Abitur im Sozialismus - Werner Müller - E-Book

Abitur im Sozialismus E-Book

Werner Müller

4,9

Beschreibung

„Nun sagt mir doch endlich mal, was das ist, die DDR!“ Diese Frage seiner damals 10-jährigen Enkelin lässt dem Autor Werner Müller keine Ruhe. Hinzu kommen die vielfältigen Erinnerungen von Schulfreunden aus den vier Jahren an der Erweiterten Oberschule „Rainer Fetscher“ während eines Klassentreffens. Die oft abwertenden Äußerungen der westlich geprägten Medienlandschaft über das Schulsystem im kleineren der beiden deutschen Nachkriegsstatten rufen Unmut hervor. Deshalb beschließt der Autor, gemeinsam mit ehemaligen Klassenkameraden auf eine Zeitreise in die Mitte der 1960-er Jahre zu gehen. Damit dieser Ausflug der Erinnerungen nicht zu sonnig wird, stöbert er in den Klassenbüchern von damals, holt seine alten Tagebücher hervor und arbeitet sich durch Zeitungen, Bücher und Internet. So entsteht das vielfältige Bild eines Schulalltages dieser Zeit in der DDR, ein Stück Dokumentarliteratur. Dabei werden auch Wechselbeziehungen West-Ost gezeigt, Vergleiche herangezogen. Die Wahrnehmung der gemeinsamen Vergangenheit ist bei den Mitschülern oft unterschiedlich, widersetzt sich jedoch der heute immer noch beliebten Schwarzfärberei in Medien und Politik. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass eine realistische Darstellung der deutschen Geschichte bis 1990 nur in ihren Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen möglich ist. Das gilt nicht nur für die gezeigten vier Schuljahre. Wann das sein wird, ist im Nebel der Zukunft verborgen.

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Impressum

Werner Müller

Abitur im Sozialismus

Schülernotizen 1963 – 1967

Aufgeschrieben unter Mitwirkung meiner Klassenkameraden und Schulfreunde an der Erweiterten Oberschule „Rainer Fetscher“ in Pirna: Bernhard, Birgit, Dieter, Dietrich, Erika, Friedrich, Gottfried, , Günter , Hans-Günther, Ingolf, Ingrid, Irmgard, Jürgen H. , Jürgen L., Klaus-Jürgen, Lothar , Michael, Rolf , Reinhard, Rüdiger, Rudi, Sabine , Siegfried, Wolfgang J., Wolfgang K., Wolfgang U., Wolfram – und unseres Lehrers Dr. Gerhard Rehn.

ISBN 978-3-95655-691-3 (E-Book)

ISBN 978-3-95655-693-7 (Buch)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2016 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Nur wer losgeht kommt an

Was willst du erreichen?

Was tust du dafür?

Warum sollst du dich mühen?

Warum strengst du dich an?

Wie stehen die Chancen?

Wie bringst du dich ein?

Wann willst du beginnen?

Wann endet deine Zeit?

Wem nützt es?

Wem gebührt Dank?

Wer gibt wird bekommen!

Nur wer losgeht kommt an!

Bernhard Kuntzsch

Das waren wir – Klasse 12B 2, 1967 - glückliche Gesichter nach bestandenem Abitur

Vorwort

„Nun sagt mir doch endlich mal, was das ist, die DDR!“ – das war die Frage meiner Enkelin in einer sonntäglichen Kaffee-Runde. Die Familie hatte sich wieder einmal in Pirna, in der Sächsischen Schweiz, zusammengefunden, was nicht so oft möglich ist. Unsere Tochter samt zweier Enkeln und Mann, aus der Nähe von Heidelberg kommend, hatte den weitesten Weg. Unser Sohn mit Freundin, jetzt in Leipzig zu Hause, hatte sich von zahlreichen beruflichen Verpflichtungen einmal lösen können. Das Thema der Gesprächsrunde wechselte, wie so üblich, bei den Kindern beginnend in diese und jene Richtung und war dann wieder einmal in der Zeit vor 25, 30 oder 40 Jahren angelangt, in der DDR. Und da wollte sie es wissen, unsere Enkelin, damals noch Grundschulkind in Baden Württemberg, da wollte sie dieses ihr unbekannte Wort erklärt bekommen.

Seitdem lässt mich der Gedanke nicht los, was ich meinen Enkeln über diese Zeit denn einmal erzählen könnte oder sollte, wenn sie denn tatsächlich fragen.

Ich selber stelle rückblickend fest, das leider zu wenig getan zu haben, zu wenig gefragt zu haben. Weder mit Großeltern noch Eltern habe ich als Jugendlicher oder später als junger Familienvater viel über ihre vergangenen Jahre, über ihre Lebenszeit gesprochen. Sicher wäre die Möglichkeit dazu gewesen, sicher gab es Ansätze dazu, aber als junger Mensch hat man ganz einfach andere Dinge im Kopf als die Vergangenheit. Die Theologin Margot Käßmann, ehemalige Bischöfin und zeitkritische Autorin nicht weniger Bücher, meint, dass wir in jungen Jahren ständig vorwärts leben und versuchen, die vor uns liegenden Herausforderungen zu bewältigen. Später, älter geworden, nehmen wir uns die Zeit um einzuordnen, was wir erlebt haben, suchen Zusammenhänge – und da geht der Blick immer öfter zurück.(Margot Käßmann, „In der Mitte des Lebens“, Verlag Herder, 5. Auflage 2010, S. 30)

„Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“ – So oder ähnlich wird der dänische Philosoph des 19. Jahrhunderts, Sören Kirkegaard, häufig zitiert. Eine auch heute gültige Wahrheit.

Als Rentner und damit ein gutes Stück in der zweiten Hälfte des Lebens, habe ich mit der Rückschau begonnen.

Mit einigen Millionen Menschen aus der kleineren der nach 1945 entstandenen deutschen Republiken erlebte und erlebe ich immer noch zwei gänzlich verschiedene gesellschaftliche Systeme der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. 2015 sind 70 Jahre vergangen nach dem Ende dieses Völkermordens, sind 25 Jahre vergangen seit dem Beitritt der DDR zur damaligen BRD.

Eine Vereinigung auf Augenhöhe, was aus heutiger Sicht manchem wünschenswerter gewesen wäre, war damals nicht gewollt und wohl auch nicht möglich. Sieger in einer Auseinandersetzung der gesellschaftlichen Systeme Sozialismus in der DDR und Kapitalismus in der BRD war der größere der beiden deutschen Nachkriegsstaaten geblieben. Entsprechend sind die Darstellungen der 40 Jahre des Getrenntseins der Deutschen. Die Großmedien sind in westdeutscher Hand, wie Christoph Dieckmann zutreffend schreibt. Da wird Westsuppe gekocht, bei Bedarf mit ein wenig Osten zur Würze.

„Nur in Ansätzen haben die Ostdeutschen sich Öffentlichkeit geschaffen, am ehesten als Regionalkultur.“(Christoph Dieckmann, „Rückwärts immer“, Verlag Aufbau Taschenbuch,2007, S. 105).

Wenn die Enkel zu fragen beginnen, werden sie vielleicht zuerst in ihren Lehrbüchern nachlesen, später bei Interesse auch in Romanen, Dokumentationen, Zeitungen und Zeitschriften. Es gibt bereits Spielfilme zu dem Thema und filmische Dokumentationen, auch mehr oder weniger fundierte wissenschaftliche Analysen. Vergessen wir dabei nicht die Möglichkeiten des Internets! Die Vielfalt ist verwirrend, die Meinungsbildung mühsam.

Was wird sich in den Zeitläufen durchsetzen? Alles ist im Fluss!

Wenn auch heute viele die 40 Jahre des misslungenen Experiments DDR belächeln oder ihrem Hass freien Lauf lassen – die am wenigsten gelitten haben , hassen am meisten, die nicht dabei waren, wissen alles am besten – so wird sich vielleicht doch eine Geschichtsschreibung durchsetzen, die von 1945 bis 1990 beide Seiten in ihrer Wechselwirkung berücksichtigt. Alles braucht seine Zeit.

So lange will ich nicht warten. Ich will heute schon einiges erzählen aus der Zeit der Erlebnisgeneration, aus der Zeit seit Ende der 1940er Jahre in der sowjetischen Besatzungszone oder der späteren DDR. Deren Gründung war am 7. Oktober 1949, reichliche vier Monate nach der BRD (23. Mai 1949).

Dennoch wird die Vergangenheit dieses deutschen Staates zu oft reduziert auf das Wirken des Ministeriums für Staatssicherheit (Stasi), wirtschaftliche Mangelsituationen, Grenzregime (Todesschüsse an der Mauer) und staatliche Restriktionen. Auch an dem Bildungssystem des untergegangenen Staates lässt die aktuelle Staatsräson nichts Gutes. Und die Medien stimmen nur zu gern ein in dieses Lied? - Nein, das ist zu voreilig. Es gibt schon realistische Darstellungen, die aber leider in der pluralistischen Meinungsvielfalt unseres Landes noch untergehen oder geschickt in die mediale Versenkung transportiert werden.

Noch besser macht es sich , bei der Darstellung der deutschen Geschichte nach 1945 die vierzig Jahre der Zweistaatlichkeit weitestgehend auszublenden, nur von „der Bundesrepublik “ zu berichten, so wie ein Historiker in seiner Rede zum 70. Jahrestag des Endes des zweiten Weltkrieges am 8. Mai 2015. Warum eigentlich? Weil das einfacher ist? Weil da Peinlichkeiten bei der Geschichtsbewältigung im Vergleich Ost –West zu befürchten wären, nicht nur für den Osten des damals geteilten Landes? Weil Richard von Weizsäcker, ehemaliger Bundespräsident, erst 1985 für die BRD feststellte, dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus war? Für uns damalige Schüler war das dieser Tag schon längst. Auch Weglassen kann Lüge sein!

In Gesprächen mit Klassenkameraden der gemeinsamen vier Jahre an der Erweiterten Oberschule (EOS) „Rainer Fetscher“ in Pirna erfuhr ich, dass sich mancher von ihnen ähnliche Gedanken macht – Wolfgang U., Bernhard, Dieter, Gottfried und andere. So entstand die Idee, gemeinsam eine Kleinigkeit beizutragen zur allgemeinen Diskussion, ein wenig von unseren Erfahrungen mitzuteilen und nicht alles den Anderen, wer das auch immer sein mag, zu überlassen.

Berichten werde ich also mit Klassenkameraden von damals von den vier Jahren Schulzeit in der Mitte der 1960er Jahre, einer gemeinsam erlebten, aber durchaus unterschiedlich wahrgenommenen Zeit. Unterschiedlich wahrgenommen von den Einzelnen, aber auch unterschiedlich wahrgenommen in den verschiedenen Regionen der DDR, sei es in Leipzig, Dresden, Berlin oder anderswo. Wahrgenommen in einem Zeitfenster von vier Jahren aus 40 Jahren DDR. Das sind zehn Prozent der Lebensdauer dieses Landes.

Natürlich blieb die Zeit nicht dabei stehen. Spätere Entwicklungen brachten neue Erkenntnisse und neue Probleme für uns, die dann schon im Berufsleben standen, selbst Kinder hatten.

Es ist also nichts Feststehendes, was wir aufschreiben können, nicht die alleinige Wahrheit. Die gibt es sowieso nicht, wie man täglich feststellen kann. Man kommt ihr am nächsten, wenn man akzeptiert, sie nie ganz zu besitzen und gleichzeitig versucht, verschiedenen Interessen daran auf den Grund zu gehen.

Ich will unsere Erlebnisse in dieser Zeit aufschreiben und damit anregen, sich abseits der Massenmedien weiter zu informieren.

Unsere Berichte sollen nicht einfach die schönen Seiten einer vergangenen Jugend widerspiegeln. Nein, wir wollen Interessierten einiges Interessantes mitteilen. Das kann durchaus politisch relevant sein, wird vielleicht auch manchen Leser stören.

Das alles so aufzuschreiben wäre damals, zu unserer Zeit nicht möglich gewesen. Doch einen oft gebrauchten und sogar schon gesungenen Hinweis haben wir heute: Es war nicht alles schlecht. Also versuchen wir’s! Mit meinen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden versetze ich mich zurück in die 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts.

Kapitel 1: Wie alles kam

„Aber für das, was ich in den vier Jahren in der Fetscher-Schule gelernt habe, dafür bin ich meinen Lehrern, unserer Schule, noch heute dankbar!“ – Das äußerte anlässlich eines Klassentreffens in vorgerückter Stunde während einer lebhaften Diskussion einer meiner Mitschüler. War das Rüdiger oder Gottfried oder…? Ich weiß es nicht mehr. Das ist auch gleichgültig, denn alle in der Nähe Sitzenden, die das hörten, gaben im allgemeinen Stimmenwirrwarr des Treffens ihre Zustimmung zu erkennen.

Das war im September 2012. Einer schönen Tradition folgend trafen sich die Schüler aller vier Klassen des Abiturjahrganges 1967 der Erweiterten Oberschule „Rainer Fetscher“, Pirna, alle fünf Jahre, später alle drei Jahre, um über alte und neue Zeiten zu reden oder sich ganz einfach mal wieder zu sehen. –Wiedersehenstreffen! Gemeinsam hatten wir diese Schule seit September 1963 besucht und nach vier Jahren 1967 mit Abitur und Facharbeiterbrief wieder verlassen, um so gerüstet ins Leben hinauszugehen.

Seltsam, an diesen Moment erinnere ich mich jetzt ganz deutlich, als ich Anfang Juli 1967 nach Erledigung der letzten Abmeldeformalitäten im Sekretariat durch den Internatseingang die Schule endgültig verließ. Vier durchaus anstrengende Jahre lagen hinter uns, vor uns entweder meistens sofort (Geburtsjahrgang 1949) oder erst nach 18 Monaten Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee (Geburtsjahrgang 1948) ein Studium.

Im Jahr dieses Treffens 2012 befanden sich schon viele von uns im Ruhestand, waren Rentner, Pensionäre oder wie man das eben nennt. Die anderen sahen ihren letzten aktiven Arbeitsjahren entgegen. Von 30 Schülern der Klasse B2 des Jahrganges 1963 bis 1967 waren 25 gekommen. Der Rest fehlte wegen gesundheitlicher Probleme oder hatte einen unaufschiebbaren Termin. Einer hatte uns schon gänzlich verlassen, Bernd; ein anderer war allen Klassentreffen fern geblieben.

Thema der vorn genannten Diskussionsrunde war die Aufhebung unserer damaligen Erweiterten Oberschule, nach 1990 „Rainer-Fetscher-Gymnasium“, zugunsten des 1992 aus der 10-klassigen Schiller-Schule neu gegründeten „Schiller-Gymnasiums“. Nicht nur uns machte das sehr betroffen, nein auch die anderen Klassen unseres Jahrganges und noch viele andere fanden das unangebracht, ja falsch. Aber darüber wird noch zu reden sein. Und natürlich ergaben sich dann auch Themen zum Schulalltag heute, zu der Zersplitterung einer eigentlich gesamtnationalen Aufgabe der Bildung auf 16 Bundesländer und zur unterschiedlichen Wahrnehmung der Schulbildung sowohl der ehemaligen DDR als auch der ehemaligen BRD.

Dazu kam damals schon, also 2012, die sich anbahnende Misere eines Lehrermangels in Sachsen. Der bildungspolitische Sprecher der CDU-Fraktion war am 31. August 2012 nach einer harten Auseinandersetzung um die Schulpolitik der CDU/FDP-Regierung von seinem Amt zurückgetreten. Im Kern ging es dabei um die Umwandlung von Mittelschulen in sogenannte Oberschulen, die er als Etikettenschwindel bezeichnete, und den Lehrermangel an sächsischen Schulen. Bereits im November 2011 hatte er geäußert, dass in Sachsen ein funktionierendes Schulsystem „ohne Not an die Wand gefahren“ werde (WIKIPEDIA).

Nun sind wir, die Schülerinnen und Schüler unserer B2, schon über 25 Jahre in der neuen BRD angekommen und erleben mit Erstaunen, manchmal mit Groll, manchmal mit Erheiterung, auch angesichts der unvermeidbaren PISA - Studien, wie unterschiedlich und beziehungslos, oft sehr einseitig, über bestimmte Zeiträume und Ereignisse dieses Bereiches geschrieben und diskutiert wird. Je weiter oben das angesiedelt ist, desto schräger und verzerrter können die Darstellungen sein. Neuerdings lässt auch mancher seriöse Bericht aufhorchen. Immer aber entdeckt der kritische Bürger in den verschiedensten Medien (unabhängige Berichterstattungen gibt es trotz aller gegenteiliger Beteuerungen wenige) Versuche, die kleinere der ehemaligen zwei deutschen Republiken zu delegitimieren.

So formulierte zum 15. Deutschen Richtertag, am 23.9.1991, der damalige Justizminister Klaus Kinkel: „Es muss gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das … seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung, angeblich höheren Werten und behaupteter absoluter Humanität hergeleitet hat, während es … einen Staat aufbaute, der in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich war wie das faschistische Deutschland ….“ (Deutsche Richterzeitung 1992, S. 4/5).

Danach wurde dann und wird auch noch vielfach verfahren, und das nicht nur auf dem Gebiet der Justiz.

In einem Informationsforum des Internets war folgende Anfrage eines Schülers zu finden: „Hallo Leute, ich mache meinen MSA vortrag für die 10. klasse. Mein Thema ist Wie war das Alltagsleben in der DDR/BRD? Und wo liegen die Unterschiede. Meine Frage ist nun ob ihr vllt. ein paar Seiten zu dem Thema kennt. (am besten mit tabelle) Oder auch vllt. etwas aus eurer eigenen erfahrung berichten könnt?! Ich freue mich über antworten . “ – (Original-Zitat, nichts verändert!)

Die Antworten waren interessant und im Gegensatz zu tendenziösen Medienaufmachungen erfrischend offen, ehrlich und um echte Erkenntnisse bemüht. So jedenfalls mein ganz persönlicher Eindruck.

Und so wuchs dann stetig der Gedanke: Sollte man nicht einmal aufschreiben, wie wir unsere Schulzeit erlebt haben, bevor uns das von heute 30-Jährigen oder damals nicht in diesem Land Anwesenden fragwürdig beschrieben wird? - Zumindest für unsere Enkel könnte das interessant sein, wenn sie dieses Thema einmal im Geschichtsunterricht behandeln sollten.

Einer, der wegen seines Einsatzes für den von der DDR zwangsweise ausgebürgerten Wolf Biermann gemaßregelt wurde und dann selbst den Weg in den Westen nahm, der Schauspieler Hilmar Thate, bemerkt 2006 in seiner Autobiografie, er finde die Siegermoral, die Erhabenheit und scheinbare Makellosigkeit in der Darstellung der alten BRD fad und anmaßend. Man brauche sich nicht zu wundern, dass in der DDR aufgewachsene und dort gebliebene Menschen widersprechen und sich zu Wort melden. (Hilmar Thate, „Neulich als ich noch Kind war“, Autobiographie, Verlag Lübbe, 2006, S.250).

Also melden wir uns zu Wort! - Wie war das denn damals?

Kapitel 2: Die Erinnerung ist eine mysteriöse Macht …

Erich Kästner meint kurz und bündig in einem seiner Epigramme, die Erinnerung bilde die Menschen um. Wer das Schöne seiner Vergangenheit vergisst, würde böse; wer das Schlimme seiner Vergangenheit vergisst, würde dumm. (Erich Kästner, „Kurz und bündig.“, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. Berlin 1965, S. 34). – Wie schön und richtig!

Auf der Webseite des Pirnaer Heimatforschers und früheren Geschichtslehrers Hugo Jentsch fand ich in einem seiner Beiträge folgende kritische Bemerkungen zu dem Thema:

„,Nichts ist trügerischer als die eigene Erfahrung’, sagte mal ein namhafter Historiker. Besteht sie doch meist aus bruchstückhaft aufbewahrter, stark selektierter und über die Jahre vielfach abgewandelter, oft emotional aufgeladener Erinnerung, während anderes verdrängt und abgeblockt wird. Werden Erinnerungen durch andere abgerufen, dann folgt man meist deren Fragestellung oder Erwartung. Handelt es sich beim ins Bewusstsein Zurückgerufenen um Ereignisse, die mehr als 50 oder gar 60 Jahre zurückliegen, fällt die Rekonstruktion von Ereignisabläufen schwer, wenn sie nicht gar unmöglich ist. Erlebtes vermischt sich mit Gehörtem zu einem Bild. Was und wie damals gedacht wurde, ist inzwischen mehrfach in wandelnden Zeiten überlagert und verwandelt worden. Das alles fordert von jedem über Geschichte Schreibenden ein Mindestmaß an quellenkritischen Bedenken. Was von den aufgenommenen Erinnerungen Befragter nahm der Autor in seine Darstellung auf, was ließ er unberücksichtigt. Nach welchen Kriterien selektierte er Erinnerungen und Tagebuchworte?“

Der Schauspieler Eberhard Esche hatte folgende Meinung:

„…nämlich die, dass sich die Erinnerung vor der Wahrheit verlaufen kann, um entweder in die Abwege der Verteufelung oder die Irrwege der Vergoldung zu geraten. Oder den bekannten Dritten Weg sucht, der alle bedienen will und keinem nützt und so allen und der Sache schadet." (Eberhard Esche, „Wer sich grün macht, den fressen die Ziegen“, Eulenspiegel-Verlag 2011, S. 153).

Peter Ensikat, der unvergessene Kabarett-Autor war der Meinung, die Erinnerung sei umso schöner, je schlechter das Gedächtnis ist (Peter Ensikat, „Das schönste am Gedächtnis sind die Lücken“, Karl Blessing Verlag München, 2005, S. 10). Gerade das aber, Verklärung, ist in diesem Buch nicht beabsichtigt.

Tatsächlich, nach über 50 Jahren ist vieles vergessen.

Da springt auch das oft genannte Langzeitgedächtnis der Älteren nicht ein, das ist aber auch keine beginnende Demenz. Das ist Physiologie des Gehirns. In einer Jahresarbeit meiner EOS-Zeit schrieb ich mal ausführlich über Verhaltensweisen bei der Hausziege, über bedingte und unbedingte Reflexe, über Verknüpfungen von Abläufen im Gehirn. Aber diese vorhandenen Erinnerungen helfen jetzt nicht so richtig weiter.

Da kam mir die Idee, doch einmal in den alten Klassenbüchern nachzulesen über Unterrichtsstunden, Inhalte und Themen der damaligen Jahre. Sicher würde das die Erinnerungen beflügeln. Mein Klassenkamerad in den vier Jahren EOS, Bernhard, jetzt in Dresden wohnend, ebenfalls im Ruhestand, sagte spontan seine Mitarbeit zu, obwohl gerade selbst mit einer literarischen Arbeit beschäftigt.

Nach dem Aufbewahrungsort der Bücher brauchten wir nicht lange suchen. Hier half mir der Zufall. In einem kurzen Film berichtete das Stadtfernsehen Pirna (Video) im Internet über den Umzug des Stadtarchivs in die Räume des neuen Sitzes des Landratsamtes Pirna. Dabei, welch Zufall, waren Kisten mit der Aufschrift „Klassenbücher Rainer-Fetscher-Oberschule“ kurz zu sehen gewesen.

Also machten wir uns auf den Weg. Die zuständige Archivarin freute sich über unser Interesse an den Beständen des Archivs, und nach datenschutzrechtlicher Belehrung tauchten Bernhard und ich ein in die Lektüre einer über 50 Jahre zurückliegenden Schulzeit. Da lagen vier Klassenbücher vor uns, etwas abgenutzt und verstaubt, aber angefüllt mit unserem Schülerleben, was den offiziellen Teil betrifft. Wir fanden Namen und Anschriften der Eltern, Zensuren, Einträge zu den Themen der Unterrichtsstunden und natürlich auch zu den üblichen Schülerschandtaten wie Verspätung zum Unterricht, vergessenen Unterschriften und Hausaufgaben oder auch, in höchster Not versucht, zu Abschreibversuchen (Spicken!) während einer Klassenarbeit und so fort.

Eigentlich ein Wunder, dass es diese Bücher noch gab. Sie waren aus unerklärlichen Gründen entgegen der wohl sonst üblichen Aufbewahrungsfrist von 30 Jahren nicht kassiert, wie das in der Sprache der Archivare heißt, sondern für spätere Generationen aufbewahrt worden. Dass sie die betroffene Erlebnisgeneration selbst wieder nutzen, lesen, bewerten, auswerten würde, war weder beabsichtigt noch vorherzusehen gewesen. Wir taten das nun. Bernhard und ich verbrachten mehrere Tage im Archiv und versuchten, die Schrift unserer Lehrer zu entziffern.

Besonders schwierig gestaltete sich diese Grafologie bei unserem Geschichtslehrer der neunten und zehnten Klasse. Er hatte es nicht immer leicht mit uns. Als Leiter der Schulbücherei mit ihrem nicht kleinen Buchbestand ist er mir noch in guter Erinnerung. Ich habe dort eine komplette Ausgabe der Werke von Theodor Storm lesen können. Dr. Zippel freute sich über jeden Leser der Bücherei und beriet gern bei der Auswahl von Büchern.

Einträge von Herrn Rieger erinnerten an die Themen in Staatsbürgerkunde bzw. später Philosophie (des Marxismus). Auch hier eine Erinnerung: Mit diesem Lehrer kam ich in der Pause mal über Ringelnatz ins Gespräch und über die Schwierigkeit, von ihm Gedrucktes zu erhalten. Daraufhin bot er mir eine noch gar nicht so alte Auswahl von Ringelnatz-Gedichten einer kürzlich erschienenen Buchausgabe zum Ladenpreis an. Er hatte das Buch doppelt, und es steht jetzt noch in meinem Bücherschrank.

Gut, nun hatte ich sie ja in der Hand, unsere Klassenbücher. Wie weiter?

Ich stieg auf den geräumigen Dachboden unseres Hauses mit seinen Schränken und Regalen. Ich suchte, ich wühlte mich durch Stapel alter Bücher, blickte kurz in meine Dissertationsschrift, verweilte bei alten Texten des Dramatischen Zirkels unsrer EOS und dann fand ich sie – meine Tagebücher. Leider waren von ehemals drei Heften nur noch zwei vorhanden. Das eine vom 30.12.1963 bis 30. 9.1964, das andere vom 12.7.1965 bis 8.6.1967. Dazwischen fehlen also etwa 10 Monate.

Einer Idee von Wolfgang U. folgend, meines Freundes aus der damaligen Zeit, hatte ich schon vor einigen Monaten, bevor ich dieses hier schrieb, per E-Mail bei allen Klassenkameraden angefragt, ob sie wohl bei meinem Vorhaben mitwirken möchten. Die Adressen hatte ich mir beim letzten Klassentreffen geben lassen. Immerhin 18 bekundeten sofort Zustimmung. Das macht Mut! Wir könnten uns also ergänzen.

Ja, dann ist da noch diese herrliche Errungenschaft des Internets mit seinen vielen Möglichkeiten zum Erhalten von Auskünften vielerlei Art. Heureka!

Kapitel 3: 1963 – der Beginn unserer Zeit an der Erweiterten Oberschule – in welcher Zeit?

Wie war nun diese, unsere Zeit? Die Zeit der 1948 oder 1949, im Gründungsjahr dieser zwei deutschen Staaten Geborenen? Wie beeinflussten die damaligen Verhältnisse unser Umfeld, nicht zuletzt unsere Eltern und Lehrer, und natürlich vor allem uns Schüler? Es war die Zeit der Ost-West-Konfrontation, die auch die beiden deutschen Teilstaaten mit einbezog. Der Meinungen hierzu gibt es viele.

Auch ich habe versucht und versuche es immer wieder, mir dazu eine eigene Meinung zu bilden. Das ist nicht einfach im pluralistisch geprägten deutschen Gesellschaftssystem, dessen Vielfalt aber nicht selten Einschränkungen unterliegt. Also nutze ich die Möglichkeiten des Internets von heute, um mehr zu erfahren über gestern, versuche mich hineinzuversetzen in diese Zeit.

Ich rechne nach: Der Beginn unseres Lernens an der Erweiterten Oberschule „Rainer Fetscher“ in Pirna war gut 18 Jahre nach Beendigung des 2. Weltkrieges, nach Zusammenbruch des Naziregimes in Deutschland, nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am achten Mai 1945. Heute sind seit der Wiedervereinigung Deutschlands über 25 Jahre vergangen. Ist das nun viel oder wenig?

Nach dem Ende des sogenannten Dritten Reiches installierten die Siegermächte USA, Großbritannien und Frankreich in ihren deutschen Besatzungsgebieten eine parlamentarische Demokratie, die Sowjetunion in ihrem Herrschaftsbereich die Diktatur der Arbeiterklasse und ihrer führenden Partei nach sowjetischem Vorbild.

Im September 1947 trafen sich Briten und Amerikaner (die sogenannte Bizone) und einigten sich, ohne Anwesenheit von Deutschen, auf die schnelle Gründung eines Staates nach Vorgaben der westlichen Alliierten. Am 23. Mai 1949 wurde aus den drei westlichen Besatzungszonen die Bundesrepublik Deutschland gegründet, am 7. Oktober 1949 aus der sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik.

In der Bundesrepublik führte Adenauer mit seinen Parteifreunden konsequent die westliche Politik weiter, unter Vermeidung jeglicher Möglichkeiten zur innerdeutschen Verständigung. Motto: Teile und herrsche. Dem trug dann auch die sogenannte Hallstein-Doktrin (1955 bis 1969) Rechnung. Erst die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt gab diese Doktrin auf, die immer schwieriger zu handhaben war und die bundesdeutsche Außenpolitik schließlich beschränkte.

Grundlage der Doktrin war der Alleinvertretungsanspruch der BRD, die Auffassung, dass die Bundesrepublik die einzige legitime Vertretung des deutschen Volkes nach 1945 sei. Dass nur die Bundesrepublik Deutschland die Deutschen international vertreten dürfe und es auch nur eine deutsche Staatsangehörigkeit gäbe, wurde aus der damaligen Präambel des Grundgesetzes der BRD abgeleitet. Eine seltsame Auffassung.

Während die Bundesrepublik Deutschland mit westlicher Hilfe, siehe Marshall-Plan, ihre Wirtschaft zügig wieder aufbauen konnte, hatte die DDR unter Herrschaft der unter den Kriegsfolgen erheblich leidenden Sowjetunion die weit größeren Reparationsleistungen zu bringen und wurde zusätzlich durch westliches Wirtschaftsembargo in ihrer Entwicklung behindert. Letztlich wirkte sich die Ost-West-Konfrontation, seit 1947 laut Truman-Doktrin als „Kalter Krieg“ bezeichnet, verheerend auf die innerdeutschen Beziehungen aus. Die Auseinandersetzung zwischen den deutschen Teilstaaten wurde von beiden Seiten mit allen Mitteln geführt.

Ein weiteres Werk der vier Siegemächte USA, Frankreich, Großbritannien, UdSSR und ihrer Konfrontationspolitik nach 1945, die das besiegte Deutschland einbezog, war die geteilte Stadt Berlin inmitten der sowjetischen Besatzungszone und damit der späteren DDR. Die Teilung Berlins war also längst vollzogen, als 1961 die Mauer errichtet wurde. Das ging dann zu Lasten vor allem der Berliner Bevölkerung, ob nun in West oder Ost.

Abschließend noch einige, die 1960er Jahre prägende Ereignisse:

BRD - 1963 Ende Ära Adenauer, 1966/67 Bildung Große Koalition mit dem Ziel Beendigung der Wirtschaftskrise, Spiegelaffäre, Infragestellung von Staat, Gesellschaft, Werten (68er-Bewegung), Entstehung staatlicher Investitionsprogramme, „Wohlstand mit kleinen Schönheitsfehlern“.

DDR - Neues ökonomisches System, neues Strafrecht, neue Verfassung, neue Jugend- und Bildungspolitik , zunächst kulturelle Liberalisierung, dann Restriktionen mit dem 11. Plenum des ZK der SED 1965 (kultureller Kahlschlag), Abschluss der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft 1960, teilweise Versorgungsprobleme (Butter, Fleisch Anfang 1960er Jahre), dritte Hochschulreform 1966/1967.

Das alles habe ich heute aus Büchern oder aus Veröffentlichungen im Internet erfahren. Damals, zu Beginn der 1960er Jahre, war mir davon sehr wenig bekannt oder gar bewusst. Mit 14 oder 15 Jahren hatte man ja auch wirklich andere Sorgen und Probleme – Mädchen, Taschengeld, Klassenarbeiten in ungeliebten Fächern wie Mathematik und manches andere noch. Trotzdem, das sagt mir die Erinnerung, gab es Gespräche über „früher“.

Blitzlichter von damals :

– Erzählungen meines Vaters über seine Ausbildung bei der deutschen Wehrmacht als Waffenmeister bei der Luftwaffe. Da gab es einige lustige Anekdoten. Auch erinnere ich mich an die Erzählung über Tauschbeziehungen von Waren zwischen der russischen Bevölkerung und den Soldaten, also z. B. Glühlampe gegen Eier. Ausschreitungen der deutschen Besatzer hatte Vater nicht erlebt. Dann Berichte über Entlassung aus der Wehrmacht und Flucht im Mai 1945 in irgendwie besorgten Schlosseranzügen gemeinsam mit einem Kameraden.

– Irgendwann in den 50er Jahren brachte mal der Postbote einen Brief mit Westberliner Privatadresse. Ich war mächtig gespannt auf den Inhalt. Was aber machte mein Vater? Er warf den ungeöffneten Brief ins Ofenfeuer. Ich habe nie erfahren, warum.

– Mutter berichtete darüber, in welchem Zustand ihr Vater, mein Opa, im Alter von etwa 50 Jahren aus in der Tschechei erfolgter Gefangenschaft zurückkehrte.

- Es gab Hinweise, wie unscheinbare Mitbürger plötzlich zu Verfolgten des Naziregimes wurden, über den Zusammen- und Umbruch überhaupt. Mit Bedauern nahm ich zur Kenntnis, dass das Tesching der Familie, ein Kleinkalibergewehr mit geringer Reichweite und Durchschlagskraft für sportliches Schießen, nach Kriegsende abgeliefert werden musste. Gern hätte ich so etwas besessen. Auch wurde über Mangel an Nahrungsmitteln berichtet und über das Roden von Stubben, also Baumwurzeln, von für Reparationen an die Sowjetunion gefällten Bäumen im stadtnahen Forst. So begegnete man damals dem Mangel an Brennmaterial in den sehr kalten Nachkriegswintern.

– Erinnerungen an den 13. August 1961? Das muss ein Sonntag gewesen sein, und der alte Kalender von damals bestätigt das. Mit meinen Eltern hörte ich beim Frühstück die Nachrichten. Ich glaube, so richtig verstanden hat keiner von uns, was diese Zementierung der schon vorhandenen Berlin-Teilung bedeutete – für die Menschen in Berlin, für die Wechselstubenbetreiber an der Sektorengrenze, für die Spionageorganisationen in Ost und West, für die Beziehungen zwischen den zwei Deutschlands überhaupt, damals und in der weiteren Zukunft.

Dietrich meint aus heutiger Sicht: „Mauerbau wurde wohl mit den Eltern am Radio verfolgt, aber Konsequenzen hatte das nicht merklich. Die Westverwandtschaft besuchte uns weiter regelmäßig (geschätzt alle zwei bis vier Jahre)“.- Das war in der Dresdener Region, damals Bezirk Dresden. Nicht nur die Berliner haben das ganz anders gesehen. Meine angetraute strengste Kritikerin, aus der Zwickauer Gegend mit hervorragendem Westfernsehempfang stammend, hat da schlimmere Erinnerungen: Angst vor dem militärischen Eingreifen der USA, Mangel an Grundnahrungsmitteln in den Geschäften wegen Angstkäufen. Die Kriegs- und Nachkriegserlebnisse bei unseren Eltern waren noch frisch!

Am 30.12.63 notiere ich in meinem Tagebuch: „Es soll endlich Frieden werden auf der Erde. Warum soll unsere Regierung nicht auch einige Zugeständnisse machen, wenn sie diese immer von Westdeutschland verlangt? Dieses Weihnachten und Silvester dürfen Westberliner nach Ostberlin, aber Ostberliner nicht nach Westberlin.“ 28 Monate nach der nun vollkommenen Teilung der Stadt war es West-Berlinern gestattet, Ost-Berliner Verwandte zwischen dem 19. Dezember 1963 und dem 5. Januar 1964 zu besuchen. Die Ostberliner aber hatten zu Hause zu bleiben.

– Wenn wir die Familie der Schwester meiner Mutter in Dresden besuchten, gab es zwischen Schwager und Schwägerin oft heftige Debatten politischer Art, die meistens erst durch energisches Einschreiten von Vater und Tante beendet wurden. Ich denke, Frauen hatten für die komplizierten Verhältnisse damals die empfindlichere Antenne. Sie waren ja mit der nicht immer einfachen Versorgungslage oft sehr direkt konfrontiert, nämlich wenn`s um das Essen ging. Erst 1958 konnten in der DDR die Lebensmittelzuteilungsmarken abgeschafft werden.

– Onkel stand einem Eintritt in die SED mal ziemlich nahe. Wenn er das mache, brauche er gar nicht erst nach Hause kommen, teilte ihm Tante resolut ihre Meinung mit. Nun, als vernünftiger Ehemann richtete er sich danach und blieb parteilos. – Ich habe das so miterlebt und gehört, hatte aber als damals pubertierender Jüngling bei weitem kein Interesse an diesen Auseinandersetzungen.

1955 wurde ich in eine kleine Landschule eingeschult, vier Klassenstufen in zwei Zimmern, dazu zwei Lehrerinnen, an die man sich immer wieder gern erinnert – Frau Hauptmann und Frau Fischer. Insgesamt werden wir um die 50 Schüler in dieser Schule gewesen sein. Ich wurde ganz selbstverständlich Jungpionier und fand an den zehn Geboten für Jungpioniere (Ja wirklich, zehn Gebote wie in der Bibel, so vergewissere ich mich heute!) auch nichts auszusetzen. Wenn ich sie mir heute durchlese, finde ich acht davon immer noch sehr vernünftig, über den Rest kann man sicher geteilter Meinung sein.

„Wir Jungpioniere lieben unsere Deutsche Demokratische Republik.

Wir Jungpioniere  lieben unsere Eltern.

Wir Jungpioniere lieben den Frieden.

Wir Jungpioniere halten Freundschaft mit den Kindern der Sowjetunion und aller Länder.

Wir Jungpioniere lernen fleißig, sind ordentlich und diszipliniert.

Wir Jungpioniere achten alle arbeitenden Menschen und helfen überall tüchtig mit.

Wir Jungpioniere sind gute Freunde und helfen einander.

Wir Jungpioniere singen und tanzen, spielen und basteln gern.

Wir Jungpioniere treiben Sport und halten unseren Körper sauber und gesund.

Wir Jungpioniere tragen mit Stolz unser blaues Halstuch.

Wir bereiten uns darauf vor, gute Thälmannpioniere zu werden“

(Die Gebote der Jungpioniere, in: documentArchiv.de)

Ja, ich war und bin ein Kind der Zeit in der DDR. Ich sang mit Begeisterung „Pioniere voran“ oder „Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer“.

Gleichzeitig besuchte ich ab erste Klasse auch den Religionsunterricht, der einmal wöchentlich im Schulgebäude stattfand. Wohl eine Katechetin hatte die Elternhäuser aufgesucht und gefragt, ob an dem Unterricht Interesse bestünde. Meine Eltern hatten nichts dagegen, ich auch nicht, als sie mich fragten. Und so kam dann einmal in der Woche für ein oder zwei Stunden ein Fräulein Philip in unsere Schule, erzählte von der biblischen Geschichte, sang mit uns kirchliche Lieder und teilte öfter mal bunte Bildchen aus.

Nach vier Jahren, also 1959, wechselte ich dann mit den weniger als zehn Mitschülern meiner Klasse an die „Zehnklassige Polytechnische Oberschule Johann Heinrich Pestalozzi“ nach Pirna-Copitz. Damit wurde nun der Schulweg länger und mit mehr Stunden Unterricht auch die Freizeit weniger. Zu Reli (Religionsunterricht) hätte ich dann extra noch einmal nach dem Unterricht fahren müssen, und dazu hatte ich einfach keine Lust. Außerdem fand ich die uns erzählten Geschichten nun doch sehr märchenhaft und sah nicht ein, hier meine Zeit weiter zu verbringen. Auch dabei legten mir meine Eltern keinen Stein in den Weg, und so wurde ich mit der Zeit überzeugter Atheist.

In der neuen Schule erfolgte dann der Wechsel von den Jung- zu den Thälmannpionieren mehr oder weniger automatisch. Sicher wurde uns das irgendwie in passender Umrahmung mitgeteilt, aber nachhaltigen Eindruck hat das nicht hinterlassen. Auch konnten wir damals unser blaues Halstuch behalten und mussten kein rotes Tuch tragen, wie die Pioniere in der überall präsenten Sowjetunion. Das war dann irgendwann in den 1970ern bei uns genauso und wurde von mir durchaus kritisch gesehen. Die „11 Gesetze der Thälmannpioniere“ habe ich eigentlich erst heute so richtig wahrgenommen und finde sie auch aus jetziger Sicht in ihrem Inhalt nicht anstößig.

Der Wechsel von den Thälmannpionieren in die FDJ, also die „Freie Deutsche Jugend“, war ebenfalls wenig spektakulär. Sicher gab es da eine feierliche Veranstaltung, einen Appell oder ähnliches, aber Erinnerung ist heute nicht mehr vorhanden.

In unserem Klassenbuch lesend finde ich bei jedem Mitschüler den Vermerk über Mitgliedschaft in der FDJ. Das gehörte eben dazu.

Rudi meint zu diesem Thema: „Um es zu sagen, mit der DDR und ihrer Ideologie hatten wir in der Familie nichts am Hut. Meine Eltern hatten als Bauern mit der Zwangskollektivierung große Probleme, da sie als Vertriebene aus Schlesien wenige Jahre vorher schon alles verloren hatten. Ich war auch nicht in den Jungen Pionieren und unser Klassenlehrer hat mir ins Zeugnis geschrieben, dass ich mich um einen Klassenstandpunkt bemühe. Aber um die FDJ ist man ja nicht herum gekommen, wenn man nicht völlig anecken wollte. Als Kind eines (LPG)Bauern hat man mir vielleicht etwas mehr verziehen.“

Mitschülerin Sabine: „FDJ kam automatisch mit dem Schulbesuch, habe erst in Pirna die FDJ-Bluse gekauft.“

Dietrich hat folgende Erinnerung: „Ein paar missgünstige Mädchen wollten mir den Beitritt zur FDJ und damit zur EOS vereiteln oder erschweren. Mein Eigenbrödlertum wurde als egoistischer Lernstil bezeichnet. Naja, als Handwerkersohn mit starker Kirchenbindung war man dort nicht willkommen. Aber irgendwie haben das meine Eltern hingekriegt… Zur Einführung in die EOS kam ich im weißen Hemd, weil es kein FDJ-Hemd in meiner Größe bzw. Kleinheit gab.“

Ingrid denkt gern an ihre Grundschulzeit in Rottwerndorf: „... auch an meine Ganztagsschulphase, damals eine Art Schulversuch, mit vielen wunderbaren und wertvollen Nachmittagsveranstaltungen in der Natur, im Pionierhaus und bei Wettbewerben der ,Jungen Naturforscher‘ oder der ,Jungen Gärtner‘ im Kreis. Obwohl ich erst mit Verspätung in die Pionierorganisation eingetreten bin, habe ich keinerlei Druck gespürt. Vielleicht wollte ich einfach dazugehören. FDJlerin bin ich auch erst in der EOS geworden.“

Reinhard bemerkt: „Es stand für mich, ich glaube schon von der Schuleinführung an fest: Das Ganze endet mit dem Abitur. Das sahen die Eltern so und die Großeltern und überhaupt die ganze Familie. Und ich hatte das auch verinnerlicht als braver Junge, also immer möglichst Einsen schreiben, eine Drei war schon Katastrophe. Der Druck hat mich auch arg genervt, denn so genial war ich nicht, die guten Zensuren immer nur aus dem Handgelenk zu schütteln. Also fleißig sein! Der Druck ist mir heute noch eigen, und so nervig er sein kann, er diszipliniert halt und das ist meist gar nicht so schlecht.“

„Auf mein eigentlich halbwegs ordentliches Abi habe ich mir später wenig eingebildet, war schließlich die mir selbst und von der Familie verordnete Pflichtübung. Übrigens muss ich bemerken, kein Schwein hat je SED-Mitgliedschaft gefordert. FDJ, ja das war ja normal, das hatte schon gar nichts mit Bekenntnis zu tun, war halt so, basta --- wenn ich da heute lese, A. Merkel war mal Agitprop-Sekretär in der Studiengruppe --- hahaha (als sei das was Politisches, das war das Allgemein-Blabla).“

FDJ-Mitgliedschaft, das war halt so. War das Zwang? In gewisser Weise schon. Bei Weigerung waren ellenlange Diskussionen absehbar. Wer aber wollte sich diesen Stress machen, um ein geflügeltes Wort von heute zu benutzen. Also wurde man eben Mitglied, zumal der Monatsbeitrag von 30 Pfennig das Taschengeld nicht weiter belastete. Ich selbst habe das eher als nicht abwendbare Pflicht, nicht als Zwang empfunden, andere vielleicht doch. Aber darüber wurde eigentlich nicht gesprochen.

Organisiert war die FDJ zunächst auf Klassenebene.

Jede Klasse bildete eine FDJ-Gruppe, die wieder eine Leitung brauchte. Diese bestand aus dem Vorsitzenden der Gruppenleitung, seinem Stellvertreter, dem Kassierer (für den monatlichen Mitgliedsbeitrag), dem Wandzeitungsredakteur (eine Wandzeitung mit möglichst aktuellen Themen gehörte ins Klassenzimmer)….

Vorsitzender war ein unbeliebter Posten, weil man damit der erste Ansprechpartner für den Klassenlehrer war. Das war dann meistens mit Arbeit verbunden. Stellvertreter war da schon günstiger. Man hatte ja einen Chef. Ein Jahr war ich wohl Vorsitzender, dann mal Stellvertreter, dann zum Glück auch mal nichts.

Außerdem gab es noch eine FDJ-Leitung im Internat und eine für die Schule selbst. Das war die Grundorganisationsleitung, kurz GOL. An letztere habe ich keinerlei Erinnerung mehr. Da scheint es nicht viel gegeben zu haben.

Dieter hilft mir weiter: „Ja, ich war Mitglied in der FDJ-Leitung der Schule, anfangs ZSGL (zentrale Schulgruppenleitung) und dann GOL (Grundorganisationsleitung). Ich weiß nicht mehr, ob jede Klasse vertreten war, aber auf jeden Fall waren neben unserer Klasse auch die B1 und die B3 vertreten. Wir haben uns dort regelmäßig getroffen und Probleme, die über die Klassen hinausgingen, besprochen. Ein Ausspruch unseres Klassenlehrers war doch immer: ,Kann man das nicht mal in der GOL besprechen?‘ Aber Näheres fällt mir auch nicht mehr ein.“

Ich befrage auch hier wieder mein Tagebuch:

– Montag, 6.4.64: „Wir hatten heute eine Versammlung, das heißt Vertreter aller Gruppenräte. Es dauerte nur 15 Minuten. Wir erhielten Anweisungen für die weiteren Vorbereitungen zum Deutschlandtreffen.“

Ich weiß nur noch, dass da Ingolf hingefahren ist. War das so, Ingolf? – „Ja, das stimmt sogar, dass ich zu diesem Deutschlandtreffen war, nämlich von der GST-Seesport in Matrosenkluft!“

 – Donnerstag, 17.9.64: „Heute früh haben wir in der Organisationsstunde über die Ausgestaltung unserer Wandzeitung diskutiert. Es ging hoch her. … Einige Lehrer regten sich über die Wandzeitung über Film auf, die Rudi gestaltete. Und zwar zeigte er da meistens mehr oder weniger bekleidete Frauen. Darum die Diskussion.“… „Was haben wir in den 45 Minuten erreicht? Eine Wandzeitung für Tokio, danach eine über Technik ...“

Stimmt ja, die Klasse bzw. die FDJ-Gruppe musste regelmäßig eine aktuelle Wandzeitung gestalten. Da war eben auch der Rudi mal dran und hat seinem Affen Zucker gegeben. Keine Ahnung, wo er die Bildchen her hatte. Als nächste Themen waren dann die Olympischen Sommerspiele in Tokio vorgesehen und ein Thema über Technik, also etwas unverfängliches. Und was die Olympischen Spiele betrifft, da war die Medaillenausbeute damals genauso wichtig wie heute.

– Dienstag, 22.9.64: „Wir hatten heute Gruppenleitungswahl. Unser Klassenlehrer wollte mich gern als Vorsitzenden vordirigieren, hat es aber glücklicherweise nicht geschafft.“

Na ja, der Klassenlehrer hat da natürlich auch seinen Einfluss wahrzunehmen versucht, wenn die jährliche Wahl der FDJ-Leitung der Klasse durchgezogen werden musste. Das funktionierte aber nicht immer so. Und weil der Chefposten doch mit Arbeit und manchmal nicht so erfreulichen Dingen verbunden war, wollte das auch keiner gern machen.

– Sonnabend, 18.9.65: „Heute früh Gruppenleitungswahl. Es ging hoch her, denn keiner wollte den Vorsitzenden machen. Ich lehnte auch ab. Als schließlich über Rüdiger abgestimmt wurde, waren nur zwei oder drei dagegen. Da Rüdiger schlecht nein sagen kann, war die Sache für diesmal problemlos gelaufen.“

Die Begeisterung für unsere Jugendorganisation hielt sich also in Grenzen. Das Blauhemd wurde angezogen, wenn es unumgänglich war. Die Teilnahme an offiziellen Veranstaltungen ließ man über sich ergehen. Auch hier gibt mein Tagebuch Auskunft über die Befindlichkeiten:

– Montag, 7.3.66: „Heute war ja 20. Jahrestag der FDJ der DDR. Jede Klasse hatte früh für sich eine Feierstunde. Wir haben darüber diskutiert, warum die FDJ-Arbeit so nachgelassen hat. Dieter hat seinen Aufsatz über dieses Thema vorgelesen. Für unsere Klasse haben wir uns vorgenommen: Baldige Fahrt ins Hallenbad nach Dresden, Tanz- bzw. Baudenabend übers Wochenende mit der 10B 6 oder einer 9. Klasse. Morgen wollen Rüdiger und ich Verhandlungen aufnehmen.“