Tod am Wasserturm - Thomas Clemens - E-Book

Tod am Wasserturm E-Book

Thomas Clemens

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In der Frühzeit der Weimarer Republik klärt die Kriminalpolizei in Geesthacht eine mysteriöse Mordserie auf. Mai 1920: Oberwachtmeister Heinrich Schilde aus Geesthacht und seine Kollegen von der preußischen Kriminalpolizei stehen vor einem Rätsel, als sie früh am Morgen zur Dynamit AG in Krümmel gerufen werden. Dort hängt, mit einem Seil verschnürt, eine brutal zugerichtete Leiche hoch oben am Wasserturm. Welcher Mörder macht sich die Mühe, sein Opfer derartig aufwändig in Szene zu setzen?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 331

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thomas Clemens

Tod am Wasserturm

Ein Kriminalroman aus dem alten Geesthacht

© 2024 Thomas Clemens

Umschlag, Illustration: Thomas Clemens

Website: thomasclemens.art

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany

ISBN

Paperback978-3-384-21627-4

e-Book978-3-384-21628-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: Thomas Clemens, Otto-Brügmann-Str. 17, 21502 Geesthacht, Deutschland.

Namensgleichheiten mit tatsächlich existierenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Die Handlung ist, abgesehen von den historisch verbürgerten Ereignissen und Persönlichkeiten, erfunden.

Geesthacht um 1920

(Illustration Thomas Clemens)

1 Polizeirevier (altes Pastorat)

2 Gaststätte Zur Post

3 Café Lohmeyer

4 Hotel Stadt Hamburg

5 Hotel Deutsches Haus

6 Fährhaus Ziehl

7 Lindenhof

8 Waldschänke

„Rache ist eine Speise, die kalt am besten schmeckt“

(Volksmund)

Krümmel, Gelände der Dynamit-AG im Mai 1920

Es gibt kein zurück! Zurück hieße, Gnade walten zu lassen und Gnade schließe ich hier von vorn herein aus. Er hat nichts anderes als den Tod verdient. Das Urteil ist gefällt, gefällt von mir – ich bin zugleich Richter und Vollstrecker. In dieser Nacht werde ich zuschlagen. Ich habe lange gewartet, wie eine Zecke unter einem Blatt auf ihren Wirt lauert. Eine selten dunkle Nacht, kein Mond, nur das blasse Licht einer einzelnen Laterne lässt die Umrisse des niedrigen Gebäudes vor mir erahnen – für Augen, die sich der Dunkelheit angepasst haben. Der Schrei eines Nachtvogels, ein Geräusch aus einem der weiter entfernten Fabrikgebäude sind zu hören – sonst nichts. Dieser Teil der Fabrik ist normalerweise stillgelegt. Das Schwein ist dort allein - ahnungslos, dass sein letztes Stündlein geschlagen hat.

Vergeltung beinhaltet nicht nur den Schaden, sondern auch eine Botschaft. Diese Botschaft ist mir fast noch wichtiger als der Schaden. Die Botschaft an den Delinquenten unmittelbar vor seinem Tod und später die Botschaft an die Lebenden.

Die Tür öffnet sich eher, als ich erwartet habe, aber ich bin bereit und hellwach. Jeder Muskel ist gespannt. Es kann beginnen. Wenn er das Gebäude verlässt, muss er hier vorbei. Noch drei, zwei Meter. Ich springe vor, mein gezielter Faustschlag fällt den Mann, wie einen Baum. Ich wuchte ihn auf meine Schulter, er ist schwer, aber ich spüre nichts, nur meine Kraft.

Kurz nachdem ich den Mann auf den feuchten Waldboden abgelegthabe, erwacht er aus seiner Bewusstlosigkeit. Er will sich befreien, aber ich habe ihn fest im Griff. Ich teile ihm mit wer ich bin, weshalb er sein Leben verwirkt hat und sterben wird. Ich sage ihm auch, wie man seine Leiche finden wird. Ein letzter kläglicher Versuch, sich aus seiner Lage zu befreien scheitert. Für einen Augenblick herrscht wieder Krieg, bin ich im Schützengraben. Dann ist es vorbei! Ich spüre keine Reue.

Krümmel, vier Tage später im Mai 1920, früh am Morgen Tag1, Mittwoch

Wachmann Funke dreht seine Runde über das riesige Werksgelände der Dynamit-Aktien-Gesellschaft. Er blickt prüfend zum Himmel. Durch vereinzelte Nebelschwaden erkennt er, wie die nächtliche Schwärze sich allmählich in ein dunkles schmutziges Grau verwandelt hat. Bald wird es Tag. Alles ist ruhig – viel zu ruhig. Während des großen Krieges hatte die Fabrik mit ein paar Tausend Arbeitern Tag und Nacht produziert. Jetzt ist nur noch ein Bruchteil der ehemaligen Belegschaft beschäftigt, nachts nur eine Handvoll Arbeiter. Bewacht werden muss das Gelände trotzdem. In den Lagern liegt genug Sprengstoff, um einen Aufstand zu befeuern. Es gibt eine Menge Verrückte in der heutigen Zeit, die das Zeug gebrauchen können. Funke geht an der riesigen Holländerhalle entlang, die wie die umliegenden Gebäude erst vor wenigen Jahren erbaut worden war. Eine trübe Laterne spendet Licht. Caesar, sein Schäferhund, trottet an der Leine neben ihm. Seit einiger Zeit gehen sie nicht mehr mit zwei Mann auf Streife, stattdessen hat er seinen Hund dabei und für den Ernstfall eine Luger mit acht Schuss im Magazin. In den fünf Jahren, die Funke beim Wachdienst der Fabrik ist, hat es allerdings noch keinen Ernstfall gegeben, für den er die Pistole gebraucht hätte. Ein paarmal hatte er ein Kaninchen geschossen, um den kargen Speiseplan zu bereichern. Davon durfte die Fabrikleitung natürlich nichts wissen. „Na, dann wollen wir mal, mein treuer Caesar!“, seufzt Funke und klopft dem Hund auf das Fell. Er steigt den Pfad hinauf, der vorbei an den Säurekesselhäusern zum Wasserturm führt. Ein beschwerlicher Weg mit seinem steifen Bein – Heimatschuss gleich am Anfang des Krieges. Danach war er nicht mehr fronttauglich gewesen und beim Landsturm gelandet, der während des Krieges als Wachmannschaft bei der Dynamit-Aktien-Gesellschaft eingesetzt wurde – ein Glücksfall. Von seiner ehemaligen Kompanie hatte kaum einer überlebt.

Nach wenigen Minuten erscheint die Silhouette des Wasserturms aus dem Morgendunst. Raben krächzen. „Zeit für unsere Verschnaufpause, was Caesar?“, stöhnt Funke, aber der Hund ist unruhig, zieht an der Leine und knurrt. „Was ist denn los, mein alter Freund?“ Funke blickt durch Nebelschwaden in der beginnenden Dämmerung. Er schaut am Turm empor. Er braucht ein paar Sekunden, um seinen Augen zu trauen. Dann durchfährt ihn ein kaltes Grausen. Dort hängt ein menschlicher Körper unter einem der Fenster in der obersten Ebene des Turmes. „Hat sich etwa jemand aufgeknüpft?“, murmelt Funke. Nein, so sieht es nicht aus, wie der Kerl dort hängt. „Heh, Mann! Hörst du mich?“, ruft der Wachmann, obwohl er bereits ahnt, dass die Person am Turm nicht mehr antworten kann. „Auch das noch!“ Funke, den Hund an der Leine, öffnet die schwere Eingangstür des Wasserturmes. Obwohl der Schreck ihm schon Herzklopfen verursacht, eilt er so schnell es sein steifes Bein erlaubt, die gewundene Treppe hinauf. Der Hund zieht an der Leine, dass er ihn kaum halten kann. Vielleicht sind Verbrecher im Turm fällt ihm ein. Er zieht seine Pistole und entsichert sie, aber als er endlich die runde Halle direkt unter der Betonkuppel erreicht, ist niemand dort. Ein Seil ist quer durch die Halle gespannt und führt durch ein Fenster nach draußen. Funke blickt über den Fenstersims nach unten und schreckt zurück. Lange her, dass er so etwas gesehen hatte. Das Seil ist nicht um den Hals, wie Funke es zunächst vermutet hat, sondern um die Brust des Toten gewickelt, den Knoten nach vorn, so dass der Kopf des Mannes in den Nacken gesackt ist. Der Wachmann blickt auf einen zertrümmerten Schädel, auf leere Augen in einem Gesicht voll getrockneten Blutes. Schnell steigt er die Treppe hinab. Kurz darauf eilt er, den Hund an der Leine, den schmalen Pfad entlang durch fahles Morgenlicht, um auf der Wache Alarm zu schlagen.

Geesthacht, 40 Minuten später

„Heinrich, wach auf!“ Oberwachtmeister Heinrich Schilde erwacht unsanft aus seinem Traum. Elfriede, seine Frau, rüttelt an seiner Schulter. „Heinrich, es läutet schon zum wiederholten Mal, Schutzpolizist Peters steht vor der Tür!“ „Was will der denn, so früh am Morgen“, knurrt Schilde. Er wälzt sich aus dem Bett und tappt im Nachtgewand an die Haustür. „Was ist denn los, Peters? Aufstand? Revolution, mal wieder?“, schimpft er. „Nee, die Dynamitfabrik in Krümmel hett anropen. Se hett inne Fabrik `n Toten entdeckt.“ „Wir sind in Krümmel doch gar nicht zuständig, Peters!“ „Weet ick doch, aber die Kollegen in Gülzow hett se nich erreicht.“ „Ist ja schon gut, ich komme gleich in die Wache.“ Schilde schließt die Haustür vor Peters Nase.

„Was ist passiert, Heinrich?“, will seine Frau wissen. „In Krümmel haben sie einen Toten, muss mich da wohl mal drum kümmern“, knurrt er, während er eilig die blassgrüne Uniform anlegt und in blitzblank gewienerte Stiefel steigt. Elfriede schlägt erschrocken die Hand vor den Mund. „Wie schrecklich! Aber da bist du doch gar nicht zuständig.“ „Weiß ich doch. Muss erstmal los. Außerdem leite ich hier die Polizeiwache, weißt du doch.“ „Und wie kommst du da denn jetzt hin?“ „Mit dem Dienstfahrrad, wie denn sonst?“, knurrt Schilde. Vor der Spiegelkommode überprüft er Tschako und Koppel auf korrekten Sitz und zwirbelt seinen Schnurrbart, bevor er eilig das Haus verlässt. „Soll ich dir noch schnell ein Brot mit Griebenschmalz machen?“, ruft seine Frau hinter ihm her. „Nee, keine Zeit.“

Schilde läuft über den Marktplatz zum alten Pastorat, welches die Gemeinde wenige Jahre zuvor von der Kirche übernommen hat. Jetzt befindet sich in dem schmucken Reetdachhaus das Polizeirevier und Teile der Gemeindeverwaltung. In der Wachstube hebt er sofort den Telefonhörer ans Ohr und dreht die Kurbel. „Polizeiwache Geesthacht, leitender Oberwachtmeister Schilde!“, brüllt er in den Hörer, als sich die Vermittlung meldet. „Ich brauche eine Verbindung zur Dynamit-Aktien- Gesellschaft in Krümmel!“ Als die Verbindung steht, fragt er: „Haben Sie uns wegen einer toten Person auf Ihrem Werksgelände angerufen?“ Er hört einen Augenblick zu, was am anderen Ende der Leitung gesprochen wird. „Mal langsam! Wo hängt ein Toter? Am Wasserturm? Hat er sich aufgeknüpft? Eingeschlagener Schädel? In Krümmel bin ich eigentlich nicht zuständig.“ Kurz darauf nimmt er stramme Haltung an und schnarrt zackig in den Hörer: „Jawohl, Herr Direktor! Mache mich umgehend auf den Weg.“ Er knallt den Hörer auf den Apparat. „Peters, Sie halten hier zusammen mit Pehmöller die Stellung! Ich muss dringend nach Krümmel.“ Der Herr Fabrikdirektor persönlich, so so! denkt Schilde und fühlt sich auf einmal sehr wichtig.

Kurz darauf schwingt Oberwachtmeister Schilde sich auf sein Schlachtross, ein robustes Dürkopp Armeefahrrad. Er kommt aber nur wenige Meter weit. Der Reifen ist platt. „Verdammt, ich hatte Peters ausdrücklich befohlen, den Reifen zu flicken! Wenn man nicht alles selbst macht“, schimpft er und lehnt das Rad an die Hauswand. Eilig überquert er die Bergedorfer Straße und marschiert die Elbstraße hinab. Schilde war als junger Polizist einige Jahre bei der berittenen Polizei gewesen, weshalb ihm ein echtes Pferd ohnehin lieber wäre, als das eiserne Schlachtross.

Wenige Hundert Meter entfernt, am Bahnhof Sandstraße, betätigt Gustav Lohmann das Presslufthorn seiner Akku-Lokomotive. Seit Ende des Krieges wurde das kurze Teilstück von Geesthacht zur Dynamit-Aktien-Gesellschaft von der Fabrik in Krümmel mit einer werkseigenen Lokomotive betrieben, weil die Bergedorf-Geesthachter Eisenbahngesellschaft den Streckenabschnitt wegen Kohlenmangels nicht mehr rentabel betreiben konnte. Nur Fabrikangehörige und ihre Familien durfte die Werksbahn befördern. Auch heute besteht der Zug aus nur drei Waggons, die komplett mit Fabrikarbeitern besetzt sind. Seit per Gesetz der Achtstunden-Tag eingeführt wurde, beginnt die Schicht erst um sieben Uhr. Mit dem typischen Surren setzt sich der Zug in Bewegung und rumpelt am Gelände der Hartsteinwerke entlang. Der Zug gewinnt langsam an Fahrt, bevor Lohmann vor dem Überqueren der Elbstraße erneut das schrille Signalhorn betätigt. Dann sieht er den Uniformierten mitten auf den Gleisen stehen. Mit erhobener Hand signalisiert der, den Zug anzuhalten. „Wo gibt’s denn sowas?“, schimpft Lohmann.“ In Anbetracht einer Polizeiuniform zieht der Lokführer es jedoch vor, den Zug zu stoppen. Mit quietschenden Bremsen kommt er kurz vor dem Polizisten zum Stehen. Lohmann steckt den Kopf aus dem Seitenfenster der Lok und schimpft: „Ich hoffe, es gibt triftige Gründe, einen Zug der Dynamit-AG auf freier Strecke anzuhalten.“ „Die gibt es. Notfall! Muss dringend nach Krümmel!“, klärt Schilde ihn im amtlich strengen Tonfall auf und macht Anstalten, die Lokomotive zu besteigen. „Aber nach hinten in den Waggon, wenn ich bitten darf, Herr Wachtmeister!“ „Oberwachtmeister!“, weist Schilde ihn zurecht. „Mir egal, auf meinem Führerstand hat nicht einmal der Polizeipräsident etwas zu suchen. Eigentlich dürfen wir nur Betriebsangehörige befördern!“ Schilde steigt mürrisch auf den Perron des ersten Waggons.

Einige hundert Meter weiter, der Zug hatte gerade wieder einigermaßen Fahrt aufgenommen, traut Lohmann seinen Augen kaum. Er betätigt erneut das Drucklufthorn und dann die Bremse. „Das gibt’s doch wohl nicht! Was ist heute bloß los?“ Mitten auf den Schienen liegt eine Person. Er steigt von der Lok und stapft auf den Eisenbahnschwellen entlang. „Heh, du kannst hier nicht auf den Schienen pennen!“ Er stößt dem Mann mit seiner Schuhspitze gegen die Schulter. Der Mann bewegt sich und stöhnt. Lohmann hilft ihm auf und sieht eine üble Platzwunde an dessen Kopf. Oberwachtmeister Schilde und der Schaffner laufen ihnen vom Zug her entgegen. Die übrigen Fahrgäste sehen aus den Fenstern. „Was ist passiert?“ „Der Kerl lag mitten auf den Schienen. Verletzt ist er auch noch“, erklärt der Lokführer überflüssigerweise, denn das Gesicht des Mannes ist bedeckt mit verkrustetem Blut. „Sie kommen erstmal mit in den Zug“, befiehlt Schilde und hilft dem Verletzten beim Erklimmen der Treppe am Perron, obwohl der Schaffner protestiert, dass das gegen die Beförderungsbestimmungen der Werkseisenbahn verstößt. Schilde beachtet ihn nicht. Der Mann riecht nach Schnaps, scheint noch ziemlich was intus zu haben. „Wer sind Sie? Können Sie sich ausweisen?“, fragt er im energischen Tonfall, als der Zug weiterfährt. Der Verletzte stöhnt nur, scheint noch gar nicht ganz bei sich zu sein. „Den kenne ich. Das ist Paul Hartung, bin mit ihm zusammen zur Schule gegangen“, ruft einer der Arbeiter, „der war bei der Kaiserlichen Marine. Ist erst seit kurzem wieder in Geesthacht.“ Schilde trägt den Namen in sein Notizbuch ein. „Wohnhaft?“ „Bei der Glasfabrik“, stöhnt Hartung und hält sich den verletzten Schädel. „Wo wollten Sie eigentlich hin?“ „Nach Hause.“ „Und wo haben Sie sich die Verletzung geholt? Sieht ja fürchterlich aus.“ „Weiß nicht“, antwortet Hartung gequält. „Na, das werden wir schon noch herauskriegen. Wenn Sie wieder nüchtern sind und ihre Wunde verarztet ist, melden Sie sich auf dem Polizeirevier, verstanden?“ Hartung nickt.

Schilde sinniert über seine Rolle nach, falls es sich bei dem Toten in Krümmel tatsächlich um ein Mordopfer handelt. Seit einiger Zeit bezeichnete man die Polizeiwache im alten Pastorat als Kriminalpolizei. Der nächste echte Kriminalpolizist hatte sein Büro allerdings in Bergedorf und die Mordkommission residierte an der Stadthausbrücke in der Hamburger Innenstadt. Mit Kriminalfällen hat Schilde allerdings dauernd zu tun, Diebstahl, Raub, Schlägereien, Aufruhr, die Sitten verfielen nach dem verlorenen Krieg – aber ein Mord? Endlich hält der Zug mit quietschenden Bremsen am Krümmler Bahnhof.

Energisch stapft Heinrich Schilde über den Nobelplatz, vorbei an Beamtenwohnhäusern auf das Werkstor der Dynamit-Aktien-Gesellschaft zu. Sein Blick fällt auf eine stattliche Villa innerhalb des Werkszaunes gelegen, vermutlich das Wohnhaus des Direktors, denkt er. Er selbst war noch nie auf dem Fabrikgelände gewesen. Ein Mann in der Uniform der Wachmannschaft steht am Werkszaun neben einer Blechtafel mit der Aufschrift: Unbefugtes Betreten des Fabrikgeländes bei Strafe streng verboten, der Direktor. „Guten Morgen, Sie sind von der Kriminalpolizei?“, fragt der Wachmann mit abschätzigem Blick auf Schildes blassgrüne Uniform. „Oberwachtmeister Schilde aus Geesthacht. Das muss fürs Erste reichen. Und wer sind Sie?“ „Wilhelm Meinecke, ich führe die Wachmannschaft der Fabrik. „Haben Sie die Kollegen in Gülzow inzwischen erreicht?“ „Ja, die müssten in Kürze eintreffen.“ Ein Glück, denkt Schilde, wo ich hier eigentlich gar nicht zuständig bin. Wahrscheinlich überschreite ich gerade meine Kompetenzen. Andererseits kennt er die Kollegen der Landpolizei aus den umliegenden Orten ganz gut. Sie haben schon des Öfteren zusammengearbeitet. Verbrechen machen vor Kreis- und Ländergrenzen nicht halt. „Wo ist der Tote jetzt?“, fragt er Meinecke. „Hängt noch am Turm. Wir haben ihn erstmal nicht angerührt.“ Schilde nickt. Meinecke räuspert sich. „Zunächst, Herr Oberwachtmeister, falls Sie Zündhölzer oder ein Feuerzeug bei sich tragen, muss ich Sie bitten, diese beim Pförtner zu hinterlegen – Vorschrift!“ Schilde greift in seine Tasche, fördert Zündhölzer und Zigarettenetui hervor. „Die Zigaretten lassen Sie am besten auch bei uns. Rauchen ist fast überall auf dem Gelände verboten.“

„Erstmal sehen, ob sich der Mann nicht selbst ins Jenseits befördert hat“, bemerkt Schilde, als sie sich von der Wachstube entfernen und auf die Fabrikgebäude zugehen. „Wäre ja nicht der erste in diesen Zeiten, der zum Strick greift.“ „Das sieht mir ganz und gar nicht nach Selbstmord aus, Herr Oberwachtmeister!“ „Ach ja? Kennen Sie sich etwa aus mit solchen Dingen?“ „Am besten, Sie sehen es sich selbst an, dann verstehen Sie schon“, knurrt Meinecke beleidigt.

Schilde hatte die Fabrik bisher immer nur von außen gesehen, jetzt staunt er über die gewaltigen Ausmaße der Produktionsanlagen. Hohe Backsteingebäude, aus denen riesige Fabrikschlote in den Himmel ragen, dicke Rohrleitungen und Kabel, welche über die Werksstraße die Gebäude verbinden. Eine Dampfspeicherlok zieht langsam einen Waggon über die Gleise. Auf einer Laderampe erblickt er aufgestapelte Holzkisten mit der Aufschrift Explosivo Gelignite. „Exportware für Südamerika“, erklärt Meinecke. Vor einer riesigen Halle parkt ein grauer Lastwagen, ein Regel-Dreitonner, wie sie zu Tausenden für den Krieg produziert worden waren. „Wir können zum Wasserturm hinauf fahren, wir brauchen den Lastwagen dort sowieso, wenn die Leiche abtransportiert wird. Nehmen Sie im Führerhaus Platz, Herr Oberwachtmeister. Ich hole den Fahrer.“ Kurz darauf erscheint Meinecke mit dem Kraftfahrer. Der Wachschutzleiter steigt auf die Ladefläche. Der Fahrer bückt sich vor dem Kühler und kurbelt den Motor an. Kurz darauf rumpeln sie im Schritttempo eine ansteigende Kopfsteinpflasterstraße hinauf. Der Lastwagen hat Holzfelgen mit aufgeschraubten Gummiklötzen. Schilde wird kräftig durchgeschüttelt. Er sieht durch das Fenster hohe Sandwälle, hinter denen sich einzelne Fabrikgebäude ducken, darüber sind Drähte in verschiedene Richtungen gespannt. „Blitzableiter“, erklärt der Wachschutzleiter. Schließlich erreichen sie den imposanten backsteinernen Wasserturm mit seiner charakteristischen Kuppel. Die Morgensonne hat den Dunst inzwischen fast vertrieben und bescheint den Turm. Zwei Wachmänner und einige Arbeiter stehen in der Nähe. „Kennt jemand den Mann?“, fragt Schilde in die Runde. Die Männer schütteln die Köpfe. „Man kann ihn von hier unten ja nicht erkennen“, bemerkt einer der Arbeiter. „Wer hat ihn entdeckt?“ „Wachmann Funke, ich habe ihn nach Hause geschickt. Er war die ganze Nacht im Dienst.“ „Wer hat seit der Entdeckung den Turm betreten?“ „Nur Funke und ich. Funke ist gleich nach oben und hat nachgesehen, ob der Mann noch lebt. Ich bin dann später auch nochmal hinauf.“ „Dann sehen wir ihn uns mal genauer an!“, entscheidet Oberwachtmeister Schilde. Sie steigen die breite Treppe zum Eingangstor des Turmes hinauf und dann die Stufen empor, welche sich innen an der Turmmauer nach oben winden.

Schilde blickt über den Fenstersims: Vordere Schädelseite an der Stirn massiv zertrümmert, fast schwarzes Blut und eingetrocknete Gehirnmasse erkennbar, notiert er in sein Notizbuch. Das Seil, an dem der Tote hängt, ist straff gespannt, führt quer durch die Halle und ist auf der anderen Seite an einem Kranarm befestigt. Das eiserne Sprossenfenster unter dem der Tote hängt, wurde mit Gewalt herausgebrochen. Das andere Ende des Seils ist dem Toten um die Brust gewickelt und mit einem Knoten verschnürt. „Wer zum Teufel macht sich die Mühe, sein Mordopfer hier oben hinzuhängen, und warum?“, grübelt Schilde. Er beugt sich ein weiteres Mal aus dem Fenster und versucht, an die Jacken- und Hosentaschen des Toten heranzureichen. Aber es gelingt ihm nicht. Stattdessen steigt ihm süßlicher Verwesungsgeruch in die Nase. Der Motor eines Automobils unterbricht die Stille. Kurz darauf erscheint das Fahrzeug unterhalb des Turmes. Der Chauffeur steigt aus und öffnet die hintere Tür des Wagens. Der Herr, der aussteigt, ist offensichtlich der Fabrikdirektor. Wer sonst kann sich mit solch einem monumentalen Automobil, einem Benz 28/60 PS, wenn Schilde sich nicht täuschte, hierher kutschieren lassen? Die herumstehenden Arbeiter zerstreuen sich augenblicklich. Der Herr Direktor spricht mit einem der Wachmänner. Der zeigt hinauf zum Turm. Im selben Moment kommen zwei weitere Uniformierte den Pfad entlang der Schutzwälle herauf. Schilde erkennt Oberwachtmeister Berthold Krogmann aus Gülzow in Begleitung eines Schupos. Gottseidank, der Krogmann, zu dem er ein fast freundschaftliches Verhältnis hat. Schilde macht sich an den Abstieg.

Fabrikdirektor Roewer begrüßt die Polizisten: „Guten Morgen, meine Herren, haben Sie etwas herausgefunden?“ „Leitender Oberwachtmeister Schilde aus Geesthacht. Wir haben vorhin am Telefon miteinander gesprochen, Herr Direktor“, schnarrt Schilde und nimmt eine militärische Haltung an. Er berichtet von seinen bisherigen Erkenntnissen, die er in seinem Notizbuch vermerkt hat. Berthold Krogmann, der noch gar nicht die Gelegenheit hatte, sich das Mordopfer anzusehen, bemerkt: „Dann hast du ja unsere Arbeit schon gemacht, Heinrich.“ Der Fabrikdirektor räuspert sich. „Also war es Mord?“ „Bisher deutet alles darauf hin, Herr Direktor. Dem Mann wurde der Schädel eingeschlagen, vermutlich bevor ihn jemand dort hingehängt hat.“, erklärt Schilde. „Allerdings wissen wir noch nicht einmal, um wen es sich bei dem Opfer handelt, geschweige denn, wer es umgebracht hat.“ „Ich werde zunächst feststellen lassen, ob jemand von der Belegschaft vermisst wird“, schlägt der Fabrikdirektor vor. „Der zuständige Kriminalkommissar aus Ratzeburg ist übrigens auf dem Weg hierher, dauert allerdings ein wenig“, mischt Krogmann sich ein, „aber seid ihr in Geesthacht neuerdings nicht auch Kriminalpolizei, Heinrich?“ Schilde räuspert sich. „Ja, sind wir wohl.“ Doktor Roewer blickt mürrisch in die Runde. Schilde hat das Gefühl, dass er den Fall lieber in den Händen der Hamburger Mordkommission hätte. „Gut, dann holen wir den Mann dort herunter, entscheidet der Fabrikdirektor.“ Er winkt die Wachmänner und den Chauffeur des Lastwagens heran“ „Mit Verlaub, Herr Direktor, aber dies ist ein Tatort, und den darf man nicht anrühren, bis die Mordkommission ihn in Augenschein genommen und Untersuchungen durchgeführt hat“, klärt Krogmann ihn auf. Gut, der Mann, denkt Schilde und nickt. „Na, hören Sie mal, Sie wollen die Leiche doch wohl nicht den ganzen Tag in der Sonne hängen lassen! Außerdem befinden Sie sich auf dem Werksgelände der Dynamit-Aktien-Gesellschaft. Da habe ich das Sagen!“, empört sich der Fabrikdirektor. Die beiden Oberwachtmeister blicken sich an. „Nicht, wenn es um eine Mordermittlung geht, Herr Direktor. Schutzpolizist Brachteisen wird vor dem Eingang zum Turm Posten beziehen und niemanden hinauf lassen.“ „Na, das werden wir noch sehen. Ich bin mit Polizeioberrat Heinmöller aus Hamburg persönlich bekannt. Ich werde mich beschweren.“ „Zur Erinnerung, wir befinden uns hier auf preußischem Gebiet, da sind die Hamburger gar nicht zuständig!“, spricht Krogmann mit ruhiger Stimme, aber der Herr Fabrikdirektor besteigt bereits sein Automobil. „Hat scheinbar noch nicht mitbekommen, dass die Zeiten sich gewandelt haben“, bemerkt Krogmann. „Nutzen wir die Zeit, uns hier ein bisschen umzusehen, bis die Kriminaler aus Ratzeburg da sind. Aber zuerst werde ich mir das Mordopfer ansehen“, spricht Krogmann. „Ich habe hier doch gar nichts mehr zu suchen und außerdem hatte ich noch kein Frühstück“, bemerkt Schilde. Tatsächlich hatte sein Magen schon ein paarmal geknurrt. Der Anblick des Toten hatte ihm keineswegs den Appetit verdorben. „Würde mich freuen, wenn Du noch bleibst, Heinrich“, ruft Krogmann über die Schulter und verschwindet im Turm.

Paul Hartung wälzt sich auf der durchgelegenen Matratze in der stickigen Wohnung in der Glasarbeitersiedlung herum. Nur wenig Tageslicht fällt in die enge Schlafkammer, jedoch genug um die schwarzen Stockflecken, welche die Zimmerdecke überziehen, zu erkennen. Es riecht immer noch nach feuchtem Schimmel, obwohl er gleich nach seiner Ankunft in Geesthacht das undichte Dach repariert hatte. Als gelernter Bootsbauer wusste er, wie man einen Schiffsrumpf kalfatert und so konnte er auch ein Dach abdichten. Allerdings ist das ganze Gebäude so marode, dass im nächsten Winter alles noch schlimmer würde, befürchtet er, aber dann war er hoffentlich schon längst nicht mehr hier. Er versucht sich zu erinnern, weshalb man ihn offensichtlich bewusstlos mit einer Kopfverletzung auf dem Schienenstrang nach Krümmel fand. Der Zug hatte ihn am Morgen zurück nach Geesthacht gebracht, nachdem dieser Polizist ihm mit seinen Fragen auf die Nerven gegangen war. Dann hatte er sich mühsam nach Hause geschleppt in die Wohnung seiner Mutter, wo er erstmal untergekommen war. Vor wenigen Tagen erst war er nach Geesthacht zurückgekehrt. Für ihn hatte der Krieg noch einige Monate länger gedauert und nun hatte das, was von der einst stolzen Kaiserlichen Kriegsmarine noch übrig war, keine Verwendung mehr für Obermaat Paul Hartung. Andere Arbeit gibt es auch nicht. Die Glasfabrik ist pleite, die Werft, die Pulverfabrik in Düneberg und die Dynamitfabrik in Krümmel sind nur noch Schatten ihrer selbst. Er würde sich wohl in das Heer der Arbeitslosen einreihen müssen, die sich mittags vor der Suppenküche trafen. Wenigstens war er durch den Krieg nicht zum Krüppel geworden, wie viele andere. Seine Mutter steckt den grauhaarigen Kopf durch den Vorhang, der die winzige Schlafkammer von der Wohnküche abtrennt. „Paul, hast du dich geprügelt, oder was ist mit deinem Kopf passiert?“ „Bin gestürzt, wahrscheinlich mit dem Kopf auf eine Eisenbahnschiene“, stöhnt er. „Die ist härter als dein versoffener Schädel, das solltest du wissen.“ „Ja, Mutter, danke für den Hinweis.“ „Das kommt, wenn man nachts besoffen durch die Gegend rennt, anstatt sich Arbeit zu suchen!“ „Ja, Mutter!“ Frau Hartung hatte, als Paul plötzlich bei ihr auftauchte, ihren Untermieter vor die Tür gesetzt. Vermutlich war der stinkende Kerl nicht nur ihr Untermieter gewesen. Einerseits schien sie froh, einen Grund zu haben, den Mann rauszuschmeißen, andererseits fehlen ihr jetzt die Mieteinahmen. Einer der Gründe, weshalb sie ihrem Sohn ständig auf die Nerven geht, sich Arbeit zu suchen und ihr nicht länger auf der Tasche zu liegen.

Paul steigt in Hose und Stiefel und schlurft nach draußen zur Pumpe, um sich zu waschen. „Meine Herren! Haben wir gesoffen!“, murmelt er. Dann blickt er zum Gebäude der stillgelegten Glasfabrik hinüber. Vor dem Krieg war ein Teil seiner Familie dort beschäftigt. Vater war schon vor dem Krieg an der Glasbläser-Lunge gestorben. Er selbst hatte es vorgezogen auf der kleinen Werft Bootsbauer zu lernen und sich danach bei der Kaiserlichen Marine beworben. Wenige Monate später brach der Krieg aus und man stationierte ihn auf dem Schlachtkreuzer Seydlitz. Was war er stolz gewesen, auf diesem gewaltigen Schiff dem Kaiser dienen zu dürfen. Zweimal wurde das Schiff zum Wrack zusammengeschossen, das letzte Mal vor dem Skagerrak. Beide Male wurde der Schlachtkreuzer Seydlitz durch den heldenhaften Einsatz der Leckdiensttrupps, denen Hartung angehörte, über Wasser gehalten und nach Wilhelmshafen eingeschleppt. Hartung und einigen seiner Kameraden verlieh man das Eiserne Kreuz. Drei Jahre später war er maßgeblich an der Selbstversenkung der internierten deutschen Hochseeflotte im britischen Flottenstützpunkt Scapa Flow beteiligt. Ja, davon hatte er seinen Saufkumpanen gestern Abend im Gastraum des Hotels Deutsches Haus berichtet. Die Männer hatten an seinen Lippen gehangen und dafür gesorgt, dass stets ein Bier und ein Köm an seinem Platz stand. Nur Walter Pritschwalski, der auch bei der Marine war, verließ das Lokal schon früh. Der hatte offensichtlich genug von irgendwelchen Kriegserlebnissen.

Nachdem die Kriminalpolizei aus Ratzeburg am späten Vormittag immer noch nicht eingetroffen war, hatte Oberwachtmeister Schilde sich in die Ortschaft Krümmel aufgemacht, um den Wachmann Funke zu vernehmen, während Krogmann sich in der Fabrik umsah. Nach Auskunft der Kollegen wohnt Funke mit seiner Familie in der Haferkoppel, einer kleinen Arbeitersiedlung. Zunächst kehrt er allerdings bei Gastwirt Liepert ein, um sich ein Wurstbrot und eine Fassbrause zu gönnen. Dass auf der Fabrik in der Nacht ein Mord geschehen war, hatte sich längst herumgesprochen und Schilde wurde sofort mit Fragen bestürmt, ob man den Mörder bereits gefasst habe und ob es stimmte, dass ein von Schüssen und Messerstichen durchsiebter Mann blutend am Wasserturm hängt. „Es stimmt, dass es einen Toten gegeben hat, mehr kann und darf ich zurzeit nicht preisgeben. Im Übrigen möchte ich jetzt endlich frühstücken“, spricht Schilde und beißt in sein Wurstbrot.

Amalie Funke muss ihren Mann erst wecken, während Oberwachtmeister Schilde in der Küche der Familie von einer vierköpfigen Kinderschar neugierig beäugt wird. Die Behausung ist feucht und dunkel. „Sie haben den Toten also zuerst gefunden. Wann war denn das?“, beginnt Schilde die Vernehmung, nachdem Frau Funke die Kinderschar nach draußen getrieben hat und die Männer am Küchentisch Platz genommen haben. „Es war noch nicht richtig hell, vor Sonnenaufgang, vielleicht halb sechs. Ich breche immer gegen fünf Uhr zu meinem letzten Rundgang an der Wache auf. Kurz vor sechs bin ich wieder zurück. Um sechs habe ich Feierabend.“ Schilde schreibt in sein Notizbuch. „Ist Ihnen auf der Strecke jemand begegnet?“ Funke überlegt einen Augenblick. „Am Nitrierlager waren zwei Mann und oben an den Säurekesselhäusern habe ich auch jemanden gesehen, der hat dort irgendetwas überprüft. Es sind ja nachts nur ein paar Leute auf der Fabrik.“ „Sie haben den Mann an den Säurekesselhäusern nicht erkannt?“ „Nee, Herr Oberwachtmeister, war dunkel, neblig und zu weit weg.“ „Aber der Mann war einer der Fabrikarbeiter und verhielt sich unverdächtig?“ „Ich glaube schon. Wenn es jemand gewesen wäre, der auf dem Gelände nichts zu suchen hat, hätte wohl der Hund angeschlagen.“ Schilde notiert alles in seinem Notizbuch. „Machen Sie die Runde mehrmals in der Nacht?“ „Wir wechseln uns ab, sind ja nur noch vier Mann in der Nachtschicht. Letzte Nacht war ich zweimal dran.“ „Dann waren Sie in der vergangenen Nacht schon vorher am Wasserturm gewesen?“ „Ja, aber da war es stockfinster. Und neblig“ „Haben Sie keine Lampe?“ „Schon, aber ich ... also erzählen Sie es bitte nicht dem Meinecke, meinem Vorgesetzten.“ „Schon gut“, winkt Schilde ab. „Ich hatte die Runde verkürzt, wissen Sie mit meinem steifen Bein ganz zum Turm hoch.“ „Sie waren also vorher gar nicht beim Turm?“ Funke nickt verlegen. „Man kann in der Dunkelheit in tiefer Nacht sowieso kaum etwas erkennen. Außerdem hatte ich ja den Caesar dabei, der hätte schon angeschlagen, wenn da etwas gewesen wäre.“ „Ihr Wachhund?“ „Ja, Herr Oberwachtmeister.“ „Und Ihre Runde über das Fabrikgelände ist stets die gleiche? Zur gleichen Uhrzeit?“ Funke nickt. Schilde schüttelt den Kopf über die berechenbare Art, das riesige Gelände zu bewachen. Verbrecher haben leichtes Spiel in der Nacht dort ihr Unwesen zu treiben. „Wer legt denn fest, welche Wege Sie auf Ihren Kontrollgängen gehen?“ „Der Wachdienstleiter Meinecke.“ Schilde macht sich weitere Notizen. „Haben Sie schon mal jemanden auf der Fabrik erwischt, der dort nichts zu suchen hatte?“ „Naja, bei den Unruhen, kurz nach Kriegsende, als dieses rote Gesocks die Wachmannschaft entwaffnet und die Fabrik besetzt hat. Die Kriegsgefangenen haben auch versucht sich am Eigentum der Fabrik zu bereichern. Damals waren wir noch eine richtige Wachabteilung, über dreißig Mann. Hat trotzdem nichts genützt.“ Schilde erinnert sich noch zu gut an die turbulente Zeit nach Kriegsende, als der Arbeiter- und Soldatenrat für einige Wochen die Macht übernommen hatte. „Aber in der letzten Zeit ist nichts Auffälliges passiert?“ „Nee, während meiner Wache nicht, Herr Hauptwachmeister. Fragen Sie mal den Meinecke. Der führt Buch über besondere Vorkommnisse.“ „Gut, Herr Funke. Ach, wer hat eigentlich außer dem Herrn Direktor etwas zu sagen auf der Fabrik?“ „Naja, der leitende Beamte, Herr Dr. Giesel ist gleichzeitig der stellvertretende Direktor. Dann kommen die anderen Beamten, darunter die Meister, dann die Vormänner und ganz unten die Arbeiter“, erklärt der Wachmann. „Und der Wachschutzleiter hat dann ungefähr soviel zu sagen wie ein Meister?“ „Könnte man so sagen“, bestätigt Funke. Und in der Nachtschicht sind auch Beamte und Meister auf der Fabrik?“ „Ja, ein Beamter und meistens ein oder zwei Meister“, antwortet Funke. „Und welcher Beamte und welche Meister waren in der letzten Nacht im Dienst?“ „Das weiß ich nicht, habe nur Vormann Ahrens einmal gesehen. Der vertritt den alten Meister Wagenfurth häufig.“ „Wann war das, als Sie den Herrn Ahrens gesehen haben?“ „Am Abend, bei Schichtbeginn am Werkstor. Caesar hat freudig gebellt, als er ihn sah. Der Ahrens hat dem Hund manchmal ein Stück Wurst gegeben, soll eigentlich nicht sein, aber naja ...“ „Schon gut, Herr Funke, das war es erstmal.“ Schilde erhebt sich und tippt mit der Hand an den Tschako.

Draußen blickt Schilde auf seine Taschenuhr. Mittagszeit. Hätte er, wie üblich in der Wache in Geesthacht Dienst geschoben, würde er zu Mittag den kurzen Weg in die Marktstraße hinüber laufen und mit seiner Frau und seiner Tochter ein deftiges Mittagessen zu sich nehmen. Hier steht er auf der staubigen Straße und wird von einem Dutzend Kinder ehrfürchtig beäugt. Er beschließt, zurück auf das Fabrikgelände zu gehen. Vielleicht ist die Kriminalpolizei aus Ratzeburg endlich eingetroffen.

Oberwachtmeister Krogmann und Schupo Brachteisen stehen unterhalb des Wasserturms im Schatten und behalten den Eingang im Blick. Endlich nähert sich der Wachdienstleiter mit einer Person in grauer Zivilkleidung. Der Mann trägt eine bauchige Tasche, wie manche Ärzte sie benutzen. „Die werte Kriminalpolizei aus Ratzeburg gibt sich die Ehre – endlich! Brachteisen, kennst du den Kommissar?“, fragt Krogmann den Schupo. Der schüttelt den Kopf. „Guten Tag, ich bin Kriminalsekretär Markwart aus Ratzeburg“, stellt der Fremde sich vor. Die Männer begrüßen sich mit Handschlag. „Sie kommen allein?“, fragt Krogmann entgeistert. „Oberkommissar Giese ist zur Kur, sein Stellvertreter Kommissar Froschleib hat gerade wichtige anderweitige Dienstgeschäfte. Ich werde Herrn Kommissar Froschleib heute Abend anrufen und über den Stand meiner Ermittlungen informieren. Als ranghöchster Polizeibeamter vor Ort übernehme ich ab sofort die Leitung der Ermittlungen“, erklärt Markwart, der aussieht, als ob er gerade erst die Reifeprüfung einer höheren Lehranstalt bestanden hat. Die Hamburger Mordkommission hat ein eigenes Dienstauto und einen Polizeifotograf, der in solchen Fällen mit ausrückt. Die Ratzeburger schicken uns dieses blasse Bürschchen, denkt Krogmann. „Gut Herr Markwart, ein Kollege aus Geesthacht und meine Wenigkeit haben bereits ein bisschen vorgearbeitet, solange wir noch die Ranghöchsten waren.“ Er unterrichtet den Kriminalsekretär über den bisherigen Ermittlungsstand und zeigt nach oben zum Turm, wo die Leiche in der Sonne hängt. „Wir sollten den Tatort zügig und abschließend in Augenschein nehmen, Herr Markwart, damit wir den armen Kerl dort herunterholen können.“ Markwart nickt, noch ein wenig blasser um die Nase und zögert. „Nun, denn, Herr Kriminalsekretär, wollen Sie vielleicht vorangehen als ranghöchster Polizeibeamter?“

Markwart sieht sich am Tatort in der obersten Turmebene um, bevor er vorsichtig über den Fenstersims auf den, von Fliegen umschwärmten, zerstörten Schädel der Leiche blickt. Der Kriminalsekretär wendet sich angewidert ab, schwankt und entfernt sich würgend ein paar Schritte, bevor er sich übergibt. „Noch nie einen Toten gesehen, Herr Kriminalsekretär?“ „Schon. So einen allerdings noch nicht. Habe wohl etwas Falsches gegessen“, stammelt er und wischt sich den Mund mit seinem Taschentuch. Tatsächlich war es wohl der süßliche Verwesungsgeruch, der ihm augenblicklich in die Nase stieg. Da kotzt der Kerl den Tatort voll. Gedient hatte er wahrscheinlich auch nicht. Krogmann schüttelt empört den Kopf. „Die Tatwaffe? Hat man die gefunden?“, fragt der Kriminalsekretär, nachdem er sich wieder etwas gefangen hat. „Nein, wir wissen ja noch nicht einmal, um was für eine Tatwaffe es sich handeln könnte.“ Markwart blickt nachdenklich an dem Seil entlang, das quer durch die Halle gespannt ist. Er geht um den riesigen Wasserbehälter herum, auf die andere Seite der Halle. Ein Kranarm ist außen am Gebäude angebracht, sodass man eine schwere Last mittels Flaschenzug hochziehen und durch eine breite Luke ins Innere der obersten Turmebene bringen kann. „Mit dem Kran und dem Flaschenzug wird der Mörder sein Opfer hier hinaufgezogen haben. An dem Flaschenzug sind sicherlich Fingerabdrücke“, vermutet Markwart. „Fingerabdrücke? Was soll das denn?“, bemerkt Krogmann. „Der Abgleich von Fingerabdrücken ist bereits seit mehr als einem Jahrzehnt als Mittel der Beweissicherung bei der preußischen Kriminalpolizei etabliert“, doziert der Kriminalsekretär. „Meine Ausrüstung zur Sicherung der Spuren wird in Kürze mit dem Lastauto der Fabrik hierher gebracht. Kümmern Sie sich bitte um eine Bahre und ein paar Männer, die das Opfer bergen und nach unten bringen!“, spricht Markwart jetzt etwas selbstsicherer. „Geht in Ordnung“, bestätigt Krogmann und legt die Hand an den Tschako.

Zwanzig Minuten später rumpelt knatternd der graue Dreitonner mit Oberwachtmeister Schilde neben dem Fahrer heran. Er hält auf dem Platz vor dem Wasserturm. Schilde hat einen Lederkoffer mit Markwarts Ausrüstung dabei. Mehrere Männer springen von der Ladefläche und laden eine Bahre ab

„Niemand berührt etwas am Kran!“, befiehlt Markwart als sie sich unter der Kuppel in der oberen Turmebene versammelt haben. „Bergen Sie schon mal vorsichtig die Leiche und legen sie auf die Bahre! Bevor wir sie nach unten bringen, muss ich die Spuren sichern und nach Fingerabdrücken am Kranhaken, den Ketten und dem Flaschenzug suchen.“ Die Männer blicken ihn befremdlich an und schütteln die Köpfe, als Markwart in aller Ruhe damit beginnt, verschiedene Stellen am Kran mit feinem Rußpulver zu bestäuben, um Fingerabdrücke sichtbarer zu machen – ein mühsames Geschäft, das Geduld erfordert.

Eine dreiviertel Stunde später liegt die Leiche auf einer Bahre unterhalb des Turmes. Markwart diktiert Schilde: „Das Mordopfer ist von kräftiger Statur, vermutlich noch keine dreißig Jahre alt, trägt übliche Arbeitskleidung, die Schuhe fehlen, keine Papiere in den Taschen. Er ist schon mindestens zwei Tage tot. Die Leichenstarre hat sich bereits wieder gelöst. Außerdem deutet der Verwesungsgeruch ebenfalls darauf hin, dass er schon einige Zeit nicht mehr lebt. Keinerlei Blutspuren im Wasserturm. Haben Sie alles notiert, Herr Oberwachtmeister?“ Schilde nickt. „Ich kenne den“, meldet sich einer der Arbeiter, der mitgeholfen hatte den Toten vom Turm zu holen. „Was? Warum sagen Sie das denn nicht gleich?“, erregt Krogmann sich. „Musste erstmal genauer hingucken, war mir nicht sicher wegen seiner Verletzung im Gesicht.“ „Und wie heißt der Mann?“, fragt Markwart.“ „Herbert Zantek. Habe mich schon gewundert, weil ich ihn einige Zeit nicht gesehen habe.“ „Wann haben Sie ihn denn zuletzt gesehen?“ „Schon paar Tage her. Das war so ein Einzelgänger, war leicht aufbrausend, mit dem wollste nicht so gern was zu tun haben.“ „Und wo auf der Fabrik hat er gearbeitet?“ „In der NC.“ „Wo?“ „NC, Nitrocellulose-Herstellung bei Meister Wöhrbeck.“ „Danke, Herr?“ „Schnede, Horst Schnede.“ „Herr Schnede, würden Sie dem Meister Wöhrbeck Bescheid geben, dass ich ihn sprechen möchte?“ Markwart gibt Schilde ein Zeichen, den Namen zu notieren, bevor er sich wieder der Leiche zuwendet. Das Seil, an dem der Täter sein Opfer am Turm drapiert hat, hatten sie noch nicht entfernt. „Ein charakteristischer Knoten, finden Sie nicht?“, sagt Markwart zu den drei Polizisten. „Dat is ´n Palstek, sieht man doch!“, brummt jemand aus der Gruppe der Arbeiter. „Ach ja? Ein Seemannsknoten, kennen Sie sich aus?“ „Jo! Habe mal im Hamburger Hafen gearbeitet. Genauso schlägt man eine Last an.“ „Wie?“ „Na, wie der Tote mit dem Seil angeschlagen wurde.“ „Also ist unser Täter möglicherweise jemand der mit Seefahrt oder Hafenarbeit zu tun hatte“, konstatiert Schilde. „Eine Grundregel der modernen Kriminalistik besagt, sich nicht zu früh festzulegen, Herr Oberwachtmeister“, doziert Markwart. „Wir müssen so genau wie möglich herausbekommen, wann er getötet wurde. Vermutlich wurde er erschlagen. Dann hat man ihn fachmännisch, wie sagten Sie?“ „Angeschlagen.“ „Ja, richtig, fachmännisch angeschlagen und mit dem Kran außen am Turm hochgezogen und dort oben am Fenster verzurrt. Hierzu musste der Täter das Sprossenfenster heraushebeln“, vermutet der Kriminalsekretär, und dazu braucht man eine Brechstange und einen schweren Hammer. Wir haben aber kein Werkzeug gefunden.“ „Wahrscheinlich hat der Täter das Fenster einfach mit dem Kran rausgerissen. Er brauchte doch nur das Seil quer durch die Halle an das Sprossenfenster zu knoten. Mit dem Flaschenzug des Krans reicht die Kraft sicher aus. Dennoch, merkwürdige Vorgehensweise, ein solches Risiko einzugehen, den Toten vom eigentlichen Tatort hierher zu schleppen, ihn mit dem Kran nach oben ziehen und dort in aller Ruhe mit dem Seil alles anzutüdeln, wenn man einen Mord begangen hat“, findet Krogmann. „Da könnten Sie Recht haben, aber der Täter kann das Fenster auch schon in der vorangegangenen Nacht herausgerissen haben. Das Opfer ist, wie ich schon sagte, mindestens zwei Tage tot. Wir sehen uns das Fenster noch einmal genauer an“, sagt Markwart. „Aber zunächst müssen wir den Tatort finden, wo der Mann getötet wurde, dort muss es Blutspuren geben und vielleicht auch die Tatwaffe. Die Schuhe des Toten müssen auch irgendwo sein.“ Markwart teilt Krogmann, Schilde und Brachteisen ein, die Umgebung im Umkreis von 50 Metern um den Wasserturm nach verdächtigen Spuren und Gegenständen abzusuchen. „Das Opfer wiegt mindestens 180 Pfund, viel weiter kann der Täter den Mann wohl kaum getragen haben“, vermutet Markwart. „Herr Kriminalsekretär“, mischt Krogmann sich ein, „ein gesunder Mann kann das eineinhalbfache seines Körpergewichtes über eine längere Strecke auf der Schulter tragen. Fragen Sie mal die Arbeiter, was manche den ganzen Tag schleppen müssen.“

Als die Männer ausschwärmen, um die Umgebung abzusuchen, steigt Markwart ein weiters Mal auf den Turm. Er muss einen Moment verschnaufen, als er in der obersten Ebene des Wasserturms angekommen ist. Er blickt hinauf zur Betonkuppel mit der zentralen Turmlaterne. Umlaufende Fenster werfen changierendes Licht auf das Dach des Wasserbehälters, aus dem ein gedämpftes Plätschern zu hören ist. Der Behälter hat einen schweren runden Metalldeckel. Markwart kann ihn ein Stück anheben und in das düstere Innere des Kessels blicken. Er sieht sich auch das herausgerissene Sprossenfenster genauer an. Tatsächlich ist es in einer Art verbogen, die darauf schließen lässt, dass es mit dem Kran aus dem Mauerwerk gerissen wurde. Er geht wieder auf die andere Seite der Halle, überlegt, ob er etwas übersehen hat.