Landjäger - Susanne Rüster - E-Book

Landjäger E-Book

Susanne Rüster

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Beschreibung

Ein idyllischer See in Brandenburg. Als die Landrätin Milena Vogt in der Sauna eines Wellnesshotels einen Kreislaufkollaps erleidet, kommt jede Hilfe zu spät. Bei der Obduktion ihrer Leiche wird eine erhöhte Dosis eines Herzmedikaments im Blut festgestellt. Kein Unglück, sondern Mord, der den Potsdamer Kriminalhauptkommissar Uwe Wolff und sein junges Team auf den Plan ruft. Wer könnte ein Motiv gehabt haben, die erfolgreiche Frau zu töten? Kommissar Wolff ermittelt einige Verdächtige: übergangene Bauunternehmer, erboste Umweltaktivisten, politische Neider, aber auch eine undurchsichtige alte Schulfreundin und eine heimliche Liebschaft Vogts. Plötzlich geschieht ein zweiter Mord, der alle Überlegungen in einem neuen Licht erscheinen lässt … Mit Landjäger ist Susanne Rüster ein brisanter Kriminalroman vor dem beschaulichen Hintergrund Potsdams und seiner Umgebung gelungen!

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Susanne Rüster

Landjäger

Ein Potsdam-Krimi

Bild und Heimat

Von Susanne Rüster liegt bei Bild und Heimat außerdem vor:

Abgedreht. Ein Potsdam-Babelsberg-Krimi (2015)

eISBN 978-3-95958-749-5

1. Auflage

© 2017 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: © fotolia

Ein Verlagsverzeichnis schicken wir Ihnen gern:

BEBUG mbH / Verlag Bild und Heimat

Alexanderstr. 1

10178 Berlin

Tel. 030 / 206 109 – 0

www.bild-und-heimat.de

Sonntagnacht

1

Abends gegen zehn, nachdem sich die letzten Badegäste durchs Drehkreuz nach außen gezwängt hatten, war die schönste Zeit. Als Hausmeisterin würde sie jetzt liegengebliebene Latschen, Uhren, Schlüssel in die Kiste mit den Fundsachen legen, auch ein Ehevertrag lagerte mittlerweile darin, dann würde sie prüfen, ob die Sauna-Anlage abgestellt war, und die Wasserqualität messen, die insbesondere am Nacktbadetag zu wünschen übrig ließ. Aber die halbe Stunde, bevor sie all diese Pflichten erfüllen würde, gönnte sie sich. Dann war sie die Königin aller Nixen, konnte auch an den Textiltagen nackt ins sechsunddreißig Grad warme, türkisfarbene Wasser steigen, von drinnen durch den Plastikvorhang ins Außenbecken schwimmen, das sich jetzt in dunklem Graugrün unter dem Nachthimmel ausbreitete. Unter dem Massagepilz ließ sie Wasser auf Kopf und Schultern prasseln. Das Schönste in diesem Bad aber war die Jetstream-Anlage. In den letzten Minuten ihres heimlichen Badens ließ sie sich im Strömungskanal im Kreis um eine Insel mit einer künstlichen Palme treiben. In diesem Augenblick gehörte die Schwimmanlage nur ihr und nicht dem profitgeilen Investor, der daraus eine Luxus-Thermenanlage bauen wollte, für die Geldleute aus Potsdam und Berlin, die nichts als Relaxen im Sinn hatten.

Umso mehr war die Hausmeisterin erstaunt und empört, als sie zu ihrer privaten halben Stunde ins Becken glitt und plötzlich noch einen weiteren Badegast im Jetstream sah, dem es anscheinend ebensolches Vergnügen bereitete, sich im Kreis herum treiben zu lassen. Sie stieg aus dem Wasser, ging zur Glaskabine des Bademeisters und stellte die Scheinwerfer an, um dem späten Gast klarzumachen, dass Feierabend sei, nun aber endgültig. Im Licht der weißen Scheinwerferkegel sah sie, dass es eine Frau war, die im Kreis trieb, das lange blonde Haar wie ein Fächer um den Kopf ausgebreitet. Die starre Bauchlage war ungewöhnlich, die meisten Badenden machten leichte Schwimmbewegungen, um vom Wasserstrom nicht gegen den Beckenrand gepresst zu werden. Ungewöhnlich war auch, dass die Frau sich nicht durch das Aufflammen des hellen Scheinwerferlichts gestört fühlte.

Die Hausmeisterin entschloss sich, die Dame mit sanfter Gewalt herauszulotsen. Sie schwamm hin und sah einen weißen Körper im schwarzen Bikini, der vorbeiglitt, ohne die geringste Bewegung auszuführen, das Gesicht unter Wasser. Noch einmal glitt der Körper vorbei. Hatte sich jemand einen Spaß gemacht und eine Schaufensterpuppe in die Gegenstromanlage gelegt?

Die Frau kreiselte noch weitere Male an der Hausmeisterin vorbei, die sich am Beckenrand festhielt und nicht verstand, was sie da sah. Dann löste sich aus ihrer Kehle ein schriller lang anhaltender Schrei.

2

Es hätte ein guter Feierabend werden können für Kriminalhauptkommissar Uwe Wolff. Pünktlich raus aus der Polizeidirektion Potsdam in der Henning-von-Tresckow-Straße, noch ein Feierabend-Bierchen im Schluckspecht, seiner Altstadt-Kneipe. Wolff pflegte Kontakte zu den Bürgern der Landeshauptstadt, manchmal privat, manchmal dienstlich, plauderte hier, becherte da und hatte sich über die Jahre ein gutes Netz von Informanten und Tippgebern verschafft.

Er beließ es bei einem Hellen, verabschiedete sich vom Wirt mit Handschlag und freute sich auf seine neueste Märklin-Elek­tro-Lokomotive, original nach Baureihe 110 der Deutschen Bundesbahn. Heute Vormittag eingetroffen, das wusste er von der Hauswartsfrau, die das Paket entgegengenommen und ihn dann angerufen hatte.

Mann, fährt die schnell, dachte Wolff begeistert, während er versuchte, auf den Knien seiner in verschlungenen Bahnen ratternden Lok hinterherzurutschen. Seit einer Jagd durch ein Babelsberger Filmstudio, bei der er eine wagemutige Rechtsanwältin vom Messer eines Geiselnehmers befreit hatte und dabei schwer gestürzt war, war das Knie nicht mehr so einsatzfähig. Wird schon wieder, sagte sich Wolff, und die kleine Delle in der Kniescheibe stört ja nicht wirklich. Der Mörder war überführt, die Anwältin gerettet und die errungenen Beweise würden das Strafgericht schon überzeugen. Dessen war sich Wolff sicher, sonst würde er seinen Beruf als sinnlos empfinden.

Die Lok ratterte durch einen Tunnel unter einem baumbestandenen Berg hindurch und hielt an einem Bahnhofshäuschen. Wolff gab der Stellanlage, jetzt digital betrieben, Kommando, einen Intercity durchfahren zu lassen. Gerade als er einen Personenwagen anhängen wollte, ertönte ein durchdringendes Geräusch, das nicht von der Lok stammte. Schrill wie ein Wecker, der zur Unzeit anschlägt. Wolff erhob sich aufstöhnend, wobei er sich sagte, dass dieser Ton in direktem Zusammenhang stand mit dem Beruf, den er sich ausgewählt hatte. Das Display seines Diensthandys zeigte die Nummer seines Kommissars Sven Noack. Das wunderte Wolff, denn eigentlich hatte die Kollegin Katja Eickelbaum mit ihm gemeinsame Rufbereitschaft.

»Was ist denn?«

Sven, mit frischer Bachelor-Urkunde und viel Sozialkompetenz ausgestattet, konterte nicht mit Alles Leiche, oder was?, sondern berichtete in gestochenem Polizeischuldeutsch: »Anruf von der Hausmeisterin eines Schwimmbades in …« Wolff hörte den Kollegen blättern. »… Alt-Stolzendorf.«

»Wo ist das denn?«

»Du fährst über Schwielowsee, Glindow, Plötzin, Damsdorf, Netzen, Rotscherlinde …«

»Ist gut. Was ist passiert?«

»Gegen zehn Uhr hat die Hausmeisterin in der Jetstream-Anlage eine weibliche Leiche entdeckt. Alter geschätzt zwischen dreißig und vierzig. Die Kollegen von der Schutzpolizei und vom Kriminaldauerdienst sind vor Ort. Die Spurensicherung ist unterwegs.«

»Was ist mit Katja?«

Sven druckste ein wenig. »Sie hat mich gebeten, die Bereitschaft für sie zu übernehmen. Es geht ihr nicht gut.«

Wolff fragte nicht weiter. Ihm war aufgefallen, dass Katja ihre frische, engagierte Art in letzter Zeit verloren hatte und nur noch blass und mit Ringen unter den grünen Augen ihre Pflicht tat.

»Soll ich dich abholen, Uwe?«

Wolff überlegte. Bis der Kollege hier wäre, könnte er noch Gleise anbauen. Für die Spur-1-Baureihe im Maßstab eins zu zweiunddreißig brauchte man schon ein ganzes Zimmer. Vorbei die Zeiten, in denen er die Anlage auf dem zugigen Dachboden aufbauen musste oder, wenn seine Exfrau Hannelore gnädig war, sie platzsparend unter dem Tisch entlanglaufen ließ.

»Ich komme in die Direktion.« Wolff hatte das Gefühl, dass Märklin-Eisenbahnen in Svens Generation nahezu unbekannt waren, und sein jüngster Kommissar brauchte nicht seinen begeistert mit der neuen digitalen Steuerung spielenden Vorgesetzten zu sehen.

Wolff probierte schnell noch einen Signalton aus, ließ die Lämpchen an der Bahnstation aufflammen und erhob sich dann seufzend. Das Schwimmbad lag irgendwo weit südwestlich von Potsdam. Er schätzte die Fahrstrecke auf mindestens eine Stunde und als alter Hase wusste er, dass große Eile nicht geboten war, denn zunächst musste der erste Zugriff, das waren Schutzpolizei, polizeilicher Dauerdienst, Spurensicherung, fertig sein. Erst dann würde er an die Leiche herankommen.

Wolff ging in die Küche, wo sein Fall-Koffer stand, bestückt mit einem Laptop, einem Mini-Drucker, damit Protokolle vor Ort ausgedruckt und unterschrieben werden konnten, DNA-Stäbchen, Handschuhen, Fotoapparat. Da war er eisern sorgfältig. Ein Griff, und der Koffer musste bereit sein. Wolff packte seine Notration Essen ein, die in seinen Vierundzwanzig-Stunden-Diensten ebenfalls bereitstand und diesmal aus tiefgefrorenen Brezeln und einer polnischen Dauerwurst bestand. Bis er zum Essen käme, wäre alles aufgetaut. Während er Kaffee in die Thermoskanne füllte, dachte er an Katja und was sie wohl für Probleme hatte. Es war untypisch für die temperamentvolle Mittdreißigerin, dass sie während ihres Dauerdienstes einen Kollegen bat, sie zu vertreten. Und er hatte sich gefreut, dass sie wieder einmal gemeinsam Rufbereitschaft hatten.

Überhaupt denkst du in letzter Zeit ein bisschen zu viel an Katja, sagte Wolff zu sich und griff energisch seinen Fall-Koffer.

3

Die Frau lag mit dem Gesicht nach unten. Ihr Körper schaukelte sacht am Rand des Beckens und ihr helles Haar schlängelte sich in einer absonderlich anmutenden Lebendigkeit im türkisfarbenen Wasser.

Die Kollegen vom ersten Zugriff hatten ihre Arbeit getan. Der Tatort war mit Absperrband gesichert, der Polizeifotograf hatte seine Lampen und Geräte aufgestellt. Zwei Kollegen von der Spurensicherung waren in ihren weißen Schutzanzügen ins Wasser gestiegen und nahmen Proben von Haaren, Haut, Nägeln der Leiche für die Rechtsmedizin.

»Rausziehen?«, fragte einer.

Wolff nickte. Eine Badehose war in seinem Tatort-Koffer nicht enthalten. Die beiden Kollegen nahmen die Tote unter die Achseln, zogen sie aus dem Wasser und drehten ihren Körper her­um. Mit leichtem Schmatzlaut glitt die Leiche auf die Fliesen.

Wolff hockte sich neben die Tote. Er hielt kurz inne. Ein Mensch war tot. Egal, ob er jung gewesen war oder alt, ob gut oder schlecht, einen Augenblick war man still. Er berührte die tote Frau. Ihre Haut wirkte bereits ein wenig schwammig. Wolff spürte, wie alles in ihm auf Wahrnehmung schaltete. Der Auftakt seiner Arbeit: Der Blick auf die Leiche, der erste prägende Eindruck, der motivierte für die mühsame Ermittlungsarbeit.

Sie war eine gutaussehende Frau in den Dreißigern gewesen, schlank, mit langen Gliedmaßen, die trainiert wirkten. Das Oberteil ihres knappen schwarzen Bikinis war verrutscht und gab runde wohlgeformte Brüste frei. Die Leiche wies keine äußeren Zeichen eines Kampfes oder Verletzungen auf. Einzig das Gesicht mit den weit aufgerissenen hellblauen Augen zeugte von den Schrecken des Todes. Wolff spürte eine Aufwallung von Zorn und Mitleid, auch wenn er immer versuchte, sich innerlich von einem Toten zu distanzieren.

»Sie hat was mit dem Herz, nicht?« Eine athletisch gebaute Frau im Trainingsanzug mit lilarotem Bürstenschnitt kam am Schwimmbecken entlang und blieb in größerem Abstand von der Leiche stehen.

»Wer sind Sie?«, fragte Wolff unwirsch.

Im Augenblick gehörte die Leiche ihm. Er hatte keine Lust, seinen ersten Eindruck mit jemand zu teilen, der nicht zur Kripo gehörte. Er berührte kurz den Arm der Toten, eine persönliche Geste. Dann erhob er sich und ging zu der Frau.

»Slavica Kaczmarek, Hausmeisterin.« Sie sprach auf die gedehnte Weise und mit dem rollenden R von Menschen osteuropäischer Muttersprache. Ihre Kinnlade zitterte.

Wolff war sich nicht sicher, ob sich das Entsetzen der Hausmeisterin auf den Tod dieses Badegastes bezog oder ob sie befürchtete, der Ruf des Schwimmbads würde leiden.

»Kennen Sie diese Frau?«

Die Zeugin hob das Kinn und blickte ins Weite. Wolff beschloss, eine härtere Gangart einzulegen. Er nahm die Hausmeisterin am tätowierten Unterarm und führte sie zu der Toten.

»Kam die Frau öfter hierher zum Baden?«

Die Augen der Kaczmarek glitten über die leeren Liegen, die Wasserfläche, den Massagepilz, aus dem es gerade wieder sprudelte. »Da … da …«, sie deutete auf die Insel mit der künstlichen Palme, die noch immer vom Wasser umkreist wurde.

Die ist so durcheinander, dass sie den Jetstream nicht abgestellt hat, dachte Wolff. »Weiter.«

»Dachte, sie hat den Gong nicht gehört, ’ne Viertelstunde, bevor wir zumachen. Waren heute sowieso kaum Leute da, na ja, Sonntagabend. Aber die Frau treibt immer weiter im Kreis …« Ein Schauer durchfuhr sie. »Denn bin ich hin und sehe, sie ist tot. Und denn bin ich sofort aus dem Wasser, Polizei rufen.«

»Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Kennen Sie die Frau?« Wolff hielt die Hausmeisterin am Handgelenk gepackt.

Die Zeugin zwang ihren Blick auf die Tote. Wolff merkte, wie viel Überwindung es sie kostete. Ihre Lippen zitterten, als wolle sie losweinen oder schreien. Dann atmete sie tief aus und zuckte mit den Achseln.

»Weiß nicht … Sieht so anders aus …«

»Anders als wer?«

»Gibt so eine blonde Frau, die kommt öfters, meist abends, geht in die Sauna und trinkt so ’nen Fruchtcocktail. Und gibt immer dickes Trinkgeld.«

»Den Namen dieser Frau wissen Sie nicht?«

»Nein, darf nicht mit Gästen sprechen.«

»Dann suchen Sie mal den Schließfachschlüssel«, sagte Wolff sanfter. »Die Frau ist ja nicht im Bikini hergekommen.«

Die Hausmeisterin nickte ergeben und entfernte sich mit kraftlos herabhängenden Armen.

Eine Frau in einem etwas unförmigen Jogginganzug und Turnschuhen betrat jetzt die Schwimmhalle. Nur an ihrem schwarzen Koffer erkannte Wolff, dass es sich um eine Ärztin handeln musste, die den Tod amtlich feststellen sollte. Sie wirkte so jung, dass er befürchtete, es könnte ihr erstes Mordopfer sein.

»Gute Nacht, nein, ich meine guten Morgen. Ich hatte schon geschlafen«, sagte die Ärztin verlegen und strich sich eine braune Locke hinters Ohr. Über dem Ausschnitt ihrer Jacke war ein Stückchen rosa-geblümter Schlafanzug zu sehen. »Was ist denn passiert?«

Wolff zuckte übertrieben deutlich die Achseln und dachte, dass diese junge Landärztin wahrscheinlich nur an natürliche Todesfälle gewöhnt war. »Die Frau wurde von der Hausmeisterin tot im Schwimmbecken gefunden, keine äußeren Einwirkungen erkennbar.«

Die junge Ärztin klappte ihren Koffer auf und kniete neben der Toten nieder. »Anhand der Körpertemperatur können wir den Todeszeitpunkt nicht feststellen. Sie hat im Wasser gelegen, das hat über dreißig Grad.« Sie zog dünne Gummihandschuhe über und beugte vorsichtig den schlaffen Arm der Toten. »Vermutlich Kreislaufkollaps mit Herzversagen. Genaueres werden Sie aus der Obduktion erfahren.«

Zwischenzeitlich war Wolffs Kollege Sven Noack in die Schwimmhalle gekommen. Er hatte draußen die Erkenntnisse des ersten Zugriffs erfragt und seinen Bericht angefangen. Sven zog sich Schuhe und Strümpfe aus, rollte seine Jeans hoch und putzte mit einem Taschentuch seine vom Wasserdampf beschlagene Brille. Seine allergisch reagierenden Augen vertrugen nicht immer die Kontaktlinsen.

»Du kümmerst dich um die Ärztin«, sagte Wolff.

Der Kommissar nickte. Sven war aus Köln und wollte mal im Land seiner Vorfahren arbeiten, so hatte er seinen Wechsel nach Potsdam begründet. Er sprach immer positiv und Wolff hatte noch nicht herausbekommen, ob Sven sich das so anerzogen hatte oder ob er wirklich so ein Optimist war. Vielleicht versprach sich der Kollege, der bei einer Massenprügelei zwischen Ausländern und Rechtsextremen am Kölner Hauptbahnhof verletzt worden war, hier in Brandenburg ein ruhiges Leben. Auch wenn er die Einschätzung der provinziellen Ruhe nicht teilte, war Wolff froh über den intelligenten einsatzbereiten Nachwuchs. Mit seiner besonnenen Art zwang Sven Noack die manchmal chaotisch drauflos ermittelnde Katja und auch ihn selbst zur Kontrolle.

»Ich schau mal, ob die Hausmeisterin den Schlüssel der Toten gefunden hat. Dass nicht vorher noch das Schließfach ausgeräumt wird«, sagte Wolff. Er schwitzte in seiner Jacke, in deren tiefen Taschen er das Wichtigste bei sich trug: Handy, Schraubenzieher, Dietriche, Schreibzeug und neuerdings die Lesebrille.

Sven ging zu der Ärztin, die gerade mit einer Taschenlampe der Toten in Mund und Nasenlöcher leuchtete, und stellte sich vor. Wolff unterdrückte den Impuls, Sven gegenüber noch Anweisungen zu treffen. Er arbeitete im Team und nicht als Alleingänger, sagte er sich, auch wenn’s schwerfiel. Der Kollege würde die Feststellungen der Ärztin beobachten und bis zum Abtransport bei der Leiche bleiben.

Wolff wandte sich noch einmal um. Eine gespenstische Szene. Die Leiche, die aus einigem Abstand wie eine etwas schmuddelige Schaufensterpuppe wirkte, die nassen blonden Haare ausgebreitet auf den Fliesen, der Polizeifotograf, der die Tote aus allen Winkeln aufnahm, das im weißen Scheinwerferlicht glitzernde Wasser und im Hintergrund ein Pilz aus Dampf, der in der kühlen Nacht aus dem beheizten Außenbecken in den schwarzen Himmel stieg. Er machte mit dem Handy ein paar Aufnahmen. Die Fotos würde er sich immer mal ansehen, bis der Fall gelöst war.

Die Hausmeisterin kam ihm entgegen. »Ich hab ihn«, rief sie von weitem und schwenkte den Schlüssel. »Nummer zweihundertfünfundvierzig, direkt am Eingang zum Becken. Gutes Fach«, sagte sie mit etwas Stolz, der Polizei zu helfen.

»Geben Sie her.« Wolff nahm den Schlüssel an sich. »Wir machen jetzt gleich das Protokoll. Ich schreibe auf, was Sie mir gesagt haben.«

»Aber nicht, dass ich vorher gebadet habe? Das ist nämlich verboten.« Slavicas Mundwinkel zuckten.

»Ich schreibe, dass Sie ins Wasser sind, weil Sie eine Frau entdeckt hatten, die leblos in der Gegenstromanlage schwamm.«

»Okay.« Die Hausmeisterin ging Wolff voraus zur Kabine des Bademeisters. Ihre Badesandalen klatschten auf den Fliesen.

Drinnen war es ein wenig kühler, wenn auch der Chlorgeruch bis hierhin durchdrang. Wolff holte unter ihrem neugierigen Blick seinen Laptop und den kleinen Drucker aus seinem Fall-Koffer.

Slavica Kaczmarek stammte aus Polen und arbeitete seit fünf Jahren als Hausmeisterin in der Schwimmhalle, in Vollzeit und unbefristet, wie sie stolz hinzufügte. Dann verdunkelte sich ihr Gesicht.

»Ich hab so Angst vor Kündigung.« Sie wischte eine Träne aus dem Auge. »Das Bad ist verkauft und es soll ganz groß ausgebaut werden.«

Investitionsobjekt, notierte Wolff im Geist.

Er hatte sein Protokoll beendet, als er durchs Fenster eine andere Frau die Schwimmhalle betreten sah. Sie trug keine Arbeitskleidung, sondern ein beigefarbenes gerade geschnittenes Kleid ohne Ärmel.

»Die Chefin«, sagte Slavica Kaczmarek durch die Zähne und verschränkte ihre tätowierten Arme.

Aha, dachte Wolff, die Investorengesellschaft ist alarmiert.

Eine trotz der Nachtstunde schön zurechtgemachte Frau trat in die Kabine. Sie war in einem schwer schätzbaren Alter, irgendwo zwischen vierzig und fünfzig, hatte ein helles Gesicht, braune, mit dunklem Lidstrich umrahmte Augen und kinnlanges dunkelbraunes Haar.

»Linda Haas-Bergmann.« Sie reichte Wolff die Hand und lächelte. Ihr Augenlid zuckte. »Ich bin die Geschäftsführerin der Investorengesellschaft Brandenburg-Therme.«

»Schreckliche Sache«, sagte Wolff. »Ich würde mich gern ein wenig mit Ihnen unterhalten.«

»Kann das Wasser abgelassen werden? Niemand schwimmt gern in einem Becken, in dem …« Die Frau schüttelte sich.

»Warten Sie, bis die Spurensicherung fertig ist.« Die Kollegen waren gerade in den Sanitärräumen.

»Wird denn bald wieder aufgemacht?«, fragte Slavica ängstlich.

Wolff mutmaßte, dass sie nur bezahlt wurde, wenn sie auch wirklich arbeitete. Haas-Bergmann blickte unsicher zu Wolff.

»Ihre Entscheidung«, sagte er. »Unsere Ermittlungen hier sind fast abgeschlossen. Überlegen Sie, was Sie in die Öffentlichkeit geben wollen. Morgen früh sind die Medien am Ball.«

Haas-Bergmann stöhnte auf. »Sie wissen sicher, dass hier in Alt-Stolzendorf ein großes Wellness-Zentrum entstehen soll, unter Einbeziehung dieser Schwimmanlage. Sie muss modernisiert und erweitert werden.«

»Ich habe davon gehört«, sagte Wolff. Er hatte die Meldung als uninteressant abgetan, aber jetzt interessierte es ihn brennend. Es gab immer Gegner von großen Investorenprojekten. Slavica Kaczmarek hatte Angst um ihren Arbeitsplatz, andere würden vermutlich auch Angst haben. Und eine Frau war genau hier getötet worden.

»Sie gehen an Ihre Arbeit«, sagte Haas-Bergmann zu der Hausmeisterin, die mit einer Mischung aus Neugier und Angst ihre Chefin beobachtete.

Slavica zog ab. Wolff hörte jetzt Stimmen, Schränke, die geöffnet und geschlossen wurden, Motorengeräusche von den Feuchtstaubsaugern. Der Putzdienst war eingetroffen.

Haas-Bergmann ließ sich auf den Drehstuhl des Bademeisters fallen und streckte ihre langen Beine aus.

»Sie könnten mir schnell die Anlage zeigen«, sagte Wolff.

Die Geschäftsführerin erhob sich widerwillig. »Sind Sie sicher, dass das mit der Frau … Ich meine, ist das wirklich Mord?«

Im Neonlicht sah Wolff nicht nur die Jahre in ihrem perfekt zurechtgemachten Gesicht, sondern auch die Anspannung. »Ich stehe erst am Anfang der Ermittlungen.«

Linda Haas-Bergmann sah ihn prüfend an, anscheinend nicht gewohnt, dass man auf eine Frage von ihr nicht direkt antwortete. Dann wandte sie ihm den Rücken zu, ging voraus, einen gefliesten Gang entlang. Als ein Polizist im weißen Schutzanzug aus dem Sanitärbereich trat, zuckte sie zusammen.

»Spurensicherung?« Ihr Gesicht wirkte trotz der Schminke fahl.

»Die Kollegen müssen in alle Bereiche, in denen die Tote auch gewesen sein könnte«, sagte Wolff. »Aber sie sind geschickt und schnell. Morgen um zehn können Sie öffnen.«

Von einem Podest führten Treppen nach oben. »Hier wird alles umgebaut für eine Sauna-Landschaft mit einer Kristall-, einer Rosenquarz- und einer Smaragdsauna«, sagte Haas-Bergmann.

Wolff überlegte, was eine Sauna mit Edelsteinen zu tun haben könnte.

»Hier wird man nach dem Umbau Spezialaufgüsse anbieten, etwa eine Heu-, Salz- und Eukalyptussauna. Daneben entstehen zwei Dampfbäder, ein Whirlpool, ein Natursole-Gesundheitsbecken, ein Wüstenraum und eine Schneekammer, das Ganze von Farbspielen beleuchtet.« Die Stimme der Frau klang im Vergleich zu den angepriesenen vielfältigen Wellness-Angeboten merkwürdig monoton, als erkläre sie zum hundertsten Mal eine Sehenswürdigkeit.

»Wunderschön«, sagte Wolff ironisch.

Sie standen auf der Galerie. Unten lag das Innenbecken, durch große Fenster war der Außenpool mit der Jetstream-Anlage zu sehen, die jetzt abgestellt war. Das rot-weiße Absperrband war noch gespannt. Wolff sah, dass die junge Ärztin offensichtlich mit ihrer Untersuchung fertig war und von Sven zum Ausgang geleitet wurde. Die Tote war mit einem grünen Tuch bedeckt und würde von den Fahrern der Rechtsmedizin auf eine Bahre gelegt und abtransportiert werden.

Von der Seite bemerkte Wolff, dass Haas-Bergmann die Lippen zusammenpresste. »Wo war ich stehen geblieben?«, sagte sie dann heiser und räusperte sich. »Ach ja, die geplante Neugestaltung des Schwimmbades soll auch vom Stil her mehr in das neue Wellness-Zentrum passen. Ins Erdgeschoss kommen Räume für ärztliche und physiotherapeutische Behandlungen, ein Lesesaal und Veranstaltungsräume für Events und Gastronomie, im Obergeschoss gibt es eine Lounge und auf dem Dach eine begrünte Terrasse. Natürlich muss auch hier ein größerer Barbetrieb für die Sauna-Besucher her.«

»Da werden die Anwohner ja begeistert von den neuen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung sein«, bemerkte Wolff.

Die Frau blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. Wolff war sicher, dass sie seine Ironie verstand, aber nicht darauf einging.

»Ich führe ständig Gespräche mit Behörden und Aktivisten aus der Gegend. Public Private Partnership.« Sie dehnte den Begriff in die Länge. »Das Bauwerk soll ja zu Alt-Stolzendorf passen. Ich trage den Titel Beraterin für landschaftsgebundene Ästhetik.« Sie lachte kurz auf, ohne dass ihr Gesicht sich bewegte.

Wolff betrachtete ihre schmale Figur in dem gerade fallenden, eleganten Kleid und hätte gern gewusst, ob diese Frau mit Leib und Seele hinter der geplanten Großanlage stand. Es lag eine Distanz in ihrer Stimme, aber vielleicht war das auch Überarbeitung und Müdigkeit einer nachts herausgeklingelten Geschäftsfrau.

»Setzen wir uns ins Restaurant. Ich könnte einen Kaffee gebrauchen.« Sie ging voraus, winkte eine Putzfrau heran und ließ sich die gläserne Tür zum Bistro öffnen. »Zum Glück weiß ich, wie die Cappuccino-Maschine funktioniert.« Zum ersten Mal sah Wolff ein kleines Lächeln. »Möchten Sie auch einen?«

Wäre es unpassend, das Angebot anzunehmen? Immerhin war er an einem Tatort und Frau Haas-Bergmann eine Zeugin. Andererseits spürte Wolff Müdigkeit hochsteigen und seine Thermoskanne lag unten in Svens Auto. Er nickte gnädig und die Frau stellte ihm einen perfekten Cappuccino hin.

»Wer ist eigentlich Eigentümer des Geländes?«

Sie blickte ihn mit prüfenden braunen Augen an. »Eine Trägergesellschaft hat dieses Areal erworben, um die Wellness-Anlage zu bauen, nachdem der Landrat einen Flächennutzungsplan gemacht hat.« Sie griff ihre weiße Tasse, hielt die Nase hinein, schnupperte, eine unbefangene Geste, die nicht recht zu dem kühlen Gesamteindruck passte. »Mein Mann Lars Bergmann ist der Projektentwickler.«

»Er ist vermutlich auch Geschäftsführer der Trägergesellschaft?« Im Geist notierte Wolff den Namen Lars Bergmann.

»Lars ist der Initiator und Geschäftsführer, das ist so üblich. Es wird Land gekauft, gebaut und das fertige Objekt dann an Investoren verkauft. Diese vermieten oder verpachten dann an Gastronomen, Ladenbesitzer, Fitnessanbieter.« Die Frau zeigte ein breites Lächeln, das Wolff nicht echt erschien. »Mein Mann kommt morgen von einer Geschäftsreise zurück. O Gott, und jetzt auch noch dieser … nun ja … Unglücksfall. Als hätten wir nicht schon genug Probleme.«

»Was gibt’s denn noch?«

»Die Bauverwaltung macht plötzlich einen Rückzieher. Es gab eine mündliche Zusage, dann wurde sie wieder zurückgenommen unter dem Druck etlicher Anwohner und des Naturschutzvereins. Man befürchtet eine Zerschlagung der dörflichen Gegend. Mehrere Bio-Bauernhöfe sind hier angesiedelt, sie brauchen Nutzungsflächen für die Weiderinder und Schafe. Ich habe die Aufgabe, einen Kompromiss zu finden, sozusagen als Eisbrecherin.« Die Frau zog die Oberlippe ein wenig hoch. »Das alles hat für die Trägergesellschaft negative Konsequenzen. Unsere Geldgeber spielen verrückt, sie wollen Planungssicherheit. Mein Mann wird morgen eine Krisensitzung einberufen.«

Wolffs von den Ausführungen über die Vorzüge des geplanten Thermenbaus etwas ermüdeter Geist war wieder hellwach. Investorenprojekt. Einige gewinnen, etliche verlieren, dachte er. Verdrängte Anwohner und Naturschützer gegen Wirtschaft und Politik.

Haas-Bergmann ignorierte das Rauchverbot und zog ein goldenes Etui aus ihrer Tasche. Sie bot Wolff eine Zigarette an, die er ablehnte, zündete sich eine an, inhalierte.

»Am schlimmsten sind die radikalen Aktivisten.«

»Wer sind diese Aktivisten?«

Sie zuckte die Achseln. »Manche haben früher in Berlin Häuser besetzt, und seit da fast alles modernisiert ist, ziehen sie auf dem Land herum und machen Stunk gegen Investorenvorhaben.« Sie blies heftig den Rauch aus. »Die Typen stören Anlegerversammlungen, verbarrikadieren Baustellen, beschmieren Fassaden.«

»Können Sie mir Namen von Anwohnern sagen, die gegen das Projekt sind?«

»Ina Kowalski. Sie betreibt eine Pferdepension und verfügt über größere Grünflächen für das Auslaufgelände und den Parcours.«

Wolff entschied, dass er erst mal genug erfahren hätte. »Gehn wir mal zum Schließfach Nummer zweihundertfünfundvierzig.« Er schwenkte den Schlüssel vor den erstaunten Augen der Haas-Bergmann, die etwas sagen wollte, es dann aber unterließ.

Sie gingen den gefliesten Gang entlang und bogen in den Garderobenbereich ein. Wolff bemerkte einen bunten Zettel, der an einer Schließfachtür klebte. Lieber Zeichen setzen als Land besetzen! Dahinter war ein rot durchkreuztes Bauschild zu sehen. Wir bleiben! Bürgerinitiative zur Rettung unseres Dorfes.

Er nahm den Zettel ab und steckte ihn ein.

»Die Leute kleben halt immer Zettel.« Die Frau lächelte süffisant. »Zum Spaß oder weil sie sich ärgern oder einfach gegen etwas sein wollen.«

Sie waren am Schließfach Nummer zweihundertfünfundvierzig angekommen. Wolff schloss auf. Haas-Bergmann pfiff durch die Zähne.

»Teurer Designer.« Sie wies auf das Label der im Fach stehenden großen Handtasche.

»Mich interessiert eher der Inhalt.« Wolff entnahm seinem Koffer dünne Schutzhandschuhe und streifte sie über. »Fassen Sie bitte nichts an.«

Er öffnete die Tasche. Die Tote schien eine ordentliche Frau gewesen zu sein. In mehreren, mit Reißverschlüssen sorgfältig verschlossenen Fächern fand er Personalpapiere, Führerschein, Haus- und Autoschlüssel, ein I-Phone und eine Kulturtasche mit Schminksachen.

Wolff zog den Ausweis heraus und betrachtete das Foto. Eine hübsche Frau war die Tote gewesen, mit klaren Gesichtszügen, blauen Augen, einer geraden Nase und vollen Lippen, das blonde Haar zurückgebürstet und hochgesteckt.

»Die Tote heißt Milena Vogt.«

Einen kurzen Aufschrei konnte Haas-Bergmann nicht unterdrücken.

»Was ist?«

»Sie ist … sie war … Regierungsrätin hier in der Bauverwaltung.«

Wolff zog die Luft ein. »Hatten Sie mit ihr zu tun?«

»Mein Mann und ich haben ein Immobilienunternehmen. Ist das Antwort genug?« Sie sah ihn mit starrem dunklem Blick an. »Ich muss jetzt gehen. In wenigen Stunden stehen Gespräche mit dem Gemeinderat an.«

Wolff gab ihr seine Karte und blickte ihr hinterher, als sie zum Ausgang eilte. Die Identität der Toten schien die Frau verstört zu haben.

4

Potsdam, 19. Juli, 2.30 Uhr

Milena Vogt ist tot. Ist das wirklich Mord?

Linda Haas-Bergmann blickte von ihrem Tagebuch hoch, in das sie vor dem Schlafen die Tagesereignisse und ihre Gedanken ein­trug. Sie fühlte große Unruhe nach dem Gespräch mit dem Kommissar. Ach was, Gespräch, ausgefragt hatte er sie, sich freundlich gegeben und dabei waren seine Augen überall herumgewandert.

Linda nahm ihr Tagebuch und trat auf den Balkon. Lars und sie hatten vor Jahren eine ganze Neubau-Etage in der Berliner Vorstadt mit Blick auf den Tiefen See gekauft. Damals wollten sie nichts wie weg aus Berlin-Friedrichshain, zu dessen Modernisierung sie einen Teil beigetragen hatten. Noch einmal neu anfangen in Potsdam, einer kleineren Stadt mit viel Natur und Wasser drum herum.

Eigentlich wollte sie keine Zigarette mehr vor dem Schlafen. Aber würde sie schlafen können? Es war jetzt drei Uhr, zu spät, um etwas einzunehmen, dann käme sie am Morgen nicht hoch. Eine schwierige Besprechung mit dem Gemeinderat in Alt-Stolzendorf stand an. Alle würden kommen, ihre Unterstützer und ihre Gegner. Linda ließ ihr Feuerzeug aufflammen. Die Initialen L H-B waren eingraviert, aber stand sie selbst noch hinter B wie Bergmann-Immobilien?

Der Neuanfang hier in Potsdam hatte geklappt. Es gab einige große Bauträger-Objekte und noch waren in der Stadt unsanierte Bereiche zu modernisieren. Der private Neuanfang mit Lars hatte sich ihrer Planung entzogen. Vor kurzem hatten sie ihre Etage aufgeteilt, eine Wand gezogen, zwei Eingänge geschaffen. Linda sog an der Zigarette. Unten auf der leeren Straße fuhren zwei Radler entlang, ein Pärchen, hielten Händchen beim Fahren. So wie sie und Lars als Studenten. Fünfundzwanzig Jahre war das her.

Das war ein schöner Traum. Der Traum ist vorbei. Besser als kein Traum. Aber jetzt sehe ich alles wie durch eine verschmutzte Linse.

Es war eine Angewohnheit geworden, Tagebuch zu schreiben. Um mit sich ins Reine zu kommen, sich zu entlasten, zu überlegen, wohin der Weg sie führte. Linda setzte sich in ihren Strandkorb, klappte den Tisch auf und las eine ältere Eintragung, die auf einmal große Wichtigkeit gewann.

Lars hat einen neuen Spielplatz. Raus aufs wilde Land. Wer fragt in der Euphorie um das Brandenburger Wellness-Zentrum danach, wie freigeräumt würde? Die paar Ladeninhaber findet man einfach ab, nehmen ja sowieso nicht viel ein. Und wenn jemand dagegen ist, gibt’s noch andere Tricks.

Vornübergebeugt saß sie da, ihr Stift raste übers Papier. Kein Computer, elektronisch könnte sie sich nicht richtig ausdrücken. Sie hatte niemand, dem sie das alles anvertrauen könnte.

Ich könnte sie umbringen, diese Naturschutzaktivisten, die um sandige Flächen kämpfen und das einzige Wirtschaftspotential in ihrer elenden Gegend nicht erkennen.

Sie hielt inne. Beunruhigende Gedanken kamen auf. Milena Vogt, Regierungsrätin, neu im Bauamt, auf Seiten der Naturschützer, hatte zu den Gegnern des Wellness-Projekts gehört und Lars die Baugenehmigung verweigert.

Lars ist keiner, der aufgibt. Ich gehe weiter, hat er gesagt. Und jetzt ist seine Hassfigur tot.

Es schüttelte sie vor Müdigkeit, Unruhe, Angst. Endlich entschloss Linda sich, wieder hineinzugehen. Aus dem Spiegel im Badezimmer blickte ihr ein müdes Gesicht mit zusammengekniffenen Lippen entgegen. Lohnte es, sich noch abzuschminken? Lohnte sich das Gespräch morgen mit den Gemeinderatsmitgliedern? Für Lars war sie immer noch sein Joker. Eine freundliche, hübsche, elegante Frau. Die Eisbrecherin. Linda bemerkte, dass sich ihre Hände zu Fäusten verkrampften. Wie viele Stunden hatte sie mit dem Entwurf von Räumungs- und Abfindungsvereinbarungen verbracht, damit diese störrischen Alt-Stolzendorfer von dem Areal verschwanden? Nach Erteilung der Baugenehmigung sollte es sofort losgehen. Mit den finanzierenden Banken waren die Kredite abgesprochen. Dann kam Regierungsrätin Milena Vogt und legte Steine in den Weg. Der Gesellschaft Brandenburg-Thermedrohte Insolvenz.

Linda ging ins Wohnzimmer, legte sich angezogen auf die Ottomane, die sie sich nach der räumlichen Trennung von Lars geleistet hatte, und blickte in den blauen Nachthimmel, der sich am Rand langsam rötete. Ausziehen lohnte nicht mehr, vielleicht fand sie noch ein wenig Ruhe, bevor der Kampf weiterging.

Und wenn dieser Kripo-Mann die alte Geschichte ausgräbt? Linda fuhr wieder hoch. Die Sache war bestimmt noch im Berliner Polizeicomputer. War sie bereits jetzt eine Mordverdächtige?

Montag

5

Wolff wäre bei dem guten Wetter gern Motorroller gefahren, aber heute hatte er zu weite Strecken vor sich. Er nahm sich ein Auto aus dem Fahrzeugpark der Kripo Potsdam und fuhr nach Alt-Stolzendorf. Als er ausstieg, genoss er den Wind, der durch seine Haare fuhr. Die würzige Luft erinnerte ihn an den Bauernhof seiner Mutter im Fläming. Er ging zum Zaun einer großen Koppel und beobachtete die Pferde, die über die Wiese liefen, den Kopf nach unten gesenkt, und Grasbüschel abrupften. Es waren Schimmel und Braune und die Sonne dieses warmen Julimorgens ließ ihr Fell schimmern. Es war ein friedliches Bild, das Wolff fast vergessen ließ, dass er hierhergekommen war, um einen Todesfall aufzuklären. Nur wenig entfernt lag das Schwimmbad, in dem die Leiche von Milena Vogt im Jetstream gefunden worden war.

Sein Diensthandy meldete sich und zeigte die Nummer von Oberkommissarin Eickelbaum, die eigentlich mit ihm in dem Todesfall hätte ermitteln sollen. Er ließ es einmal mehr klingeln als üblich.

»Hallo Chef«, sagte Katja. Ihre Stimme klang gedrückt ohne die für sie typische Frische. »Sorry, dass ich dich hängengelassen habe.«

»Sven hat dich gut vertreten. Den nächsten Fall machst du dann allein. Wie geht’s übrigens?«

»Ich hatte Migräne.«

»Sind die Kopfschmerzen jetzt besser?«

»Eher Migräne der Seele.«

Darauf wollte Wolff nicht eingehen. Katja, tatkräftige Frau von sechsunddreißig Jahren, Film- und Fernsehfan und verschlossen, was ihr Privatleben anging. Sie war Berlinerin und vor zwei Jahren der Liebe wegen in ein Dorf bei Werder gezogen. In ihrer energischen Art hatte sie einen Final Cutmachen wollen, weswegen auch immer, nichts wie weg aus Berlin und zur Kripo Potsdam. Und jetzt seelische Schmerzen. War daran ein Kerl schuld? Das hätte Wolff doch gern gewusst. Er seufzte innerlich und wünschte sich die alte Katja her mit ihrem dynamischen Redeschwall und ihren ausladenden Armbewegungen.

»Nimm ’ne Aspirin und meld dich dann.« Kaum hatte er aufgelegt, erschien ihm seine Reaktion zu grob. Aber sich entschuldigen wollte er auch nicht. Schließlich war es ja Katja, die sich ausgeklinkt hatte.