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Stefán Máni

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  • Herausgeber: Polar Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

1997 Vier Jungen paddeln ohne Erlaubnis auf einem großen See. Einer von ihnen geht über Bord und ertrinkt fast. Sein Vater kann ihn gerade noch aus dem Wasser ziehen. An alles was er sich erinnern kann ist ein Mädchen, blond und dünn, das ihm einen schwarzen Gegenstand reicht. Der Junge, Sölvi, selbst trägt nun eine Dunkelheit in sich, eine Dunkelheit, die von Schweigen und Angst lebt und ihn eines Tages wieder zu sich herunterziehen wird. 2007 Zehn Jahre später geschehen mysteriöse Ereignisse: Zwei junge Menschen verschwinden am selben Tag. Sölvi, der Junge und ein Mädchen. Sölvi hat kurz vorher bei einer Immo- bilienfirma angefangen zu arbeiten, die seinem Onkel gehört und in der die Clique von früher arbeitet. Eines abens wacht er im Krankenhaus auf. Er wurde in einem Straßengraben nackt und verletzt gefunden. Ohne Erinnerung. Der Junge fühlt sich dem Tod näher als dem Leben. Von der jungen Frau fehlt jede Spur. Er beschließt, sie zu suchen, da er sich irgendwie mit ihr verbunden fühlt. Doch der Alltag verwandelt sich in einen bodenlosen Abgrund und die Suche wird schnell zu einem Albtraum, den niemand beenden wird...

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Seitenzahl: 276

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DARK PLACES

Stefán Máni

Abgrund

Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig WetzigHerausgegeben von Jürgen Ruckh

Polar Verlag

Dieses Buch wurde übersetzt mit finanzieller Unterstützung von:

Originaltitel: Hyldýpi

Copyright: © Stefán Máni 2009

Published by Arrangement with Stefán Máni

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Schlück GmbH, 30161 Hannover

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2023

Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig

Mit einem Nachwort von Carsten Germis

© 2023 Polar Verlag e. K., Stuttgart

www.polar-verlag.de

Redaktion: Jürgen Ruckh

Korrektorat: Andreas März

Umschlaggestaltung: Britta Kuhlmann

Coverfoto: © fran_kie / Stock Adobe

Autorenfoto: © Stefán Máni

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

Druck und Bindung: Nørhaven, Agerlandsvej 3, 8800 Viborg, DK

Printed in Denmark 2023

ISBN: 978-3-948392-83-3

eISBN: 978-3-948392-84-0

Der Roman Abgrund ist dir zugeeignet, lieber Leser:Gemeinsam halten wir die Lampe am Brennen …

»Wenn du lange in einen Abgrund blickst,blickt der Abgrund auch in dich hinein.«

Friedrich Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse, Aphorismus 146)

Inhalt

    I Ein Stück Fels

   II Der See

  III Die Dunkelheit ruft

  IV Die Bootstour

   V Cinema Paradiso

  VI Die Tiefe

 VII Im Innern des Steins

VIII Der dunkle Park

»Das Virus des Bösen«: Ein Nachwort

I

Ein Stück Fels

Ich weiß nicht, wie lange ich hier bin. Ein Augenblick ist wie eine Ewigkeit, und die Ewigkeit ist ein Augenblick. Ich bin weder lebendig noch tot. Da ich nicht tot bin, muss ich wohl am Leben sein. Ab und zu flackern Lichter in der Dunkelheit auf. Manchmal sind sie rot und leuchten wie Sonnen. Doch meist sind sie weiß, und dann öffnet sich ein schmaler Spalt in die Welt, die einmal die Wirklichkeit war, jetzt aber nur noch eine ferne Erinnerung ist. Ich weiß nicht, ob ich träume, wo ich aufhöre und wo das Dunkel anfängt, ob meine Augen geöffnet oder geschlossen sind. Ich weiß lediglich, wo ich bin. Das ist das Einzige, was ich weiß. Ich flüstere es wieder und wieder vor mich hin …

Ein Stück Fels. Ich stecke in diesem Stein. Ein schwarzer Brocken …

II

Der See

1997

Der See ist so groß wie ein Ort von tausend Einwohnern und hat die Form eines menschlichen Herzens mit Hauptschlagadern und dergleichen, und er liegt spiegelblank auf dem Talboden wie eine Pfütze in einer großen Wanne. Der See ist von Lava, Moos und niedrigem Gesträuch umgeben, über ihm schwirren Mücken, unter der Wasseroberfläche stehen Forellen; im Herbst wird gelbes und rotes Laub auf seinen Spiegel geweht, im Winter friert er zu, und im Frühjahr wird er vom Schmelzwasser aus den umliegenden Bergen getrübt. Jetzt ist Sommer, die Vögel singen und die Fliegen summen, Schafe weiden an den Berghängen, und das Wasser kräuselt sich, wenn der Fisch erwacht …

Am hinteren Talende steht ein Bauernhof: ein Wohnhaus mit spitzem Dach und drei Nebengebäude, alle in derselben Farbe gestrichen, blau wie der Himmel und der See. Hinter dem Hof ragt eine unbesteigbare Felswand auf, unterhalb liegen intensiv grüne, frisch gemähte Wiesen, durch tiefe Gräben voneinander getrennt. Holzstege überbrücken die Gräben und über einen rollt der Bauer auf einem blauen Traktor.

Nördlich des Sees erstreckt sich unwegsame Lava, aber an seinem Südufer wächst niedriger Buschwald und darin steht ein ansehnliches Sommerhaus mit einer großen Veranda. Vor dem Haus parken zwei Autos, ein schwarzer Geländewagen und ein gelber Pkw. Unter dessen geöffneter Motorhaube steckt ein Mann in kurzen Hosen und Sandalen. Vom Sommerhaus führt ein Trampelpfad zum See, einem Bootsschuppen und einem kleinen Anlegesteg.

Ein weißes Ruderboot treibt auf dem See, darin drei Jungen in Shorts, T-Shirts und Rettungswesten. Das Boot liegt über der tiefsten Stelle, einem Abgrund im Seeboden, in der Form wie der Schatten eines großen Wals. Die Jungen stehen im Boot, winken und rufen laut zum Land. Das Boot schwankt, und die Jungen bringen es in ihrer Aufregung fast zum Kentern. Hinter dem Heck des Boots treibt eine vierte Schwimmweste auf dem Wasser.

Der Mann bei den Autos wird auf das Geschrei der Jungen aufmerksam. Er blickt auf, beschattet die Augen mit der Hand und lauscht, dann wirft er den ölgetränkten Lappen weg, schüttelt die Sandalen von den Füßen und läuft barfuß über den kiesbestreuten Parkplatz und den Pfad zum See, er rennt in vollem Tempo über den Steg und springt ohne Zögern ins Wasser. Das Boot ist etwa dreihundert Meter entfernt, und der Mann schwimmt mit nicht nachlassender Geschwindigkeit darauf zu. Die Jungen in dem Boot winken und rufen nicht mehr, sondern sehen reglos zu, wie der Mann auf sie zuschwimmt. Als er noch etwa fünfzig Meter von ihnen entfernt ist, holt er tief Luft und taucht. Die Jungen beugen sich über den Bootsrand, werfen sich abwechselnd Blicke zu und starren in das blauschwarze Wasser. Das Boot schaukelt, die über Kreuz im Bug liegenden Ruder schaben aneinander. Der Mann ist nicht zu sehen, und das Einzige, was man hört, ist das Gluckern des Kielwassers, ein leises Knarren des Boots, Vogelrufe und in der Ferne einen Traktor.

»Glaubt ihr …?«, fragt einer der Jungen. Die anderen antworten mit Schweigen und leeren Blicken. Sie sind zwischen neun und zwölf Jahre alt und starr vor Schreck. Zwei von ihnen sind Brüder und die besten Freunde des Dritten, Sohn des Sommerhausbesitzers und Cousin des Jungen, der über Bord gefallen ist. Der ist zehn und der Sohn des Mannes, der nach ihm taucht, im selben Alter wie der Cousin, der zwischen Hoffnung und Bangen zitternd im Boot hockt.

Auf halber Strecke zwischen Boot und Steg gerät das Wasser in Bewegung, und einen Moment später schießt der Mann an die Oberfläche, seinen ohnmächtigen Sohn im Arm. Der Mann ringt nach Atem, zwinkert das Wasser aus den Augen, sieht sich schnell um, dreht sich dann auf den Rücken und schleppt den Jungen Richtung Ufer ab. Er keucht vor Anstrengung und schwimmt mit aller Kraft so schnell er kann, doch scheint ihm eine Ewigkeit zwischen ihnen und dem Steg zu liegen, der in einer Spiegelung unter der gleißenden Sonne und über dem See zu schweben scheint. Doch bald erfassen die tastenden Finger des verzweifelten Vaters etwas Festes.

Am Ende des Stegs befindet sich eine Leiter, und mit dem Jungen bäuchlings auf einem Arm klettert der Mann hinauf. Oben auf dem sonnenwarmen Steg legt er den Jungen auf den Rücken, kniet sich neben ihn und beginnt mit Wiederbelebungsversuchen, Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzmassage im Wechsel. Die Jungen im Boot rudern zaudernd zum Ufer, als hätten sie Angst vor dem, was sie da erwartet.

Auf der Terrasse beim Haus schreit eine Frau auf, schlägt dann die Hand vor den Mund und bringt sich so selbst zum Schweigen. Im gleichen Moment zuckt der Junge auf dem Steg, atmet, hustet, krümmt sich in Embryonalstellung und erbricht bräunliches Wasser über die Planken.

»Gott sei Dank!«, sagt der Mann und hilft seinem Sohn, sich aufzurichten. »Sölvi, verstehst du mich?«

»Papa?« Der Junge blinzelt.

»Ja, ich bin’s, Papa«, antwortet der Mann hastig. »Nicht sprechen! Nur ruhig atmen. Du bist ein unglaublicher Tollpatsch! Was hast du jetzt wieder angestellt, hm?«

Vom Haus kommen drei Erwachsene über den Kiesweg angelaufen, ein Mann und zwei Frauen. Der Mann auf dem Steg sitzt mit seinem Sohn auf dem Schoß und wiegt sich vor und zurück wie eine alte Frau, erschöpft, benommen und nass.

»Sie ist so schön.« Sölvis Augen glänzen wie die eines Betrunkenen. Wie in Trance blickt er auf den See und klappert vor Kälte. Seine Haare sind nass und kalt, und im Nacken hat er einen dunklen Fleck.

»Wovon redest du, Junge?«, fragt der Vater und blinzelt.

Die Jungen im Boot sind nur noch einige Meter vom Land entfernt, Jammern und Rufe erfüllen die Stille, und der hölzerne Steg erzittert, als Sölvis Onkel, seine Mutter und deren Schwester darüber rennen.

»Das Mädchen im Wasser«, sagt Sölvi so leise, dass seine Worte im Lärm untergehen.

Aus der Tiefe kam ein nacktes Mädchen, blond und schlank. Sie streckte den Arm aus, in ihrer Hand hielt sie etwas Viereckiges, schwarz wie Obsidian und glatt wie ein Spiegel. In ihren großen Augen lag ein dunkler Schatten. Und in seinem Magen liegt ebenfalls etwas Dunkles. Eine Dunkelheit, die sich frisch darin festgesetzt hat. Etwas Finsteres, vor dem er die nächsten Jahrzehnte davonlaufen wird. Eine Düsternis, die in Furcht und Schweigen gedeiht und die ihn eines Tages wieder an sich ziehen wird …

III

Die Dunkelheit ruft

2007

Wenn jede Schneeflocke einzigartig ist und keine Flocke der anderen gleicht, dann muss das Gleiche für Regentropfen gelten, denn schließlich ist eine Schneeflocke nichts anderes als ein gefrorener Regentropfen. Jeder Regentropfen unterscheidet sich dann ebenfalls von allen anderen und ist auf seine Art ebenso einzigartig wie ein Fingerabdruck oder eine Personenkennziffer, die nirgends registriert ist.

Außer im Rechenzentrum der Götter …

Der Zwanzigjährige liegt auf einer alten Couch in einer Kellerwohnung in Vesturbæ und sieht zu, wie der Regen in Strömen an der Fensterscheibe herabläuft. Er trägt ein schwarzes Hemd und eine schwarze Hose, hat die Beine übereinandergeschlagen, die eine Hand hinter dem Nacken, während die andere eine halb leere Bierflasche hält. Die Haare sind blond und kraus, die Augen blau mit gelben Ringen darum, hohe Wangenknochen, die Nase ein wenig schief, großer Mund mit dicken Lippen. Zu seinen Füßen ringelt sich ein junger, weißer Kater, ein Buch liegt aufgeschlagen auf seiner Brust, wie ein Vogel, der seine Flügel ausbreitet. Eine Erstausgabe von Davíð Stefánssons Schwarze Federn.

Draußen ist es dunkel, doch auf dem Couchtisch brennen ein paar Kerzen.

»Sölvi?« Eine junge Frau kommt langsam in das Zimmer. Sie hält ihm ein Armband hin, das sie nicht am linken Handgelenk befestigt bekommt. »Kannst du das mal zumachen?«

»Sicher.« Sölvi setzt sich auf und steckt eine knittrige Postkarte als Lesezeichen in das Buch, bevor er es zuklappt.

Die Postkarte hat er, so lange er denken kann. Die Schrift auf der Rückseite ist längst nicht mehr zu lesen, aber auf der Vorderseite ist die Reproduktion eines französischen Holzschnitts aus dem neunzehnten Jahrhundert zu sehen. Sie zeigt einen Hirtenjungen, der auf allen vieren zum Ende der sichtbaren Welt krabbelt, hinter einen Vorhang schaut und dort eine Art Uhrwerk erblickt, das ewig weitertickt und alles am Laufen hält.

Sölvi legt den Gedichtband und die Bierflasche auf dem Tisch ab und bedeutet der gleichaltrigen Frau, näher zu kommen. Er ergreift das Armband, eine zierliche Silberkette, an der einige Schmucksteine hängen, und schließt sie um ihr schmales Handgelenk.

»Edda?«

»Ja?«

»Bist du sicher, dass du mich hierhaben willst? Ich meine, ich kenne die Leute überhaupt nicht. Es sind doch deine Freunde.«

»Natürlich will ich dich dabeihaben, Dummkopf«, sagt sie lächelnd und fährt ihrem Mitbewohner durchs Haar. »Ich kenne sie im Grunde auch nicht, bin jetzt erst ein paar Wochen mit ihnen zur Uni gegangen. Ich habe sie ja gerade deswegen eingeladen, damit man sich mal ein bisschen näher kennenlernt. Und ich möchte, dass meine Freunde auch deine Freunde sind.«

»Verstehe. Ich wollte nur sichergehen.« Sölvi lächelt breit. Er geht zum Bücherregal und stellt den Gedichtband an seinen Platz zurück. Das Regal hat sein Großvater für ihn gebaut. Es ist eins seiner wenigen weltlichen Besitztümer. Es ist nicht groß, enthält aber an die zweihundert Kilo Dichtung, Philosophie und Geschichte.

Obendrauf steht eine Anlage mit Verstärker, Plattenspieler und zwei Boxen, seitwärts lehnt sich seine Plattensammlung dagegen, klassischer Pop und Rock auf der einen Seite, Blues und Jazz auf der anderen.

»Zieh mal Socken an«, sagt Edda im Rausgehen. »Die ersten Gäste kommen gleich.«

Sölvi legt sich wieder auf die Couch. »Edda?«

»Was denn?« Sie dreht sich im Türrahmen um. Sie trägt ein kurzes, schwarzes Trägerkleid, dünne Strumpfhose und Pumps. Ihr Haar ist rabenschwarz und kinnlang, ihre Haut milchweiß, die Augen sind braun, die Lippen blutrot.

»Ich liebe dich.«

»Ich liebe dich auch«, sagt Edda und lächelt. »Und jetzt zieh deine Socken an, Dummkopf.«

Sölvi Helgason ist ein waschechter Vestfirðinger: Die Familie stammt aus Aðalvík und dem Dýrafjörður, er selbst ist als Sohn einer Bauerntochter und eines kleinen Fischers in Ísafjörður geboren und aufgewachsen, ein Junge vom Lande mit Seesalz im Blut.

Auf dem Open-Air-Festival Ich war noch nie im Süden 2007 ist er Opfer eines brutalen Überfalls geworden. Er legte sich mit ein paar Ortsfremden an, die junge Frauen aus der Gegend angemacht hatten. Sie verfolgten ihn und fielen hinter einem Schuppen im Hafengelände über ihn her. Nachdem sie mit ihm fertig waren, verschwanden sie in der Nacht, Sölvi setzte sich auf einen vom Meer geschliffenen Stein und leckte seine Wunden. Seine Nase und ein Knie waren geprellt und angebrochen.

In der Ferne waren Rockmusik und das Gejohle Betrunkener zu hören, aber die Dunkelheit war erfüllt vom Brausen des Meeres, die Erde unter seinen Füßen erzitterte, als ein Brecher dröhnend aufs Ufer krachte, und die Brise vom Meer, die seine Wangen streichelte, fühlte sich salzig an und kühlte.

Meer, dunkles Meer. Das geheimnisvolle Gewässer, das in Wahrheit genauso unerforscht und unendlich ist wie das Weltall …

»Ist alles okay mit dir?«

Sölvi öffnete die Augen. Eine junge Frau stand vor ihm.

So waren sie sich zum ersten Mal begegnet, er und Edda Jeppesen, Lehrerstochter aus Kópavogur, die mit ihren Eltern im selben Jahr nach Ísafjörður gezogen war, in dem Sölvi das Gymnasium abbrach.

»Warum haben die Typen dich zusammengeschlagen?«, fragte sie.

»Die Mädels haben sie dazu angestiftet«, sagte er verschämt.

»Welche Mädels?«

»Die, die sie angebaggert haben«, murmelte er. »Die Mädels, denen ich helfen wollte.«

»Waren sie minderjährig oder …?«

»Nein, aber man weiß ja, was solche Typen im Kopf haben, worauf sie aus sind. Und hinterher fahren sie in die Stadt zurück. Ich wollte mich einfach vor die Mädchen stellen, das war alles.«

»Aha. Willst du nicht zum Arzt gehen? Du blutest ja noch.«

»Guck mal, was ich gefunden habe«, sagte Sölvi näselnd und öffnete seine Hände, die er um etwas Weißes und Haariges geschlossen hatte, das sich nicht regte, aber am Leben war.

»Ist das ein Vogeljunges?«, fragte Edda und hockte sich auf die Fersen. Sie warf lediglich einen kurzen Blick auf das weiße Knäuel und starrte dann Sölvis Gesicht an, das von Schrammen und trocknendem Blut bedeckt war.

»Nein, ein Kätzchen«, sagte er, zog durch die gebrochene Nase Rotz hoch und kraulte das weiße Knäuel hinter dem Ohr. »Es ist hier herumgestromert, ausgekühlt und hungrig. Scheint verlassen zu sein. Ich will es Yang nennen.«

»Yang?«, wiederholte Edda fragend.

»Ja, wie in Yin und Yang«, erklärte Sölvi durch die Nase. »Hell und dunkel, gut und böse. Ausgeglichenheit, du kennst das sicher. Ich habe die Schnauze voll von der Grausamkeit der Welt, von allem Dunklen. Yang ist hell, weiß. Vielleicht bringt es mir Glück.«

»Hoffen wir’s«, sagte sie. »Jetzt komm mal, du Ärmster!«

Sölvi reichte ihr den kleinen Kater.

»Nein, dich habe ich gemeint«, sagte Edda und half Sölvi aufzustehen. »Wir müssen dich mal anschauen lassen.«

Sie brachte ihn ins Krankenhaus, und seitdem hatten sie einander kaum mehr aus den Augen gelassen.

Sölvi lehnt sich an den Türrahmen und sieht zu, wie sich seine Freundin unter ihre Kollegen aus der Krankenpflegefakultät an der Universität Islands mischt. Gerade unterhält sie sich mit zwei Männern in Erdfarben, die laut zu dem lachen, was sie sagt.

Worüber reden sie? Er beobachtet Edda, ohne dass sie es merkt. Sie ist geschminkt und schick zurechtgemacht, hat ein bisschen was getrunken und benimmt sich ein wenig anders als sonst. Als sei sie nicht ganz sie selbst. Oder ist sie so, wenn sie nicht mit ihm zusammen ist? Welche ist dann die wahre Edda? Oder gibt es vielleicht mehrere? In ihren Augen glitzert es verführerisch. Ihn überläuft ein unangenehmer Schauer, als ihm klar wird, dass er diese Frau so gut wie gar nicht kennt, obwohl sie zusammenwohnen. Sicher ist sie schon mit vielen Männern im Bett gewesen und hat alles Mögliche ausprobiert, von dem er keine Ahnung hat. Flirtet sie mit diesen Typen?

Er leert sein Glas und will diese Gedanken abschütteln, aber er fühlt sich nicht wohl, ihm ist fast, als müsse er ersticken, und er will am liebsten an die frische Luft.

Auf der Couch stecken zwei Mädels in Rot die Nasen zusammen und zeigen auf eine gelb gekleidete Kommilitonin, die zusammen mit einigen anderen zur Musik von Saturday Night Fever tanzt, die sich gerade auf dem Plattenteller dreht. In der Küche steht eine junge Frau in einem blauen Kleid mit zwei Männern zusammen, der eine braun, der andere schwarz-weiß angezogen, und aus dem Badezimmer kommen zwei Mädels in Rosa und Grün.

»Hæ!« Sölvi nickt und grinst. Er schlängelt sich so durch die Gäste, grüßt alle, spricht aber mit keinem länger, hat stets ein Glas in der Hand, achtet aber darauf, sich nicht zu betrinken; er hält sich in der Raummitte auf, meidet die Ecken, damit niemand auf den Gedanken kommt, er sei verschlossen, habe schlechte Laune oder sei gar ein arroganter Schnösel, dabei ist er ein zurückhaltender Charakter, ein Einzelgänger nach eigener Aussage, aber er versucht, sich bei dieser Gelegenheit offen und gesellig zu zeigen, weil er zu wissen meint, dass es Edda nicht egal ist, was ihre Umgebung von ihm hält.

Am wohlsten fühlt er sich eigentlich allein auf dem Sofa mit einer dampfenden Tasse Kaffee neben sich und einem guten Buch in der Hand, aber das kann man eben nicht immer haben.

»Hast du Zigaretten?«, fragt ein intellektuell aussehender junger Mann in einem lila Hemd.

»Nein«, bedauert Sölvi lächelnd. »Ich habe auch mit dem Rauchen aufgehört, als ich die Arbeit auf See aufgegeben habe.«

»Okay«, nickt der Mann in Lila. »Aber, sag mal, bist du jetzt auch an der Uni?«

Sölvi schüttelt den Kopf. »Ich habe das Abitur nicht geschafft.

Ich suche gerade Arbeit.«

»Ach so.«

In den zwei Monaten, die er jetzt mit Edda zusammenwohnt, hat er sich um elf Jobs beworben und zehn Absagen kassiert. Bald nach dem Zusammenziehen hatte er Arbeit in einem Kiosk bekommen, aber nach einigen langen und langweiligen Spätschichten hatte er den Job geschmissen. Seitdem hat er kein Glück mehr gehabt, und sein Erspartes nimmt schnell ab; wenn sie nicht Eddas Studiendarlehen hätten, würden sie vor dem Jahreswechsel die Wohnung verlieren.

Vielleicht hätte er die Arbeit auf See besser nicht aufgegeben. Vielleicht hätte er nicht auf Edda hören sollen. Vielleicht wäre er besser nicht auf gut Glück mit ihr in die Stadt gezogen …

»Sölvi?« Edda kommt mit einem halb leeren Glas in der Hand auf ihn zu.

»Ja?«

»Könntest du mir für das hier ein paar Eiswürfel holen?«

Sölvi nimmt ihr lächelnd das Glas ab. »Klar, kein Problem.«

»Ist alles in Ordnung mit dir, Schatz?«, fragt sie und sieht ihm direkt in die Augen.

»Ja, natürlich«, antwortet er und lacht.

»Wir wollen bald in der Stadt um die Häuser ziehen«, sagt sie. »Darum …«

»Darum was?«

»Darum solltest du vielleicht doch Socken anziehen.« Edda lächelt breit.

»Was?« Er schaut an sich hinab auf seine nackten Füße.

»Aber vorher nicht das Eis vergessen«, sagt sie und zwinkert ihm zu, bevor sie sich abwendet.

»Edda«, ruft er ihr nach.

Sie schaut über die Schulter zurück. »Ja?«

»Ich liebe dich.«

Edda lächelt und formt mit den Lippen ein stummes I love you too, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihren Gästen zuwendet.

Sölvi grinst verlegen, als sei er sich weder seiner Liebe zu ihr noch umgekehrt ihrer zu ihm ganz sicher …

Sölvi kippt an der Bar einen doppelten Gin Tonic und bestellt gleich noch einen. Er hat Edda schnell aus den Augen verloren, nachdem sie das Lokal betreten hatten. Der Lärm, die Wärme und das Gedränge treiben ihn in den Wahnsinn, aber der Alkohol strömt durch die Adern, und ein benebelnder Rausch hilft ihm, seine Unsicherheit und Ängste hinter sich zu lassen und sich der unbekümmert aufgedrehten Stimmung in der Kneipe anzuschließen. Er bezahlt den Drink und dreht sich mit dem vollen Glas in der Hand um, lässt es aber fallen, als ihn jemand unsanft anrempelt. Ein ausgesprochen cooler Typ mit dunklen Haaren in schwarzem Anzug und blassgrünem Hemd. Er reagiert gar nicht auf den Zusammenstoß und die Folgen, sondern hastet weiter, als sei ihm der Teufel auf den Fersen.

»He!« Sölvi tippt dem Kerl auf die Schulter, ohne die möglichen Folgen zu bedenken. Das Glas ist ihm nicht weiter wichtig, aber ihn ärgert dieses rüde Benehmen. Doch als sich der Anzugträger mit Mordgelüsten in den großen Pupillen zu ihm umdreht, geht Sölvi auf, dass er vielleicht besser nicht an diese Tür gepocht hätte.

Aber, er kennt den Typen. Das ist doch kein anderer als …

»Bergur!«, ruft Sölvi, als sich sehnige Hände um seine Kehle schließen wie die Fänge eines Hundes.

»Hä?« Der Angreifer lockert seinen Griff und mustert sein Opfer mit flackernden Augen. Sein Blick verliert an Schärfe wie nach einem Fingerschnipsen, aber seine Pupillen bleiben geweitet, so dunkel wie tiefe Löcher.

»Ich bin’s, Sölvi«, sagt Sölvi mit einem nervösen Lachen. »Erkennst du mich nicht?«

»Doch, sicher«, sagt Bergur, ohne eine Miene zu verziehen. Er wischt sich ein paar Schweißtropfen aus dem sonnengebräunten Gesicht und bedeutet Sölvi, ihm zu folgen. »Komm mit! Ich glaube Eyþór hat einen Tisch freigemacht.«

Zuerst fühlt sich Sölvi erleichtert, doch dann kommen die Angst und das alte Unbehagen zurück wie ein lähmendes Gift, und er folgt Bergur wie ein Schatten durch das Gedränge an der Tanzfläche zu einem Tisch im rückwärtigen Teil. Da sitzen die Brüder Eyþór und Arnar, Freunde Bergurs seit Kinderzeiten, trinken Cola mit Schuss aus der Flasche und scannen die Tanzfläche mit Raubtierblicken. Eyþór ist der Ältere, kurz geschnittenes, blondes Haar, schwarzer Anzug und lachsrosa Hemd. Arnars Haar ist dunkler, bedeckt die Ohren und die Stirn, gleichartiger Anzug, orangegelbes Hemd. Auf dem Tisch brennt ein Teelicht in einem kleinen Glashalter.

»Ihr erinnert euch an meinen Cousin«, sagt Bergur laut, um die laute Musik zu übertönen. »Der vor Jahren beinah ertrunken wäre.«

»Na, sicher«, grinst Eyþór. »Das Engelsgesicht. Das werden wir nie vergessen.«

»Das wäre beinah ins Auge gegangen«, sagt Arnar, sieht Sölvi ganz kurz in die Augen, bevor er Bergur zuzwinkert und seinem Bruder unauffällig einen Rippenstoß versetzt.

»Darauf sollten wir anstoßen.«

Bergur, Eyþór und Arnar stoßen klappernd die Flaschenhälse zusammen, Sölvi bleibt ausgeschlossen, weil er kein Getränk zur Hand hat.

»Was gibt’s bei euch Neues?«, erkundigt er sich nach kurzem Schweigen nur, um etwas zu sagen. Sein Herz klopft schneller, seine Handflächen sind feucht, sein Mund ist trocken. Er möchte am liebsten aufstehen und gehen, schafft es aber nicht.

Das Dunkel hält ihn fest wie eine Fliege im Spinnennetz.

»Meister?«, fordert Bergur mit theaterreifer Geste Eyþór auf, der auch sogleich antwortet: »Wir haben uns entschlossen, ein Leben im Verborgenen zu führen und uns der Obhut des Bösen anzuvertrauen, so, wie wir es verstehen.«

»Wir haben eine Liste unserer Schwächen erstellt«, fährt Arnar fort. »Wir haben unsere Schwäche für das Böse eingestanden, uns selbst und anderen, und was genau das beinhaltet.«

»Wir waren bereit, das Böse all unsere Schwächen hinwegfegen zu lassen, auf dass nichts mehr unserer teuflischen Reife im Weg stehe«, sagt Bergur und nickt Sölvi zu, der ein einziges Fragezeichen im Gesicht hat und nicht weiß, wie er das aufnehmen soll.

»Wir haben das Böse gebeten, all unsere Schwächen ratzfatz zu tilgen«, sagt Eyþór und klopft sich auf die Brust.

»Wir haben all unsere Missetaten an unseren Nächsten bekannt und möchten Schlechtes noch schlechter machen«, sagt Arnar und grinst, bevor er sich einen Priem unter die Oberlippe schiebt.

»Und wir haben unsere Verbrechen ohne Mittelsleute selbst verübt …«, ergänzt Eyþór und hebt den Zeigefinger, wie ein Dirigent den Taktstock hält, und dann beenden die Kumpane den Satz im Chor: »sofern sie jemandem schadeten und die Gesetze des Lebens erschütterten.«

Dann lachen sie los wie Wahnsinnige, hauen die Fäuste gegeneinander, lassen die Flaschen klingen und tun so, als sei Sölvi gar nicht anwesend.

»Was ist das denn für ein Quatsch?«, fragt Sölvi erschrocken, doch die einzige Antwort, die er von seinen früheren Spielkameraden erhält, besteht in geheimnisvollem Grinsen und kaltblütigen Blicken.

»Okay, Jungs.« Eyþór öffnet ein kleines Plastikbehältnis und schüttelt zwei gelbe Pillen auf den Tisch. »Let the game begin!«

»No problem.« Arnar schiebt das Teelicht zur Seite, legt eine leere Colaflasche auf den Tisch und lässt sie schnell rotieren.

Sölvi sieht reglos zu. Er hat keine Ahnung, was sie da veranstalten, obwohl er natürlich früher auch Flaschendrehen gespielt hat. Als die Flasche zum Stillstand kommt, zeigt der Hals auf ihn.

»Die Flasche hat gesprochen.« Eyþór legt den Zeigefinger der rechten Hand auf die Pillen und schiebt sie Sölvi zu. »Was ist, bist du Mann oder Maus?«

»Nein!« Bergur schiebt die Pillen wieder zu Eyþór. »Sölvi ist keiner von uns. Er spielt nicht mit.«

Arnar dreht die Flasche aufs Neue, und als sie stehen bleibt, zeigt sie auf ihn.

»Bruder!« Eyþór schiebt ihm die Pillen über den Tisch.

»Das Vergnügen ist ganz meinerseits.« Arnar zerreibt sie zwischen Daumen und Zeigefinger zu Pulver, steht auf und verschwindet mit dem Pulver zwischen den Fingern in der Menge auf der Tanzfläche.

»Wo will er hin?« Sölvi sieht Bergur fragend an, doch der scheint in Trance zu sein und tut so, als wäre sein Cousin nicht vorhanden.

»Ich habe dich seit damals in dem Boot nicht mehr gesehen«, sagt Eyþór unvermittelt und mustert Sölvi. »Ich habe gehört, du hättest damals im See so etwas wie ein Nahtod-Erlebnis gehabt. Erinnerst du dich daran?«

Sölvi blickt zur Seite. »Nein, ich habe nur schwarz gesehen.«

»Glaubst du an Gott?« Eyþór beugt sich mit abgeschmackter Miene über den Tisch.

»Ja, eigentlich schon, aber nicht als eine Überperson oder Weltenrichter, sondern mehr so als eine irgendwie höhere Macht, als eine Art überlegenes Wissen in jedem von uns, so eine geistige Richtschnur oder ein kosmisches Rauschen, das man empfangen kann …«

»Das ist komisch. Wenn du doch an Gott glaubst, warum hast du dann kein Licht gesehen, keine Engelchen? Oder ist Gott am Ende nichts anderes als Finsternis?« Eyþór grinst müde von einem Ohr zum anderen.

»Erst war alles schwarz, aber dann sah ich …« Sölvi zögert, überlegt es sich anders und sagt: »Nichts. Ich habe nichts gesehen.«

»Es ist besser, Maus zu sein als Mann, das kann ich dir sagen.« Eyþór seufzt vor Wohlbehagen.

»Sie impfen einem Gottesfurcht und Gesetzestreue ein, damit man nicht hinter die Geheimnisse des Lebens kommt.«

»Was für Geheimnisse sollen das sein?«

»Zum Beispiel die Power, die freigesetzt wird, wenn man ein Kind fickt.«

»Wie bitte? Was sagst du da?«

»Oder wenn jemand getötet wird.« Eyþór blickt wie abwesend auf seine Uhr.

»Was redest du da, Mann?«

»Wenn die Gesetze dieser Welt gebrochen werden, öffnen sich Türen in eine andere Dimension. In eine Finsternis, wo das echte Wissen in der Form reiner Macht lebt, die wir das Böse nennen. Warum ist es denn verboten, zu töten? Im Grunde weiß das keiner, aber ich habe den Verdacht, Gebote und Verbote einer Gesellschaft spiegeln nur ihre Angst vor dem Unbekannten wider. Da liegen die Wachstumschancen der Menschheit, in jenem Unbekannten.«

Sölvi hält dieses Gerede kaum aus, es regt ihn auf und macht ihn wütend, aber er weiß nicht, wie er darauf reagieren soll. »Mag sein«, sagt er schließlich, »aber sollte man daraus nicht eher folgern, das moralische Gewissen des Menschen …«

»Wie du willst«, sagt Eyþór und steht vom Tisch auf. »Ich muss jetzt erst mal aufs Klo.«

Sölvi schüttelt resigniert den Kopf und sieht seinen Cousin an, der tief in eigene Gedanken versunken scheint. »Bergur?«

»Was?« Bergur blinzelt und sieht auf. Er erwacht zum Leben, als habe jemand in einem dunklen Haus das Licht eingeschaltet.

»Sölvi Helgason, was hast du eigentlich in diesem Sündenbabel verloren, du Unschuld vom Lande?«

»Na ja, ich wohne jetzt hier«, antwortet Sölvi stolz. »Meine Freundin studiert an der Uni, und ich suche Arbeit.«

»Brauchst du einen Job?«

»Ja, kannst du mir vielleicht helfen?«, platzt es aus Sölvi heraus.

»Natürlich kann ich dir helfen.« Bergur legt den linken Arm um ihn und kneift ihn mit den Fingern der Rechten in die Wange, dann fährt er zu Sölvis großer Überraschung fort: »Du arbeitest einfach bei meinem Vater. Nichts einfacher als das.«

»In der Immobilienagentur?«

»Klar. Warum hast du dich nicht gleich bei Vater gemeldet?«

»Ich habe in solchen Dingen keine Erfahrung. Was sollte ich denn da tun?«

»Eyþór arbeitet da, Arnar arbeitet da, und ich arbeite da.« Bergur lacht laut auf und haut mit der flachen Hand auf den Tisch. »Erfahrungen! Das Einzige, was man können muss, ist lügen, seinen Namen schreiben und Geld zählen. Kannst du lügen, deinen Namen schreiben und Geld zählen?«

»Ich denke schon«, grient Sölvi.

»Du bist eingestellt, Mann.« Bergur hebt seine Flasche und leert sie in einem Zug. »Komm am Montag, und die Sache ist geritzt.«

»Musst du vorher nicht mit deinem Vater reden?«

»Komm am Montag, und die Sache ist geritzt«, wiederholt Bergur und sieht sich um, als wüsste er nicht, wo er ist und mit wem er spricht.

»Mache ich. Danke, Mann!« Sölvi lächelt und klopft Bergur auf den Rücken.

»Was? Gut.« Bergur sieht sich mit leerer Miene um, doch als er Eyþór kommen sieht, wird er wieder munterer.

»Das Weltall dehnt sich mit ungeheurer Geschwindigkeit aus und wird bis in alle Ewigkeit damit fortfahren.« Eyþórs Augen sind blutunterlaufen, er wischt sich Schweißtropfen von Nase und Oberlippe. »Im Lauf der Zeit wird das Licht so diffus und schwach, dass die Welt abkühlt und immer Dunkelheit herrschen wird.«

Er fährt mit dem Zeigefinger unter die Oberlippe und reibt mechanisch das Zahnfleisch, ehe er fortfährt: »Irgendwann in ferner Zukunft wird der Abstand zwischen Planeten, Sonnen und Galaxien so riesig sein, dass man am Himmel keinen einzigen Stern mehr unterscheiden kann, ganz gleich, von wo aus man in diesen Abgrund des Ginnungagap schaut.«

Sölvi grinst schwach, als hätte er es aufgegeben, irgendeine geistige Verbindung zu den Kerlen herzustellen. »Ja, aber bis dahin …«

Eyþór schnippt mit den Fingern. »Das Leben ist so gut wie ein Nichts, mein Freund, ein Funkenflug in die Umarmung des Todes. Das ist alles.«

»Eine flackernde Kerze«, sagt Bergur und schiebt das Teelicht wieder in die Tischmitte.

»Genau«, bestätigt Eyþór und erstickt die Flamme, indem er den Docht umfasst. »Und die Winde der Finsternis werden wehen.«

»Der Meister hat gesprochen.« Bergur lacht ein hohles Lachen und streckt die Faust vor.

»Kamerad!« Eyþórs gebräuntes Gesicht klafft zu einem freudlosen Grinsen auf, und ihre Fäuste stoßen über dem Tisch zusammen wie kämpfende Widder.

Sölvi hustet von dem sauren Qualm, der von der erloschenen Kerze aufsteigt. Er blinzelt, atmet aus und klopft seinem Cousin auf den Rücken. »Macht immer Spaß, mit euch zu quatschen, aber ich denke, es ist langsam Zeit, dass ich mal nach meiner Freundin Ausschau halte.«

»Da kommt Arnar mit seiner Beute.« Eyþór zeigt zur Tanzfläche. »Aber was hat er denn da für eine Schlampe aufgegabelt?«

»Ist mir egal, ob eine Alte eine Schlampe ist«, sagt Bergur und zwinkert Sölvi zu. »Hauptsache, sie ist meine Schlampe.«

Sölvi dreht den Kopf und sieht Arnar und die Frau, die ihm wie ein Zombie durch die Menge folgt. Sie bewegt sich unbeholfen, ihr Mund steht offen, und sie stiert mit einem Blick, der nichts erfasst, vor sich hin, ihre linke Hand fuchtelt in der Luft, die rechte hält ein leeres Rotweinglas, das ihr langsam aus der kraftlosen Hand rutscht, am Boden zerschellt und von ihren Absätzen zertreten wird.

»Edda!« Sölvi springt auf und läuft zu seiner Freundin, die in Trance oder irgendeinem Dämmer zu sein scheint.

»Hast du so viel getrunken, Liebste? Ist alles in Ordnung mit dir? Sag doch was!«

»Ach nee, kennst du die etwa?« Arnar sieht Sölvi scharf an, gleichzeitig wütend und enttäuscht. Er wirft seinem Bruder einen Blick zu, der sich erhebt und mit den Schultern zuckt. Dann sieht er Bergur an, der den Kopf schüttelt und Arnar ein Zeichen gibt, sich zurückzuhalten.

»Ja, ich … Ihr solltet euch schämen!« Sölvi stampft mit den Füßen auf und teilt ein paar Faustschläge in die Luft aus, als würde er mit einem unsichtbaren Gegner kämpfen. Er dreht Arnar den Rücken zu und führt Edda entschlossen vom Tisch weg und aus der Kneipe, ohne sich noch einmal umzusehen …

Augen sind die Spiegel der Seele, aber manchmal lassen sie an Fenster in einem leer stehenden Haus denken …

Edda hockt mit einem leeren, fragenden Gesichtsausdruck in ihrer Wohnung und starrt ihren Mitbewohner an, als sei er fremd und sie könne ihn nicht einsortieren. Sie ist völlig schlapp und hängt im Sessel, Speichel auf dem Kinn, die Wange in die Hand gestützt, Beine gespreizt, Knie angehoben, die Knöchel abgeknickt über ramponierten Pumps, der Träger ist von der linken Schulter gerutscht, eine Brust lugt aus dem Kleid, das so hochgerutscht ist, dass hinter dem Zwickel der Strumpfhose ihr Schamhaar zu sehen ist.

»Edda? Edda, was ist denn mit dir los?« Sölvi kniet sich vor ihren Sessel und versucht vergeblich, Augenkontakt zu ihr herzustellen. Sie ist ihm aus dem Lokal gefolgt, hat neben ihm im Taxi gesessen und ist mit in die Wohnung gegangen, ohne ein einziges Wort zu sagen. Er hat ihr den Mantel ausgezogen wie einem kleinen Kind, sie zu dem Sessel im Wohnzimmer geleitet und ihr beim Hinsetzen geholfen, als wäre sie eine alte Frau. Sie scheint zu hören, was er sagt, sie folgt ihm wie ein Schatten, und gleichzeitig scheint sie ihn nicht wahrzunehmen.

Sölvi hat ordentlich einen sitzen, aber Edda scheint sich völlig aus dem Leben geschossen zu haben. Er beugt sich zu ihr, blickt ihr in die abwesenden Augen und hört auf ihren Atem. Edda ist