Abgesprungen - Thomas Clemens - E-Book

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Thomas Clemens

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Beschreibung

Johannes Seibel, Sohn eines Hamburger Hoteliers ist schon seit seiner frühen Kindheit mit Rebecca Weintraub, Tochter eines jüdischen Uhrmachers im Hamburger Grindelviertel, befreundet. Beide verleben eine zunächst unbeschwerte Kindheit bis am Horizont die düsteren Wolken der Nazidiktatur heraufziehen. Die sich entwickelnde zarte Liebesbeziehung zwischen Johannes und Rebecca steht unter einem denkbar schlechten Stern. Die beiden werden durch die Wirren der Zeit getrennt. Werden sie sich wiedersehen?

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Thomas Clemens

Abgesprungen

Roman

© 2020 Thomas Clemens

Umschlag, Illustration: Steffen Clemens

Umschlagfoto aus Bestand des Autoren

Website: thomasclemens.art

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359

Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-347-07715-7

e-Book:

978-3-347-07716-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Alle Rechte der fotomechanischen und elektronischen Wiedergabe vorbehalten.

Namensgleichheiten mit tatsächlich existierenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Die Handlung ist, abgesehen von den historisch verbürgten Ereignissen und Persönlichkeiten, erfunden.

New York, Pier 86, an Bord der Bremen, 30. August 1939, 01:48 Uhr, nachts

„Ich bin verrückt, vollkommen verrückt!“, durchfährt es Johannes Seibel. Die Mannschaftspromenade des riesigen Schnelldampfers Bremen schimmert im fahlen Licht der nächtlichen Bordbeleuchtung. Eine salzige Brise lässt die Nähe des Atlantiks erahnen. Die Geräusche der Nacht, leise Barmusik von der Normandie, dem französischen Ozeanriesen der am Nachbarpier liegt, das dumpfe Wummern einer Hilfsmaschine tief im Bauch der Bremen, das entfernte Rauschen aus den Straßenschluchten New Yorks.

Seibel beugt sich über die Bordwand. Das schwarze Wasser des Hudson schimmert in der Tiefe. Sein Herz schlägt wie ein Dampfhammer. Er spürt eine leichte Übelkeit. Die offene Seite der Mannschaftspromenade hier auf dem achterlichen C-Deck ist der Wasserlinie am nächsten. Acht bis zehn Meter mögen es trotzdem sein. Außerdem ist es die einzige Stelle, die von den oberen Decks nicht eingesehen werden kann. Schemenhaft heben sich die gemeinsam genutzten Abfertigungsgebäude der HAPAG und des Norddeutschen Lloyd ab vom surreal wirkenden Nachtlicht Manhattens. Einen günstigeren Augenblick wird es nicht geben und dennoch zögert er. Verdammt, er muss das Schiff verlassen und dieses ist vermutlich die allerletzte Gelegenheit und der einzig mögliche Weg.

Spätestens morgen wird die Bremen den New Yorker Hafen verlassen können, ohne Passagiere, lediglich knapp 1000 Mann Besatzung sind auf dem Schiff. Auf der Passage von Bremerhaven hierher waren fast 1800 Passagiere, überwiegend Amerikaner, an Bord. Unter ihnen viele Diplomaten und Geschäftsleute, die offensichtlich in letzter Minute Europa verließen. Europa, wo höchste Kriegsgefahr herrscht, wie er sich aus den mitgehörten Gesprächen zahlreicher Passagiere und der angespannten Atmosphäre an Bord unschwer zusammenreimen konnte. Dass es Krieg geben würde, war auch vorher kein Geheimnis mehr, aber nun stand er offensichtlich unmittelbar bevor. Die Besatzung hatte diesmal keinen Landgang in New York bekommen. Bewaffnete Bord-SS sichert die Gangway rund um die Uhr. Tagsüber waren zusätzlich Beamte der amerikanischen Zollbehörde auf der Pier. Keine Chance das Schiff zu verlassen. Wenn in Europa tatsächlich ein Krieg ausbricht, ist es ohnehin vorbei mit dem Glanz der Atlantikdampfer und er würde zur Kriegsmarine eingezogen werden. Alles sieht danach aus, als ob dies die vorläufig letzte große Fahrt der Bremen sei, denn Kapitän Ahrens wollte lediglich Brennstoff und Proviant bunkern und auf direkten Befehl aus Berlin so schnell wie möglich zurück nach Bremerhaven, hatte man der Mannschaft mitten auf dem Atlantik mitgeteilt. Schon zwei Tage lang wird die Bremen hier festgehalten und auf Waffen durchsucht. Ärgerlich für die Schiffsführung, für ihn aber ausnahmsweise von Vorteil.

Wieder blickt Seibel an der Bordwand herunter, lauscht nach verdächtigen Geräuschen, tastet nach dem wasserdicht verpackten Bündel unter seiner Jacke. Er muss sich jetzt entscheiden: Freiheit gegen Heimat! Ein Scheideweg im Leben, an dem, wie so oft, kein Wegweiser steht. Er steigt über die Bordwand, steht einen Augenblick mit den Schuhspitzen auf der Stahlkante außenbords mit dem Rücken zum Wasser. Das wasserdicht verschnürte Segeltuchpäckchen, das er schwimmfähig gemacht hat, hält er in der linken Hand. Er blickt über die Schulter hinüber zur Pier. 30 Meter müsste er schwimmen, bis zu der stählernen Leiter, die er jetzt in der Dunkelheit nicht erkennen kann, aber bei Tageslicht gesehen hatte. Schritte! Stimmen! Jemand kommt den Niedergang vom B-Deck herunter. Johannes Seibel lässt das Segeltuchpäckchen fallen, stößt sich ab und zieht im Fallen die Beine an den Körper, Kinn auf die Brust – zur Kugel zusammenrollen, so übersteht man einen Sprung aus großer Höhe ins Wasser am besten, hatte er gehört. Der Aufprall auf die Wasseroberfläche ist härter als er gedacht hat. Viel tiefer taucht er ins dunkle Wasser, als er erwartet hat. Er rudert mit den Armen, versucht an die Wasseroberfläche zu kommen, aber seine mit Wasser vollgesogene Kleidung und das schwere Bündel unter seiner Jacke verzögern das Auftauchen. Die Luft wird knapp. Um ihn herum - nur schwarzes Wasser, keine Orientierung. Todesangst und wirre Gedanken durchzucken ihn. Er denkt an Rebecca, vor seinem inneren Auge erscheint ihr Gesicht, ihr trauriger Blick, den sie ihm beim letzten Abschied zugeworfen hatte.

Hamburg, Oktober 1923

Johannes steigt mit Opa Maltus aus der Elektrischen. Er hoppst an Opas Hand, obwohl sie schon den halben Tag auf den Beinen sind. Die große Runde, wie Opa immer sagt. Mit der Hochbahn von der Station Hoheluftbrücke zu den Landungsbrücken, Schiffe gucken im Hafen. Die Albert Ballin, das Flaggschiff der HAPAG, liegt an den Dalben bei den Vorsetzen, ein riesiger Dampfer mit zwei Schornsteinen, der bis nach New York fährt. Opa hatte früher bei der HAPAG Reederei als leitender Angestellter gearbeitet, und sogar den Generaldirektor Albert Ballin persönlich gekannt, weiß Johannes. Aber der war schon lange tot. Ein feiner Mensch sei das gewesen. Richtig, dass sie so ein schönes Schiff nach ihm benennen, hatte Opa beteuert.

Nachdem sie eine Zeit lang beim Bäcker anstehen mussten und dann für hundert Millionen Mark ein Brot gekauft hatten, waren sie wie jeden Tag zum Mittagessen in das Hotel von Papa und Mama am Großen Burstah gelaufen. Es gab dünne Suppe, wie meistens. Schließlich fuhren sie mit der Elektrischen zurück zum Grindelberg. Johannes fährt lieber mit der Elektrischen als mit der Hochbahn. Das dauert zwar viel länger, aber dafür fährt die Straßenbahn nicht durch dunkle Tunnel, in denen sich Johannes immer ein wenig fürchtet, was er Opa aber nicht sagt. Außerdem ist es spannender wenn die Linie 22 quietschend und bimmelnd durch enge Straßenschluchten rumpelt und man aus dem Fenster sehen kann, was auf den Straßen und Plätzen vor sich geht. Viele Geschäfte sind allerdings geschlossen, manche mit Brettern vernagelt. Nur einzelne Fuhrwerke sind unterwegs und noch seltener Automobile. Vor den wenigen Läden, die geöffnet haben, stehen Menschenschlangen nach Lebensmitteln an. Bezahlt wird mit ganzen Bündeln an Papiergeld. Viele Bettler sind unterwegs, oft Männer, die der Krieg gezeichnet hatte, die ein Holzbein haben, wie Papa oder nur einen Arm oder eine Augenklappe tragen oder gar keine Beine mehr haben, wie der arme Bettler am Gänsemarkt, der dort auf einer Holzplatte mit Rädern hockt. Johannes ist zu jung, um andere Zeiten zu kennen und alles zu verstehen was seine Augen sehen, aber allmählich beginnt er zu begreifen, dass es mal bessere Zeiten gegeben haben muss. Opa erzählt ja oft, wie es vor dem Krieg gewesen war, als Deutschland noch einen Kaiser hatte.

Bevor sie nach Hause gehen, wollen sie noch zum Uhrengeschäft Weintraub, ein Grund weshalb Johannes so aufgeregt ist. Bei den Weintraubs gibt es manchmal süßes Gebäck oder ein Glas Brause und er darf mit Rebecca spielen. Rebecca ist etwas größer als er und geht in die erste Klasse der israelitischen Töchterschule an der Carolinenstraße. Darauf ist sie mächtig stolz. Rebecca ist nett, ganz anders als die anderen Mädchen, die er kennt, vor allem Auguste und Wilhelmine, seine großen Schwestern, Auguste ist zehn und Wilhelmine zwölf. Manchmal sind sie ziemliche Ziegen.

Die Weintraubs wohnen auf der Harvesterhuder Seite des Grindelbergs, auch Klein Jerusalem genannt. Johannes lebt mit seinen Eltern und Geschwistern nur eine Straße weiter in der Schlankreye, während Opas Wohnung in einem der neuen Klinkerblöcke am Kaiser-Friedrich-Ufer auf der Hoheluft-Seite liegt. Opa wohnt dort allein und Johannes ist tagsüber fast immer bei Opa, weil Mama und Papa so viel in ihrem Hotel zu tun haben. Seine Oma war ein paar Jahre zuvor an der Spanischen Grippe gestorben. Er hat keine Erinnerung an sie, kennt sie nur von dem Bild auf Opas Anrichte und seinen Erzählungen. Manchmal darf er auch bei Opa übernachten, in Omas Bett.

Das Uhrengeschäft mit der Werkstatt vom Uhrmacher Weintraub befindet sich im Parterre eines fünfstöckigen Gebäudes mit reich verzierter Stuckfassade, schönen Giebeln und einem kleinen Türmchen an der Seite. Johannes mag solche Häuser lieber als die moderneren Klinkerbauten, welche gerade auf der Hoheluft-Seite gebaut werden. Die Wohnung der Weintraubs befindet sich in der ersten Etage direkt über dem Laden. Wenn man hinauf will, muss man durch das Uhrengeschäft, in dem stets ein vielstimmiges Ticken zu hören ist, und an der kleinen Uhrmacherwerkstatt vorbei, wo Kinder aber nichts zu suchen haben. Das Uhrengeschäft hat auch einen Hinterausgang der in einen Hof führt.

Frau Weintraub steht hinter der Ladentheke als Opa und Johannes hereinkommen. Sie begrüßt die beiden herzlich. „Geh‘ man schon hoch, min Jung, Rebecca ist oben. Aaron ist noch in der Werkstatt, Herr Maltus. Ach, was sind das nur für Zeiten, täglich muss ich die Preise erhöhen. Wo soll der Schlamassel noch hinführen?“ Opa brummt zustimmend.

Rebeccas Zimmer ist voller wunderbarer Spielsachen. Natürlich hat sie keine Märklin Bahn, wie er eine hat, eben nur Mädchenspielzeug, dafür ein riesiges Puppenhaus mit winzigen Möbeln, sogar ein kleines Klavier und eine Standuhr gibt es, natürlich mit echtem Uhrwerk. Und einen Krämerladen hat sie mit unzähligen Dingen die man auch in einem echten Laden kaufen kann, nur winzig klein. Spielgeld gibt es ebenfalls, man muss schließlich bezahlen. Schade, dass Jungs mit sowas eigentlich nicht spielen, überlegt Johannes. „Und was möchten Sie heute kaufen, der Herr?“, tönt sie mit verstellter Stimme und bindet sich sogar eine passende Schürze um. „Och, weiß nicht.“ „Kolonialwaren? Ein Ei? Eine Flasche Brause? Oder ein Pfund Mehl?“, schlägt sie vor. „Eine Flasche Brause“, antwortet er endlich. „Ach was sind das für Zeiten, täglich muss ich die Preise erhöhen“, seufzt sie, „macht Zehnmillionen Mark, der Herr.“ Johannes zählt ihr ein paar Spielgeldpfennige aus Pappmaché auf die Hand. Sie reicht ihm ein Spielzeugfläschchen, legt die Münzen in die Kasse und nickt zufrieden. „Wollen wir lieber Schule spielen?“ fragt sie nach einer Weile. „Hmm“, macht er ein wenig unentschlossen. „Also, ich bin die Lehrerin und du das Schulkind.“ „Immer muss ich das Schulkind sein“, mault er. „Umgekehrt geht es wohl nicht, du kommst ja erst im nächsten Jahr zur Schule und hast noch nichts gelernt, was du mir beibringen kannst.“ Dagegen kann er nichts sagen. Sie reicht ihm resolut ihre Schiefertafel und einen Griffel und bedeutet ihm mit strenger Miene sich zu setzen.

Die Familie Weintraub hat eine komfortable Wohnung und schöne Möbel. Rebecca ist ihr einziges Kind. Herr Weintraub war im großen Krieg und hat ein Holzbein, genau wie Papa. Papa links und Herr Weintraub rechts. Aber Papa redet nicht mit Herrn Weintraub. Opa und Herr Weintraub hingegen treffen sich oft, obwohl Opa viel älter ist. Die beiden reden meistens von ernsten Dingen von denen Johannes kaum etwas versteht. Dass die Regierung nicht immer neues Geld drucken kann und wo das hinführen soll, und dass die Franzosen das Rheinland besetzt haben, und was im Winter werden soll, wenn die Kohlenzüge nicht mehr rollen, und dass Versailles an allem Schuld sei. Warum bestrafte man diesen Versailles nicht, wenn er doch an allem Schuld war, fragt sich Johannes und ahnt bereits, dass die Welt verdammt kompliziert sein kann. Im Wohnzimmer der Weintraubs steht ein Klavier. Einmal hat Frau Weintraub darauf gespielt und es hatte wunderschön geklungen. In Frau Weintraubs großer Küche gibt es zwei Geschirrschränke. Einen für die milchigen- und einen für die fleischigen Speisen. Töpfe und Teller muss man getrennt benutzen und getrennt aufbewahren sonst kann man kein koscheres Essen bereiten, hatte Rebecca ihm einmal erklärt. Frau Weintraub hatte lakonisch hinzugefügt, dass es zurzeit aber kaum Milchiges und Fleischiges zu kaufen gäbe, eher Gammeliges und Fauliges. Bevor Opa und Herr Weintraub sich verabschieden, trinken die beiden jedes Mal einen Schnaps. Auf bessere Zeiten! Frau Weintraub schüttelt dann immer vorwurfsvoll den Kopf.

Maltus konnte dank seiner eigenen Weitsicht allerdings recht beruhigt in die Zukunft sehen. Als sich bald nach Ausbruch des Krieges abzeichnete, dass Paris nicht im Handstreich einzunehmen sei, zum Frühstück nach Paris, wie es deutsche Landser begeistert auf jene Wagons geschrieben hatten, die sie an die Front brachten, musste jedem gestandenem Kaufmann, dem der Patriotismus nicht völlig das Hirn vernebelt hatte, klar sein, dass keiner der kriegführenden Staaten ausreichend Kapital hatte, so eine Vernichtungsmaschinerie dauerhaft zu finanzieren. Maltus hatte sporadisch Kriegsanleihen gezeichnet, um unverdächtig zu bleiben, jedoch immer wieder amerikanische Dollar und Goldmünzen gekauft, solange dies noch möglich war. Das war nun sein Ruhekissen.

Einen Monat später muss Johannes mit seinen Schwestern ein paar Tage im Haus bleiben. Opa passt auf die Kinder auf und ermahnt sie immer wieder vom Fenster wegzubleiben. Auf den Straßen fahren Soldatenautos und Panzerwagen der Reichswehr auf und ab. Ob draußen Krieg sei, hatte Johannes gefragt. „Nein, ein kommunistischer Aufstand, in Barmbek haben sie auch geschossen, aber so schlimm wie Krieg sei das nicht und bestimmt in ein paar T agen wieder vorbei.

Opa hatte Recht behalten. Einige Tage später ist alles wieder ruhig. Als Opa und Johannes am Vormittag mit der Hochbahn fahren wollen, müssen sie zwanzig Milliarden Reichsmark für eine Fahrkarte bezahlen. Sie haben Glück, dass überhaupt eine Bahn fährt, da häufig der Strom ausfällt, weil es kaum noch Kohlen gibt. Man kann kaum mehr etwas mit dem wertlosen Geld kaufen. Auch Herr Weintraub hatte seinen Uhrenladen seit zwei Wochen geschlossen und die kostbaren Uhren in seiner Wohnung versteckt. Es wird fast nur noch getauscht. Die Maler, Stuckateure und Klempner, die in Papas maroden Hotel arbeiten, bekommen zwei Eier oder ein halbes Pfund Butter und einen Teller Suppe für ihre Arbeit. Die Eier und die Butter brachte Onkel Gustav mit, der eine kleine Landwirtschaft in den Vier- und Marschlanden betreibt. Onkel Gustav bekam dafür Papas alten Mantel und manchmal eine von den Weinflaschen, die im Keller des Hotels lagern.

Paul Seibel hatte drei Jahre zuvor das marode Gebäude am Großen Burstah, einer belebten Geschäftsstraße in guter Lage, ersteigert, denn nach dem großen Krieg waren die Immobilienpreise im Keller. Finanziert hatte er den Kauf durch eine Erbschaft, und einen Bankkredit, den Rest hatte Opa Maltus beigesteuert. Dafür gehören ihm 10% des Hotels, welches vier Stockwerke und 24 Gästezimmer hat. Im Erdgeschoss befinden sich der Empfang mit Rezeptionstresen, sowie ein Restaurant und die zugehörige Küche. Unter dem Dach gibt es mehrere Kammern für die Angestellten. Angestellte hatten die Seibels allerdings nicht. Bisher waren nur drei Zimmer renoviert, wurden aber selten vermietet in diesen Zeiten. Paul Seibel träumt davon das Hotel möglichst bald komfortabel auszubauen, um zahlungskräftige Gäste anzulocken. Davon sind sie allerdings meilenweit entfernt, denn es gilt erst einmal diese Krise zu überstehen. Jetzt weigern sich auch noch die Handwerker weiterzuarbeiten. Mama, die am Tisch sitzt und ihren Wintermantel trägt, wirkt verzweifelt, als Johannes und Opa durch die Eingangstür kommen. Draußen heult der Novemberwind. Innen ist es kalt, weil es keine Kohlen zum Heizen gibt.

Später als sie vor ihren leeren Suppentellern sitzen, ohne richtig gesättigt zu sein, fragt Auguste ihren Vater: „Papa, kriegen wir zu Weihnachten auch so eine Puppenstube wie Rebecca Weintraub eine hat?“ Paul Seibel, ein stets ernst wirkender Mann, schüttelt energisch den Kopf und funkelt seinen Schwiegervater an. „Hast du die Mädchen mit zu diesem Juden genommen, Wilhelm?“ Opa macht ein unappetitliches Gesicht. „Weshalb denn nicht? Meinst du die fressen deine Kinder auf? Die Weintraubs sind rechtschaffene Leute.“ „Wilhelm, ich will nicht, dass du mit den Gören immer zu dieser Judenbrut gehst!“, brüllt Paul Seibel plötzlich. „Reg dich nicht auf! Und was hast du überhaupt gegen den Weintraub? Er war auch im Krieg, hat seine vaterländischen Pflichten erfüllt, hat in Frankreich ein Bein verloren genau wie du.“ „Die Juden sind schuld an der ganzen Krise, mit ihrer Schacherei und den Krieg haben wir auch wegen denen verloren, wie man jetzt hört. Außerdem verdirbt das die Mädchen nur. Siehst ja was dabei rauskommt. Jetzt wollen meine Töchter eine Puppenstube, wo wir kaum was zu beißen haben und die verdammten Juden kaufen ihrer Brut teure Spielsachen und leben wie die Maden im Speck. Außerdem sollen die Mädchen sich lieber in der Küche nützlich machen.“ „Guste, Wilhelmine, ihr habt gehört was Papa gesagt hat, ab in die Küche!“, mischt Mama sich ein. „Und Johannes, geh‘ mal spielen!“ Die Mädchen räumen das Geschirr ab und verdrücken sich maulend. Johannes verzieht sich nach draußen.

„Was soll jetzt werden, wo die Handwerker weg sind?“, wechselt Helene Seibel das Thema. „Die kommen schon wieder, min Deern, kann nicht mehr lange dauern mit der Geldentwertung, das wird schon?“, tröstet er seine Tochter. „Und dann, was kommt danach?“ „Es kann nur bergauf gehen, das war bisher nach jeder Krise so. Deutschland wird wieder stark werden. Aber es ist höchste Zeit, dass ihr eure Schulden bezahlt. Das ist doch jetzt ein Kinderspiel, durch die Geldentwertung“ „Nein, wir warten noch, vielleicht wird das Papiergeld noch wertloser.“ „Worauf willst du denn noch warten? Was soll denn da noch wertloser werden? Zahle den Kredit so schnell wie möglich zurück!“, regt Wilhelm Maltus sich auf. „Hat dir das auch dein Jude eingeflüstert?“, fährt ihn sein Schwiegersohn mit barscher Stimme an. „Ich bin alt genug! Mir braucht niemand etwas einflüstern! Merk dir das!“, donnert Wilhelm Maltus und steht auf. Er geht an den Rezeptionstresen und greift sich brummelnd den Hamburger Correspondenten. In München hatte man einen Putschversuch niedergeschlagen, liest er. Es hatte eine Schießerei zwischen den Aufständischen, der Reichswehr und der Polizei mit 20 Toten gegeben. Die Putschisten hatten eine nationale Diktatur gegen Juden und Marxisten errichten, und die Macht in ganz Deutschland an sich reißen wollen, waren aber nur bis zum Münchner Odeonsplatz gekommen anstatt bis zum Berliner Reichstag. Einer der beiden Hauptakteure, General Erich Ludendorff sei verhaftet worden, der andere, ein gewisser Adolf Hitler, sei flüchtig. Wilhelm Maltus schüttelt den Kopf. „Soon Tüünkram hätte uns noch gefehlt“, murmelt er.

Wilhelm Maltus sollte Recht behalten, sein Einschätzungsvermögen was wirtschaftliche Dinge betraf, hatte er durch seine langjährige kaufmännische Berufspraxis erworben. In solch schlechten Zeiten musste man rechtzeitig in Dinge investieren, die ihren Wert behalten, möglichst mit geliehenem Geld auf dessen Entwertung man spekulierte und dann seine einst hohen Schulden mühelos mit wertlosem Geld zurückzahlen konnte. Genauso hatten es nun die Seibels gemacht. Zwei Wochen später führt die Deutsche Reichsbank die Rentenmark ein. Eine Rentenmark entspricht einer Billion alter Reichsmark. Die Ersparnisse und die Kriegsanleihen der Deutschen waren von einem Tag auf den anderen wertlos. Der Staat vor allem, aber jene, die auf Pump Häuser gekauft hatten, waren ihre Schulden los. Johannes‘ Eltern sind auf einen Schlag schuldenfrei und besitzen nun ein, wenn auch renovierungsbedürftiges, Hotel in guter Lage.

New York, Pier 86, 30. August 1939, 01:53 Uhr, nachts

Johannes Seibel taucht prustend auf und schnappt nach Luft, schmeckt ölig modriges Hafenwasser. Hinter ihm befindet sich der schwarze Schiffsrumpf der sich hier zur Wasserlinie hin stark verjüngt. Daher kann man ihn vom C-Deck aus nicht sehen. Irgendwo unter ihm befinden sich die gewaltigen Schrauben der Bremen. Er sieht sich nach seinem Segeltuchpäckchen um. Es ist doch nicht etwa untergegangen? Es ist zu dunkel, um auf der Wasseroberfläche etwas zu erkennen. Dann hört er Rufe. Ob jemand Hilfe brauche. „Da ist nix, Hein!“ „Wenn ich‘s dir doch sage, das hat ordentlich geplatscht, als ob was Großes ins Wasser gefallen ist.“ „Vielleicht ‘n dicker Fisch?“ „Tüünkram, hab’s doch genau gehört.“ Der Lichtkegel einer starken Handlampe streicht über das Wasser. „Kiek mol, wat schwimmt denn da?“ Der Lichtschein hat das Segeltuchpäckchen erfasst, welches fast unter Wasser dahindümpelt. „Dat ist nix, jedenfalls kein Mensch.“ „Wenn du meinst?“ Der Schein der Lampe streicht noch ein paarmal über die ruhige Wasserfläche, bevor er erlischt. Johannes Seibel wartet noch zwei Minuten. Als alles ruhig bleibt, schwimmt er aus der Deckung des Achterstevens hervor. Er findet sein Segeltuchpäckchen, das beinahe untergegangen ist und schwimmt auf die Pier zu. Es ist unglaublich anstrengend in der vollgesogenen Kleidung zu schwimmen. Auch das Päckchen welches er vor sich herschiebt hat keinen Auftrieb mehr. Das heißt, dass er keine trockene Ersatzkleidung hat. Kurz darauf erreicht er die stählerne Leiter, steigt erschöpft an Land und versteckt sich hinter einem Stapel Holzkisten. Er öffnet sein Päckchen, natürlich ist nichts trocken geblieben. Der Plan wäre gewesen, sich trockene Kleidung anzuziehen und unbemerkt aus dem Hafengebiet zu verschwinden, über die breite Westside Street in den Straßenschluchten abtauchen. Drüben auf der Lower-East Side, wo viele deutsche Auswanderer leben, Arbeit suchen. Irgendetwas und sei es noch so niedere Arbeit würde er schon finden. Bis dahin durfte er sich nicht von der Zollbehörde oder der Polizei erwischen lassen. Wenn die Bremen erst abgelegt hat, kann man ihn nicht mehr so einfach ausweisen und nach Deutschland zurückschicken, glaubt er und will sich auf den Weg machen.

„Stop!“, ruft jemand. Grelles Licht blendet ihm direkt ins Gesicht. Jemand packt ihn und biegt ihm unsanft den Arm auf den Rücken. Er wird gegen die Mauer gedrückt und durchsucht. Was, zur Hölle, er hier zu schaffen habe, fragt jemand in militärisch barschem Ton und starkem New Yorker Akzent. Johannes erklärt auf Englisch, wobei er versucht seiner Aussprache eine amerikanische Sprachfärbung zu verleihen, dass er ein paar Gläser über den Durst getrunken, sich verlaufen habe und in den verdammten Hudson gefallen sei, und ob sie wüssten, wo er seine Sachen trocknen kann. „In der Zelle vom Polizeirevier in der 11th Avenue!“, klärt der Wachmann ihn auf. Er fragt noch, ob er von dem deutschen Dampfer sei. Nein, er sei Amerikaner, habe aber keine Wohnung in New York. „Soso, keine Wohnung!“, kommentiert der Mann und führt ihn ab.

Auf dem Polizeirevier nimmt man ihm das Päckchen mit seiner Ersatzkleidung und das Bündel, welches er unter seiner Jacke verborgen hat, ab. Darin befinden sich 30 Reichsmark überwiegend in Münzen und 40 Dollar überwiegend in Eindollarnoten, Trinkgeld, das er von amerikanischen Passagieren auf der Bremen erhalten hatte, sowie sein deutscher Reisepass, zwei Fotographien und seine kostbare Uhr, ein Geschenk von Uhrmacher Weintraub. Jedoch gibt es nichts, was ihn als Besatzungsmitglied des Schnelldampfers Bremen ausweist.

„Die Tagschicht wird sich um dich kümmern“, teilt der Polizist ihm mit, bevor die vergitterte Tür ins Schloss fällt. Eine leichte Panik befällt ihn, wieder eingesperrt zu sein. Er ist heilfroh, dass Licht brennt und er nicht allein in der Zelle ist. Zwei weitere Gefangene sind dort. Einer liegt auf der einzigen Pritsche und schnarcht, der andere sitzt auf dem Boden und lehnt mit dem Rücken an die dreckige Mauer. Es riecht nach Alkohol und Urin. „Eh, Mann, warum bist ‘n so nass?“ „Bin in ‘n verschissenen Hudson gefallen, paar Whiskey zu viel, Mann!“, antwortet er im gleichen Jargon. „Verdammt, warum machst ‘n das?“ „Ist halt passiert, dann haben mich die Wachmänner gegriffen.“ „Das ist echt Pech, Mann, aber morgen biste bestimmt wieder draußen!“ Johannes zieht seine Kleidung bis auf die Unterhose aus und wringt die nassen Kleidungsstücke über dem Toiletteneimer aus. Dann breitet er sie auf dem Boden aus. Der Anzug dürfte komplett ruiniert sein, aber was hatte er erwartet. Resigniert setzt er sich auf den Betonboden, lehnt sich ebenfalls an die Zellenwand und hüllt sich in eine muffige Decke, welche man ihm gegeben hatte. Ihm ist trotzdem verdammt kalt. „Meine erste Nacht in Amerika, Herzlichen Glückwunsch, Johannes“, murmelt er auf Deutsch. „Was haste gesagt?“ „Nix, bin müde.“

Eingeschlafen ist Johannes Seibel erst in den frühen Morgenstunden. Als er schließlich von einem baumlangen Police-Officer unwirsch geweckt wird, braucht er ein paar Sekunden, um zu realisieren, wo er sich befindet. Er überlegt immer noch, welche Lügengeschichte er der Polizei auftischen soll, damit man ihn, um Gottes Willen, nicht gleich auf die Bremen zurückbringt. Im Laufe des Tages würde sie New York mit Sicherheit verlassen. Er könnte sagen, dass er schon ein paar Wochen illegal in New York sei und nicht nach Deutschland zurück könne. Keine gute Idee, entscheidet er. Was sollte sie dann davon abhalten, ihn sofort auf das Schiff zu bringen. Er könnte sagen, dass er Jude sei und von der Hitler-Diktatur verfolgt werde und um Asyl bitten - nein, sie würden ihn entlarven. Außerdem haben Juden aus Deutschland ein großes J in ihrem Reisepass. Inzwischen hat er sich angezogen und lässt sich von dem Polizisten in die Wachstube bringen, wo man ihn auf einem Stuhl vor einem schäbigen Schreibtisch platziert. Man befiehlt ihm, auf den Vernehmungsbeamten zu warten.

Die Uhr über dem Schreibtisch zeigt bereits 9:35 Uhr. Seit eineinhalb Stunden setzt die Zollbehörde die Durchsuchung der Bremen fort. Sein Verschwinden wurde sicherlich schon bemerkt. Schließlich nimmt ein Beamter in zivil hinter dem Schreibtisch Platz und blättert in seinem feuchten Reisepass. „So, Mister Johannes Seibel aus Hamburg, Deutsches Reich, jetzt erklären Sie mir, was Sie mitten in der Nacht an der Pier 86 zu suchen hatten?“ „Ich bin von einem deutschen Schiff ins Wasser gesprungen und ans Ufer geschwommen.“ „Von der Bremen?“ Johannes nickt. „Warum zur Hölle?“ „Ich kann nicht zurück nach Deutschland, sie werden mich einsperren und foltern“, beteuert er. „Sind Sie Jude, Kommunist oder Krimineller?“ Bemerkenswerte Reihenfolge, Jude – Kommunist – Krimineller, sinniert Johannes. „Nein, ich bin Demokrat und möchte Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika werden.“ Der Beamte sieht ihn misstrauisch an. „Da Sie nachts von einem deutschen Schiff springen, muss ich wohl annehmen, dass Sie dort etwas Kriminelles getan haben“, mutmaßt sein Gegenüber. „Ganz bestimmt nicht, Sir! Ich hatte keine Möglichkeit das Schiff anders zu verlassen.“ „Weshalb rechnen Sie in Ihrem Heimatland mit Folter und Gefängnis?“, bohrt der Vernehmungsbeamte weiter. „Ich bin bekennender Demokrat. In Europa herrscht höchste Kriegsgefahr und ich möchte nicht gezwungen werden, auf der falschen Seite zu kämpfen, wenn Sie verstehen, was ich meine, Sir!“, versucht er es erneut. Der Miene des Beamten ist nicht zu entnehmen, ob er versteht, was Johannes meint. „Soso, und da springen Sie einfach in den Hudson und verstoßen gegen die Einreisebestimmungen der Vereinigten Staaten von Amerika?“ „Um aus Deutschland heraus zu kommen, riskiert man so etwas.“ „Nun, Mister Seibel, hier müssen Sie dafür möglicherweise ins Gefängnis.“ Johannes wirkt erschrocken. „Ich hoffe nicht, Sir, wenngleich ich ein Gefängnis in den Vereinigten Staaten von Amerika dem in Deutschland in jedem Falle vorziehe.“ Der Beamte zieht die Augenbrauen hoch, macht eine lange nachdenkliche Pause. „Sie sprechen hervorragend Englisch, Mister Seibel.“ „Danke, Officer.“ „Detective!“, verbessert sein Gegenüber. „Entschuldigung, Detective, Sir!“ „Von wo in Deutschland stammen Sie?“ „Ich bin aus Hamburg, Sir.“ „Meine Großeltern stammen aus Stettin“, bemerkt der Detective nachdenklich. „Allerdings sind sie nicht über Bord gesprungen, sondern ordentlich eingewandert.“ Eine weitere Pause. „Warten Sie hier!“, befiehlt der Beamte schließlich und verschwindet in einem der verglasten Büros.

9:55 Uhr, die Zeit kriecht dahin. Trotzdem spürt er einen Hauch Optimismus, wie sich das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden beginnt. Der Detective kommt zurück. Seinem Gesichtsausdruck ist nicht anzumerken, ob er etwas Gutes oder Schlechtes zu verkünden hat. „Was meinen Sie, wann die Bremen New York verlassen wird?“, fragt er leise in vertraulichem Tonfall. „Vermutlich noch heute, sobald die Zollbehörde der Vereinigten Staaten von Amerika ihre Untersuchungen beendet hat, Sir.“ „Aha!“ Nachdenkliches Schweigen. „Und Sie sind ein Gegner Hitlers und wollen auf keinen Fall zurück auf das Schiff.“ „Richtig, Sir, auf keinen Fall!“ Der Detective sieht ihn streng an, scheint mit sich zu ringen. Johannes versucht sich nicht anmerken zu lassen, dass sein Herz wie rasend schlägt. Schließlich erhebt sich der Beamte und winkt einen Uniformierten heran. „Officer, bringen Sie diesen unverschämten Kerl zurück in seine Zelle und lassen Sie ihn frühestens morgen wieder heraus!“

Acht Stunden später gleitet der Schnelldampfer Bremen langsam in die Flussmitte des Hudson. Fast die komplette Mannschaft ist an Deck angetreten. Das Bordorchester spielt die deutsche Nationalhymne. Die Mannschaft singt den Text mit und hat den rechten Arm stramm zum Himmel gestreckt. Die Passagiere der Normandie stehen an Deck und winken herüber. Der französische Atlantikliner dippt die Flagge zum Abschied.

Als man Johannes Seibel am nächsten Vormittag freilässt, händigt man ihm sein immer noch feuchtes Segeltuchpäckchen, sein Geld und seinen Pass aus und teilt ihm mit, dass er fünf Dollar Strafe bezahlen muss für seine nächtlichen Eskapaden im Hafen, sowie für Kost und Logis bei Uncle Sam. Er zahlt und erhält eine Quittung. Außerdem werde man ihn umgehend der zentralen Einwanderungsbehörde zuführen. Zwanzig Minuten später sitzt er mit zwei Männern und einer Frau hinten in einem Lastwagen der Polizei. Auch diese Situation weckt düstere Erinnerungen bei ihm. Stundenlang verhört man ihn darüber, ob er womöglich ein deutscher Spion sei, bis es ihm gelingt die Befürchtungen der Einwanderungsbehörde zu zerstreuen. Nach der obligatorischen ärztlichen Untersuchung erhält er schließlich ein Gesundheitszeugnis und ein Formular mit einem Dienstsiegel, Status: bis auf weiteres geduldeter Immigrant ohne Arbeitserlaubnis. Man kassiert 25 Cent für die ärztliche Untersuchung und teilt ihm mit, dass er das Stadtgebiet von New York nicht verlassen darf, sich wöchentlich bei der Behörde zu melden habe und sich am besten an eine der deutschen Kirchengemeinden wenden soll. Dann ist er entlassen und tritt hinaus in den sonnigen New Yorker Septembernachmittag. Johannes kann sein Glück kaum fassen, ausgerechnet an einen Detective geraten zu sein, der sich seiner deutschen Wurzeln erinnerte und so etwas wie ein Gewissen hat. Er versucht sich zu orientieren und macht sich auf den Weg.

Nach der zweiten Nacht in einer erbärmlichen verlausten Massenunterkunft, wo es schlimmer als in jener Gefängniszelle war, ist Johannes Seibel erneut auf Arbeitssuche. In den belebten Straßen Manhattans machen die Zeitungsjungen, welche lautstark die letzten Neuigkeiten ausrufen, heute besonders gute Geschäfte: „Extrablatt! Extrablatt! Krieg in Europa! Hitlers Truppen marschieren in Polen ein! England und Frankreich stellen Ultimatum!“ hört man sie überall rufen. Johannes kauft den Herald Tribune. Der Funke am Pulverfass soll von Polen provozierte Grenzzwischenfälle gewesen sein, woraufhin die deutsche Wehrmacht nur wenige Stunden später am Morgen des 1. September mit hunderttausenden Soldaten die polnische Grenze auf breiter Front überrennt, ist dort mit zweifelndem Unterton zu lesen. Erst heute hatten die Briten und Franzosen dem Deutschen Reich ein Ultimatum gestellt, sich umgehend aus Polen zurückzuziehen, andernfalls kriegerische Handlungen gegen Deutschland einzuleiten. Niemals würde Hitler nachgeben, auch wenn Deutschland wieder einen Zweifrontenkrieg führen muss, denkt Johannes. Dass Frankreich und England sofort entschlossen angriffen, während die deutsche Wehrmacht noch in Polen beschäftigt war, und Hitler schnell besiegen würden, scheint niemand zu glauben. Zuhause ist Krieg! Er denkt an seine Familie in Hamburg und an Rebecca und ihre Mutter, die gottseidank in Sicherheit waren. Die beiden Fotographien in seiner Brieftasche hatten die Feuchtigkeit einigermaßen überstanden. Die erste Fotographie zeigt seine Familie, Mutter, Vater, seine beiden Schwestern und ihn selbst, die andere zeigt Rebecca und ihn am Ufer der Alster. Wie ein heimtückisches Gift sickern immer wieder Zweifel in seine Gedanken, sie alle zurückgelassen zu haben. Hatte er eine bessere Wahl? Was könnte er tun, dass Rebecca und ihre Mutter auch hierher kommen können? Ob die Normandie noch im Hafen liegt und nach Frankreich ausläuft? Es spielt keine Rolle, er hat nicht annähernd genug Geld für die Überfahrt und wenn Frankreich Deutschland den Krieg erklärt, werden sie ihn wohl kaum auf das Schiff lassen, denkt er verdrossen.

Hamburg, Mai 1927

Johannes wartet ungeduldig vor dem riesigen neuen Klinkerbau an der Hochbahnstation Hoheluftbrücke. Er versteckt sich hinter einer Litfaßsäule, damit ihn bloß keiner von seinen Schulkameraden oder womöglich ein Lehrer entdeckt. Seinen Schulranzen hat er zwar dabei, allerdings wird er heute ausnahmsweise die Schule schwänzen. Und das Beste ist: Opa ist sein Komplize. „Kein Wort zu Niemandem!“, hatte der ihm gestern Abend noch verschwörerisch zugeraunt. Heute gibt es auf der Werft Blohm & Voss einen besonderen Stapellauf zu sehen. Die Cap Arcona, der größte Dampfer der Hamburg-Süd Reederei, soll dem nassen Element übergeben werden. Opa ist der Meinung, dass es an solchen Tagen ohnehin per Regierungserlass schulfrei geben sollte, außerdem ist sein Enkel ein ziemlich guter Schüler. Also hatte Opa seine Beziehungen zu seinem früheren Arbeitgeber, der HAPAG Reederei, spielen lassen, und zwei der begehrten Plätze auf der reedereieigenen Barkasse ergattert. So konnte man den Stapellauf aus nächster Nähe erleben. Johannes weiß aus Opas Erzählungen, dass es vor dem großem Krieg noch viel größere Dampfer gegeben hat, welche man jedoch an den Feind abliefern musste – ein Jammer! Der riesige Imperator, ein gigantisches Schiff und die noch größere Vaterland – alles weg! Der alte Ballin hatte Gift genommen damals, weil er den Verlust seiner stolzen Flotte nicht ertragen konnte. Der Riesendampfer Imperator habe an der Bugspitze eine Weltkugel gehabt, auf der habe gestanden: Mein Feld ist die Welt! Der Leitspruch der HAPAG, welchen Opa oft zitiert.

Endlich biegt Opas grüner Opel um die Ecke. Schnell steigt er in das Automobil und duckt sich ein wenig, weil gerade zwei seiner Klassenkameraden vorbeikommen. Wenn er nicht gerade die Schule schwänzen würde, wäre er stolz gewesen, wenn sie ihn in dem Auto gesehen hätten. Opa gibt Gas, der Wagen, offizielle Bezeichnung Opel 4/12PS, im Volksmund Opel Laubfrosch genannt, beschleunigt. Opel Laubfrosch, weil das Auto relativ klein ist und von der Firma Opel in ungewöhnlichem grün ausgeliefert wurde, wo Automobile doch eigentlich schwarz lackiert waren. Aber immer noch besser als der alberne, im Volksmund nur Kommissbrot genannte, Hanomag vom Hauswart Pagel aus dem Hochparterre von Opas Wohnblock am Kaiser-Friedrich Ufer.

Opa rast mit fast 60 Stundenkilometern die Grindelallee herunter, wie Rudolf Caracciola in seinem Mercedes-Kompressor auf dem Berliner Avus – knorke! Durch das zarte Grün der Kastanienbäume scheint die Morgensonne. „Unser Feld …?“ ruft Opa. „Ist die Welt!“, ergänzt Johannes. Ein Ritual zwischen den beiden. „Trotzdem, zu keinem ein Wort, verstanden? Deine Mutter reißt mir den Kopf ab, wenn das rauskommt!“, ermahnt Opa ihn ein weiteres Mal, während er in die Dammtorstraße einbiegt und kurz vor dem Stephansplatz rasant eine Straßenbahn überholt. Johannes fühlt sich wie in einer Gangstergeschichte. Zehn Minuten später erreichen sie die Landungsbrücken, wo schon Dutzende Barkassen und Hafendampfer mit qualmenden Schornsteinen bereitliegen. Eine große Menschenmenge drängt von den Pontons auf die Schiffe. Opa und Johannes müssen einen Augenblick suchen, bevor sie die richtige Barkasse finden. „Man tau, Wilhelm, geiht los!“, mahnt der Barkassenführer. Endlich sind sie an Bord. Opa wird freudig von einigen Pensionären der Reederei begrüßt. Johannes darf oben beim Schiffsführer stehen.

Wenig später liegen sie mit zahlreichen anderen Schiffen voller Schaulustiger an Bord in gebührendem Abstand vor den Helgen der Werft. Von dort weht Marschmusik herüber. Der riesige Schiffsrumpf ragt empor, dahinter die gigantischen Helgenkrane. Gebanntes Warten. Johannes wagt nicht den Blick abzuwenden, um bloß keinen Augenblick des großen Ereignisses zu verpassen. Dann endlich scheint der Koloss sich zu bewegen, wird immer schneller und gleitet mit einer mächtigen Bugwelle ins Wasser. Vielstimmiges Dampfertuten begleitet den Stapellauf. Johannes darf die Dampfpfeife der Barkasse betätigen. Die Männer stoßen mit Bierflaschen an, auch wenn gerade das Flaggschiff der Konkurrenz vom Stapel lief. Opa reicht Johannes eine Fassbrause. „Unser Feld ist die Welt!“, ruft er ihm begeistert zu. Sie schauen noch eine Zeit lang zu, wie mehrere Schlepper die Cap Arcona an den Ausrüstungskai bugsieren, bevor die Barkasse sie zurück zu den Landungsbrücken bringt. Opa und Johannes essen dort ein Rundstück mit rotem Heringssalat. Dann zupft Opa Johannes Jacke zurecht. „Anständige Kledage ist die halbe Miete, mien Jung“, ein weiteres Lebensmotto von Wilhelm Maltus. „Opa muss nun los. Du darfst heute ausnahmsweise mal trödeln, bis die Schule aus ist. Wir sehen uns nachher im Hotel.“ Er zwinkert seinem Enkel zu und steigt in sein Automobil.

Johannes schlendert an den Vorsetzen entlang. An den Dalben liegen mehrere große Dampfer. Ganz vorn an der Überseebrücke die etwas betagte aber sehr elegante Cap Polonio mit ihren drei hohen Schornsteinen, dahinter der brandneue HAPAG Dampfer New York, ein Stückchen weiter zwei weiße Afrikadampfer der Woermann Linie mit ihren bunten Schornsteinen. Ein imposanter Anblick. Johannes ist begeistert. Er erkennt die meisten großen Passagierdampfer schon von weitem, kann Schiffsnamen, Reederei und Tonnage der Schiffe auswendig aufsagen. Er überquert die Niederbaumbrücke und erreicht die Kehrwiederspitze. Von dort hat er einen guten Blick auf den Uhrenturm am Kaiserhöft. Auf dessen Spitze befindet sich ein Zeitball. Jeden Tag um Punkt zwölf Uhr mittags wird der Ball fallen gelassen, damit die Seeleute ihre Schiffschronometer synchronisieren können. Uhrmacher Weintraub hatte einmal erklärt, wie so eine Schiffsuhr funktionierte, aber Johannes hatte nicht alles verstanden, außerdem erhielten die meisten Schiffe das genaue Zeitsignal inzwischen per Funk, hatte Opa erklärt. Johannes wartet einige Minuten bis er den Zeitball fallen sieht. Bei den Werften heulen Sirenen zur Mittagspause. Johannes blickt sich noch einmal um. Er kann sich kaum von der imposanten Hafenszenerie losreißen, aber schließlich ist es Zeit, wie jeden Tag nach der Schule in Papas Hotel zu Mittag zu essen und anschließend unter Wilhelmines Aufsicht seine Hausaufgaben zu erledigen. Danach muss er meistens im Hotel helfen.

Bald darauf überquert er den Rödingsmarkt und erreicht den Großen Burstah. Dort stauen sich wie üblich Fuhrwerke, Automobile, Kraftdroschken und Straßenbahnen. Opas Opel parkt direkt vor dem Hotel hinter einem riesigen Horch, der wohl einem der Gäste gehört. Über dem Eingangsportal thront ein eleganter weinroter Baldachin mit goldenem Schriftzug – Hotel Seibel. Im großzügigen Foyer weist ein roter Teppich direkt auf den Rezeptionstresen aus dunklem Mahagoni, wo Mama in ihrem hübschen Kleid die Gäste empfängt. Das Geschäft brummt. Alle 24 Zimmer sind vermietet. Nach rechts geht es zum Restaurant. Dort herrscht um diese Zeit Hochbetrieb. Viele Mittagsgäste, Beamte und Angestellte aus dem nahen Rathaus, den Banken und Kontorhäusern, schätzen die reichhaltigen, schmackhaften Gerichte im Restaurant des Hotel Seibel. Einige der Stammgäste kennt Johannes schon. Die drei lustigen Herren, die immer am Ecktisch zu Mittag essen, sind noch dort. Als sie Johannes erblicken, rufen sie ihn an ihren Tisch. „Na, mien Jung, kannste noch jonglieren?“ „Klar!“, antwortet er. Darauf hat er nur gewartet. Schnell holt er seine Bälle, läuft zurück an den Tisch und zeigt was er kann. Jonglieren mit drei Bällen hatte er sich selbst beigebracht und es war ihm leicht gefallen. Der eigentliche Trick ist, hatte er schnell herausgefunden, nicht zu versuchen einen einzelnen Ball im Blick zu behalten, sondern einfach konzentriert im konstanten Rhythmus mit eher unscharfem Blick aber hoher Konzentration die Bälle zu werfen. Inzwischen übt er mit vier Bällen, aber es den Gästen vorzuführen wagt er nicht, bevor er es richtig beherrscht. Die Herren klatschen Beifall. Sie stecken ihm ein paar Pfennige zu, auf Dauer ein einträgliches Geschäft für Johannes. Im Foyer trifft er Wilhelmine. „Haste wieder den Pausenclown gemacht?“, neckt sie ihn. Wilhelmine ist sechszehn und besucht die Hotelfachschule. „In der Küche steht dein Essen“, teilt sie ihm mit und wuschelt ihm durchs Haar, was Johannes nicht mag. Sonst versteht er sich mit seiner ältesten Schwester sehr gut. Wilhelmine ist eine plietsche Deern, meint Opa. Auguste hingegen ist mitten im schlimmsten Backfischalter, hatte er neulich aufgeschnappt, als die Erwachsenen sich nach dem Essen unterhielten. Mit Auguste hat er öfter Streit. Zuhause tritt sie mit Absicht auf die Schienen seiner Märklin Bahn und lässt ihre Sachen überall liegen. Weil sie in der Schule nicht fleißig war, arbeitet sie nun in der Hotelküche. Allerdings hatte sie sich in den letzten Monaten zu einem ziemlich hübschen Ding entwickelt und begonnen damit zu kokettieren. Die rothaarige, etwas pummelige Wilhelmine, und auch das hatte Johannes von den Erwachsenen aufgeschnappt, ist eher zu den Mauerblümchen zu zählen. Was damit gemeint war, weiß er schon. Er findet es nicht nett von seinen Eltern, so über Wilhelmine zu reden.

Paul Seibel, ganz Hoteldirektor im eleganten Stresemann mit Weste, goldener Uhrkette und Weltkriegsorden am Revers bespricht sich mit zwei Männern in Zimmermannskluft. Sie begutachten das Treppenhaus des Hotels. Einer der Handwerker führt Messungen mit seinem Zollstock durch und trägt Maße in sein Notizbuch ein. Das Hotel soll einen Fahrstuhl für die Gäste bekommen. „Das wird bannig aufwändig, Herr Seibel. Wee möten ‘ne Menge Stahlträgers intrecken und auf ‘n Dachboden ‘n Fundament für den Maschinenraum gießen“, erklärt der Handwerker. „Weil das Treppenhaus dann enger wird, muss auf der Gebäuderückseite eine Treppe aus Eisen hin. Feuerpolizeilich vorgeschrieben!“ ergänzt der andere. „Gut, wie lange benötigen Sie für den kompletten Umbau?“, fragt Seibel und bietet den Männern Manoli Zigaretten an. Die leere, kunstvoll kolorierte Manolipackung, ein begehrtes Sammelobjekt seines Sohnes, drückt er achtlos zusammen und wirft sie in einen Papierkorb. „Bummelig, acht bis zehn Wochen, wenn allens glatt geiht, Herr Seibel.“ „Dann kalkulieren Sie mal alles durch und schicken mir einen Kostenvoranschlag!“ „Mookt wi, Herr Seibel! Die Herren verabschieden sich mit Handschlag. Paul Seibel zündet sich eine dicke Zigarre an und blickt nachdenklich nach oben, als er die Stimme seines Sohnes hört. „Kriegen wir einen Fahrstuhl, Papa?“ „Hast du etwa gelauscht?“ „Nein Papa, ich kam gerade hier vorbei, soll die Sachen nach oben bringen.“ Er trägt einen Stapel Handtücher. „Ja, wir bauen einen Fahrstuhl für die Gäste ein“, antwortet er. „Kann ich dann Liftboy werden?“ Papa blickt ihn streng an. „Mal sehen, jetzt bring erstmal die Tücher nach oben!“ Johannes steigt die Treppe hoch. Er hatte in Mamas Illustrierter gesehen, wie in einem vornehmen Hotel in Amerika die Fahrstühle von Jungen in schicker Uniform bedient werden. Da gibt es bestimmt eine Menge Trinkgeld zu verdienen.

Wenn er nur das angrenzende Gebäude in seinen Besitz bringen könnte, denkt Paul Seibel. Dort befinden sich ein Lederwarengeschäft im Erdgeschoss und eine Werkstatt, Büros und Wohnungen in den oberen Stockwerken. Er könnte das Restaurant fast auf das Doppelte vergrößern, zwölf weitere Gästezimmer und eine geräumige Wohnung für seine Familie einbauen. Dann könnte man die Wohnung im Stadtteil Hoheluft aufgeben und hier einziehen. Aber jetzt, wo die Krise vorbei ist, würde niemand eine solche Immobilie hergeben. Außer? Ihm muss etwas einfallen, überlegt er.

Als Johannes die Treppe herunter kommt, sieht er seinen Vater ruhelos vor den Treppen auf und ab gehen, mit grimmiger Miene. Warum ist er nur so streng und sagt nie etwas Nettes zu ihm oder lobt ihn für seinen Fleiß? Nun ja, heute, wo er die Schule geschwänzt hatte, hat er sicher kein Lob verdient, aber sonst?

Die Schulwege von Johannes und Rebecca kreuzen sich an einer Stelle. Manchmal treffen sie sich dort, gehen ein kurzes Stück gemeinsam und reden miteinander, fast immer über die Schule. Ob er bald mal wieder mit seinem Opa vorbeikäme, sie könnte ihm etwas auf dem Klavier vorspielen, schlägt sie ihm an einem regnerischen Hamburger Sommertag vor. Gern, er wolle seinen Opa darauf ansprechen. Gelegentlich nimmt Opa ihn mit zu den Weintraubs, was er seinen Eltern nicht erzählen soll.

Der Uhrmacher winkt Johannes und Opa Maltus in seine Werkstatt als die beiden einige Tage später dort auftauchen. Eine komplizierte Taschenuhr ist in die Halterung der Werkbank eingespannt. Der Deckel ist geöffnet, sodass man das filigrane Uhrwerk betrachten kann. „Seht mal her, eine kostbare Breguet, über 120 Jahre alt, mit mehreren Komplikationen. Sowas bekommt man nicht mehr oft zur Reparatur. Das war noch Wertarbeit. Sogar Napoleon hat eine Breguet besessen. Er erklärt andächtig die filigrane Mechanik. „Zeig mal deine Hände, Johannes! Hmm, schmale Uhrmacherhände sind das nicht gerade. Vielleicht biste trotzdem geschickt genug. Nimm mal die Feder dort mit der Pinzette auf und reich sie mir, aber ganz vorsichtig.“ Johannes kommt seiner Aufforderung nach. Es gelingt ihm auf Anhieb. „Siehste, wirste mal Uhrmacher“, lobt Weintraub. „Oder Klavierspieler“, wirft Frau Weintraub ein, die gerade die Treppe heruntergekommen ist. „Hast Massel, mein Junge, habe ich doch gerade heiße Schokolade gemacht!“ Sie lächelt gütig. Johannes und Frau Weintraub steigen die Treppe hinauf. Am Esstisch in der guten Stube sitzt Rebecca bereits vor einer dampfenden Tasse und ihren Notenblättern. „Pass auf, Kind, dass du mir bloß keine Schokoladenflecken auf die Noten machst!“, ermahnt Frau Weintraub ihre Tochter.

Rebecca spielt, etwas holprig zwar, ein temperamentvolles Klavierstück. Frau Weintraub nimmt Johannes Hand und wiegt sich mit ihm zu einem Tanz, was ihm ein bisschen peinlich ist. „Das Stück heißt Hava Nagila und ist ein altes hebräisches Volkslied. Hava Nagila heißt: Lasst uns glücklich sein“, erklärt sie. Dann setzt Frau Weintraub sich selbst ans Instrument und spielt gekonnt ein beeindruckendes Stück. „Das ist von Brahms, er hieß übrigens Johannes mit Vornamen und wurde hier in Hamburg geboren.“ Sie lächelt ihn freundlich an. „Ungarische Tänze, wird eigentlich vierhändig gespielt.“ „Das klingt wirklich großartig, Frau Weintraub“, lobt Johannes. An Rebecca gerichtet ergänzt er eilig: „Und du kannst es auch schon so gut.“ Rebecca strahlt. „Willst du es lernen? Ich erteile dir gern ein paar Unterrichtsstunden“, bietet Frau Weintraub an. Johannes zögert. „Komm setz dich hier her. Sie lässt ihn einige Tonleitern spielen. „Du hast wirklich geschickte Hände“, stellt sie fest.

Einige Monate später spielt Johannes in Weintraubs guter Stube bereits halbwegs passabel einfache Stücke. Mama und Papa wissen nichts von seinen heimlichen Klavierstunden bei Frau Weintraub, weil Papa die Weintraubs nicht mag, auch Auguste nicht, die würde petzen, weil sie Rebecca nicht leiden kann. Nur Wilhelmine und Opa wissen Bescheid. Johannes vermutet, dass Opa die Klavierstunden bezahlt, er weiß es aber nicht genau. „Wechselst du im nächsten Jahr auf eine höhere Schule?“, fragt Rebecca. „Ja, wenn ich die Aufnahmeprüfung schaffe, auf die Oberrealschule an der Bogenstraße, sind ja nur zehn Minuten von zu Hause.“ Sie nickt zufrieden.

Johannes und sein Schulfreund Kurt Krahn klettern aus Opas Automobil. Die beiden Jungen hatten sich zu zweit auf den Beifahrersitz gequetscht, der Opel ist ja nur ein Zweisitzer. „Opa, beeil dich, das Spiel geht gleich los, ruft Johannes. „Man sinnig, `n oller Mann ist kein D-Zug“, keucht Opa. Sie parken in der Nähe des Altonaer Stadions, wo heute das Endspiel zur Deutschen Fußballmeisterschaft 1928 stattfindet: Hamburger Sportverein gegen Hertha BSC Berlin. Spät aber rechtzeitig drängen sie sich in das mit 50.000 Menschen rappelvolle Stadion. Kurz darauf ist Anpfiff und schon nach fünf Spielminuten schießt Otto Harder, von den Anhängern des HSV nur Tull genannt, seine Mannschaft in Führung. Das Publikum jubelt begeistert. „Jawoll Tull! Weiter so!“, ruft Opa. „Wär doch gelacht, wenn wir Hertha nicht ein zweites Mal die Meisterschaft abjagen.“ Johannes und Kurt müssen sich auf die Zehenspitzen stellen, um etwas zu sehen. Gerade hatte der Hamburger Torwart Wilhelm Blunk einen Kopfball von Willi Kirsei abgewehrt. „Das war knapp!“, kommentiert Johannes. Noch in der ersten Halbzeit geht der HSV mit 3:00 in Führung. Nach der Pause, schießen die Hamburger zwei weitere Tore. Die Stimmung im Stadion kocht. Der Meistertitel scheint gesichert. „Das holen die Berliner niemals wieder auf!“, ruft Opa begeistert. Schade, dass Papa nicht dabei ist, denkt Johannes, immer hat er nur Zeit für sein Hotel. Am Ende steht es 5:2 für den HSV, der Jubel ist groß. „Darauf müssen wir noch was trinken gehen“, schlägt Opa vor, als sie in seinen Opel Laubfrosch steigen. „Alster oder Elbe?“, fragt er gleich darauf. „Elbe! Zum Hafen!“, rufen die beiden.

Später als sie auf der Dachterrasse vom Fährhaus Sankt Pauli vor ihren Gläsern sitzen und den grandiosen Blick über den Hafen genießen, reden sie noch eine Zeit lang über das Spiel und wie der HSV Hertha nass gemacht hat. „Wie ist eigentlich das Hamburger Schulturnier in diesem Sommer ausgegangen?“, fragt Opa die beiden Jungen. „Dritter Platz, 3:0 gegen Veddel immerhin, aber Barmbek hat wieder den Pokal geholt.“ Die Fußballrivalität der Hamburger Schulen entspann sich zwischen dem linken und rechten Alsterufer. Und die vom linken Ufer hatten mal wieder gewonnen. „Und hat einer von euch beiden wenigstens ein Tor geschossen?“ „Nee, bin ja nur Außenverteidiger“, erklärt Johannes. Kurt hatte als Mittelstürmer immerhin einmal getroffen. Opa Maltus’ Blick schweift über den Hafen. Unter den Helgenkranen bei Blohm & Voss ragen die Aufbauten eines weiteren Ozeanriesen hervor. „Die Europa! Bald ist Stapellauf. Dass ich das noch erlebe, dass der Norddeutsche Lloyd hier in Hamburg auf der Hauswerft der HAPAG so ein phantastisches Schiff baut“, seufzt Opa. „Das Schwesterschiff, das bauen sie doch in Bremen“, merkt Johannes an. Opa blickt ihn verständnislos an. „Wäre ja noch schöner, hier in Hamburg so ein Schiff ausgerechnet auf den Namen Bremen zu taufen.“ Er schüttelt entrüstet den Kopf. „Jammerschade, bald haben die Bremer die größten und schnellsten Dampfer auf dem Atlantik“, schnauft Opa. Die alte Rivalität zwischen den Hansestädten. Die Schwesterschiffe Europa und Bremen, der zukünftige Stolz der deutschen Hochseeflotte, sollten im nächsten Jahr fertiggestellt werden und ihren wöchentlichen Liniendienst von Bremerhaven nach New York aufnehmen und das blaue Band für die schnellste Atlantiküberquerung für Deutschland gewinnen. Die Dampfturbinen der Europa sollen mehr als 130.000 PS leisten, weiß Johannes. Schön, dass Deutschland nach dem verlorenen Weltkrieg wieder solche Schiffe bauen kann, denkt er. Überhaupt, geht es ihnen ziemlich gut. Er erinnert noch die schlechte Zeit, wenige Jahre zuvor als alles grau und düster war. Inzwischen verdient Papa scheinbar eine Menge Geld mit dem Hotel.

Johannes und sein Freund Kurt trödeln auf dem Heimweg von der Schule, werfen kleine Steine nach den Enten auf dem Isebekkanal. Als sie vor Opas Wohnblock ankommen, hat Hauswart Pagel gerade seinen Hanomag Kommissbrot angeworfen. Der Einzylindermotor auf der Hinterachse versetzt den Wagen in ein rhythmisches Wippen, was charakteristisch für dieses Auto ist und witzig aussieht. „Kiek mol, Pagels Kommissbrot hüppt wedder wie ‘n Karnickel“, amüsiert sich einer der Jungen, die am Straßenrand Murmeln spielen, vorlaut. „Ein Kilo Blech, ein Kilo Lack, fertig ist der Hanomag!“, fügt sein Spielkamerad hinzu. Alle lachen, auch Johannes und Kurt. „Ich werd’ euch Beine machen, verdammte Bengels“, brüllt Pagel und droht mit der Faust. Die Jungen verziehen sich grinsend. Johannes will sich von Kurt verabschieden. „Gehst heute zu deinem Opa?“, fragt Kurt. „Ja.“ „Dann besucht ihr wohl wieder den Uhrmacherjuden, drüben in Klein Jerusalem?“, argwöhnt er. Johannes zögert verunsichert. „Mein Vater sagt, mit Juden lässt man sich nicht ein, außerdem sind sie ‘ne minderwertige Rasse und Schädlinge am Volkskörper“, erklärt Kurt ziemlich laut. „Nee, ich will nur meinen Opa besuchen“, antwortet Johannes und wendet sich ab. „Bist mit der Tochter vom Uhrmacherjuden gesehen worden“, setzt Kurt in einem anklagenden Tonfall nach. „Kenne sie eben“, murmelt Johannes so beiläufig wie möglich und verschwindet schnell im Hauseingang. Er kommt sich ein wenig schäbig vor, Rebecca fast verleugnet zu haben, wo sie ihm doch eine Menge bedeutet. Und was sollte der Unsinn mit der minderwertigen Rasse? Turnlehrer Hackbarth hatte neulich auch so etwas gesagt. Die Weintraubs konnten damit kaum gemeint sein. Sie sind in seinen Augen sehr kultivierte Leute, die gebildeter sind, als die meisten Menschen, die er kennt. Dass er jeden Donnerstagnachmittag bei Frau Weintraub zur Klavierstunde geht, hatte er allerdings niemandem in der Schule erzählt, auch nicht Musiklehrer Wattrich, obwohl ihm seine Klavierkenntnisse sicher eine bessere Note einbringen würden. Aber heute ist Dienstag und da hat er Schwimmunterricht in der Warmbadeanstalt Hohe Weide. Dass ein Mann schwimmen kann, sei wichtig, vielleicht würde er mal zur See fahren oder zur Marine gehen und da sei es nicht empfehlenswert, wenn man Nichtschwimmer sei, hatte Opa argumentiert und sich ausnahmsweise gegen Papa durchgesetzt, der es überflüssig findet, dass ein zukünftiger Hoteldirektor schwimmen kann.

An einem nasskalten Dezembertag peitscht ein ungemütlicher Wind zwischen den Häuserschluchten hindurch, fegt letztes Laub von den Bäumen. Johannes beeilt sich von der Schule nach Hause zu kommen. Inzwischen haben sie eine Wohnung in einem Neubau, einem Wohnblock aus dunklen Klinkern, wie sie überall in den umliegenden Straßen gebaut werden, bezogen. Die neue Wohnung liegt ebenfalls in der Schlankreye und Johannes hat ein eigenes kleines Zimmer für sich. Heute ist wieder Donnerstag und er hat Klavierstunde bei Frau Weintraub. Allerdings ist seine Mutter seit einiger Zeit wieder zuhause in der neuen Wohnung und nicht im Hotel. Papa hatte einen Portier eingestellt und Wilhelmine hilft ebenfalls tüchtig mit, sodass Mama sich mehr um den Haushalt und um Opa kümmern kann, der in diesem Winter besonders schlimm unter seinem Rheuma leidet. Jedenfalls bei dem Schietwetter braucht er eine gute Ausrede, um am Nachmittag nach draußen zu dürfen. Schließlich gelingt es ihm, indem er vorgibt mit einem Schulkameraden dringend für eine Klassenarbeit lernen zu müssen.

Die Klavierstunden sind eigentlich verdammt anstrengend, da er ja zwischendurch nicht üben kann, weil sie zuhause kein Klavier haben. Trotzdem kommt er langsam aber stetig voran. Beim letzten Mal hatte er mit Rebecca vierhändig gespielt. Sie hatten dicht beieinander auf der Klavierbank gesessen und manchmal hatten sich ihre Schultern und Arme berührt. Ein bisher nicht gekanntes Wohlgefühl hatte ihn durchströmt. Aber das hatte sicher nichts zu bedeuten. Dennoch genießt er die Zeit bei den Weintraubs, wenn sie nach der Klavierstunde in der großen Küche mit den zwei Geschirrschränken zusammensitzen und heiße Schokolade trinken.

„Mama hat Sufganiyot gemacht“, eröffnet ihm Rebecca freudestrahlend, als er die Treppe vom Uhrengeschäft hinauf kommt. „Ja, aber die gibt es erst zum Chanukkafest“, erklärt Frau Weintraub mit strenger Stimme. Aus der Küche kommt tatsächlich ein verführerischer Duft nach Gebäck, stellt Johannes fest. „Was ist Sufgani…, wie heißt das nochmal?“, flüstert er Rebecca zu. „Sufganiyot, das sind kleine Teigkugeln mit Marmelade drin, lecker!“, schwärmt sie. „Manche nennen sie auch Ochsenaugen“, ergänzt Frau Weintraub, „aber nun mach dem armen Jungen nicht den Mund wässrig, Rebecca!“, schimpft sie ihre Tochter. Dann lächelt sie milde. „Ausnahmsweise“, flüstert sie verschworen. Sie reicht ihm eine der Teigkugeln. Und als Rebecca sie herzerweichend anblickt, bekommt sie auch eine. „Aber beißt vorsichtig hinein! Die Marmelade ist bestimmt noch sehr heiß und sagt Papa nicht, dass ihr sie heute schon bekommt.“ „Sufganiyot ist übrigens der Plural von Sufganiyah und das ist Hebräisch. Das lerne ich gerade in der Schule“, erklärt sie stolz. „Wann beginnt denn das Chanukkafest?“, fragt er Rebecca. „Morgen“ „Aber, das ist doch so etwas wie Weihnachten und Weihnachten ist erst in drei Wochen“, stellt er fest. „Nein, Chanukka ist unser Tempelfest und hat nichts mit dem Weihnachtsfest zu tun. Das Datum richtet sich nach dem jüdischen Kalender und ist manchmal schon im November in anderen Jahren erst, wenn ihr Christen Weihnachten feiert. Chanukka dauert acht Tage. Jeden Tag zünden wir eine weitere Kerze an.“ Sie weist auf einen achtarmigen Leuchter, den Chanukkia, der im Fenster der guten Stube steht. „Und da esst ihr jeden Tag die leckeren Kugeln?“ Rebecca lacht. „Nein, auch andere Sachen, zum Beispiel Latkes, das sind Kartoffelpuffer und am achten Tag, wenn alle acht Kerzen brennen, gibt es Gänsebraten, dann kommen Freunde und Verwandte zu Besuch und wir spielen Glocke und Hammer.“ „Gibt es auch Geschenke?“ „Ja, die Kinder bekommen Süßigkeiten, aber die meisten Süßigkeiten gewinne ich beim Dreidelspiel mit den anderen Kindern“, verrät sie. „Das Spiel kenne ich nicht“, gibt er zu. „Warte!“ Sie läuft in ihr Zimmer und kommt kurz darauf mit einem hölzernen Spielstein wieder. „Das ist ein Dreidel“, erklärt sie. Es handelt sich um ein vierseitiges Holzklötzchen mit einem eingesteckten Stäbchen, auf dem man den Dreidel wie einen Kreisel drehen kann. Auf den vier Seiten des Dreidels befinden sich hebräische Buchstaben. Der Buchstabe, der oben liegt, wenn der Dreidel ausgetrudelt ist, entscheidet darüber, ob etwas gewonnen oder verloren geht. Rebecca erklärt ihm die einzelnen Spielzüge ausführlich. Er zögert einen Augenblick. „Geht ihr eigentlich oft in eine Synagoge?“ „Eigentlich gehen wir nur an den Feiertagen in die große Synagoge am Bornplatz. Jüdische Feiertage gibt es allerdings eine ganze Menge: Rosch ha Schana, Jom Kippur, Sukkot…“ „Rebecca, verschone den armen Johannes“, spricht ihr Vater, der soeben die gute Stube betreten hat, „sonst will er noch konvertieren und ich weiß nicht, was seine Eltern dazu sagen würden. Außerdem, meine Tochter, hast du noch Marmelade in den Mundwinkeln, von der ich nicht hoffen will, dass sie von einem Sufganiyah stammt.“ Sie wischt sich schnell den Mund und errötet leicht. Aaron Weintraub sieht Johannes nachdenklich an. Dann fragt er, wie es seinem Großvater geht und lässt beste Genesungswünsche ausrichten.

Später als Johannes gegangen ist und Rebecca mit ihren Eltern beim Abendessen sitzt, fragt sie ihren Vater, ob Johannes nicht auch am Sonntag zum Dreidelspielen kommen kann, wenn ihre Tante Judith und Onkel Elias mit Mirjam, Samuel und Levi zu Besuch kommen. „Rebecca, das geht nicht.“ „Papa, bitte!“ „Ich habe nein gesagt!“, macht ihr Vater unmissverständlich klar. Aber seine Tochter gibt noch nicht auf. „Warum denn nicht?“, quengelt sie. „Ich möchte solche Gespräche nicht während des Abendessens, Rebecca, du gehst sofort in dein Zimmer und schämst dich!“ Rebecca verlässt mit hochrotem Kopf den Raum. Aaron Weintraub legt klirrend das Besteck beiseite, als seine Frau beschwichtigend ihre Hand auf seinen Unterarm legt. „War das notwendig?“, fragt sie einfühlsam. „Ja, und ich möchte auch nicht, dass du den Jungen weiterhin im Klavierspielen unterrichtest!“, bestimmt er. „Aber…“ „Nichts aber, wenn seine Eltern erfahren, dass er in einem jüdischen Haus ein- und ausgeht, hätte der Junge sicher nichts zu lachen.“ Aaron Weintraubs Stimme zittert, als er das sagt. Er ist aufgeregt, wie selten. Mila Weintraub weiß natürlich von Wilhelm Maltus, dass Johannes Eltern etwas gegen den Umgang des Jungen mit ihnen haben, aber eine solche Bedeutung hatte sie dieser Abneigung bisher nicht zugemessen. „Dann rede ich mit seiner Mutter, von Frau zu Frau“, sagt sie bestimmt. „Mila! Sei bitte vernünftig. Ich mag den Jungen genau wie du und Rebecca mag ihn auch, umso schlimmer. Aber ich weiß aus verlässlicher Quelle, dass in dem Hotel von diesem Seibel immer öfter die Nationalen verkehren. Erst waren es wohl nur eine Handvoll Stahlhelmer, offensichtlich alte Kriegskameraden von dem Seibel.

Inzwischen tauchen da auch Leute von dieser Hitler-Partei auf und schwadronieren über eine neue Zeit, die kommen wird.“ „Na und, das ist doch nichts Neues, dass die Nationalen uns nicht wohlgesonnen sind“, beschwichtigt seine Frau. „Nicht wohlgesonnen? Was die Anhänger von diesem Adolf Hitler vorhaben, ist weit schlimmer, als das Bisherige. Sie sitzen dort vor ihren Biergläsern und hetzen gegen uns Juden, geben uns für jegliches Übel in diesem Land die Schuld, verunglimpfen uns, bezeichnen uns als minderwertige Rasse und würden uns am liebsten vom Erdboden tilgen. Und der Seibel duldet diese primitive Horde nicht nur in seinem Restaurant, sondern er hofiert sie auch noch und pflichtet ihnen bei, jawohl!“ Weintraub hat sich weiter in Rage geredet. „Woher willst du das denn so genau wissen?“ Der Jacob Sternreich hat es mit eigenen Ohren gehört, als er dort einkehrte, er hat ja die Lederwarenhandlung neben dem Hotel Seibel. Er sieht die Kerle fast jeden Abend dort hineingehen. Er selbst ist schon von denen angepöbelt worden“, erklärt er niedergeschlagen. Mila streichelt ihm zärtlich über den Arm. „Aaron, mach dich nicht meschugge wegen einer Handvoll Braunhemden. Die haben doch nichts zu melden. Wir haben eine stabile Regierung. Der Hindenburg wird so etwas nicht zulassen und Reichskanzler Hermann Müller steht ebenfalls für eine ganz andere Politik. Deutschland ist dem Völkerbund beigetreten. Die Zeiten haben sich geändert.“ „Dein Wort in Gottes Ohr!“, seufzt Aaron Weintraub wieder etwas beruhigter. Rebecca schließt leise die Tür ihres Zimmers, wirft sich auf ihr Bett und weint vor bitterer Enttäuschung. Sie hatte alles mit angehört.

Am folgenden Donnerstag besucht Johannes seinen Opa. Der sitzt in seinem Sessel und quält sich mit seinem Rheuma, das nicht besser werden will. „Bist du heute gar nicht zur Klavierstunde?“, fragt er seinen Enkel. „Nein, Familie Weintraub feiert doch das Chanukkafest, da fällt Klavier aus.“ Opa nickt bedächtig. „Und wie geht es in der Schule?“ „Gut“, antwortet Johannes wortkarg. „Gute Noten?“ „Die meisten schon“ „Na raus mit der Sprache“, fordert Opa. „ Was haste in Deutsch und Mathematik?“ „Sehr gut und genügend“ „Und in Turnen?“ „Das heißt jetzt Leibesübungen, Opa.“ „Ach so, na was haste da?“ „auch genügend.“ Opa runzelt nachdenklich die Stirn. Er hatte seinen Enkel immer für ziemlich sportlich gehalten, fragt aber nicht weiter nach. „Und in Englisch?“ „Sehr gut.“ „Das hört sich doch ganz gut an, in Rechnen, das wird schon.“ Johannes sagt nichts. „Junge, nu’ mal Butter bei die Fische, was ist los? Warum bist du so trübsinnig?“ „Ach nichts.“ An diesem Nachmittag gelingt es Wilhelm Maltus nicht, mehr aus seinem Enkel herauszubekommen, obwohl er deutlich spürt, dass etwas vorgefallen sein muss. Später hatten sie eine Runde Schach gespielt, wie sie es manchmal taten, aber wenig geredet. Danach hatte er Kartoffelpuffer für den Jungen gemacht, die er wortkarg am Küchentisch vertilgt hatte.

Der Grund für Johannes’ Trübsinn rührt von folgender Begebenheit, die sich am Morgen abgespielt hatte. Auf dem Schulweg hatte er Rebecca gesehen. Sie ging etwa 50 Schritte vor ihm. Er war gelaufen, um sie einzuholen, hatte auch gerufen. Sie hatte sich kurz umgedreht und als sie ihn erblickte, war sie selbst losgelaufen und dann in eine Seitenstraße abgebogen, wo sie zwei Klassenkameradinnen traf. Sie hatte ihn keines Blickes gewürdigt. Was hatte er falsch gemacht? Ein paar Tage zuvor hatte er noch mit ihr in der Küche ihrer Eltern bei heißer Schokolade gesessen und dieses leckere Gebäck gegessen. In der Schule lief auch nicht alles so glatt, wie er bei seinem Besuch bei Opa vorgegeben hatte. Zwar war er, von Mathematik einmal abgesehen, wirklich ein guter Schüler, aber sein vormals bester Freund Kurt Krahn hatte überall herumerzählt, dass er sich mit Rebecca treffe, der Tochter vom Uhrmacherjuden und sich in Klein Jerusalem