RaubLust - Susanne Rüster - E-Book

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Susanne Rüster

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Beschreibung

Eine Frauenleiche treibt unter der Glienicker Brücke auf der winterlichen Havel in Richtung Babelsberg. Die Tote wird als Britta Fuchs identifiziert. Die Promi-Reporterin wurde erwürgt und ins Wasser geworfen. Bei seinen Ermittlungen verirrt sich Kriminalhauptkommissar Uwe Wolff, der bereits bei der Volkspolizei tätig war, in die glamouröse Welt der Reichen und Schönen. Er findet heraus, dass Fuchs sich mit ihrer kritisch-ironischen Berichterstattung auch Feinde gemacht hat, etwa den alternden Schauspieler Max van der Weppen und den Galeristen Egbert Kamphausen. Auch Fuchs' gekränkter Exfreund kommt als Mörder infrage. Prompt geht eine anonyme Anzeige gegen Kamphausen bei der Kripo ein. Dahinter steckt Leonie Sanft, seine Mitarbeiterin und abgehalfterte Geliebte. Bezichtigt sie ihren Chef aus Rache des Mordes an Fuchs? Oder hat der Galerist die Journalistin, die ihm unterstellt hat, er stelle NS-Raubkunst aus, beseitigen lassen? Wolff will Sanft befragen, aber sie ist verschwunden. Zur selben Zeit wird die Urenkelin eines bekannten Kunstsammlers entführt. Als ein zweiter Mord geschieht, spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu …

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Susanne Rüster

RaubLust

Ein Potsdam-Babelsberg-Krimi

Kommissar Wolffs dritter Fall

Bild und Heimat

Von Susanne Rüster liegen bei Bild und Heimat außerdem vor:

Abgedreht.Ein Potsdam-Babelsberg-Krimi (2015)

Landjäger.Ein Potsdam-Krimi (2017)

eISBN 978-3-95958-776-1

1. Auflage

© 2019 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: Adobe Stock / katcya_design (Flatowturm); Adobe Stock / alexkich (Vögel)

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Der Wahrheit auf der Spur1

Die Hüterin meiner Geheimnisse ist meine Kladde. Auf allen Wegen trage ich sie bei mir. Sie kennt meine Gedanken, ihr Inhalt wächst von Tag zu Tag.

Es wird Zeit. Ich will nicht mehr die gut informierte Klatschtante sein, die sich aufs Boulevard-Sofa setzt und Promi-Dramen aufdeckt oder Sex-and-Crime-Storys schreibt.

In mir ist ein unbändiger Drang.

Etwas Neues zu tun.

Den Menschen die Augen zu öffnen.

Missstände und Skandale aufzudecken.

Verborgene Verbrechen ans Tageslicht zu bringen.

Potsdam, im Oktober 2016

Britta Fuchs

Der 1. Tag Nacht zu Montag

1.

Der Kahn war in ruhigem Fahrwasser, die Havel träge, grau, kalt. Thorsten Müller steuerte das Schiff von Berlin nach Potsdam. Die Spree mit Museumsinsel, Wohnung der Bundeskanzlerin, Reichstag, Regierungsviertel hatten sie hinter sich gelassen, jetzt befanden sie sich auf der Havel. Die winterlichen Glühweinfahrten gehörten nicht zu Müllers Lieblingstouren. Bloß keinen Abgang eines alkoholisierten Gastes über die Reling, hoffte er jedes Mal.

Es wurde dunkler. Links die Bäume des Grunewalds, rechts das dörfliche Kladow. Die mächtigen Konturen der Glienicker Brücke tauchten auf. Müller fuhr gern unter dem Stahlkoloss hindurch, die Grenze zwischen Potsdam und Berlin, Verbindungsstelle zwischen Ost und West, ein Stück Geschichte.

Bei dieser Vorweihnachtsfahrt stellte er das Band mit der netten Frauenstimme, die über den Austausch von Spionen im Kalten Krieg berichtete, nicht an. Von dem angetrunkenen Haufen hörte sowieso keiner zu. Heute Abend gab’s Glühwein frei, die Gäste hatten ein Inklusiv-Paket von fünfzig Euro bezahlt und wollten sich, verdammt noch mal, amüsieren. Seine letzte Her­ausforderung wäre es, die wankenden Teilnehmer über den schmalen Steg an der Anlegestelle Lange Brücke am Potsdamer Hauptbahnhof zu bringen. Jetzt fuhren sie zwischen den Pfeilern der »Agentenbrücke« hindurch. Links der Babelsberger Park mit dem Schloss, rechts die Lichter der Berliner Vorstadt. Müller nahm die Hände vom Lenkrad und wollte sich seinen ersten Schluck Bier gönnen.

Da gellte vom Oberdeck ein langgezogener Schrei. Auch das kam öfter auf diesen Sauftouren vor, aber dieser Schrei hatte nichts Übermütiges. Er war durchgehend und schrill und brach plötzlich ab, als habe der Schrecken jemandem die Kehle zugeschnürt. Ein Mann drängte sich ins Führerhaus. Sein Gesicht war rot und schweißüberströmt. Er hielt einen Fotoapparat an den mächtigen Bauch gepresst.

»Da ist was im Wasser!«

Das beunruhigte Müller nicht sehr, denn in der Havel trieb so allerlei, Haushaltsmüll, entsorgtes Mobiliar, ein Kahn, der sich gelöst hatte. Er nahm sein Fernglas. Etwas Helles schwamm dort. Tischtücher? Dann stockte ihm der Atem. Ein Mensch wurde von der sanften Strömung in Richtung Potsdam getrieben. Sein Unterkörper steckte in etwas Weißem, die Arme waren ausgebreitet, als suche dieses Wesen den letzten Halt. Um den Kopf floss rotes Haar.

Müller schüttelte ungläubig den Kopf, griff sein Handy und wählte Eins-Eins-Null.

»Wasserleiche«, meldete er dem Bereitschaftsdienst und stellte sich als Kapitän der Havelkönigin vor.

»Wo befindet sich Ihr Dampfer?«

»Dampfer! Mein Schiff wird mit Dieselmotor angetrieben. Sogar Feinstaubfilter.«

»Okay. Bitte genaue Lage angeben.«

»Position, meinen Sie? Landmarken: Von Berlin nach Potsdam, gerade durch die Glienicker Brücke gefahren.«

»Leiche also in Sichtweite?«

Müller nahm sein Fernglas und sah das halb eingewickelte Wesen sanft seinem Schiff entgegenschaukeln. »Ungefähr hundertfünfzig Meter.«

»Bleiben Sie, wo Sie sind. Ich melde mich.«

»Muss ich Anker werfen«, sagte Müller, aber der Typ hatte schon aufgelegt.

Bleiben Sie, wo Sie sind, pah, dachte Müller. Anker werfen im Tiefen See is ’ne Hundearbeit. Er starrte auf die Gestalt mit den roten Haaren in der schwarzen Havel und schämte sich, dass sein erster Gedanke war: Kein Feierabend in Sicht. Er forderte die aufgeregt zum Bug des Schiffes laufenden Gäste auf, sich zu setzen. Ohne Erfolg.

Der Typ vom polizeilichen Bereitschaftsdienst meldete sich. »Es kommen zwei Kommissare vom Revier Potsdam. Etwa ’ne Stunde.«

Müller bemühte sich um Ruhe. Abendessen konnte er sich abschminken, seine Frau würde ihm kalt gewordene Bratkartoffeln hinstellen. Er suchte eine Stelle, wo er den Anker werfen konnte. Dann sagte er durch den Lautsprecher: »Meine Damen und Herren, eine Frau ist ertrunken. Die Polizei möchte, dass wir noch ein wenig bleiben. Die Bar ist weiterhin geöffnet.«

Glühweinbar, überhöhte Preise, lauwarme, gepanschte Getränke, hatte der Witzbold von Wirt auf ein Schild gemalt. Jetzt lachte niemand mehr.

Müller wollte gerade zu Hause anrufen, da kam eine ältere Frau, die ihren Oberkörper glühweintrunken bis aufs Top entkleidet hatte, auf ihn zu.

»Haben Sie schon öfters mit Wasserleichen …« Sie deutete hektisch auf die schwarze Havel, wobei die welke Haut am Arm hin- und herschwang. »Wie lange dauert es denn, bis die wieder hochkommen?«

2.

Der Klingelton seines Handys riss Kriminalhauptkommissar Uwe Wolff aus dem ersten Schlaf.

»Wasserleiche in der Havel, kurz vor der Glienicker Brücke«, sagte der Kollege vom Ersten Zugriff. »Der Kapitän von so ’nem Vergnügungsschiff hat sie gemeldet.«

»Sicher, dass sie nicht auf Berliner Seite schwimmt?«

»Pech für dich. Die Leiche ist schon über die Grenze.« Nach der monotonen Stimme zu urteilen, war der Kollege genauso müde wie Wolff selbst. »Bist du endlich hoch, Uwe?«

Wolff gähnte laut und schwang seine Beine aus dem Bett. »Wo ist der Dampfer jetzt?«

»Ankert vor der Brücke.«

»Auf alkoholisierte Zeugen auf so ’nem Kahn hab ich keinen Bock«, fauchte Wolff. »Es sei denn, sie haben jemand über Bord geworfen.«

»Soll der Käpt’n mit seinem Dampfer nun warten?« Leicht ironisches Heben der Stimme. Der Kollege saß trocken und warm in der Polizeizentrale, was im Dezember einen deutlichen Lagevorteil ausmachte.

»Sag Sven Bescheid.« Wolffs vierundzwanzigjähriger Kollege Sven Noack war gerade zum Kommissar auf Lebenszeit ernannt worden und würde bei solch einem Weckruf bestimmt nicht ins Handy gähnen.

Wolff ging ins Bad, kniff im hellen Licht die Augen zusammen und überlegte, ob es lohnte, sich zu rasieren. Falls sich die Wasserleiche als natürlicher Todesfall oder eindeutiger Selbstmord herausstellen sollte, wäre er in zwei bis drei Stunden wieder im Bett. Aber es konnte auch ein voller Arbeitstag werden.

»Hallo, da bin ich wieder, und die Sorgen sind auch schon da«, begrüßte er sein Spiegelbild und fuhr mit dem Rasierer über die ergrauten Stoppeln. Immerhin hatte er volle, wenn auch fast weiße Haare, die sich ungestutzt zu Locken kringelten, auf die sogar seine Friseurin neidisch war. Wolff klatschte sich kaltes Wasser ins Gesicht.

Wasserleiche, hoffentlich nicht so aufgeschwemmt, dass die Identifizierung schwierig würde. Die Bestrafung für einen relativ ruhigen Feierabend, an dem er im Wohnzimmer seine Eisenbahnanlage mit weiteren Gleisen ausgebaut und die neue Märklin-Dampflokomotive, Baureihe 01, hatte fahren lassen. »Warum bloß spielen Männer gern mit Modelleisenbahnen?«, hatte seine Exfrau Hannelore gestöhnt. Macht halt Spaß und entspannt, dachte er.

Als Wolff aus seiner Wohnung in der nördlichen Altstadt Potsdams trat, schlug ihm feuchte Dezemberluft entgegen. Es war stockdunkel und still. Er stieg in seinen alten Mercedes, weil er keine Lust hatte, sich erst einen Einsatzwagen vom Polizeirevier zu holen, und fuhr nach Babelsberg. Kurz vor der Glie­nicker Brücke stellte er den Wagen an der Berliner Straße ab, und ging zu Fuß weiter. Genau hier, in der Mitte der Brücke, verlief die Grenze zwischen Brandenburg und Berlin. An der Havel-Böschung standen Einsatzwagen mit rotierenden Lichtern, die Lichtfetzen auf die mächtige grüne Stahlkonstruktion warfen.

Wolff blickte hinunter aufs Wasser. Auf dem Tiefen See, direkt gegenüber dem Park Babelsberg, lag das Ausflugsboot. Von Vergnügen keine Spur mehr. Einige Gäste standen auf dem Oberdeck, andere hatten sich in die Gastronomie zurückgezogen. Alles auf dem Schiff wirkte wie erstarrt, als habe man plötzlich einen Film angehalten.

Die Schutzpolizei hatte Scheinwerfer aufgestellt. Der Wagen der Spurensicherung traf ein, zwei Männer zogen sich weiße Schutzanzüge über. Ein Hornsignal ertönte, die Wasserschutzpolizei kam mit ihrem Motorboot heran und bemühte sich, den toten Körper zu bergen. Wolff stieg neben der Brücke hinunter zum Wasser. Er würde die Leiche nicht in ihrer ursprünglichen Lage am Tatort sehen. Aber Wasserleichen waren ohnehin oft so stark verwest, dass allein der Rechtsmediziner noch Rückschlüsse auf den Tathergang ziehen konnte. Wolff zog sein digitales Funkgerät heraus und nahm Kontakt auf.

»Habt ihr den Toten?«

»Kein Mann«, antwortete der Kollege. »Die Frau ist halb in ein Laken gewickelt.«

Wolff nahm sein Fernglas. Jetzt drehte das Polizeiboot, und er konnte die Tote sehen. Der untere Teil des Körpers war tatsächlich eingewickelt. Wolff fühlte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, spürte, wie sich die Sinne schärften, wie alles in ihm auf Wahrnehmung schaltete. Zugeben würde er es nie, dass selbst er, Leiter einer Mordkommission, immer noch dieses Kribbeln, den schnellen Herzschlag spürte. Aber genau dieses Gefühl war es, warum er mit seinen sechsundfünfzig Jahren nicht in den Innendienst ging.

Als der Polizeischwimmer die Leiche heranholte, sah Wolff rotes Haar auf dem Wasser treiben. Und Hände mit gekrümmten Fingern, die von den leichten Wellen auf und ab bewegt wurden, als würden sie winken.

3.

»Die letzte Tour vor Weihnachten«, sagte der Kapitän, ein kahlköpfiger Mann um die sechzig, zu Wolff. »Und jetzt so ein Unglück!« Er gähnte und schlug sich auf den Mund. »Entschuldigung, bin bettreif.«

»Sie müssen mit Ihrem Schiff noch ein bisschen bleiben.«

Wolff hatte sich mit dem Polizeiboot zur Havelkönigin bringen lassen. Der Kapitän und seine Passagiere waren für kurze Zeit zu einer Zweckgemeinschaft zusammengeschweißt, und das musste er ausnutzen.

»Fahr seit vierzig Jahren.« Müller fasste sich an sein abstehendes Ohr. »Das hier is die fünfte Leiche. Zwei sind bei Gewitter gekentert und nicht unterm Boot rausgekommen, dann gab’s ’nen Herzinfarkt und ’nen besoffenen Matrosen, der hat beim Pinkeln ’nen Köpper über die Reling gemacht. War Winter, und der is gleich erstarrt.« Müller hielt inne. »Aber so ’ne eingewickelte Frau, die mir entgegentreibt, nee.« Er schüttelte betrübt den Kopf.

Wolff machte ein kurzes Protokoll, sagte, dass er den Mann vielleicht noch als Zeugen brauche, das machte sich immer gut. »Darf ich mal an Ihren Lautsprecher?«

Müller nickte und deutete auf die Anlage.

»Kriminalpolizei«, sagte Wolff ins Mikrofon. »Meine Damen und Herren, eine Frau ist tot. Wir wissen nicht, wer sie ist. Vielleicht können Sie uns weiterhelfen. Sie haben die Tote entdeckt.«

Dann mischte er sich unter die Fahrgäste und ließ seine Augen herumwandern. Einige Männer hatten sich für die Abendfahrt in den Smoking geworfen, die Frauen waren in Seide und Glitzer, was im bizarren Kontrast zu den fahl wirkenden Gesichtern und der angespannten Haltung stand. Einer erzählte von einem unfreiwilligen Aufenthalt im Intercity wegen eines Schienenunfalls, mehrere Passagiere telefonierten, und alle warteten auf die erlösende Mitteilung, dass es endlich weiterging.

»Ist das mit der Frau denn Mord?« Ein Mann, dessen Hemd Essensspuren zeigte, musterte Wolff, ein Schnapsglas in der Hand.

»Kann schon sein.«

Der Typ vergaß, seinen Klaren zu kippen, und starrte ihn an. »Mit Spionen hat das wohl nichts zu tun?«, spielte er bemüht scherzhaft auf die »Agentenbrücke« an.

Wolff hob grinsend die Schultern und ließ sie fallen. »Die Leute wurden nicht ins Wasser geworfen, sondern zwischen Ost und West ausgetauscht. Und seit Ende der Achtziger gar nicht mehr, es sei denn im Film.« Es war immer gut, auf Zeugen einzugehen. »Haben Sie ’nen Tipp für mich?«

Der Mann zuckte mit den Achseln. »Eine Frau hat geschrien, wir sind alle zur Reling. Und da schwamm jemand, halb eingewickelt.«

»Vielen Dank«, sagte Wolff höflich. Vermutlich hatte der Mann mit seiner unergiebigen Aussage das Ergebnis seiner Befragungen vorweggenommen.

Kommissar Sven Noack war im Beiboot der Wasserschutzpolizei aufs Schiff gebracht worden. Trotz Steppjacke und Stiefeln kletterte er lässig die herabgelassene Leiter hoch und schwang sich über die Reling. Wolff hatte auf eine Flanke verzichtet. Dreißig Jahre Leben lagen zwischen ihnen. Sven trug seine Brille, was selten vorkam, offensichtlich hatte er es nicht geschafft, sich noch schnell die Kontaktlinsen einzusetzen. Er warf einen ruhigen, prüfenden Blick rundum, kam dann auf Wolff zu und gab ihm die Hand. Er war kein Typ, der knuffte oder einfach nur hallo oder hi sagte.

»Von den Gästen weiß wahrscheinlich niemand was, da sind wir schnell durch«, sagte Wolff. »Nimm du dir die Leute oben vor.«

Mehr brauchte es nicht. Sven stieg aufs Deck. Es hatte ein wenig gedauert, bis Wolff mit dem zielstrebigen, jungen Mann warm geworden war, aber zu dessen Qualitäten gehörte es, keine unnötigen Fragen zu stellen und sofort seinen Platz bei den Ermittlungen zu finden.

Eine für die Jahreszeit ungewöhnlich gebräunte Blondine mit einem Herrenjackett über den nackten Schultern trat auf Wolff zu. »Hab die Tote durchs Fernglas entdeckt. Erst dachte ich, ein angeschwemmter weißer Sack. Dann hab ich die roten Haare gesehen, wie Schlangen auf dem Wasser.«

Wolff dankte für die Aussage, wieder nichts Neues, und ließ sich Namen und Adresse geben, damit er überhaupt etwas in den Einsatzbericht schreiben konnte. Er befragte noch einige Gäste und bekam nichts als Vermutungen: Die Frau ist verschleppt, ins Laken gewickelt und mit Steinen beschwert in die Havel geworfen worden, oder beim Spaziergang überfallen, vergewaltigt, erwürgt und im Wasser entsorgt worden.

Wolff ging auf ein Mineralwasser zur Bar. Sein Kollege stand bereits da und trank Tee.

»Na?«

Sven zuckte die Schultern. Mehr war nicht nötig.

»Gönn dir noch ’ne Mütze Schlaf«, sagte Wolff, aber er wusste, dass Sven in die Direktion fahren und den ersten Bericht tippen würde. Es war drei Uhr in der Nacht.

Hier war für sie nichts mehr zu tun. Wolff gab dem Kapitän die Erlaubnis zur Weiterfahrt und ließ sich ans Ufer bringen.

Ein Kollege von der Schutzpolizei saß im Laderaum eines Polizeikombis. Wolff trat zu ihm und bekam einen Becher Kaffee. Dann setzte er sich auf die Stufen und beobachtete die Kollegen von der Spurensicherung, die die Tote auf einer Plane abgelegt hatten. Der Polizeifotograf stellte seine Lampen und Geräte auf. Im Scheinwerferlicht sah Wolff das auffällig rote, lange Haar, das um Hals und Brust der Toten klebte.

Das rote Haar erinnerte ihn an das rotblonde Haar von Katja Eickelbaum, Oberkommissarin und dynamisches Mitglied seines Teams. Bis sie bei einem Streit mit ihrem angetrunkenen Freund ausgerastet war und ihn in Jiu-Jitsu-Technik so heftig angegriffen hatte, dass der Typ mit dem Kopf auf der Tischplatte und dann auf dem Steinboden aufschlug. Die Strafanzeige seines Rechtsanwalts lautete auf versuchten Totschlag. Der Direktionsleiter hatte Katja zwangsweise vom Dienst beurlaubt, bis der Vorwurf geklärt wäre. Wolff seufzte. Er wollte Katja zurück im Team haben.

Die Kollegen von der Spusi hatten den Stoff vom unteren Teil der Leiche entfernt und waren dabei, Proben vom Laken und der Bekleidung zu nehmen, nach Anhaftungen unter den Fingernägeln und am Körper zu suchen. Erst dann wäre er an der Reihe. Wolff wollte die Tote sehen, und zwar nicht erst auf dem Seziertisch der Rechtsmedizin, gereinigt, nackt, aufgeschnitten. Er schlürfte den heißen Kaffee und bemühte sich um Geduld.

Das rote Haar lag jetzt ausgebreitet wie ein Fächer um den Kopf der toten Frau. Wieder dachte Wolff an Katja. Nach dem Streit mit ihrem Freund war sie in die Direktion geflüchtet und hatte ausgerechnet auf Wolffs Chaiselongue in einer Ecke seines Dienstzimmers übernachten wollen. Er war nichtsahnend hinzugekommen, wollte in der Abschlussphase eines Mordfalls noch war recherchieren.

Auf seiner Chaiselongue lag Katja und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an.

»Was machst du denn hier?« Blöde Frage. Katja wäre bestimmt nicht hier, wenn sie in ihrem eigenen Bett schlafen könnte.

»Zoff«, sagte sie schluchzend. »Er war betrunken, hat mich angebrüllt und geschüttelt, dass ich keine Überstunden mache, sondern mich rumtreibe. Dann ist er auf mich los … Und dann hab ich ihm eine verpasst.«

»Und?«

»Er ist gestolpert, mit dem Kopf auf den Steinboden. Total viel Blut.«

»Tot ist er aber nicht?«

Heftiges Kopfschütteln. »Mein Gott, ich hätt ihn umbringen können!« Das Schluchzen schüttelte sie geradezu. »Er zeigt mich an. Ich fliege raus.«

Dann hatten sie zur Beruhigung Alkohol getrunken. »Schwarzer Kirschgeist, hat meine Mutter gebraut.«

Dann hatte sie ihn aufgefordert, sich neben sie zu setzen.

»Es war doch bestimmt Notwehr, Katja?«

»Weiß nicht, ging alles so schnell.« Sie kroch heran, als suche sie Schutz, näher, noch näher.

»Ist ja gut.« Ihm blieb nichts übrig, als sie in die Arme zu nehmen.

»Hab gar nicht gewusst, dass du so nett sein kannst.« Ihre Nase bohrte sich in sein Ohr.

Er spürte ihren Atem wie einen warmen, zarten Hauch. Der Drang zur Vernunft wurde kleiner.

Katja griff in seine Haare. »Man kann so schön darin wühlen.«

Er ließ sie machen. Es war zu spät. Ihre verweinten Züge hatten sich gelöst, ihre Verspannung wich. Da sah er, dass ihr helles T-Shirt fleckig war. Rotfleckig.

»Ich hatte mein Rotweinglas stehen, er hat es genommen und gegen mich … ach, egal jetzt.«

Ein geschleudertes Glas war ein Angriff. Katja durfte Notwehr üben. Das fleckige Shirt sollte aus. Es zeugte von Gewalt gegen eine Frau. Das Gefühl, einen Fehler zu machen, war verflogen. Ein anderes Gefühl war da, das jeden Gedanken an den herannahenden Arbeitstag verdrängte. Das Shirt ist ein Beweismittel, war der letzte Gedanke, den sein Kriminalistengehirn ihm funkte. Dann war er bei ihr.

Sie flüchteten zueinander. Katja, weg von ihrem gewalttätigen Mann, hin zu Zärtlichkeit, Wärme, Schutz. Er, weg von dem Gedanken an den Fehler, den er machte, hin zum Augenblick voll Lust. Nichts anderes war mehr da als eine riesige Kraft, die ihn zu ihr trieb und sie zu ihm. Sie versanken ineinander, er in ihr, sie in ihm.

»Kati«, sagte er und lächelte.

»Hey, Uwe.«

»Hey, bist du eingepennt?«

Einen kleinen Augenblick lang saß Wolff noch auf den Stufen des Streifenwagens, die steifen Finger um den Kaffeebecher gelegt, dachte an blitzende grüne Augen und sehnte sich danach, sein Gesicht in Katjas rotblondes Haar zu versenken.

Die Spusi war fertig. Wolff ging zur Leiche. Wie immer vermied er zunächst den Blick in die toten Augen und betrachtete das neben der Toten liegende Laken. Der Mörder hatte die Frau eingewickelt, um sie vom Tatort wegzuschaffen, hatte sie mit Steinen beschwert, weit oberhalb der Fundstelle in die Havel geworfen. Das obere Laken hatte sich im Wasser gelöst. Die Frau hatte ein schwarzes Sporthemd an und Funktionsunterwäsche mit Leggins. Joggerin, dachte Wolff.

Deutlich war ein roter Striemen um den Hals zu erkennen. Todesart klar. Die Frau war mit einem Draht erdrosselt worden.

Wolff hockte sich neben die Leiche und hielt eine Weile still. Trotz langer Gewöhnung an den Tod fühlte er sich beklommen. Das nasse rote Haar täuschte eine unwirkliche Lebendigkeit vor. Die grauweiße Haut von Gesicht und Händen, wegen der Kälte noch wenig aufgedunsen, wirkte dagegen künstlich wie schmutziges Plastik. Dann machte er einige Fotos mit dem Handy. Die hellgrünen, trüben Augen würde er so lange vor sich sehen, bis er den Täter hätte.

4.

Eine erhobene Faust im Direktangriff.

»Du betrügst mich«, schreit der Mann. Er hat ein Messer in der Faust. Es glänzt und funkelt.

»Ich verlasse dich«, sagt sie.

Der Mann kommt auf sie zu, bleckt die Zähne. Gleich hat er sie verschlungen.

»Hau ab. Du bist besoffen.«

Der Mann schwingt das Messer. »Na, Kommissarin, jetzt hilft die Knarre nicht mehr.«

»Uwe, Hilfe!«

»Zu spät«, grinst er.

»U-we-he!« Ihre Stimme erstirbt. Das Messer glitzert. Gleich ritzt es ihre Haut.

Ein Knall. Sie hat geschossen.

Er kippt um. Alles wird blutrot.

»Du bekommst deine Strafe noch.« Eine metallisch hallende Stimme. »Lebenslänglich.« Schlüsseldrehen im Schloss.

Alles wird schwarz und eng. Gefangen. Immer enger wird es. Sie kann nicht mehr atmen. Aus. Tot.

»Hilfe!« Katja Eickelbaum fuhr hoch. Zugleich sprang Moritz, der schwarzweiße Kater, von ihrer Bettdecke. »Nichts als ein Traum«, flüsterte sie, »ich hab ihn nicht umgebracht.« Ihr Herz raste.

Sie legte sich zurück ins Kissen. Ihr war übel von den Schlaftabletten, die sie seit dem schrecklichen Abend nahm, um die Nächte zu überstehen, dazu Rotwein. Katja rollte auf die Seite, stöhnte auf, als sich das Zimmer um sie drehte und ätzendes Sod­brennen hochstieg. Vorsichtig erhob sie sich, schlich den Flur entlang zum Bad, füllte das Zahnputzglas mit kaltem Wasser, trank. Ihr Gesicht im Spiegel war bleich, ihre Lippen blass, das rotblonde Haar strähnig.

Des versuchten Totschlags an ihrem Freund beschuldigt! Was für eine Katastrophe für eine Kommissarin.

5.

Zur selben Zeit holte Wolff sich das letzte Stück Kirschstreusel, seinen Lieblingskuchen, aus dem Kühlschrank in der Kaffeeküche. Auf dem Weg von der Glienicker Brücke zum Polizeirevier Potsdam in der Henning-von-Tresckow-Straße hatte er überlegt, noch einen Abstecher ins Bett zu machen. Es war kurz vor sechs, stockdunkel und feuchtkalt. Ich bin auf Arbeit, dachte er dann, des Gedankens kurzer Sinn: Die Nacht ist dahin.

Er betrat sein Dienstzimmer, schaltete das gesamte Licht an in der Hoffnung, dass ihn die Helligkeit wach halten würde, bis die ersten Erkenntnisse kämen. Er fuhr den PC hoch, sah, dass Sven bereits den Einsatzbericht geschickt hatte. Das Lesen ersparte sich Wolff, er hatte genug von der angetrunkenen Truppe auf dem Ausflugsdampfer.

Ein Smiley sprang ihm entgegen. Seit Katja zwangsweise vom Dienst beurlaubt war, schickte sie ständig Fotos von Dingen, die Wolff nie fotografiert hätte. Ein Teller mit Schweinebraten und Kraut, zubereitet von seiner Mutter. Er selbst hatte Katja nach dem Drama angeboten, vorübergehend zu seiner Mutter auf deren Bauernhof bei Belzig zu ziehen. Aber mit Details des monotonen ländlichen Lebens wollte er nicht ständig konfrontiert werden, er kannte es aus seiner Kindheit. Ein Foto von einer weiten winterleeren Landschaft deprimierte Wolff geradezu. War er zu weit gegangen, die plötzlich wohnungslose Katja zu seiner Mutter zu schicken? Verstand sie das als familiäre Zugehörigkeit und Aufforderung, sein Postfach mit grafischen Darstellungen unterschiedlicher Gesichtsausdrücke zu fluten? Das heutige Smiley zeigte schockiert aufgerissene Augen, eine blaue Träne und einen offenen Schlund. Wolff löschte das traurige Gesicht, machte die Kaffeemaschine an, stellte den Kirschkuchen auf seinen Besprechungstisch. Wie gern hätte er sich jetzt auf seiner Chaiselongue ausgestreckt. Die Tschäselong, Hinterlassenschaft seiner Großeltern, hatte viele Jahre auf dem Dachboden gestanden, bis er sich an sie erinnerte und bemerkte, dass sie sich wunderbar für eine kurze Pause eignete. Aber nach der fatalen aufregenden Nacht mit Katja auf weinrotem Samt hatte er die Tschäse aus seinem Dienstzimmer entfernt.

Wolff lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und schloss die Augen. Da klopfte es. Nach kurzer Wartezeit trat Sven ein und räusperte sich betont.

»Bin müde«, knurrte Wolff. »Oder hast du eine brandheiße Neuigkeit?«

»Ich habe beim Vermisstendezernat nachgefragt, ob eine Person gesucht wird, deren Beschreibung auf die tote Frau passt«, sagte Sven in seinem akkuraten Polizeischuldeutsch.

»Das nennst du brandheiß?«

»Ich habe noch etwas. Aber das kann ich dir natürlich auch später erzählen.«

Sven blieb stehen. Er war jetzt ein Jahr im Kommissariat und ließ sich nicht mehr so leicht einschüchtern. Wahrscheinlich der Einfluss von Katja, die sich nie von einem Vorgesetzten davon abhalten ließ, ihre Ermittlungen wortreich zu schildern. Wolff dachte an aufgerissene grüne Augen und hochgezogene Brauen.

»Nun mach schon.« Er verschränkte die Arme hinter dem Nacken.

»Vermisst wird eine chinesische Touristin, die zuletzt im Park Sanssouci gesehen wurde. Außerdem ist eine vierundsechzigjährige Hausfrau nach dem Einkaufen nicht zurückgekommen«, berichtete Sven ausgiebig, anscheinend, um es spannend zu machen. »Gestern Abend ist eine Sechzehnjährige nach der Disco verschwunden.«

Wolff rieb sich die Augen und gähnte. »Wir haben einen Mord an einer Frau zwischen dreißig und vierzig mit roten Haaren aufzuklären.«

Sven setzte sich an den langen weißen Tisch. Drumherum standen zwölf Stühle für die morgendlichen Besprechungen aller Mitglieder des Kommissariats. Der junge Kollege zeigte jetzt ein kleines stolzes Lächeln.

»Ich habe noch mal alle Direktionen durchtelefoniert, ob nicht frisch eine Vermisstenanzeige eingegangen ist.« Kurze Pause. »Eine Journalistin von trendy …« Er fügte offensichtlich für seinen weltfremden Vorgesetzten hinzu: »trendy ist eine Life­style-Zeitschrift. Also die Journalistin ist gestern frühmorgens zum Joggen gegangen und nicht zurückgekehrt. Die Hauswartsfrau, Edith Krawitz heißt sie, fand es merkwürdig, dass sie von der Journalistin nichts mehr gehört und gesehen hat. Kein Licht in der Wohnung, kein Geräusch, nichts.«

Joggerin? Wolff schoss geradezu hoch in aufrechte Stellung. »Wie heißt diese Journalistin? Wie alt? Besondere Merkmale?« Um nicht unruhig zu wirken, ging er zum Whiteboard, auf dem er die wesentlichen Ermittlungsschritte vermerkte.

»Die Journalistin heißt Britta Fuchs. Ich weiß natürlich nicht, ob das unsere Leiche ist, aber …«

»Nun nimm dir schon Kaffee und Kuchen«, knurrte Wolff. »Hat die Hauswartsfrau sie nicht beschrieben?«

»Ja, doch. Ungefähr Mitte dreißig.«

»Haarfarbe?«

»Frau Krawitz hat gesagt …« Sven zeigte einen in die Höhe gestreckten Daumen, »das Auffälligste an Britta Fuchs sind ihre langen roten Haare.«

Wolff spürte, wie eine Welle ihn durchfuhr. Britta Fuchs, Journalistin, schrieb er ans Whiteboard. trendy.

»trendy ist ein Klatschblatt«, berichtete Sven. »Mode, Rezepte, ein bisschen populäre Medizin, Psychologie und vor allem Prominenten-Geschichten, echte oder erfundene.«

»Okay. Fahr zu der Krawitz und nimm ein Foto von der Rechtsmedizin mit. Nur vom Kopf. Doris Bahlke soll dir ein schönes Foto machen.« Die Rechtsmedizinerin war Wolffs alte Freundin. Nach kurzer gemeinsamer Vergangenheit vor dreißig Jahren war eine bewährte kameradschaftliche Verbundenheit zwischen ihnen entstanden.

Sven zeigte ein leichtes Grinsen. »Einen aufgeklappten Schädel zeige ich der Frau Krawitz bestimmt nicht.«

6.

Emma von Burgsdorff lockerte ihr Gummi, das ihre dunkelbraunen Haare zusammenhielt, und seufzte leise. Schon wieder dieses Druckgefühl im Kopf, das manchmal mit einer Pause und Entspannung der Gesichtsmuskulatur zu lösen war, sich aber auch zu einer Migräne auswachsen konnte. Emma ließ den Pinsel sinken, trat einen Schritt von ihrer Staffelei zurück, betrachtete ihr Werk. Es hieß »Der Kuss« und zeigte eine junge Frau und einen jungen Mann, die sich unter einer Gewitterfront umarmten, um sie herum eine riesige irisierende Seifenblase. Irgendwann würde sie zerplatzen, das wusste Emma aus eigener schmerzlicher Erfahrung, und das Paar würde nicht mehr küssen und die Lichter der Stadt im Hintergrund würden nicht mehr verführerisch schillern.

Hör auf, du undankbare Frau, befahl sich Emma. Wer in ihrer Situation unglücklich war, dem war nicht zu helfen. Studentin an der größten Kunsthochschule Europas, Universität der Künste Berlin, mittlerweile im sechzehnten Semester, ohne die Urlaubssemester, in denen sie sich nach dem Tod ihres Großvaters in die Verwaltung von dessen großen Kunstbesitz und Kunsthandel eingearbeitet hatte. Emmas Vater hatte die Dreigenerationenfolge unterbrochen, wollte nicht ererbte Kunstgegenstände sammeln oder gewinnbringend verkaufen, sondern hatte in seinen Dreißigern ihre Mutter verlassen, um Gastwirt auf Formentera zu werden.

Emma ließ sich in den Ohrensessel fallen, auch ein Erbstück, so wie dieses mit Antiquitäten vollgestellte Riesenhaus, das die Aura von satter Bürgerlichkeit, altem Geld und einer gewissen Weltfremdheit verbreitete.

Sie lebte wieder allein. Vor zwei Monaten hatte sie sich von Marc getrennt, der hier probeweise ein Gästezimmer bewohnt hatte. Sie war verliebt, er witterte ein lukratives Geschäft. Marc, angeblich für die Öffentlichkeitsarbeit einer Hotelkette verantwortlich, spazierte in die Galerie von Arthur Kamphausen, Emmas väterlichem Freund und Berater, herein, die sie zuvor betreten hatte. Tatsächlich war er ihr gefolgt, weil er vorher Erkundigungen eingezogen hatte. Marc war zehn Jahre älter als sie, um Dimensionen tüchtiger, weil er nichts als seine einfache Herkunft abstreifen wollte und Emma als geeignete Vermittlerin zum besseren Leben erblickt hatte. Sie bemerkte es zu spät. Marc hatte einen wunderbar offenen Blick, gab sich höflich und charmant, fixierte nicht Busen und Po, sondern machte ein Kompliment über Emmas schöne Hände mit den langen Fingern, ihre nette Art zu lachen. Er wirkte selbstsicher und ließ schon bei den ersten Treffen keine Zweifel aufkommen, dass Emma die Frau wäre, auf die er gewartet hatte. Und sie? Verliebt und naiv hatte sie ihre Herkunft aus alteingesessener Familie zur Schau getragen, sich mit einem Artikel im Lifestyle-Magazin trendy gebrüstet: Emma von Burgsdorff auf der Freitreppe unter den Porträts ihrer Vorfahren, im parkähnlichen Garten mit Blick auf den Tiefen See, im farbbesprenkelten Malerkittel vor der Staffelei. Eine freundliche Berichterstattung über die junge, von ihren Eltern verlassene Erbin, die versuchte, ihre künstlerischen Ambitionen mit der Fortführung des Kunsthandels ihres Urgroßvaters und Großvaters zu verbinden.

Nach zwei Wochen lieh Marc sich Geld von ihr, um einen kurzfristigen Engpass in der Finanzierung einer Immobilie zu überbrücken. Das Geld zahlte er vereinbarungsgemäß zurück, auch den nächsten Kredit. Dann aber setzte sich sein Vermögensverwalter mit Marcs Anlagen ab. »Wenn du mir nicht hilfst, bin ich verloren.« Unterdrücktes Schluchzen.

Emotionale Erpressung, hatte Emmas Therapeut das genannt. Emma half ihrem Freund und dann war Marc abgehauen. »Warum haben Sie sich nicht seine Geschäftsräume, seine schicke Penthouse-Wohnung zeigen lassen?«, fragte der Therapeut. »Warum haben Sie seine Freunde und Familie nicht kennengelernt? Warum haben Sie sich nicht einen Schuldschein ausstellen lassen?« Warum, warum?

Emma versuchte, den Schmerz mit exzessivem Malen zu betäuben, musste sich aber eingestehen, dass ihr die Leidenschaft fehlte, um vor der Staffelei die Welt zu vergessen. Jetzt male ich aber, sagte sie sich immer wieder, legte den Kittel an, nahm Pinsel und Farbe. Emma machte ein paar Alibi-Schwünge auf der Leinwand in Graublau bis Dunkelgrau – das Gewitter über dem küssenden Paar zog sich zusammen – da rief der Galerist Arthur Kamphausen an. Morgen sei die Vernissage eines zeitgenössischen mexikanischen Malers, dessen abstrakte Gemälde hervorragend in ihre Sammlung passen würden. Emma war dankbar für die Ablenkung. Dann könnte sie Kamphausen, ihren Kunstberater, auch gleich fragen, ob er die Erhöhung der Versicherungsprämie für die Frauenporträts von Orlowsky für angemessen hielt. Emma reinigte ihre Pinsel mit Künstlerseife, steckte sie in die Malertasche und nahm sich vor, alsbald weiterzumalen und keine Gedanken mehr an ihr Liebesdesaster mit Marc zu verschwenden.

Auf den Treppenstufen, die zum Eingang der Galerie Kamphausen führten, standen Kübel mit immergrünen Lorbeerbüschen, die trotz des grauen nassen Wetters eine südländische Atmosphäre verbreiteten. Die Tür war angelehnt. Der Galerist öffnete seine Ausstellungsräume von zehn bis sechs und ließ auch zufällig vorbeikommende Passanten in Ruhe die Exponate anschauen.

Emma schätzte Kamphausen, er gehörte zu den alteingesessenen Galeristen, die das Auf und Ab in der Kunstszene wirtschaftlich gut überstanden hatten. Arthur, der früher selbst gemalt hatte, war nicht nur der eiskalte Geschäftemacher, der Kunstgegenstände als Ware dealte, sondern bot öfter einen unbekannten Künstler zu Einsteigerpreisen an, um eine Nachfrage zu schaffen. Emma wusste, dass manche Künstler unrealistische Vorstellungen hatten, und öfter musste sie Kamphausen zu Hilfe rufen, damit er einen angemessenen Preis für ein Werk schätzte. Kunst und Knete, dachte Emma bewundernd, die Mischung hat Arthur perfekt drauf.

Kamphausen kam diesmal nicht in den Ausstellungsraum, was Emma verwunderte, sie hatte sich doch telefonisch angekündigt. Sie schlenderte umher, betrachtete die von einer Malerin aus Dresden auf die Leinwand gebrachten Landschaftseindrücke. Die Ateliers und Galerien in Leipzig, Halle und Dresden galten mittlerweile in Sammlerkreisen als erste Adresse. Voller Neid las Emma, dass die Malerin 1990 geboren war, genauso wie sie selbst. Abends zog die bestimmt die Kellnerschürze über, um sich ihre Kunst leisten zu können. Emma selbst lebte im Luxus, konnte ohne finanziellen Druck malen. Arthur hätte auch ihre Werke ausgestellt – hätte, hätte …

Emma verließ den Ausstellungsraum durch eine Flügeltür, die nur angelehnt war.

»Arthur«, rief sie mehrfach, »ich bin’s, Emma.« Sie stieg die Treppe zum ausgebauten Souterrain hinunter, dort lagerte das Geschäftliche der Galerie. »Arthur?«

Sie fand ihn auf einem Schemel sitzend in einem mit Tresoren und Spezialschlössern gesicherten Bunkerraum, in dem Kamphausen die wertvollsten Stücke aufbewahrte. Das helle Licht strahlte auf ein Werk, das auf einem Podest stand. Das Gemälde schien den Galeristen so zu faszinieren, dass er Emma nicht bemerkte. Neben Kamphausen stand ein Glas mit einem funkelnden Getränk. Sie wusste, dass es nur Champagner sein konnte. Wie mit einer neuen, geheimen Geliebten. Wieder spürte Emma Eifersucht, nicht weil sie in Kamphausen verliebt gewesen wäre, sondern auf die starken Gefühle, die Kunst in ihm hervorrufen konnte.

Sie trat an ihn heran und tippte ihm sanft auf die Schulter.

»Emma!« Kamphausen zuckte zusammen. »Ich habe noch gar nicht mit dir gerechnet.«

Sie lachte gezwungen, weil sie den Galeristen unangenehm überrascht hatte. Sie wollte noch einen Blick auf das Gemälde werfen, das Kamphausen so faszinierte, aber er löschte schnell das Licht und sie erkannte nur noch großformatige Umrisse.

»Ich taxiere gerade ein Bild für einen Verkauf an einen arabischen Kunden«, sagte Kamphausen. »Der ist total kunstverrückt und spuckt auch sechsstellige Preise aus für eine Amour fou.«

Er wandte sich ab von dem Bild und stieg die Treppe hoch zu den Ausstellungsräumen.

»Du wolltest mir doch einen Kauf von einem neuen Maler vermitteln«, sagte sie.

»Ah, ja.« Der Galerist lächelte zerstreut, setzte seine auf einem Sekretär liegende Designer-Brille auf und schaltete den PC ein. »Pedro Fernandez. Starke Farben, wuchtige Strichführung. Du kommst doch morgen auf die Vernissage?«

Emma nickte und betrachtete Abbildungen der Werke auf dem Bildschirm. Orangegelb glitzernde Lichter einer Stadt, die sich in Pfützen brachen, weiße Häuschen am Fluss, nach oben und unten in graublaues Wasser und graublauen Himmel verlaufende Konturen, unterschiedliche Rechtecke in vielen Tönen. Ein einziger Farbenrausch mit unklarer Linienführung und Konturierung.

»Gefällt mir, diese exzessive Art zu malen«, sagte sie.

Aber Kamphausen war schon wieder im Souterrain verschwunden.

7.

Die Frau fixierte ihre Gegnerin, trat an sie heran, beugte die Knie, zog sie aus ihrem Gleichgewicht, hob sie an und warf sie mit kraftvoller Drehung auf den Boden. Es knallte. Hüftwurf. Koshi-waza. Rechtsanwältin Verena Starke war Tori, die Angreiferin. Regelmäßig trainierte sie Judo im Sportstudio Satori in Babelsberg.

Stundenlang hatte sie gegrübelt, wie sie am besten die vom Dienst suspendierte Katja Eickelbaum verteidigen könnte. Wolffs Kollegin sollte versucht haben, ihren Exfreund bei einem Streit zu töten. Eine Verurteilung würde das berufliche Aus für die Oberkommissarin bedeuten. Verena hatte Erfahrung in der Strafverteidigung. Vor zwei Jahren war sie nach Babelsberg gekommen und hatte einen unschuldig in Verdacht geratenen Ehemann einer getöteten Schauspielerin erfolgreich verteidigt. Dumm war nur, dass sie sich fast in den Mann verliebt hätte, der sich später als Mörder herausstellte. Das Ende war blutig und Kommissar Wolff hatte sie bei einer Verfolgungsjagd gerade noch aus der Gewalt des Mörders befreien können. Seitdem bestand zwischen ihr und dem Kommissar eine kollegiale Freundschaft. Jetzt hatte er ihr ein schweres Mandat anvertraut.