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Ein lauter Knall. Eine Erschütterung. Und dann – Stille. Sarah, Elias und ihre Freunde - Kinder im Alter von zehn bis sechzehn Jahren - sind auf dem Weg zum Mars, als eine verheerende Explosion ihr Raumschiff erschüttert. Ihr Modul wird abgetrennt und treibt antriebslos im All. Ohne Kontakt zur Crew, mit schwindender Energie und einer ungewissen Zukunft müssen sie sich auf ihren Verstand, ihren Mut und einander verlassen. Während die Erwachsenen fieberhaft nach ihnen suchen, beginnt für die Kinder ein verzweifelter Überlebenskampf. Wird es ihnen gelingen, ein Signal zu senden? Oder sind sie für immer verloren? Ein packender Science-Fiction-Roman über Zusammenhalt, Hoffnung und den unbändigen Willen zu überleben.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Chaos
Es ist weg
Pläne
Völlig losgelöst
Reparatur
Kennenlernen
Draußen
Schwerelos
Neues Hobby
Peilsignal
Suche
Im All
Mut
In Sicht
Letzte Chance
Wir kommen!
Rettung
Alles gut?
28. Mai 2313, 11:38 Uhr
Backbord-Modul des Raumschiffs “Lunares Ascendent”
“Aaaaahhhh!”
Melike schaute auf. Der Schrei kam von Jonas. Er war mit seinem Raumanzug beschäftigt und schraubte und bastelte irgendetwas daran. Die anderen Kinder, für die Melike die Unterrichtsbegleitung auf dem Raumschiff Lunares Ascendent auf dem Weg vom Mond zum Mars machte, drehten sich zu Jonas um.
Melike hatte sich gerade mit Sarah unterhalten und sprang nun auf.
“Ich muss kotzen”, würgte Elias, Sarahs jüngerer Bruder.
Aidan und Brendon Akom, die zehnjährigen Zwillinge, schauten auf Jonas’ linke Hand und zogen dann mit angewiderter Mine die eigenen Hände eng an den Körper und ballten die Fäuste.
Moritz zog scharf die Luft durch die Zähne.
Amira hielt sich mit beiden Händen den Mund zu.
“Jonas!” Melike war bei ihm angekommen und schaute entsetzt auf seine linke Hand.
“Ich bin abgerutscht”, wimmerte Jonas. Der Schraubendreher, mit dem er gerade eine Schraube im Luft-Recycling-Rucksack seines Raumanzuges anschrauben wollte, steckte in seinem Handrücken. Etwas Blut sickerte langsam aus der Wunde.
Sarah war gleichzeitig mit Melike aufgesprungen. Mit ihren sechzehn Jahren war sie die älteste der sieben Kinder, die zusammen mit ihren Eltern und ungefähr achtzig weiteren Passagieren auf dem Weg zum Mars waren. Sechs Wochen waren sie bereits unterwegs, zwei Wochen hatten sie noch vor sich.
Mit sicheren Schritten bewegte sich Sarah zum Schrank neben der Eingangstür. Sie hatte sich, wie auch die anderen Kinder, an die geringe Schwerkraft an Bord des Raumschiffes gewöhnt. Null Komma drei g hatte es bei der Einweisung geheißen, das ist knapp ein Drittel der Schwerkraft auf der Erde. Und in etwa die Schwerkraft, die sie auch auf dem Mars erwarten würde. Mehr als diese Null Komma drei g konnten die Gravitationsgeneratoren nicht leisten. Seit Jahren versuchten die Ingenieure bereits, eine höhere Leistung zu erreichen – ohne Erfolg.
Sarah griff nach dem Verbandskasten und brachte ihn mit schnellen Schritten zu dem Tisch, an dem Jonas saß. Melike holte ein Verbandspäckchen heraus und wickelte es provisorisch um die Wunde.
“Wir müssen sofort auf die Krankenstation”, entschied sie. “Das muss fachmännisch behandelt werden.”
Sie half Jonas aufzustehen und führte ihn zur Tür.
“Sarah”, sagte sie zu ihr gewandt. “Du passt bitte auf solange ich weg bin. Machst du das?”
“Natürlich, Melike. Mach dir keine Sorgen um uns.”
Melike verschwand mit Jonas durch die Tür, die sich zischend hinter ihnen schloss.
“Was hat Jonas gemacht?”, fragte Brendon. Oder war es Aidan? Sarah konnte die beiden nicht auseinander halten. Sie trugen zwar Streifen in unterschiedlichen Farben auf ihren Overalls. Aber sie wusste nicht, wer heute welche Farbe hatte.
“Jonas hat sich mit dem Schraubendreher in die Hand gestochen. Der Doktor flickt ihn schon wieder zusammen”, versuchte sie ihn zu trösten. “Das wird schon wieder, Brendon”, riet sie. Sie glaubte sich zu erinnern, dass Brendon meistens rot oder blau bevorzugte.
Der Junge wischte sich die Nase am Ärmel ab. Er korrigierte sie nicht. Offenbar hatte sie richtig geraten.
“Brendon - rot, Aidan - grün”, sagte Sarah leise zu sich.
“Macht ihr bitte weiter?”, sagte sie zu den Zwillingen gerichtet. Die drehten sich wieder zu ihren Aufgaben um.
Sarah setzte sich wieder auf ihren Platz neben Amira. Amira war zwar gut ein Jahr jünger als sie selbst, aber sie war das einzige Mädchen in der ganzen Reisegruppe – außer Sarah natürlich. Und sie verstand sich ausgezeichnet mit ihr. Sarah war beeindruckt, mit welcher Geschwindigkeit Amira selbst komplizierteste Zusammenhänge verstand. Wie schnell sie Berechnungen durchführen konnte, einfach so, im Kopf.
Sie schaute lächelnd hinüber zu Moritz. Er war erst fünfzehn, aber sie fand ihn – schon irgendwie nett, wenn auch noch etwas kindlich. Wenn er sich trauen würde, sie anzusprechen, sie hätte nichts dagegen.
Moritz unterhielt sich aber lieber mit Elias, ihrem jüngeren Bruder. Der war zwar auch schon vierzehn, aber so klein wie ein Zwölfjähriger. Elias litt an Duchenne-Muskeldystrophie, meist nur DMD genannt, einer genetischen Muskelschwäche-Krankheit. Die Krankheit erschwerte den Muskelaufbau, beschleunigte zum Teil sogar den Abbau. Die vielen Medikamente, die er nehmen musste, hatten sein Wachstum gehemmt. Aber dank der Medikamente war der Herzmuskel stark genug, so dass er keinen Herzschrittmacher benötigte. Auch atmen ging problemlos. Allerdings waren die Arm- und Beinmuskeln so schwach, dass er ein elektromotorbetriebenes Exo-Skelett auf der Erde benötigt hatte. Hier auf dem Raumschiff, wo nur ein Drittel der Erdschwerkraft herrschte, brauchte er es nicht. Hier reichten seine Muskeln aus.
Er würde zeit seines Lebens kleiner sein als andere. Aber dank der Medikamente konnte er alt werden wie andere Menschen. Noch vor fünfzig Jahren hätte er höchstens dreißig oder vierzig Jahre alt werden können. Als ihre Eltern von der Krankheit erfuhren, hatte sich alles nur noch um ihn gedreht. Sarah lief nur noch so mit. Manchmal hatte Sarah das Gefühl, ihre Eltern hätten vergessen, dass sie auch noch eine Tochter hatten.
Sie wischte ihre Gedanken beiseite. Jetzt war Jonas wichtig.
Die beiden Jungen tuschelten immer noch.
“Zwerg!”, rief sie ihrem Bruder zu. “Mach deine Aufgaben!”, befahl sie in strengem Ton.
Sofort drehte Elias sich zu seinem Tablet um und fuhr mit dem Unterricht fort. Moritz lächelte sie an. Hatte er nicht sogar gezwinkert?
Es war still im Klassenraum im Backbord-Modul des Raumschiffes “Lunares Ascendent”. Leise rauschte die Lüftung. Manchmal stöhnte einer der Zwillinge, ihre Aufgaben waren wohl schwer. Melike hatte ihnen Rechenaufgaben gegeben – das konnten sie am wenigsten leiden.
Wie schon häufiger in den letzten beiden Wochen hörten sie ein leises prasselndes Geräusch. Offenbar war das elektromagnetische Feld, das das Raumschiff vor dem interplanetaren Staub und Mikrometeoriten im Weltraum schützen sollte, schon wieder ausgefallen.
“Ihr müsst keine Angst haben”, hatte Melike sie beim ersten Auftreten beruhigt. “Die Steinchen sind zu klein und können die Außenwand nicht durchschlagen. Das Feld haben wir eigentlich nur, damit es keine hässlichen Kratzer gibt.”
“Und wenn was größeres kommt?”, fragte Moritz.
“Zum Beispiel ein Kiesel?”, kicherte Amira und spielte damit auf Moritz’ Familiennamen an.
“Ha ha”, lachte Moritz unecht.
“Die Brückencrew passt auf”, klärte Melike sie auf. “Die Sensoren beobachten den Weg vor uns. Wenn was angeflogen käme, würden sie es bemerken. Und dann entweder ausweichen oder mit dem Laser beschießen. Und außerdem passt die Weltraum-Kontrolle auf der Erde und auf dem Mond auf uns auf. Hier seid ihr sicherer als auf dem Spielplatz.”
Wenn das Feld schon dauernd ausfällt, dachte Sarah, was ist dann mit den Sensoren? Die arbeiten hoffentlich zuverlässiger.
Sie behielt ihre Gedanken lieber für sich. Sie wollte die anderen nicht beunruhigen.
Sarahs Handgelenk-Terminal vibrierte. Melike rief an, ihr Bild schwebte über Sarahs Handgelenk.
“Mit Jonas ist alles soweit in Ordnung. Der Schraubendreher ist draußen und alles gereinigt und verbunden. Ich bleibe noch bei ihm bis seine Eltern kommen. Sarah, nach dem Vormittagsunterricht gehst du mit den anderen bitte in die Messe zum Mittagessen. Es ist ja nur noch eine halbe Stunde. Wir sehen uns dann nach dem Training wieder zum Unterricht.”
“Alles klar”, bestätigte Sarah. “Grüße an Jonas. Wir kommen ihn nach dem Essen besuchen.”
“Oh, das ist gar nicht nötig. Er kann schon wieder entlassen werden. Ihr trefft ihn beim Essen."
“Bis nachher, Jonas!”, riefen die anderen Kinder laut in Sarahs Richtung. Sie trennte die Verbindung.
Alle widmeten sich wieder ihren Aufgaben. Ein lautes “Klonk!” ließ sie nach einigen Minuten aufschrecken.
“Was war das?”, fragte Aidan.
“Ein Kiesel”, grinste Amira.
Moritz streckte ihr die Zunge heraus.
Nach einem zweiten und einem dritten “Klonk!” stand Sarah auf.
“Okay”, entschied sie. “Wir beenden den Unterricht jetzt schon und gehen rüber ins Hauptmodul. Das wird mir hier langsam unheimlich.”
Die anderen sprangen auf und rollten ihre Tablets zusammen. Sie gingen durch den kurzen Gang zur Schleuse, die zum Hauptmodul führte. Kurz bevor Amira als Erste die Tür erreichte, hörten sie einen lauten Schlag. Viel lauter als die anderen drei. Es folgte ein weiterer Schlag, noch lauter. Dann leuchtete ein rotes Warnlicht über der Tür auf. “Notfall-Versiegelung” erschien auf dem Display neben der Tür. Sie ließ sich nicht mehr öffnen.
“Achtung!”, erklang die synthetische Stimme des Raumschiffs. “Wasserstoff-Leck im Übergang zum Backbord-Modul. Reparatur-Teams zu Leitung H zwölf Backbord. Schleuse kann nicht verwendet werden. Bitte den Bereich räumen.”
“Was passiert hier?” Aidan schaute verängstigt und klammerte sich an seinen Bruder.
“Das wird bestimmt gleich repariert”, sagte Sarah. “Wir gehen zurück ins Klassenzimmer und warten, bis der Durchgang frei wird.” Sie schob Aidan in Richtung Klassenzimmer.
Als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie durch die Glasscheibe der Schleusentür einen Blitz. Das Wasserstoff-Luft-Gemisch hatte sich offenbar entzündet. Dafür reichte ein Funken oder schon eine heiße Oberfläche. Die Schleusentüren des Backbord-Moduls hielten der Explosion stand. Der größte Anteil der Explosions-Energie richtete sich gegen das Raumschiff, zum Glück für die Kinder und Jugendlichen im Backbord-Modul. Die Explosion riss die Hülle des Raumschiffs auf, die Schleuse wurde zerstört. Sie hörten „Puff“ und dann ein Knirschen.
Ganz in der Nähe der Schleuse, in Richtung Heck des Raumschiffs, befand sich das seitliche chemische Triebwerk. Im Weltraum flog das Raumschiff mit Ionen-Triebwerken. Für die Landung auf dem Mars waren aber chemische Triebwerke nötig, Ionen-Triebwerke funktionieren in Atmosphären nicht. Und waren für die Schwerkraft des Mars und auch des Mondes viel zu schwach. Die chemischen Triebwerke waren zwar nicht in Betrieb, aber die Leitungen führten noch Treibstoff. Die Hülle des Raumschiffs war durch die Explosion so weit aufgerissen worden, dass eine Leitung frei lag. Herumwirbelnde Trümmer rissen die Leitung auf, ein Funken entzündete heraus strömenden Treibstoff. Die dadurch verursachte Explosion war noch einmal deutlich stärker als die Wasserstoff-Explosion. Und viel lauter. Die Kinder im Backbord-Modul wurden von den Füßen gerissen und purzelten über den Boden.
Sirenen fingen an zu heulen. Metall knirschte. Sie fingen an zu schreien.
Sarah drehte sich noch einmal in Richtung der Schleuse und schaute durch das Glasfenster. Ihre Augen weiteten sich. Fassungslos blickte sie hinaus. Das Raumschiff entfernte sich von ihnen!
“Nein!”, japste sie.
“Was ist los?”, fragte Moritz neben ihr. Sie deutete stumm durch die Scheibe.
“Ach du Sch…”, entfuhr es Moritz. “Ich dachte, wir sind hier sicher?”
Sarah fing sich wieder. Sie tippte auf ihr Handgelenk-Terminal. “Brücke! Hilfe! Wir treiben ab!”, rief sie.
Jetzt realisierten auch die anderen, was passierte. Sie gingen den Gang etwas zurück und schauten ungläubig durch das Fenster.
Sarah bekam keine Antwort, ihr Terminal blieb stumm. Jetzt probierten es auch die anderen. Nichts.
Brendon und Aidan klammerten sich an Moritz und Amira und fingen an zu heulen.
Tatenlos mussten sie mit ansehen, wie sie sich langsam vom Raumschiff entfernten. Völlig alleine trieben sie durch die Schwärze des Weltraums.
28. Mai 2313, 10:49 Uhr
Brücke der Lunares Ascendent
“Captain”, rief der Ingenieur von seiner Konsole an der Wand. “Die Sensoren sind ausgefallen.”
“Wie lange können wir mit den vorhandenen Daten überbrücken, Monti?”, fragte Captain Jakob Tiber und nahm einen Schluck aus seinem mächtigen Kaffeebecher.
“Zwei bis drei Stunden”, antwortete der Ingenieur. “Zumindest für Objekte, die uns gefährlich werden könnten.”
“Was ist mit dem elektromagnetischen Feld?”
“Im Moment ist es aktiv. Aber es war heute schon zwei Mal ausgefallen.”
“Dann wird die Schrottkarre hier wohl noch ein paar Kratzer abkriegen.”
Das Raumschiff war auf dem Mond frisch überholt worden. Es hatte leistungsstärkere Triebwerke bekommen, so dass sich die Flugzeit von zwölf Wochen auf knapp acht Wochen verkürzte. Zumindest, wenn der Mars in Erdnähe war und damit nur sechzig Millionen Kilometer entfernt. Ein zusätzliches System wurde eingebaut, das die Sensoren bei der höheren Geschwindigkeit unterstützte. Da sie um fast die Hälfte schneller flogen als bei den früheren Flügen, musste auch nach kleineren Objekten Ausschau gehalten werden. Die Hülle war zwar gut gepanzert, aber bei der enormen Geschwindigkeit von vierzigtausend Kilometern pro Stunde konnte ein Einschlag großen Schaden verursachen. Außerdem war ein Speichersystem eingebaut worden, dass die Daten der Sensoren speicherte und damit die Objekte katalogisiert werden konnten. Man versprach sich davon, dass in Zukunft die Raumschiffe noch schneller werden durften und sichere Routen berechnet werden konnten.
Der Weltraum ist zwar unfassbar leer. Aber dennoch gibt es immer wieder Bereiche mit Ansammlungen von Mikrometeoriten. Im Asteroidengürtel können Asteroiden kollidieren und damit für kleinere Objekte sorgen, die dabei herausgebrochen werden. Ein großer Teil der Objekte bleibt im Einfluss der Schwerkraft der Asteroiden und umkreist weiter die Sonne im Asteroidengürtel. Manche Objekte werden aber abgebremst und wechseln dadurch auf engere Bahnen um die Sonne.
Zwischen den Bahnen von Erde und Mars bewegten sich einige der Trümmer, die bei den Asteroiden-Kollisionen entstanden waren – zum Teil schon vor Millionen von Jahren. An sich nichts Gefährliches. Das elektromagnetische Feld kümmerte sich um die kleineren Teile bis Faustgröße, die Sensoren warnten vor größeren. Zumindest, wenn sie funktionierten.
“Verdammt.” Der Captain schlug mit der Faust auf die Lehne seines Kommandosessels. Vor ein paar Stunden hatte er eine Nachricht von der Weltraum-Kontrolle auf der Erde erhalten. Es waren wieder einmal antike Satelliten im Orbit der Erde kollidiert.
Man hatte die ganzen alten Kisten noch immer nicht vollständig katalogisiert. Die vorhandenen Aufzeichnungen waren äußerst lückenhaft. Die verschiedenen Weltraum-Behörden wie NASA und ESA hatten in der Vergangenheit zahlreiche Daten über ihre Satelliten verloren. Die Erde wurde von unzähligen Satelliten umkreist, von denen keiner genau wusste, auf welchen Bahnen sie unterwegs waren. Der Treibstoff bei vielen war inzwischen aufgebraucht, so dass keine Korrekturen mehr vorgenommen werden konnten. Es gab zwar immer wieder Missionen, die die Satelliten aus dem Himmel holten und Trümmer aufsammelten. Aber es würde noch Jahre dauern, bis der Orbit ordentlich aufgeräumt war. Wenn nicht sogar Jahrzehnte.
Eine Trümmerwolke hatte sich um das Teleskop der Weltraum-Kontrolle gebildet und blockierte so die Sicht in den Weltraum. Die Weltraum-Kontrolle war praktisch blind. Zumindest in Richtung Mars. Es würde mindestens noch zwei Stunden dauern, bis ein anderes Teleskop korrekt ausgerichtet war. Und der Mond befand sich in Neumond-Position, also zwischen Erde und Sonne. Von dort aus war der Mars jetzt nicht zu sehen. Und auch die Lunares Ascendent nicht. Die Erde lag zwischen Mond und Mars. Und dem Raumschiff. Auf dem Mars war die Weltraum-Kontrolle noch im Aufbau. Zwar umkreisten einige Satelliten den roten Planeten. Aber bis die Flugbahnen auch vom Mars aus gesichert werden konnten, würde es noch ein paar Jahre dauern.
Er stand auf. “Heute kommt verdammt viel Pech zusammen. Die Weltraum-Kontrolle ist blind, Luna versteckt sich hinter der Erde und die Sensoren sind unzuverlässiger als April-Wetter. Das heißt: Augen auf! Jeder, der mindestens ein Auge hat, geht zu einem Fenster und beobachtet den Weltraum vor uns. Alle von der Crew, die keinen unentbehrlichen Dienst haben und auch jeder von den Passagieren, der helfen will. Thiago”, er drehte sich zu seinem Ersten Offizier um, “du koordinierst alles. Freizeit ist aufgehoben. Alle Sichtungen unverzüglich an das Ruder. Hikaru”, er wandte sich an den Steuermann, “Geschwindigkeit reduzieren auf hundert mit null Komma drei. Ausweichmanöver nach eigenem Ermessen.”
Hikaru nickte. “Aye, Captain.”
Mit Hilfe der Gravitationsgeneratoren konnte die Belastung der Passagiere und der Crew bis zu einer Verzögerung oder Beschleunigung mit null Komma drei g ausgeglichen werden. Das war eine vergleichsweise große Bremskraft, üblich waren null Komma eins g. Dennoch würde es eine Stunde dauern, bis das Raumschiff abgebremst hatte, auf die vom Captain geforderten einhundert Kilometer pro Stunde. Um die Passagiere nicht zu gefährden und nicht alles im Raumschiff sichern zu müssen, vermied der Captain eine noch stärkere Bremskraft.
Thiago gab die Kommandos über sein Terminal weiter. Die Betreuer für die Passagiere suchten nach Freiwilligen. Bestätigungen kamen herein.
“Alle Fenster in Flugrichtung mit jeweils mindestens vier Augen besetzt”, berichtete Thiago nach einer halben Stunde.
“Gute Arbeit”, lobte der Captain. “Sind die Passagiere ruhig?”
“Keine negativen Berichte, Captain. Alle, die nicht an den Fenstern kleben, sind in den Kabinen.”
Wenigstens haben wir die Sonne im Rücken, dachte der Captain. Dann wird alles von der Sonne angestrahlt. Wären wir auf dem Weg zum Mond, hätten wir kaum eine Chance, etwas zu sehen.
“Geschwindigkeit?”, fragte der Captain in Richtung Steuermann.
“Einundzwanzigtausend”, antwortete Hikaru.
Der Captain presste die Zähne aufeinander. Das war für Sichtungen nur per Auge noch viel zu schnell.
Eine Benachrichtigung ploppte auf dem Terminal des Captains auf. “Jonas Mallerta im Unterricht leicht verletzt. Behandlung in Krankenstation.” Er wischte sie zur Seite. Die Priorität lag im Moment woanders. Er würde den Jungen später besuchen gehen. Wenn Ruhe eingekehrt war.
Eine Handvoll Sichtungen wurden nach und nach gemeldet. In den meisten Fällen handelte es sich um sehr kleine Objekte. Ein leichtes Prasseln war gelegentlich zu hören oder manchmal ein leises “Klonk”. Hikaru nahm ein paar leichte Kurskorrekturen vor. Bald befand sich das Raumschiff einige Kilometer abseits der Route, die ursprünglich geplant war.
Der Captain schaute auf die Uhr auf dem Kommandosessel. Es war etwas über eine Stunde seit Beginn des Bremsmanövers vergangen.
“Geschwindigkeit?”, fragte er wieder.
“Vierhundert fünfzig”, antwortete Hikaru. “Zielgeschwindigkeit in wenigen Sekunden erreicht.”
Vierhundert fünfzig Stundenkilometer, dachte der Captain. Im Weltraum ist das nicht mal Schrittgeschwindigkeit. Wir sind langsamer als eine Schnecke. Hoffentlich sind die Sensoren bald wieder in Betrieb, damit wir Fahrt aufnehmen können.
Zufrieden beobachtete der Captain das Treiben. Er konnte sich auf seine Crew verlassen. Jeder wusste, was er zu tun hatte. Jeder war mit voller Leistung und voller Konzentration bei der Arbeit. Er würde sich noch einen Becher Kaffee gönnen.
Der Captain stand auf und ging in Richtung des Automaten im hinteren Bereich der Brücke. Gerade als er die Taste für schwarzen Kaffee drückte, gab es einen lauten Schlag. Dann noch einen, etwas lauter.
“Von oben”, rief jemand. “Da ist was von oben gekommen.”
“Keine Schäden”, meldete Thiago. Er schickte ein paar Augen zu Fenstern nach oben und unten.
Der Captain fluchte leise. Er hatte sich nur auf den Raum vor ihnen konzentriert und den Raum über und unter ihnen außer acht gelassen. Zwar werden die Objekte über und unter ihnen weniger von der Sonne angestrahlt und waren dadurch viel schwerer zu sehen. Aber dennoch hätte er Vorsorge treffen müssen.
Fast alle Objekte im Sonnensystem bewegten sich auf der gleichen Ebene wie die Planeten um die Sonne. Daher konnte man den Flug eigentlich zweidimensional betrachten, wie eine Überfahrt auf dem Meer. Aber einige Objekte hatten eine abweichende Bahn. Ihre Umlaufbahn war geneigt, mal mehr, mal weniger. Ganz wenige Objekte kreisten sogar senkrecht zur üblichen Ebene. Und genau so ein Objekt hatte das Raumschiff getroffen.
“Wie viel Pech kann man haben?”, murmelte der Captain.
“Noch eins”, rief Hikaru. Mit flinken Fingern bearbeitete er das Steuerpult. Zu spät. Ein drittes Objekt schlug ein. Es schien noch größer als die ersten beiden gewesen zu sein.
“Achtung!”, erklang die synthetische Stimme des Raumschiffs. “Wasserstoff-Leck im Übergang zum Backbord-Modul. Reparatur-Teams zu Leitung H zwölf Backbord. Schleuse kann nicht verwendet werden. Bitte den Bereich räumen.”
Nur ein paar Sekunden später fingen Sirenen an zu heulen. Rote Lichter pulsierten. Ein Scheppern und Krachen zog sich durch das Schiff. Das Raumschiff bockte. Der Captain wurde von den Füßen gerissen. Er schüttete sich den heißen Kaffee über die Hand.
“Verdammt, was war das?”, rief er.
“Explosion eines chemischen Triebwerks, backbord”, meldete Monti, der Ingenieur.
“Die Krankenstation meldet zahlreiche Verletze”, rief Thiago nach einem Moment.
“Ionen-Triebwerke ausgefallen”, meldete Hikaru. “Ich kann nicht mehr steuern.”
“Interne Sensoren offline”, überbrachte Monti nach ein paar Sekunden der Stille die nächste schlechte Nachricht. “Kommunikation ausgefallen.”
“Schickt berittene Boten los”, befahl der Captain. “Ich muss wissen, wie die Lage ist.” Er setzte sich auf seinen Kommandosessel und rieb sich die Hand, die er sich am heißen Kaffee verbrüht hatte.
Thiago rannte von der Brücke. Ohne Kommunikation musste er jeden einzeln losschicken. Er gab vier Crew-Mitgliedern an Fenstern entsprechende Kommandos. Jeder von ihnen informierte zunächst andere Crew-Mitglieder und machte sich dann auf, einen Bericht für den Captain zusammenzustellen.
Ungeduldig schaute der Captain immer wieder auf die Uhr. Schon fast eine Stunde seit dem Einschlag. Thiago kam herein. Er war ungewöhnlich blass, als er vor den Captain trat.
“Siebzehn Verletzte”, meldete er. “Fast alle nur leicht, ein paar Kratzer, blaue Flecken, leichte Verbrennungen. Zwei Techniker sind schwerer verletzt. Sie waren an der Schleuse zum Backbord-Modul, als das Triebwerk explodiert ist. Das Backbord-Modul …” Thiago stockte.
“Was ist damit?”, fragte der Captain ungeduldig.
“Es … es ist weg.”
Der Captain sprang auf. “Weg? Wie weg?”
“Durch die Explosion wurde die gesamte Haltekonstruktion beschädigt. Es ist einfach abgerissen.”
“Wurde das Modul zerstört?”, fragte der Captain. Er glaubte, dass sein Herz kurz ausgesetzt hatte.
“Sehr wahrscheinlich nicht. Es sind nur wenige Trümmer zu sehen. Sie stammen mit größter Wahrscheinlichkeit alle von der Haltekonstruktion und dem Übergang”, antwortete Thiago.
“War jemand dort?”
“Das klären wir gerade. Im Backbord-Modul ist das Klassenzimmer. Der Einschlag war kurz vor Unterrichtsschluss. Vielleicht waren sie schon auf dem Weg zur Messe.”
“Haben wir was von der Mentorin, wie heißt sie? Melika?”
“Melike”, korrigierte Thiago. “Sie war bei Jonas Mallerta auf der Krankenstation. Er hatte sich im Unterricht leicht verletzt.”
Der Captain erinnerte sich an die Benachrichtigung.
“Sie sagt, sie hatte die älteste Schülerin – Sarah Berger – gebeten, nach dem Unterricht mit den Kindern in die Messe zu gehen. Dort sind sie nicht. In ihren Kabinen auch nicht. Wir suchen sie noch.”
Der Captain ballte die Fäuste. Wenn die Kinder noch im Modul waren, nicht auszudenken. Sie wären dort ganz allein auf sich gestellt. Oder noch schlimmer, wenn sie in der Schleuse gewesen waren. Kurz stieg Übelkeit in ihm hoch. Hoffentlich war das Modul nicht beschädigt worden.
Sein Magen krampfte sich zusammen. “Wo ist das Modul?”
Thiago schluckte schwer. “Es ist schon außer Sichtweite. Es war auf unserer Sonnenseite und zeigt uns deswegen seine dunkle Seite. Ohne die Sensoren können wir es nicht finden.” Thiago schaute nach unten. Der Captain bemerkte, dass er gegen die Tränen kämpfte.
Die Gedanken des Captains rasten. “Sammelt alle Teleskope, Ferngläser und Lupen ein. Jeder, der kann, geht an ein Fenster und sucht. Wir haben doch eine wahrscheinliche Richtung, oder?”
Thiago nickte. “Wir berechnen den Kegel, in dem sich das Modul befinden muss.”
“Ich will mindestens zehn Mann, die das Raumschiff nach den Kindern absuchen. Alle fünfzehn Minuten Bericht, über alles. Bring die Eltern schnellstmöglich zu mir in den Bereitschaftsraum. Auch Jonas mit seinen Eltern. Alles verstanden?”
“Aye Captain”.
“Ausführung!”, befahl der Captain dann. Thiago rannte los.
Nach zehn Minuten wurden die Eltern der verschollenen Kinder in den Bereitschaftsraum des Captains gebracht. Jonas drückte sich an seine Mutter. Mit ängstlichen und teils verheulten Augen schauten sie ihn an.
“Ich nehme an, Thiago hat euch bereits informiert, dass das Backbord-Modul abgetrennt wurde”, begann der Captain mit ruhiger Stimme.
“Was ist mit unseren Kindern?” Lea Berger schaute den Captain flehend an.
“Wir wissen es noch nicht.” Er schaute die Eltern mitfühlend an. “Ich habe zehn Mann losgeschickt, das Schiff zu durchsuchen. Wir hoffen und beten, dass sie nicht mehr im Modul waren. Sie waren möglicherweise schon auf dem Weg in die Messe.”
“Aber was, wenn sie in der Schleuse waren?”, fragte Maeve Kelly-Akom, die irische Mutter der Zwillinge.
“Lassen wir die Hoffnung, dass das nicht der Fall war.” Maeve und Lea schluchzten. “Unsere fähigsten Leute suchen nach dem Modul. Wir geben nicht eher auf, bis wir sie gefunden haben.” Er wandte sich an Jonas. “Was war mit dir passiert?”
Jonas drückte sich noch enger an seine Mutter. “Ich … ich hab an meinem Raumanzug gebastelt. Für den Unterricht. Ich wollte da was nachgucken am Luft-Recycling. Und beim Zusammenschrauben bin ich dann mit dem Schraubendreher abgerutscht und hab mir in die Hand gestochen.” Er hielt dem Captain seine verbundene linke Hand hin. “Melike hat mich dann in die Krankenstation gebracht. Sie hat dann noch bei Sarah angerufen. Die sollte mit den anderen nach der Schule zum Essen gehen. Aber dann hat’s gerumst." Er wischte sich Tränen aus den Augen.
“Aber deine Freunde waren alle noch im Klassenraum, als Melike angerufen hatte?”
Jonas nickte.
“Und glaubst du, sie sind alle dageblieben, so wie Melike es wollte?”
“Bestimmt.” Jonas nickte wieder. “Sarah hört auf das, was Melike sagt. Und die anderen hören auf Sarah. Sie kann manchmal ganz schön streng sein.” Verstohlen schaute er zu Lea und David Berger.
“Das ist gut.” Der Captain atmete tief ein und aus. “Wir dürfen mit größter Sicherheit annehmen, dass eure Kinder im Klassenraum waren. Das Modul ist stabil. Viel stabiler als die Verbindung. Es gibt dort Puffer-Batterien, die halten ein paar Stunden. Und eine unabhängige Luftversorgung. Das heißt, sie haben Heizung, Licht und Luft. Unsere wichtigste Aufgabe ist nun, das Modul zu finden. Die Sensoren arbeiten noch nicht. Die Techniker arbeiten mit Hochdruck an der Reparatur.”
“Sollten wir nicht besser anhalten?”, fragte Carina Kiesel.
“Die Triebwerke arbeiten ebenfalls nicht. Wir können noch gar nicht anhalten. Auch diese Reparaturen laufen. Aber das Modul bewegt sich noch mit der gleichen Geschwindigkeit wie wir. Im Weltraum wird es ja nicht gebremst. Wir driften nur auseinander.”
“Nur”, flüsterte Christoph Kiesel.
Der Captain überhörte es. “Unsere Chancen sie zu finden, sind am größten, wenn wir weiter fliegen.”
Er schaute die Eltern nacheinander an. “Ich habe selbst keine Kinder. Ich kann nicht nachempfinden, was ihr durchmachen müsst. Aber bitte, vertraut wie ich auf die Fähigkeiten dieser fantastischen Crew. Niemand wird eher ruhen, bis wir eure Kinder wiederhaben. Alle, die nicht mit Reparaturen beschäftigt sind, suchen nach dem Modul und durchsuchen das Raumschiff.”
Die Eltern nickten und wischten sich die Augen ab. Jonas schniefte. Schweigend verließen sie den Bereitschaftsraum. Eine psychologisch geschulte Mitarbeiterin der Krankenstation, die vor dem Bereitschaftsraum gewartet hatte, nahm die Eltern in Empfang.
Jonas nahm nicht an dem Gespräch der Eltern mit der Psychologin teil. Seine Eltern waren der Meinung, dass es zu belastend für ihn sei, und baten ihn, in ihre Kabine zu gehen. Er setzte sich auf sein Bett. Er musste doch irgendetwas tun können. Er ließ seinen Blick schweifen. Sein Teleskop war vorhin von jemandem von der Crew abgeholt worden. Ansonsten hätte er sich damit an ein Fenster gestellt und gesucht. Sein Spektroskop lag in einem Regal. Ob man damit etwas anfangen konnte?
29. November 2312, 18:30 Uhr
Wohnung der Familie Berger
Elias, Sarah und ihre Eltern hatten gerade das Abendessen beendet. Elias räumte das Geschirr in die Spülmaschine.
“Die Physio war wieder ganz schön anstrengend heute”, sagte er, als er fertig war. “Und das Exo drückt, ich leg mich ein bisschen hin.”
“Ich helfe dir beim Ablegen“, bot seine Mutter an.
Die DMD, die Duchenne-Muskeldystrophie, ließ seine Muskeln langsam immer schwächer werden. Normalerweise wurden Muskeln mit dem Körperwachstum von Kindern größer und stärker. Für Elias war es schon ein Erfolg, wenn die Muskeln nicht weniger wurden. Mit den unzähligen Medikamenten, die er einnahm, konnte der Prozess verlangsamt werden, so dass Herz und Lunge noch lange Zeit genügend Kraft hatten. Er würde aber nie mehr gesund werden. Das Exo-Skelett half ihm dabei, sich einigermaßen normal bewegen zu können. Zwar wuchs er wegen der Medikamente langsamer als Kinder in seinem Alter, aber er war trotzdem schon wieder aus dem Exo-Skelett herausgewachsen. Es ließ sich nicht mehr weiter anpassen, er brauchte dringend ein neues, größeres. Zum Glück bezahlte die Versicherung die gesamten Kosten, solange er noch minderjährig war. Das Teil war ganz schön teuer.
Wie jeden Tag war Elias nach der Schule bei der Physiotherapie gewesen. Die Übungen, die er dort machte, dienten dazu, die verbleibende Muskelkraft zu fördern und Verspannungen, die das Exo-Skelett mit sich brachte, zu mindern. Die Massage am Ende der Physiotherapie genoss er. Manchmal massierte ihn zuhause sein Vater, er hatte dafür extra einen Lehrgang gemacht. Fast zwei Stunden verbrachte er jeden Tag mit der Therapie und der Massage. Wenn er danach noch Schularbeiten zu machen hatte, war der Tag fast vorbei.
Elias schälte sich mit der Hilfe seiner Mutter aus dem Exo-Skelett – die Prozedur dauerte fast zehn Minuten – und legte sich auf die Couch. Mutter tauschte vorsorglich die Batterie gegen eine frisch aufgeladene auf.
“Sarah”, rief Lea Berger dann ihre Tochter herbei. “Kommst du bitte mal. Wir müssen etwas besprechen.”
“Was ist denn?” Sarah ließ sich genervt auf einen Sessel fallen. “Ist mit der Schrumpfgurke”, sie deutete auf Elias, “wieder irgendwas?”
“Du sollst ihn nicht immer so nennen”, tadelte ihre Mutter sie. “Nein, es geht nicht um Elias. Nicht direkt. Es geht um euren Vater.”
“Ich habe eine neue Arbeitsstelle”, verkündete David Berger, ihr Vater. “Die Ares Mining Corporation sucht immer neue Leute für ihre Lithium- und Seltene-Erden-Minen.”
“Moment”, unterbrach Sarah ihn. “Die sitzen doch auf dem Mars oder nicht? Haben die hier ein Büro?”
Vater schüttelte den Kopf.
Sarahs Augen wurden größer. “Du willst doch nicht etwa auf dem Mars arbeiten?”
“Das ist ein ausgezeichnetes Angebot. Ich verdiene da mehr als doppelt so viel wie jetzt.”
“Aber”, Elias stieg in das Gespräch mit ein, “wenn du auf Mars bist, dann sehen wir dich doch gar nicht mehr. Höchstens noch auf Videos.” Er schaute seinen Vater traurig an.
“Doch, wir werden uns weiter sehen. Ihr kommt nämlich alle mit.”
Rums! Sarah klappte die Kinnlade herunter. Sie fand nach ein paar Sekunden der Stille ihre Sprache wieder. “Wir kommen mit? Was heißt das? Ich soll auf diesen verrosteten Felsbrocken?”
Vater nickte. “Ja, zumindest für knapp zwei Jahre. So lange geht der Vertrag erst mal. Dann sehen wir weiter.”
“Ich will da nicht hin.” Sarah hatte die Arme vor der Brust verschränkt und das trotzigste Gesicht aufgesetzt, das sie finden konnte. “Meine Freunde sind alle hier.”
“In Ares City leben zwölftausend Menschen, da sind auch Yunx dabei. Du wirst sicher schnell neue Freundinnen finden”, versuchte Mutter sie aufzumuntern. Es klang komisch, wenn sie “Yunx” sagte. Das war ein relativ neuer Begriff für “Kinder und Jugendliche”.
“Außerdem”, fuhr Vater fort, “ist die Schwerkraft auf dem Mars geringer als hier. Elias hat es dann leichter und braucht das …”
Bei “Elias” war Sarah schon aufgesprungen und hatte dabei fast den Couchtisch umgeworfen. “Natürlich geht es wieder nur um ihn”, unterbrach sie ihren Vater und rauschte ab in ihr Zimmer. Sie ärgerte sich, dass es in der Wohnung nur automatische Schiebetüren gab. Wie gerne hätte sie die Tür mit Schwung hinter sich zugeschlagen.
“Wir ziehen wegen mir um?”, fragte Elias und richtete sich etwas auf. “Das will ich nicht!”
“Nein, es ist nicht deinetwegen”, sagte Mutter. “Das ist ein echt toller Job für deinen Vater. Er leitet da dann eine ganze Abteilung, mit über hundert Leuten. Dass es gut für dich ist, ist die Sahne obendrauf.”
Elias schaute seine Eltern abwechselnd an.
“Schau mal”, sein Vater setzte sich zu Elias auf die Couch und strich ihm über den Kopf. “Es gibt viele Kinder mit DMD. Sie alle kommen mit den Medikamenten und dem Skelett klar. Wenn du erst mal ausgewachsen bist, hast du auch weniger Probleme mit dem Skelett. Mit den Medikamenten kannst du fast so alt werden wie alle anderen. Wir müssen dich nicht irgendwo hin bringen, damit es dir besser geht. Aber diesen Vorteil nehmen wir gerne mit. Du brauchst dort das Skelett nicht und weniger Physiotherapie, vielleicht sogar gar keine mehr. Du brauchst dann nur noch die Medikamente.”
“Aber Sarah…”
“Sarah beruhigt sich wieder, da bin ich sicher. Mit sechzehn kann sie nicht alleine hier bleiben. In zweiundzwanzig Monaten wird sie achtzehn. Dann kann sie machen, was sie will. Auf dem Mars bleiben oder wieder auf die Erde zurück.”
Elias dachte nach. Seit er die Diagnose hatte, nahm er unzählige Medikamente. Ein paar davon waren nötig, um die Nebenwirkungen von anderen abzumildern. Schon im Kindergarten musste er ein Exo-Skelett tragen. Er konnte viele Dinge nicht machen, die andere Kinder machten. Er war immer viel kleiner als andere Kinder in seinem Alter. Jetzt, mit vierzehn Jahren, konnte man ihn für einen Zwölfjährigen halten. Es wäre bestimmt toll, sich ohne das Skelett bewegen zu können. Vielleicht nicht immer so erschöpft zu sein. Aber Sarah … nun, sie hasste ihn nicht direkt – vielleicht doch, Elias war sich nicht sicher. Ihr Verhältnis wurde bestimmt nicht gebessert durch das Auswandern. Sarah hatte immer zurückstecken müssen. Mam und Paps hatten sich hauptsächlich um Elias gekümmert. Elias tat das leid, aber er konnte es nicht ändern. Er versuchte, so normal wie irgend möglich mit Sarah umzugehen. Er nahm es klaglos hin, dass sie ihm immer Schimpfnamen gab. Hatte sie ihn eigentlich schon jemals bei seinem Namen genannt?
Mutter stand auf und ging zu Sarahs Zimmer. Vorsichtig klopfte sie an die Tür.
“Sarah?” Keine Reaktion. “Sarah, ich weiß, dass du unglücklich bist. Aber können wir bitte darüber reden?”
“Was gibt es da zu reden”, rief Sarah durch die geschlossene Tür. “Ihr habt euch ja schon entschieden. Euch interessiert doch eh nicht, was ich will!”
“Das stimmt nicht. Es ist uns wichtig, was du willst. Aber manchmal müssen wir Entscheidungen treffen, die nicht sofort für jeden gut aussehen, aber langfristig … Sarah, hast du mal darüber nachgedacht, was das für Möglichkeiten für dich bringen könnte?”
“Möglichkeiten? Ich verliere meine Freundinnen, meine Schule, mein Leben hier! Was soll der Mars mir denn geben, was ich nicht auch hier haben könnte?”
“Einen Weg, deinen Traum zu verfolgen. Du liebst doch die Musik, oder?”
“Ja, deswegen hab ich ja auch Klavierunterricht. Und?”
“Hast du dir mal überlegt, wie weit du kommen könntest, wenn du die richtige Unterstützung bekommst? Mit Papas neuem Gehalt können wir es uns leisten, dich später an ein Konservatorium zu schicken. Du könntest dann professionell Musik machen, Sarah.”
Ein paar Sekunden Stille. Dann glitt die Tür auf. Sarah stand mit geröteten Augen dahinter.
“Ein Konservatorium? Wirklich?” Sie klang viel versöhnlicher.
“Ja. Das wird nicht einfach, aber wir wollen in Elias und in dich investieren. Wir lieben euch beide gleichermaßen. Auch wenn du es nicht immer erkennen kannst oder wir es nicht schaffen, es dir richtig zu zeigen. Es wird keine einfache Reise, für uns alle. Auch wir geben hier alles auf. Euer Vater und ich haben lange nachgedacht, immer wieder die Vor- und Nachteile abgewogen. Wir wissen, was wir euch abverlangen. Aber denk an die Chancen. Für uns alle.”
Sarah zögerte. Konservatorium, das klang verlockend. Sie liebte die Musik über alles. Und irgendwann vielleicht auf einer Bühne stehen…
“Na gut...", stimmte nach endloser Bedenkzeit zu. “Ich werde es versuchen. Aber nur wegen dem Konservatorium.” Sie verschränkte mit entschlossenem Blick die Arme. “Und ich kriege ein Tattoo.”
Ihre beste Freundin Lina hatte zu ihrem sechzehnten Geburtstag ein Tattoo bekommen. Zwar eins, das nach ein bis zwei Jahren von alleine wieder verschwand, aber immerhin. Mit der neuen Technik durften Jugendliche ab fünfzehn Jahren Tattoos bekommen, wenn die Eltern zustimmten. Die verwendete Tinte löste sich rückstandslos auf. So vermied man jugendliche Fehlentscheidungen. Die Dauer-Tattoos gab es nur für Erwachsene.
Lina liebte die Musik genauso wie Sarah. Deswegen hatte sie sich ein stilisiertes Herz, das mit einer Notenlinie verschmilzt, stechen lassen. Sarah hatte Lina, zusammen mit Linas Mutter, zum Termin begleitet. Lina hatte hinterher behauptet, dass es gar nicht weh getan habe. Trotzdem hatte sie immer wieder kurz gezuckt. Sarah ließ sich davon aber nicht abschrecken. Sie hatte sich ein Tattoo gewünscht, seit Lina von ihrem Plan erzählt hatte. Sie wusste aber noch nicht, für welches Motiv sie sich entscheiden sollte.
Mutter lächelte und drückte Sarah leicht an sich. “Das reicht uns. Und ich verspreche dir, du wirst nicht allein sein. Das mit dem Tattoo besprechen wir auf dem Mars.”
11. April 2313, 11:26 Uhr
Raumhafen Sicilia
Strahlende Mittagssonne erwartete Familie Berger, als sie das Flugzeug verließen und in den kleinen Transfer-Bus einstiegen, der sie vom Flughafen zum Europäischen Raumhafen auf Sizilien bringen würde. Viel besser als das schmuddelige April-Wetter zuhause. Dem alten Zuhause.
Seit sechs Uhr heute früh waren sie bereits unterwegs. Zuerst mit dem Zug zum Flughafen, dann dort das übliche Prozedere mit Check-In und Sicherheitskontrolle, warten auf den Flug und dann endlich losfliegen. Aber das frühe Aufstehen hatte sich gelohnt. Jetzt ging wirklich los, was sie vor einem halben Jahr geplant hatten.
Elias freute sich auf den Mars. Das war alles so spannend und aufregend. Wie war es wohl, in Kuppeln zu leben? Wenn alles in künstlicher Umgebung stattfinden musste. Kein Spielen draußen und Klettern auf Felsen. Gut, das hatte er auf der Erde auch nicht. Mit dem Exo-Skelett in Bäume oder auf Felsen klettern war viel zu gefährlich.
Wie wird das sein, mit der niedrigen Schwerkraft? Er würde ohne Exo-Skelett leben können, nur noch Medikamente nehmen müssen. Für die Schwerkraft von nur einem Drittel von der auf der Erde waren seine Muskeln stark genug.
Elias hatte sich noch zuhause über die Schwerkraft informiert. Die Schwerkraft – oder auch Gravitation – hält alles auf dem Planeten fest. Gemessen wird die Stärke der Schwerkraft in g. Elias fand das ein bisschen verwirrend, war g doch auch das Zeichen für Gramm. Im Gegensatz zum g für Gramm sagte man beim g für die Schwerkraft aber immer nur den Buchstaben. Das Maß für die Schwerkraft auf der Erde war schon im zwanzigsten Jahrhundert mit “1 g” festgelegt worden. Der Mond hatte ein sechstel g und der Mars ungefähr ein Drittel. Elias überlegte kurz. Auf dem Mond würde er dann nur sieben Kilo wiegen und dem Mars ungefähr vierzehn Kilo – wenn die Waagen die Skala der Erde hätten. Wie sich das wohl anfühlt so leicht zu sein? Laufen sieht bestimmt lustig aus. Paps hatte was von Gewichten in den Sohlen gesagt. Damit sollen sich die Leute langsam an die geringere Schwerkraft gewöhnen. Elias nahm sich vor, keine Gewichte haben zu wollen.
Sarah war nach wie vor nicht begeistert vom Auswandern. Sie hatte sich aber damit arrangiert, würde sie doch nach dem Schulabschluss aufs Konservatorium gehen können. Dort konnte sie dann mehrere Instrumente lernen. Herausfinden, welches am besten zu ihr passte. Und irgendwann mit einem Orchester – oder vielleicht sogar alleine – auf einer Bühne stehen. Sie hatte schon ein paar Mal geträumt, dass sie sich auf der Bühne verbeugte und das Publikum frenetisch applaudierte. Und ein Tattoo würde sie auch bekommen. Zu Weihnachten hatte sie einen Gutschein von ihren Eltern bekommen, einzulösen auf dem Mars. So wie es ihre Mutter versprochen hatte.
Ein Mitarbeiter der Transport-Gesellschaft begrüßte sie und ein paar ihrer Mitreisenden, als der Bus losgefahren war. Am Nachmittag würden sie ihre Einweisung für den ersten Reiseabschnitt bis zum Mond bekommen. Morgen, nach dem Frühstück, ging es dann los.
Am Hotel angekommen, nahm jeder sein Handgepäck in Empfang. Elias bestand darauf, es selber zu tragen, auch wenn er sich sehr anstrengen musste dafür. Er wollte vor Sarah nicht als Schwächling dastehen.
Ihr Hotelzimmer war eine kleine Suite mit einem Schlafzimmer für die Kinder und einem Schlafzimmer für die Eltern. Dazwischen ein kleines Wohnzimmer mit Unterhaltungssystem, Couch und Sesseln.
Sarah schmollte etwas, weil sie mit Elias in einem Zimmer schlafen musste. “Der schnarcht”, hatte sie sich beschwert, obwohl sie ihn noch nie beim Schlafen gehört hatte. Für eine Nacht musste es gehen.
Nach dem Bezug der Suite ging es erst einmal ins Restaurant zum Mittagessen. Das Restaurant war größer als alle, die Elias bisher gesehen hatte. Es musste Platz für mindestens vierhundert Menschen haben.
Was für ein prächtiges Buffet! Elias hatte noch nie eine so große Auswahl an verschiedenen Gerichten gesehen. Er nahm sich eine kleine Portion von diesem und eine kleine Portion von jenem. Beim Umdrehen stieß er gegen einen dunkelhäutigen Jungen, etwas kleiner als er selbst.
“Sorry”, murmelte er, drehte sich in die andere Richtung und stieß gegen den gleichen Jungen. Nicht ganz der gleiche Junge, stellte Elias fest. Der eine trug eine blaue Basecap, der andere eine gelbe.
“Nochmal Sorry”, entschuldigte sich Elias.
“Was hast du da an?”, fragte der Junge mit der blauen Kappe und streckte den Zeigefinger aus.
“Das ist ein Exo-Skelett”, erklärte Elias.
“Wofür hast du das?”, fragte der andere Junge.
“Meine Muskeln sind schwach. Das Skelett hilft mir, dass ich stehen kann.”
“Du kannst nicht alleine stehen?”
“Doch schon, aber nicht lange.”
“Hast du damit auch Superkräfte? Über Häuser springen und Elefanten tragen?”, fragte der blaue Junge und musterte Elias ehrfürchtig von allen Seiten.
Elias lachte. “Leider nicht. Ich hab damit nicht mehr Kraft als ihr. Aber auch nicht weniger. Hier auf der Erde brauche ich es für Treppen und um längere Strecken zu laufen.”
“Baba ist gut im Basteln”, sagte der gelbe Junge. “Der kann dir bestimmt Superkräfte da rein machen!”
“Ich habe es nicht mehr lange an”, sagte Elias. “Auf dem Mars brauche ich es nicht mehr.”
“Du fliegst auf den Mars?”, fragte der blaue Junge.
“Wir auch”, rief der gelbe Junge und hopste. Sie schienen sich zu freuen.
“Dann werden wir viel Zeit miteinander verbringen”, prophezeite Elias. “Der Flug dauert acht Wochen.”
“Das macht bestimmt Spaß.”
“Bestimmt. Ich muss jetzt los. Meine Eltern fragen sich bestimmt schon, wo ich bleibe.”
“Bis später!” Die beiden sausten los. Wahrscheinlich, um ihren Eltern von ihrer neuen Bekanntschaft zu berichten.
Elias war ein wenig verwirrt. Die Kinder in der Schule hatten ihn eigentlich immer eher verspottet. Sie hatten in ihm einen Schwächling gesehen, mit dem man nichts anfangen konnte – außer Rumsitzen. Der zum Spielen kaum Zeit hatte, weil er jeden Tag bei der Physiotherapie war. Die Zwillinge schienen das Exo-Skelett toll zu finden. Er schaute den beiden nach und lud sich noch zwei gebratene Champignons auf. Dann ging er zu ihrem Tisch.
“Hast du am Buffet schon eine Portion gegessen?”, fragte seine Mutter belustigt.
“Nee, ich hab Zwillinge getroffen, so zehn Jahre alt oder so. Die fliegen mit uns.”
“Hoffentlich sind noch ein paar andere Kinder dabei.” Mutter schaute sich im Restaurant um, konnte aber sonst keine sehen.
“Das hoffe ich auch”, brummelte Sarah in ihren Nudelauflauf.
Nach dem Essen – Elias hatte sich zwei Portionen Nachtisch gegönnt – gingen sie zur Informationsveranstaltung für den morgigen Flug zum Mond. Mutter lächelte erleichtert, als sie an einem der Tische ein Mädchen im ähnlichen Alter wie Sarah sitzen sah. Sie erspähte auch die Zwillinge, die Elias am Buffet getroffen hat. Und noch einen Jungen, auch etwa so alt wie Sarah.
Als sie an einem freien Tisch Platz genommen hatten, strömten noch ein paar weitere Passagiere in den Saal. Noch ein Junge, so groß wie Elias und damit wohl zwei Jahre jünger als er, mit schlohweißen Haaren war darunter. Mutter Berger war zufrieden. Noch fünf Kinder. Elias und Sarah würden sicher jemanden finden, mit dem sie Freundschaft schließen konnten. Etwa fünfzig Personen hatten sich an den Tischen verteilt.
Eine junge Frau mit kurzen blauen Haaren trat an das Redner-Pult und räusperte sich. Die Gespräche im Saal verstummten.
“Verehrte Reisende”, begrüßte sie die Teilnehmer. “Wir begrüßen Sie am Raumhafen Sicilia. Mein Name ist Liora Celeste. Wir freuen uns, dass Sie unsere Fluggäste sind.”
“Ist ja nicht so, als hätten wir Auswahl gehabt”, raunte Vater Elias zu. Der kicherte. Mutter stieß Vater den Ellenbogen in die Rippen.
“Das Informationspaket haben Sie ja schon nach Hause bekommen. Wir können die Einweisung daher kurz halten.”
Vereinzelter Applaus.
Die Rednerin lächelte. “Auf Ihren Zimmern finden sie die Druck-Unterwäsche, die sie unter der Kleidung, aber über ihrer Unterwäsche, tragen sollten. Sie unterstützt Ihren Kreislauf in der niedrigen Schwerkraft und ist dringend empfohlen. Das Shuttle zum Mond wird null Komma zwei g haben, ein Fünftel der gewohnten Schwerkraft. Wir nutzen nicht das Maximum, um sie etwas auf Schwerkraft auf dem Mond vorzubereiten. Sie werden sechs Tage dort auf den Weiterflug zum Mars warten müssen.”
Sarah rollte mit den Augen. Das hätte sie nicht gebraucht. Sie hasste Warterei.
“Für die Kinder habe ich eine gute Nachricht”, fuhr die Rednerin lächelnd fort. “Selbstverständlich werdet ihr auf dem Flug zum Mars weiter zur Schule gehen.”
Ein zweistimmiges Stöhnen ertönte. Elias tippte auf die Zwillinge. Vereinzelt wurde gelacht.
“So wird es euch nicht langweilig”, fuhr sie mit einem Schmunzeln fort. “Sie werden dort von erfahrenen Kräften in die Trainingsübungen eingewiesen. Sie sollten täglich ein bis zwei Stunden trainieren, damit Ihre Muskeln nicht abbauen. Die Informationen für den Flug zum Mars erhalten Sie auf dem Mond. Der Termin wird Ihnen noch mitgeteilt. Ihr erster Reiseabschnitt mit dem modernen Shuttle dauert etwa zwanzig Stunden. Wer möchte, kann ein kleines Hilfsmittel bekommen, um die Schlafenszeit zu verlängern. Das Mittel ist für Kinder ab fünf Jahren zugelassen und gut verträglich. Sie erhalten es bei Bedarf bei den Flugbegleitern.”
“Oh ja, legt mich schlafen”, bettelte Sarah. Mutter strich ihr über den Kopf.
“Sie sollten morgen früh nur ein leichtes Frühstück zu sich nehmen. Der Aufstieg von der Erde kann für den Magen belastend sein. Die Beschleunigung ist stärker als Sie es vom Flugzeug kennen. Keine Sorge, Sie erhalten drei weitere Mahlzeiten auf dem Flug. Wir sind sicher, jeden von Ihnen satt zu bekommen. Geben Sie am Terminal am Ausgang bitte an, welche Art Mahlzeit Sie möchten.” Sie schaute sich im Saal um. “Haben Sie noch Fragen?”
Eine Hand hob sich. “Was passiert bei einem medizinischen Notfall?”, fragte eine Frau.
“Alle Flugbegleiter haben eine medizinische Ausbildung erhalten. Es ist die gleiche Ausbildung, die auch Rettungs-Sanitäter haben. Je nach Art der Erkrankung und Position kehren wir im Notfall zur Erde zurück oder fliegen weiter zu Mond. Das Shuttle kann im Notfall die Fluggeschwindigkeit erhöhen, um die Reisezeit zu verkürzen.”
“Haben Sie auch Medikamente?”, fragte ein Mann.
“Medikamente, die Sie regelmäßig einnehmen müssen, haben Sie hoffentlich im Handgepäck. Ansonsten haben wir Medikamente zum Beispiel gegen Übelkeit oder bei Kreislaufschwierigkeiten.“
“Hat das Shuttle Toiletten? Oder müssen wir Windeln tragen?”, fragte ein anderer Mann.
“Die Zeiten von Windeln in der Raumfahrt sind zum Glück vorbei. Das Shuttle verfügt über mehrere Waschräume. Dank der künstlichen Gravitation müssen Sie sich in der Benutzung nicht umstellen. Nur während der Start- und Landephase können diese nicht aufgesucht werden. Für den Notfall haben wir aber Windeln an Bord. Sie sind sehr diskret zu tragen.”
“Können wir die Erde durchs Fenster sehen?”, fragte der weißhaarige Junge.
“Oh ja. Zwar nicht durchs Fenster. Die gibt es im Shuttle nicht. Aber du wirst einen fantastischen Blick auf die Erde haben. Lass dich überraschen.”
“Kann ich mit der Konsole spielen?”, fragte der ältere Junge.
“Natürlich. Alle Geräte mit Klein-Batterien dürfen mitgenommen und benutzt werden. Das beinhaltet Ihre Handgelenk-Terminals und auch Spielkonsolen oder Tablets.”
Sie schaute sich um.
“Noch weitere Fragen?” Keine Hand hob sich.
“Dann wünsche ich Ihnen einen guten Flug.” Sie schaute sich suchend im Saal um. “Ich bitte Familie Berger noch kurz zu warten.”
Die Bergers schauten sich erstaunt an. Was konnte sie wollen?
Die Fluggäste gingen zum Terminal, meldeten sich mit ihrem Handgelenk-Terminal dort an und wählten ihre gewünschten Mahlzeiten.
Die Rednerin kam zum Tisch der Bergers und zog sich einen Stuhl heran.
“Guten Tag, Herr und Frau Berger, Sarah, Elias.” Sie lächelte jeden einzeln an. “Keine Angst, es ist nichts Schlimmes. Es betrifft dich, Elias.”
Sarah rollte mit den Augen. Natürlich betraf es Elias.
“Aus Sicherheitsgründen darfst du im Shuttle dein Exo-Skelett nicht tragen”, erklärte die Rednerin. “Die Batterien sind zu groß und könnten einen nicht eindämmbaren Brand auslösen. Während des Fluges brauchst du es ja nicht, oder?”
Elias nickte. “Auf dem Mond und auf dem Mars brauche ich es nicht mehr.”
“Das freut mich sehr für dich. Schaffst du den Weg in das Shuttle oder sollen wir dir jemanden bereit stellen, der dich trägt?”
Elias schaute unsicher zu seinen Eltern. “Ich … ich weiß nicht.”
“Bis zur Gangway am Shuttle kannst du mit dem Rollstuhl fahren. Tolles Gerät, das fährt ganz alleine. Du musst nur die Treppe hoch und dann auf deinen Platz.”
“Ich werde ihn selbst tragen”, entschied Vater Berger. “Vielen Dank für das Angebot.”
Die Rednerin nickte. “Gut, dann wäre alles geklärt. Ich wünsche Ihnen und euch einen angenehmen Flug.” Sie stand auf. Die Bergers gingen nach der Essensauswahl in ihre Suite zurück.
Die angekündigte Druck-Unterwäsche lag auf dem niedrigen Tisch im Wohnbereich. In vier Stapeln gab es jeweils drei Einteiler. Elias nahm einen Einteiler hoch.
Sieht ganz schön eng aus, dachte er.
Sarah nahm vom Stapel daneben einen Einteiler und musterte ihn.
„Da muss ein Fehler passiert sein“, sagte sie. „Das sind sechs für Elias und die für Euch.“
Vater schaute sich die Teile an.
„Hm, nee, das passt schon“, meinte er nach kurzer Prüfung. „Schau mal hier“, er deutete auf den Aufdruck „C 12 bis 16 Jahre“ am kurzen Hosenbein. „Das Zeug ist hoch elastisch und passt sich an.“
„Ich soll die gleiche Größe wie der Abgebrochene hier haben?“, ätzte Sarah.
„Sarah!“, schalt Mutter sie. „Hier steht“, sie hielt einen Zettel hoch, der neben den Stapeln gelegen hatte, „dass es drei Größen für Kinder gibt und zwei für Erwachsene. Probiert es erst mal an, wir können bestimmt umtauschen, wenn‘s nicht passt.“
Elias legte auf dem Bett sitzend das Exo-Skelett ab und probierte die Druck-Unterwäsche an. Sie ließ sich ganz leicht anziehen. Bei Bedarf dehnte sie sich aus. Der Einteiler lag eng an, aber es war nicht unangenehm.
Sarah hielt ihre Druck-Unterwäsche hoch und schaute sie kritisch an. “Wer hat das denn designt?”, lästerte sie. “Das sieht ja unmöglich aus.”
“Du sollst ja noch was drüber ziehen”, meinte Elias.
Sarah warf ihm nur einen bösen Blick zu. “Raus!”, befahl sie. Sie wollte noch einmal mit Lina, ihrer Freundin, telefonieren. Auf dem Mond konnte sie dafür ihr Handgelenk-Terminal nicht mehr benutzen, das würde nur von einem großen Terminal aus gehen, das war dann bestimmt teuer. Und vom Mars aus waren Telefonate witzlos – die Signallaufzeit von drei Minuten bei größter Annäherung von Mars und Erde und zweiundzwanzig Minuten beim größtem Abstand machte Gespräche unmöglich. Wenn der Mars hinter der Sonne war, sogar noch etwas mehr, weil das Signal über eine Relaisstation um die Sonne herum gelenkt werden musste. Fast eine Stunde auf eine Antwort warten, da konnte von “Gespräch” wirklich keine Rede sein.
Elias gehorchte und ging nur mit dem Einteiler bekleidet mit platschenden Füßen in den Wohnbereich. Das Exo-Skelett ließ er liegen, damit Sarah nicht so lange warten musste. Er watschelte etwas, wie immer, wenn er das Exo-Skelett nicht trug. Es unterstützte nicht nur die Muskeln, es straffte auch seine Haltung. Sein Vater stand am Fenster. Er winkte seinen Sohn herbei, als er ihn bemerkte.
„Passt es?“, fragte er. Elias nickte und drehte sich im Kreis, wie bei einer Modenschau.
“Da schau mal.” Vater deutete aus dem Fenster. “Da steht unser Shuttle. Sie laden gerade die Fracht ein.”
Elias stellte sich neben seinen Vater und schaute hinaus. Das Shuttle sah beeindruckend riesig aus. Viel größer als die Flugzeuge, die er kannte. Wie groß musste erst das Raumschiff sein!
Menschen so klein wie Ameisen beförderten die Fracht mit großen Kränen in den Laderaum. Die Umzugskisten der Bergers waren darunter. Natürlich war ihre Wohnung auf dem Mars möbliert, sie mussten nicht allzu viel mitnehmen. Ihre Kleidung, Bücher, Bilder, ein paar Erinnerungsstücke und persönliche Gegenstände. Es war erstaunlich, wie wenig Platz das ganze Leben in den Kisten einnahm.
Was sie für die Wartezeit auf dem Mond benötigten, hatten sie in zwei Koffer gepackt. Die wurden in einem Extra-Container mit den Koffern der anderen Passagiere in das Shuttle verladen. Was sie für den Flug und die Übernachtung im Hotel brauchten, hatten sie im Handgepäck. Das flog morgen im Passagierraum mit.
Mutter kam dazu und hielt Elias seine Medikamente hin. “Hier, die Abendration.”
Elias holte sich eine Flasche Wasser und schluckte die Tabletten. Dann stellte er sich wieder an das Fenster und schaute – jetzt zusammen mit seiner Mutter – beim Beladen des Shuttles zu. Riesige Container wurden aufgeladen. Darin war Nachschub für den Mond und für den Mars. Alles das, was nicht vor Ort produziert werden konnte.
Morgen ging es endlich richtig los. Fast ein halbes Jahr war es her, dass die Bergers ihre Kinder über die Auswanderungspläne informiert hatten. Elias freute sich sehr. Endlich ohne Exo-Skelett laufen, toben und spielen. Auf der Erde hatte er den anderen immer nur zuschauen können. Im Gegensatz zu Sarah würde er keine Freunde vermissen. Er hatte eigentlich keine. Wer wollte schon mit jemandem befreundet sein, der sich ständig ausruhen musste, viele Dinge nicht mitmachen konnte? Auf Bäume klettern, mit dem Floß über den Fluss, Fangen spielen und was normale Kinder sonst so machen. Er spürte schon jetzt, nach nur ein paar Minuten stehen ohne Exo-Skelett, wie sehr es ihn anstrengte.
Elias konnte in der Nacht kaum schlafen, so aufgeregt war er. Sarah hatte das Problem nicht. Sie fing an leise zu schnarchen, kaum dass sie sich ins Bett gelegt hatte.
Um sieben Uhr wurden Elias und Sarah von ihrer Mutter sanft geweckt.
“Aufstehen, ihr Schlafmützen”, sagte sie leise. “Der Flieger geht bald.”
Elias schleppte sich ohne das Exo-Skelett ins Bad, erledigte die Morgentoilette und zog sich an. Als er aus dem Bad kam, schlurfte Sarah mit wirrer Frisur an ihm vorbei.
Er schluckte die Morgen-Tabletten, die ihm seine Mutter auf den Couch-Tisch gelegt hatte, legte das Exo-Skelett an und wartete dann auf der Couch sitzend auf das Frühstück.
Beim Frühstücks-Buffet gab es einen Extra-Bereich, der mit einem Shuttle-Symbol gekennzeichnet war. Dort befand sich das empfohlene Frühstück für Raumfahrer. Elias nahm sich nur eine Kleinigkeit. Er war so aufgeregt, er konnte kaum etwas essen.
Jetzt konnte es losgehen! Das Handgepäck hatten sie schon mit ins Restaurant genommen. Familie Berger durfte wegen Elias als Erstes an Bord gehen. Am Check-In-Schalter meldeten sie sich mit ihren Handgelenk-Terminals an. Nach dem Einchecken half Mutter Elias aus dem Exo-Skelett.
Zum letzten Mal für mindestens zwei Jahre, freute sich Elias.
Die Transport-Gesellschaft kümmerte sich anschließend um die Rückgabe an den medizinischen Dienst. Sollten sie dann zurückkehren, brauchte er sowieso ein neues Exo-Skelett. Darum konnten sie sich kümmern, wenn es soweit war.
Dann setzte er sich in den bereitstehenden Rollstuhl. Die Mitarbeiterin von der Fluggesellschaft tippte etwas auf dem Terminal an der Seite und der Rollstuhl setzte sich in Bewegung. Seine Eltern liefen neben ihm her, Sarah vorneweg.
Sie erreichten die Gangway, die in das Shuttle führte. Vater hob Elias aus dem Rollstuhl und trug ihn vor seinem Bauch. Elias hatte die Arme und den Hals seines Vaters und die Beine um die Hüfte gewickelt. Paps hatte ihn schon lange nicht mehr getragen. Es fühlte sich gut an.
“Ich glaube, wir füttern dich zu gut”, japste Vater. “Du bist ganz schon schwer geworden.”
“Vielleicht hättest du mehr frühstücken sollen”, konterte Elias.
Schnaufend trug Vater ihn nach oben. Eine Flugbegleiterin führte sie zu ihrem Abteil. Es befand sich ziemlich weit hinten, fast schon am Ende des Passagierraums.
Elias hatte erwartet, dass das Shuttle innen wie ein Flugzeug aufgeteilt war. Zwei Gänge, Sitze links und rechts, wer Glück hatte, bekam einen Fensterplatz. Aber das Shuttle war ganz anders. Es gab nur einen breiten Gang in der Mitte. Davon gingen links und rechts kleine Abteile ab. Ihr Abteil hatte vier Sitze. Bei den anderen waren die Türen geschlossen, so dass er nicht sehen konnte, wie es dort innen aussah. Wahrscheinlich genau so. Vater setzte ihn auf den ersten Sitz, direkt neben der Tür. Der Sitz war ganz weich und bequem, wie ein Sessel. Gurte, die über die Schultern und die Hüfte angelegt wurden, waren daran befestigt.
Hoffentlich müssen wir nicht die ganze Zeit angeschnallt bleiben, dachte Elias.
Die Wand vor den Sitzen war ein großer Bildschirm. “Willkommen, Familie Berger” stand darauf. Links oben in der Ecke das Logo der Transportgesellschaft, die Uhrzeit und geplante Abflugzeit. Und die Anzeige “40 m ü. NN”, das war die Höhe über der Oberfläche des Mittelmeers, das galt hier als “Normal Null”. Boden und Decke waren glänzend weiß, auch die Außenwand auf der linken Seite und die Wand auf der rechten Seite, zum Gang hin.
Vater hatte sich stöhnend wieder aufgerichtet, nachdem er Elias abgesetzt hatte. Mutter und Sarah kamen herein. Mutter trug das Handgepäck der Eltern. Sarah brachte tatsächlich auch Elias‘ Tasche mit.
Das Handgepäck konnte unter den Sitzen verstaut werden, so war es während des Fluges jederzeit griffbereit. Vater setzte sich neben Elias, dann kam Mutter und an der Außenwand saß Sarah. Sie hatte sich schon Kopfhörer aufgesetzt und hörte Musik.
Elias griff neben sich in ein Fach mit verschiedenen Papieren. Er fand dort eine Papiertüte, ein paar Prospekte, eine Zeitschrift und ein Etui mit der Entertainment-Brille. Die Papiertüte trug das Logo der Transportgesellschaft und den Aufdruck “Please aim carefully” mit einem Zwinkersmiley. Elias nahm an, dass das die Kotztüte war. Schade, keine Comics. Zum Glück hatte er etwas zum Lesen eingepackt. Er faltete ein Prospekt auseinander. Das war ein Informationsblatt zu ihrem Shuttle. Die Toiletten waren dort eingezeichnet, das Cockpit, der Frachtraum und was das Shuttle sonst noch zu bieten hatte. Das nächste Prospekt informierte über die Mondkolonie. Die Passagiere wurden dort für die Wartezeit in Appartements untergebracht. Die Bilder sahen vielversprechend aus. Es gab auch ein Kino, ein Theater, eine Sporthalle und natürlich ein paar Trainingsräume, um dem Muskel-Abbau durch die niedrige Schwerkraft entgegenzuwirken. Das hatte die Frau bei der Informationsveranstaltung ja schon angekündigt.
Die anderen Passagiere bestiegen das Shuttle und es wurde immer lauter. Nach zwanzig Minuten saß jeder auf seinem Platz.
Vater legte Elias den Sicherheitsgurt an, zog ihn fest und schnallte sich dann auf seinem Platz fest. Mutter und Sarah taten es ihm gleich.
Die Flugbegleiterinnen schauten in jedes Abteil und prüften, dass alle richtig angeschnallt waren. Dann schlossen sie die Türen zu den Abteilen. Es wurde ruhig. Nur die atmosphärischen Triebwerke waren leise zu hören.
“Pling!”, machte es aus dem Lautsprecher. Sarah nahm die Kopfhörer ab. “Willkommen an Bord des Mond-Shuttles Selene drei”, begrüßte sie die Kapitänin. “In wenigen Minuten starten wir zum Mond. Wir haben beste Startbedingungen. Der Flug dauert etwa zwanzig Stunden, so dass wir gegen sieben Uhr morgen früh Mitteleuropäischer Zeit landen werden. Wir werden zunächst eine Runde im Orbit um die Erde fliegen und dann in Richtung Mond starten. Sobald wir den Orbit verlassen haben, dürfen Sie aufstehen. Falls jemand vorher noch einmal die Waschräume aufsuchen muss: Jetzt ist die letzte Gelegenheit.