreißig, Film- und Fernsehfan und absolut verschlossen, was ihr Privatleben anging.

»Der Gärtner hat gesagt, dass er gestern Abend sprengen kommen wollte, und da haben die Graf und ihr Mann sich so angebrüllt, dass er am liebsten schnurstracks umgekehrt wäre.« Katja machte eine ausgreifende Armbewegung.

Typisch für die geborene Berlinerin war ihr großzügiger Umgang mit Mimik und Gestik. Katja gestikulierte gern wild und machte auch auf kleinem Raum weit ausladende Bewegungen. Das wirkte auf Menschen, die sie nicht kannten, manchmal unsachlich und wenig souverän. Aber Wolff wusste, dass seine Kollegin wunderbar die Naive geben konnte. Unschlagbar war sie bei der Durchsuchung von Kleidung. Über Mode quatschen und gleichzeitig mit scharfem Blick und sicherem Griff ein Beweisstück aus einer Tasche herausholen – das war typisch Katja.

»Wie heißt der Mann?« Auf dem Klingelschild am Tor standen nur die Initialen der Schauspielerin: S. G.

Katja hatte auch das bereits herausbekommen. »Daniel Brandt. Is nich von hier, hat der Gärtner gesagt, wohl aus Süddeutschland. Aber das Tollste …, sie machte eine ihrer typischen dramatischen Redepausen, »… du ahnst nich, was der ist.«

»Kapitalanlagenbetrüger?«

»Nee. Schriftsteller. Der Gärtner hat gesagt, dass er ’ne Krise hat und dann manchmal in sein Häuschen am See fährt.«

»Welcher See?«

»Konnte der Gärtner nich sagen. Aber das kriegen wir schon raus.«

Daniel Brandt. Wolff schloss kurz die Augen. Heftiger Ehekrach. Der Typ haut ab. Und dass Sophie Graf sich nicht mit einem harten Gegenstand selbst auf den Kopf schlägt und sich dann die Treppe hinabstürzt, ist auch ziemlich klar. Wird eine Ehefrau ermordet, gerät als Erstes der Partner in den Focus.

Dann verbot Wolff sich solche Gedanken, denn oft kam es anders.

3

Zur selben Zeit, als Hauptkommissar Uwe Wolff sich mit der Leiche Sophie Grafs beschäftigte, warf Rechtsanwältin Verena Starke ihre Judo-Partnerin mit dem Schulterwurf auf die blaue Matte. O-Goshi war genau richtig für ihre psychische Verfassung, einer der bekanntesten Würfe des Judo und von ihr bereits in Wettkämpfen erprobt.

Verena stellte sich zwischen die Beine ihrer Gegnerin, die nunmehr Uke war, die Angegriffene und Geworfene, während sie Tori war, die Angreiferin. Sie hebelte das hintere Bein ihrer Gegnerin aus und warf sie mit kräftigem Zug am linken Arm und viel Druck nach vorn über die Schulter. Kein Problem, obwohl Verena mit ihren 1,58 Metern einen Kopf kleiner war als ihre Partnerin. Zierlich, dazu noch hellblond, das war wirklich der Gipfel der Herausforderung. Verena hatte Erfahrung im Unterschätztwerden. Vielleicht trainierte sie deshalb seit ihrer Kindheit Judo. Ihr Mantra war: Ich bin Verena, klein, blond, geschickt und wendig.

Ihre Judo-Partnerin erhob sich schnaufend von der Matte, aber Verena wusste, dass sie mithalten konnte. Das zeigte ihr blauer Gürtel. Verena hatte es vor Jahren sogar bis zum Braungurt geschafft, dann aber das Training im Stress ihres Jura-Examens aufgegeben. Da sie nicht mehr über das Können für den Braunen verfügte, begnügte sie sich jetzt mit Blau.

»Hast du was abzuarbeiten?«, fragte ihre Partnerin lachend.

»O ja, frisch getrennte Single-Frau. Von München nach Babelsberg geflüchtet.«

Verena war froh, gleich nach ihrem Umzug das Sportstudio SATORI, in dem asiatische Kampfsportarten und Yoga gelehrt wurden, gefunden zu haben. Nach stundenlangem Sitzen beim Aktenstudium brauchte sie einen festen Ort, um ihren Ärger über juristisch schwierige Fälle oder nervige Mandanten wieder loszuwerden. Hier in der Kampfsporthalle im Souterrain traf sie Judoka, denen es egal war, welchen Beruf sie ausübte, wie viel Geld sie verdiente, ob sie Ehefrau und Mutter war oder eben die Abgehalfterte, die keinesfalls mehr mit ihrem Kollegen und Exfreund zusammen in der Münchener Anwaltskanzlei Abraham & Partner arbeiten wollte. Ja, sie war verlassen worden. Nicht, weil ihr Freund »eine Jüngere hatte«, so wie Frauen in Scheidungsver­fahren ihr öfter schluchzend mitteilten. Nein, Verena dreiunddreißig Jahre alt, war die letzten drei Jahre mit dem gleichaltrigen Anwalt Klaus Niedhammer liiert gewesen, bis er sich in eine achtundvierzigjährige Rechtsanwältin verliebte, die ausgerechnet auch noch seine Prozessgegnerin war. Die Frau war entsetzlich unsportlich, wog bestimmt zehn Kilogramm zu viel, brauchte eine Lesebrille und war so etabliert, dass sie sich ihre Mandanten selbst auswählen konnte. Sie wisse so viel vom Leben, war die Begründung von Klaus, und der Fairness halber hatte er noch hinzugefügt, dass es mit Verena auch schön gewesen war.

Verena machte Shime Waza, eine Würgetechnik, deren Ziel es war, dem Gegner die Luft abzuschneiden, ohne den Kehlkopf anzugreifen. Zu Schaden kam ein erfahrener Judoka nicht, da das Abschlagen mit der Hand auf die Matte dem Gegner signalisierte: ›Ich gebe auf. Lass ab von mir.‹ Judo war der ›sanfte Weg‹.

Nur in Verenas Beruf gab es keine Farben, die signalisierten: ›Achtung Anfängerin‹. Sie konnte ja schlecht sagen, im Urheber- und Medienrecht trage ich die Farbe Grün, im Familienrecht etwas weniger, also Orange. Im Strafrecht würde sie den weiß-gelben Anfängergürtel nehmen müssen. Sie konnte nach den drei Wochen, die sie jetzt in Babelsberg war, nicht annähernd abschätzen, was für Mandate auf sie zukommen würden. Außerdem war der Aufbau der Babelsberger Dependance von Abraham & Partner bei ihrem Eintreffen bereits in vollem Gang. Ihr Babelsberger Anwaltskollege hatte seinen nach einem Jahr harter Arbeit wirklich verdienten Urlaub genommen, und sie war für die nächsten zwei Wochen auf sich allein gestellt.

Vorwärts, dachte Verena und ballte die Faust. So viel Beschäftigung und Arbeit wie möglich, um die Lücke in ihrem Leben zu füllen. Und Judo lehrte, nicht durch maximale Kraftanwendung zu siegen, sondern durch kluges und faires Taktieren.

4

Wolff machte das, was ihm schon oft geholfen hatte: Er ging eine Runde. Tatorte gaben oft darüber Aufschluss, warum ein Mensch an diesem Ort umgebracht worden war. Das, was ihn hier in der Babelsberger Villa ansprang war: Geld, Geld, Geld. Die zweistöckige Eingangshalle, dann ein Speisezimmer mit einer langen Tafel und Stühlen mit hohen Lehnen. Das Herrenzimmer. So etwas hatte Wolff in einem Schloss gesehen, auf einem der wenigen Sonntagsausflüge mit Eleonore. Bücherwände, aber das erwartete man ja wohl von dem Schriftsteller Daniel Brandt, ein Kamin, davor ein mit Intarsien verzierter Rauchtisch und eine Sitzecke aus weichem Leder. Auf dem Kaminsims lag ein Holzkästchen. Wolff öffnete es: kubanische Zigarren, obenauf ein Zigarrenschneider. Obwohl er kein Raucher war, fand er den holzigen Geruch angenehm.

Fast hätte er das Stück Papier übersehen, das auf der Klappe eines Sekretärs lag: Die ASTRA-Produktionsgesellschaft kündigte eine Schadensersatzklage gegen Sophie Graf an, da diese ohne anzuerkennenden Grund von dem Vertrag über die gemeinsame Produktion des Filmprojekts Bestes Mädchen zurücktreten wolle.

Wolff steckte das Papier ein.

Dann stieg er die Treppe ins Obergeschoss hinauf, um Katja zu suchen. Sie musste nun mittlerweile schon vier Stunden da­bei sein, die Villa zu durchsuchen. Von den Wänden starrten Männer- und Frauengesichter, festgehalten in großen Schwarzweißfotografien, auf ihn herab wie überdimensionale Wächter. Wolff trat näher und las die Namen von UFA-Stars: Henny Porten, ­Willy Fritsch, Magda Schneider, Heinz Rühmann. Da hörte er eine dramatische Frauenstimme irgendwelche Drohungen ausstoßen. Gab es hier Bilder mit Tonaufnahmen? So ähnlich wie die beknackte Karte, die die Kollegen ihm zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt hatten, mit ’ner Blonden, die zwinkern konnte und hauchte: »I wonna be loved by you«.

Aber die Stimme gehörte nicht zu den Bildern. Wolff ging ins Schlafzimmer der Graf, wo die Laute herkamen. »Ich liebe dich nicht mehr«, hörte er Katja schmettern. »Ich gehe für immer weg.«