Abschied vom kleinen Haus am Deich - Lurleen Kleinewig - E-Book
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Abschied vom kleinen Haus am Deich E-Book

Lurleen Kleinewig

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Beschreibung

Eine Ostfriesin mit schmerzhafter Vergangenheit und ein irischer Pferdeflüsterer kämpfen um ihre junge Liebe. Ein Roman, der ans Herz geht und behutsam zum Nachdenken anregt »Ich starrte unverwandt auf den Silberring an meinem Finger. Auf die winzigen Hände, die das Herz mit der Krone hielten. Liebe. Freundschaft. Loyalität. All das hatte ich in Enda gefunden.« Das irisch-ostfriesische Traumpaar Róisín und Enda ist glücklich miteinander. Doch selbst in der harmonischsten Beziehung läuft nicht immer alles glatt, vor allem wenn man Tiere hat. Das bekommt besonders Pferdeflüsterer Enda mit aller Härte zu spüren. Róisín kämpft zudem mit schmerzhaften Altlasten aus der Vergangenheit, die ihre Liebe zu Enda immer wieder auf die Probe stellen. Die lang geplante Reise nach Irland scheint der Schlüssel zur Lösung ihrer Probleme – doch auch auf der grünen Insel läuft nichts wie erhofft ... Von der Autorin Lurleen Kleinewig ist bereits der Roman »Das kleine Haus am Deich: Ein Nordsee-Roman« erschienen. »Ein Buch passend als Urlaubslektüre, lesen, träumen und abschalten.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Ein hervorragender Roman für den Urlaub vom Alltag.« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Wer Lust hat auf eine Gedankenreise von Ostfriesland nach Irland ist hier genau richtig.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Manfred Sommer

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Kapitel 1

Kapitel 1

»Steffen! Verdammt, du kleines Aas, was hast du jetzt wieder angestellt?«

Ich stand mitten in der hell erleuchteten Scheune und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Mein liebevoll gedeckter Tisch, an dem wir in weniger als einer Stunde mit unseren Freunden sitzen und Endas und meinen Geburtstag feiern wollten, war grausam verstümmelt worden. Steffen, das schwer erziehbare Shetlandpony meines Freundes, hatte kurzen Prozess mit der Deko und – viel schlimmer – dem Stangenweißbrot gemacht, das ich in einem Moment der Gedankenlosigkeit aus den Augen gelassen hatte, ohne vorher nachzusehen, ob der Unruhestifter sicher in seiner Box eingesperrt war. Jetzt kannte ich die Antwort.

Steffen kaute unterdessen voller Begeisterung an einem ganzen Baguette, behielt mich aber wohlweislich im Auge. Als ich mich ihm näherte, vollführte er einen Blitzstart und galoppierte mit dem Brot im Maul davon. Aber so leicht ließ ich ihn nicht entwischen. Wenn ich dich in die Finger kriege, dachte ich verbissen, während ich ihn im Zickzack durch die ganze Scheune verfolgte, dann mache ich Steffen-Fondue aus dir!

»Was ist denn hier los?« Enda stand auf der Schwelle zum Durchgang, der die Scheune vom Wohnhaus trennte, und starrte entgeistert auf die Szene, die sich ihm bot.

»Hilf mir, das kleine Mistvieh einzufangen«, fauchte ich über die Schulter und versuchte erfolglos, Steffen den Weg abzuschneiden. Er schlug Haken wie ein Hase. »Sonst hat er gleich ein ernsthaftes Problem mit mir …«

Enda verzog das Gesicht, als wolle er sich kaputtlachen, sah dann aber ein, dass er besser daran tat, sein freches Pony zur Räson zu bringen. Er stieß einen scharfen Pfiff aus, woraufhin Steffen eine Kehrtwendung machte und zu seinem Herrn und Meister trabte. Um mich schlug er dabei einen großen Bogen. Enda hielt ihn am Halfter fest und wand ihm die Baguettestange aus dem Maul, die fast so lang war wie das Pony selbst. Anschließend verfrachtete er den Übeltäter in seine Box.

»Hm, das Brot ist hin«, befand er, hielt mir den traurigen Rest des Baguettes unter die Nase und sah mich an. Und dann platzten wir los. Ich konnte mit niemandem so lachen wie mit Enda. Vielleicht war das einer der Gründe, warum ich mich ihm so verbunden fühlte.

Er legte mir den Arm um die Schultern und drückte mich an sich. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich und küsste mich aufs Haar. »Ich hätte daran denken müssen, ihn festzusetzen, bevor wir hier alles aufgebaut haben. Dummer Fehler.«

»Ach, was soll’s. Ich habe es ja auch vergessen. Wenn das Brot nicht reicht, essen wir eben mehr Chili.«

Ich hatte einen großen Topf Chili sin Carne für unsere Gäste gekocht, der wahrscheinlich für eine ganze Fußballmannschaft reichte, obwohl wir nur acht Leute sein würden. Sin Carne deshalb, weil ich und mittlerweile auch Enda vegan lebten. Außerdem gab es Glühwein – jede Menge Glühwein. Schließlich hatten wir Anfang Januar, und nachts herrschten zweistellige Minusgrade. Was wäre eine Scheunenparty bei diesem Wetter ohne heiße alkoholische Getränke?

Da von Steffen keine Gefahr mehr ausging, brachte ich rasch den Tisch in Ordnung, klaubte die Brotstangen, die unversehrt geblieben waren, vom Boden auf und drapierte Decken auf den Bänken. Dann eilte ich zurück ins Haus, um mich umzuziehen und zu schminken, auch wenn ich sowieso nur in Thermohose und mehreren dicken Pullis herumlaufen würde. Aber trotzdem, Party blieb Party. Ich war am Vortag fünfunddreißig geworden und somit exakt einen Tag lang genauso alt wie Enda, in dessen Geburtstag wir heute hineinfeiern wollten. Die Idee, eine rustikale Scheunenfete zu veranstalten, war uns spontan gekommen, als uns auffiel, dass wir in diesem Jahr an einem Wochenende Geburtstag hatten – ich am Freitag, er am Sonntag.

Die ersten Gäste, die eintrafen, waren Annika und Sean. Mein Chef und guter Freund hatte bereits angekündigt, dass er früh wieder gehen musste, weil er seinen Pub nicht allzu lange »ohne Aufsicht« lassen wollte. Eigentlich vertrat ihn einer seiner Brüder für einige Stunden, aber Sean vertraute nicht jedem und schon gar nicht seinem jüngsten Bruder. Noch dazu war Samstagabend, an dem normalerweise der höchste Umsatz der Woche generiert wurde. Da wollte Sean, Kontrollfreak, der er war, nichts dem Zufall überlassen.

Annika, meine Freundin und Arbeitskollegin aus dem Pub, die Endas Hof noch nicht kannte, war hellauf begeistert von der alten Gulfscheune, die Enda zum Pferdestall umgebaut hatte. Sie ließ sich jedes Pferd namentlich vorstellen und fragte mir Löcher in den Bauch, vor allem über Fern, meine kleine Stute mit dem schiefen Gesicht, die Enda und ich im letzten Sommer vor dem Schlachter bewahrt hatten. Sean und Enda probierten unterdessen schon mal den Glühwein.

Annika sah sich in der Scheune um und stieß mich dann verstohlen in die Seite. »Ich will ja nicht oberflächlich klingen, aber mit Enda hast du echt einen guten Fang gemacht«, wisperte sie mir zu.

Ich prustete los. »Glaub mir, das ist alles halb so glamourös, wie es aussieht. Es steckt vor allem harte Arbeit dahinter. Enda schuftet von früh bis spät.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen. Aber trotzdem – es gibt schlechtere Partien als einen Kerl mit eigenem Hof und Pferden, oder?«

»Hey, ich bin nicht deswegen mit ihm zusammen!«

»Weiß ich doch, du Nuss.«

Ich hatte Enda im vergangenen Sommer kennengelernt, als er gerade erst nach Ostfriesland gezogen war. Er war Ire und ein alter Freund von Sean. Die beiden hatten früher zusammen in einer WG gewohnt, als Sean – der gebürtiger Ostfriese war und eigentlich Sven hieß – noch in Irland gelebt hatte. Sean war es auch gewesen, der mich Enda vorgestellt hatte. Obwohl das nicht mal ein halbes Jahr zurücklag, hatten wir in dieser kurzen Zeit schon einiges zusammen erlebt. Aber ein Paar waren wir erst seit zwei Wochen, genauer gesagt, seit Heiligabend. Es kam mir immer noch ein bisschen unwirklich vor, auch wenn ich ganz sicher wusste, dass ich mit Enda den Richtigen getroffen hatte. Als wir uns begegnet waren, hatte ich in den Nachwehen einer gescheiterten Ehe und einer daraus resultierenden Sinnkrise festgesteckt wie in zähem Morast. Ohne Enda hätte ich wahrscheinlich nicht so bald den Weg zurück zu mir selbst und in ein neues Leben gefunden.

Mittlerweile waren auch die anderen Partygäste eingetroffen. Meine ältere Schwester Karen, die extra aus Bremen angereist war, hatte ihren Mann Lasse mitgebracht, einen hünenhaften blonden Kapitän, der den Großteil des Jahres auf den sieben Weltmeeren unterwegs war und den ich höchst selten zu Gesicht bekam. Ehrlich gesagt fragte ich mich manchmal, ob es ihr genauso ging. Funktionierte eine Ehe besser oder schlechter, wenn man sich nicht jeden Tag sah? Ich hatte sie nie danach gefragt.

Jedenfalls freute ich mich, dass Lasse diesmal dabei war. Ich wollte den beiden für die Nacht mein Minihaus überlassen und selbst bei Enda schlafen. Wenn man von Schlafen reden konnte … Schließlich hatte er Geburtstag, und ich hatte noch die eine oder andere Überraschung für ihn parat. Wir hatten ausgemacht, uns nichts zu schenken, sondern das Geld lieber für unseren Irlandtrip auszugeben, den wir im Frühjahr planten. Aber es gab natürlich noch andere Arten von Geschenken, besonders wenn man frisch verliebt war.

Tammo, der im nächstgelegenen Dorf wohnte und Enda gelegentlich auf dem Hof half, war mit seiner neuen Freundin gekommen, die ich noch nicht kannte. Sie hatte blaugrün gefärbtes Haar mit einem Undercut, trug diverse Piercings im Gesicht und war mindestens zehn Jahre jünger als ich. Allerdings war Tammo selbst mit Sicherheit noch keine dreißig. Ich hatte bisher nur wenig mit ihm zu tun gehabt, zumal er ziemlich wortkarg war. Seine Freundin wiederum schien das genaue Gegenteil zu sein, was ich äußerst witzig fand.

»Hi, ich bin Mari«, stellte sie sich mit heller Stimme vor. »Oder eigentlich Mariella, aber auf den Namen stehe ich nicht so. Dir gehört die Friesenstute, richtig? Tammo hat mir erzählt, dass du sie gekauft hast, damit sie nicht geschlachtet wird. Und dass du Veganerin bist. Das finde ich mega! Du musst unbedingt mal mit zu unserem Tierschutz-Stammtisch kommen, wir treffen uns einmal im Monat. Sind lauter Aktivisten dabei. Wir organisieren Demos, Mahnwachen und so was, aber in erster Linie helfen wir missbrauchten und vernachlässigten Tieren und suchen ihnen ein neues Zuhause. Dafür haben wir extra einen Verein gegründet. Ich bin die erste Vorsitzende.«

»Wow!« Ich war beeindruckt. »Darüber wüsste ich gern mehr.«

Während ich Glühwein – und Tee für die Fahrer – ausschenkte und Chili auf den Tellern verteilte, berichtete Mari mir ausführlich von ihren Tierschutzaktivitäten. Ich merkte, dass Annika, die neben mir saß, sich bisweilen das Lachen verkniff, aber ich war ganz Ohr. Ich steckte voller Bewunderung für Menschen, die sich so leidenschaftlich für Tiere engagierten.

Es stellte sich heraus, dass Mari und ich beide das Buch »Tiere essen« von Jonathan Safran Foer gelesen hatten, eine ziemlich aufrüttelnde Lektüre über Fleischkonsum und die Motive dafür. Mari erzählte mir daraufhin, wie sie als Austauschschülerin in den USA und später auch in Deutschland in Tiermastanlagen eingestiegen war wie Safran Foer selbst.

»Wenn du da wieder rauskommst, bist du ein anderer Mensch«, behauptete sie. »Wir konnten jedes Mal nur wenige Tiere retten, aber jedes Einzelne von ihnen war das Risiko wert.«

Mein Respekt vor ihr stieg ins Unermessliche.

Es wurde ein großartiger Abend. Obwohl wir nicht sehr zahlreich waren und sich nicht alle untereinander kannten, war die Stimmung bestens, und die Gespräche rissen nicht ab. Die Pferde streckten ihre Köpfe über die Boxentüren und wunderten sich wahrscheinlich, warum ein Haufen Menschen an Bierzeltgarnituren mitten in ihrem Stall saß und Lärm machte.

Als der Glühwein langsam zu wirken begann, hatte das Pony Steffen seinen zweiten großen Auftritt an diesem Tag. Enda hatte der Runde von seinem dreisten Brotklau erzählt, woraufhin Lasse sich erhob und den kleinen Unruhestifter aus seiner Box ließ. Steffen trabte schnurstracks zum Tisch und hätte ihn mit Sicherheit noch einmal abgeräumt, wenn Enda ihn nicht davon abgehalten hätte. Um ihn abzulenken, ließ er ihn diverse Kunststücke vorführen. Die Freiheitsdressur war neben dem Fressen eine weitere große Leidenschaft des Ponys. Der kleine Kerl war unglaublich gelehrig und beherrschte so ziemlich alles, was das Repertoire hergab, inklusive Steigen, Liegen, Sitzen und Spanischen Schritt. Als er sich dann auch noch von Enda »erschießen« ließ, flippte das Publikum schier aus vor Entzücken.

Steffen spielte seine Rolle als totes Pferd wie ein Profi. Erst nach einer Minute erhob er sich wieder, schüttelte selbstgefällig seine zottige Mähne und folgte Mari, die ein großes Stück Baguette in der Hand hielt, zurück in seine Box.

»Ich ziehe heute noch bei euch ein«, verkündete sie mit leuchtenden Augen, als sie sich wieder an den Tisch setzte.

»Kein Problem. Steffens Box ist groß genug«, erwiderte Enda trocken.

Es war ein besonderes und auch etwas seltsames Gefühl für mich, ihm um Mitternacht zu seinem sechsunddreißigsten Geburtstag zu gratulieren. Alles, was es zu feiern galt, erlebten wir zum ersten Mal gemeinsam. Es fiel mir zeitweise noch schwer zu glauben, dass mein Leben diese Wendung genommen hatte. Noch vor wenigen Monaten hätte ich im Traum nicht erwartet, dass ich jemals wieder so glücklich – und hoffnungslos verknallt – sein würde.

»Mit dir habe ich später noch was vor«, raunte Enda mir ins Ohr, als ich ihn stürmisch umarmte.

»Ach ja?« Ich grinste verschlagen. »Das trifft sich gut, ich mit dir nämlich auch.«

»Hat es zufällig was mit Sex zu tun?«

»Ich würde sagen, es hat eine Menge mit Sex zu tun.«

Er hob mich hoch und küsste mich vor versammelter Mannschaft. Die anderen feixten. Ich wusste, dass sie sich für uns freuten, aber in diesem Moment hätte ich sie liebend gern alle zum Teufel geschickt, um mit Enda allein zu sein. Doch eine Weile mussten wir uns noch gedulden. Mit Ausnahme von Sean bewiesen unsere Gäste an diesem Abend Sitzfleisch, was dafür sprach, dass sie sich bei uns wohlfühlten. Es war schon fast halb drei, als sich mit Mari und Tammo die letzten verabschiedeten.

»Sieht so aus, als hättest du eine neue beste Freundin gefunden«, meinte Enda zu mir, als wir den beiden von der Haustür aus nachwinkten. »Sie trifft bestimmt nicht jeden Tag eine Gleichgesinnte.«

»Sie ist klasse«, gab ich zu. »Ich wünschte, ich wäre in dem Alter schon so mutig gewesen wie sie. Aber jetzt lass uns reingehen, ich erfriere gleich. Außerdem will ich Sex, und zwar sofort und nicht nur einmal.«

»Okaaay«, sagte Enda gedehnt und knallte die Haustür zu. »Bin dabei.«

Er drängte mich ohne viel Umstände in den nächstgelegenen Raum – das Wohnzimmer – und weiter bis zur Couch, auf der sich vom Vorabend Decken und Kissen in wildem Durcheinander türmten. Während ich mich rückwärts auf das Sofa fallen ließ, krallte ich meine Finger in Endas Sweater, sodass er das Gleichgewicht verlor und halb auf mir landete. Kichernd und knutschend sortierten wir unsere Gliedmaßen. Seine Küsse wurden zunehmend fordernder, und auch mein Puls stieg merklich. Wir trugen beide noch unsere dicken Stallklamotten, und es würde ewig dauern, all die Lagen auszuziehen. Wie ich uns kannte, würde es dazu gar nicht kommen. Allerdings konnte ein bisschen blanke Haut nicht schaden, fand ich, denn Enda war nackt eine Augenweide. Und obwohl ich ohne Kleider längst nicht so einen verlockenden Anblick bot wie er, wusste ich, dass er meine Meinung diesbezüglich ganz und gar nicht teilte. Also zogen und zerrten wir an unseren Pullis und Hosen, bis alles, was wir sehen und anfassen wollten, freigelegt war, ehe wir zur Sache kamen. Wie üblich war unser Verlangen nacheinander so groß, dass wir uns förmlich ineinander verkeilten, und in dieser Stellung bedeutete jede Bewegung eine süße Qual. Enda umschlang mich mit den Armen und bestimmte das Tempo; langsam, schneller, langsam. Dieses Spielchen beherrschte er hervorragend und brachte mich damit um den Verstand. Das Ende kam wie eine Explosion, die uns fast vom Sofa warf. Genau das liebte ich so an unserem Sex – das Ungestüme und Aufwühlende, die Intensität. Bevor ich Enda traf, war mein Liebesleben nicht der Rede wert gewesen. Manchmal fragte ich mich, ob die wilden Gefühle, das Herzklopfen sich je abnutzen würden, doch ich konnte es mir einfach nicht vorstellen.

Später, nachdem wir uns widerwillig angezogen und noch widerwilliger die Scheune aufgeräumt hatten, waren wir hundemüde. Es war mitten in der Nacht, und Schlaf war seit einigen Wochen Mangelware, denn Sex war fast immer wichtiger.

»Morgen früh gibt es noch eine Geburtstagsüberraschung«, verriet ich Enda, als wir endlich im Bett lagen und uns aneinanderkuschelten.

»Echt? Kann’s kaum erwarten«, brummte er und war ungefähr eine Sekunde später eingeschlafen.

Gemeinerweise war er derjenige, der sich beim Weckerklingeln um halb sieben aus dem Bett quälen musste, um die Pferde zu füttern. Ich tat so, als würde ich noch schlafen, doch kaum hörte ich ihn unten im Flur rumoren, schlüpfte ich leise unter der Decke hervor.

Als er eine knappe halbe Stunde später zurückkam, erwartete ihn Frühstück im Bett in Gestalt eines kleinen Kuchens in Herzform, den ich am Vortag gebacken hatte, einer brennenden Kerze, Sekt in langstieligen Gläsern und mir selbst, dekorativ verpackt in brandneuer und ziemlich heißer Unterwäsche.

»Guten Morgen, Mann aus dem Westen«, begrüßte ich ihn und rückte betont lasziv mein üppiges Dekolleté zurecht. »Hast du Bock auf Geburtstagsschweinereien?«

Enda starrte einen Augenblick lang ungläubig auf mein sorgfältig inszeniertes Arrangement, bevor sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.

»Was zur Hölle … Worauf du wetten kannst!« Er war mit zwei Schritten am Bett, zog mich zu sich hoch und küsste mich.

»Ich liebe dich, du scharfes Biest«, murmelte er und packte meinen Hintern. »Du bist die einzige Frau, die ich kenne, die sich schon am frühen Morgen in Reizwäsche einen Sekt reindreht, obwohl sie noch gar nicht richtig wach ist. Fuck, du bist so sexy!«

Insgeheim wünschte ich mir, unser Leben würde ewig so weitergehen – durchfeierte Nächte, Sex bis zum Abwinken, kein Alltag in Sicht. La dolce vita. Aber leider fragte mich niemand nach meinen Wünschen.

Bereits in der Woche nach unserer Scheunenparty steckten Enda und ich bis zum Hals in der Realität. Der Winter hatte uns fest im Griff. Besonders Enda hatte mit etlichen Ärgernissen zu kämpfen, angefangen mit eingefrorenen Wasserleitungen im Stall bis hin zu geplatzten Kundenterminen wegen des schlechten Wetters. Die Berittpferde konnten aufgrund des harten Bodens draußen nicht vernünftig trainiert werden, und sie jedes Mal zu verladen und in die Reithalle in der Stadt zu bringen war aus Zeit- und Witterungsgründen oft ein Ding der Unmöglichkeit.

Ich schob Überstunden bei der Arbeit, weil der Jahresbeginn in unserer Firma – einem großen Unternehmen, das Kunststoffe recycelte – grundsätzlich als heiße Phase galt. In meiner Abteilung, der Kundenbetreuung, war die Hölle los, und ich konnte vor lauter Termindruck kaum noch klar denken. Die Freitagabende, die ich bei Sean im Pub jobbte, waren in dieser anstrengenden Zeit bloß ein notwendiges Übel und raubten mir wertvolle Stunden, die ich lieber mit Enda, Fern oder meinen Katzen verbracht hätte.

Wir alle litten unter der Kälte, der Dunkelheit und dem Stress. Ich sehnte mich nach dem Sommer, nach hellen, langen Tagen, an denen das Leben so viel leichter zu sein schien, und dabei war noch tiefster Januar. Ich war noch nie ein Fan der kalten Jahreszeit gewesen, denn ich brauchte Licht und Wärme, um zu funktionieren. Selbst Enda, der normalerweise der entspannteste und ausgeglichenste Mensch war, den ich kannte, hatte plötzlich den einen oder anderen Durchhänger.

Glücklicherweise schafften wir es fast immer, uns gegenseitig aus unseren Tiefs herauszuholen. Wenn wir konnten, verkrochen wir uns an den Abenden früh ins Bett, kuschelten uns tief unter die Decke, redeten über alles, was uns bewegte, und schliefen miteinander. Diese Stunden voller Intimität und Begehren waren die beste Medizin. Sie schufen ein Band zwischen uns, das mich manchmal denken ließ, wir wären eine Person in zwei Körpern.

Es war das eine, jemandem körperlich nahezukommen. Aber sich dabei auch seelisch miteinander zu verbinden machte das Ganze tausendmal intensiver. Seit ich mit Enda eine Beziehung führte, wusste ich erst, warum mein Ex-Mann nicht mein Seelenzwilling gewesen war, auch wenn ich das viele Jahre lang geglaubt hatte. Wir waren fast ein Jahrzehnt lang verheiratet gewesen, aber so vertraut wie Enda, den ich erst seit wenigen Monaten kannte, war er mir zu keinem Zeitpunkt gewesen.

Als ich einmal mit Enda darüber sprach, dachte er eine Weile nach und erklärte es mir dann aus seiner Sicht: »Solange man keine echte emotionale Nähe zulässt, wird immer ein Rest von Unnahbarkeit bleiben. Auch Sex ist dann nicht viel mehr als ein rein körperlicher Akt. Als würde man mit angezogener Handbremse Auto fahren. Mit dir wäre mir das zu wenig.« Er grinste dreckig und flüsterte mir ins Ohr: »Es sei denn, wir schieben einfach nur eine schnelle geile Nummer. Das ist auch nicht zu verachten.«

Kapitel 2

Mitte Februar klarte das Wetter vorübergehend auf, und die Sonne ließ sich endlich wieder blicken. Es war eine absolute Wohltat nach all dem Grau und wie ein klitzekleiner Vorgeschmack auf den Frühling, der endlich in greifbare Nähe rückte.

An einem eisigen, aber strahlend schönen Sonntagmorgen brachten Enda und ich gemeinsam die Pferde nach draußen. Die Berittpferde standen bereits auf ihren Paddocks, als wir Pluto, Gondor und Fern zur großen Weide am Hof führten. Eigentlich kannten alle den Weg – Steffen war natürlich längst vorausgeprescht und wälzte sich übermütig im gefrorenen Gras –, aber Enda wollte sichergehen, dass niemand es zu eilig hatte und auf dem glatten Boden ausrutschte. Steffen war in dieser Hinsicht allerdings ein hoffnungsloser Fall.

Fern zockelte arglos neben mir her wie ein kleines Hündchen. Ich musste aufpassen, dass sie Pluto nicht zu nahe kam, der sich von Enda förmlich hinterherziehen ließ, während Gondor ungeduldig zur Weide strebte.

»Ich glaube, der Opa brütet irgendwas aus«, meinte Enda zu mir und warf Pluto einen besorgten Blick zu. »Er ist schon seit ein paar Tagen so lethargisch.«

Ich hatte Ferns schwere Lungenentzündung im letzten Herbst nur allzu gut im Gedächtnis und wehrte entsetzt ab: »Mal den Teufel nicht an die Wand. Hustet er denn? Oder hat er Fieber?«

Enda schüttelte den Kopf. »Weder das eine noch das andere. Vielleicht will er auch einfach nur in Ruhe Winterschlaf halten«, grinste er dann und nahm beiden Wallachen die Halfter ab, weil wir mittlerweile die Koppel erreicht hatten.

Ich schickte Fern mit einem liebevollen Klaps auf den Hintern hinter ihren beiden Kumpeln her. Steffen kam herangesaust und vollführte genau auf unserer Höhe einen ausgelassenen Bocksprung, wobei seine Hinterhufe meinen Arm nur um eine Handbreit verfehlten.

Ich war sprachlos, und sogar Enda fehlten die Worte. Lachen mussten wir trotzdem.

»Dieser kleine Satansbraten! Hat er dich etwa erwischt?« Enda schwankte zwischen Heiterkeit und Besorgnis.

»Nein nein, alles gut. Aber es hat nicht viel gefehlt. Den sticht echt der Hafer.«

»Er kriegt doch gar keinen.«

»Dann streich ihm das Heu.«

»Super Idee!«

Während wir noch kicherten, warf ich zufällig einen Blick zurück über die Schulter und blieb abrupt stehen. »Enda – Pluto …«

Vielleicht war es mein Tonfall, vielleicht der Ausdruck auf meinem Gesicht, der Enda herumfahren ließ. Ich war mir sicher, dass wir beide das Bild, das sich uns bot, bis ans Ende unseres Lebens mit uns herumtragen würden.

Pluto, der majestätische silberweiße Lipizzaner, Endas Pferdegefährte seit fast zwei Jahrzehnten, war auf der Wiese zusammengebrochen, keine fünfzig Meter von uns entfernt. Ich sah noch, wie er fiel, als hätte ihm jemand oder etwas die Beine unter dem Leib weggezogen. Dann lag er auf der Seite, ganz still, nur die Hinterbeine zuckten noch leise und krampfartig. Danach – nichts mehr.

Wir rannten gleichzeitig los. Enda besaß die Geistesgegenwart, im Laufen sein Handy aus der Tasche zu ziehen, um den Tierarzt anzurufen. Doch er tat es nicht. Es war zu spät. Ich wusste es in der Sekunde, als wir Pluto erreichten, dass kein Leben mehr in ihm war. Obwohl ich noch nie ein totes Pferd gesehen hatte, verriet mir mein Instinkt, dass für den alten Wallach jede Hilfe zu spät kam.

Enda fiel neben dem massigen Tier auf die Knie. Sein Gesicht war aschgrau, als er vergeblich versuchte, einen Puls oder Herzschlag ausfindig zu machen. Ich sackte in das eiskalte Gras, schlug die Hand vor den Mund und hatte einen Augenblick lang das schreckliche Gefühl, der Himmel würde sich drehen und auf uns stürzen.

Ich würde nie den Blick vergessen, mit dem Enda mich ansah, als er die Worte formulierte, die auch den allerletzten Funken Hoffnung in mir auslöschten.

»Er ist tot.« Seine Stimme klang ungläubig, beinahe erstaunt, als könnte er selbst nicht fassen, dass er das gerade gesagt hatte.

Ich war es, die nach endlosen Sekunden des Schweigens schließlich flüsterte: »Ruf den Tierarzt an. Trotzdem. Ruf ihn an.«

Enda sah mich nur an, mit diesem furchtbaren, leeren Ausdruck in den Augen, und holte mechanisch sein Handy wieder hervor. Während ich mit ihm darauf wartete, dass der diensthabende Arzt den Anruf entgegennahm, streichelte ich Pluto unablässig; seinen Kopf und den kräftigen Hals, der sich noch immer warm anfühlte. Mir war nicht bewusst, dass ich weinte, bis ich merkte, wie nass meine Hände waren.

Der Tierarzt traf innerhalb einer Viertelstunde ein. Wir hatten Glück, dass kein anderer Notfall dazwischenkam. Er horchte Pluto sorgfältig ab und schüttelte schließlich den Kopf.

»Es tut mir leid. So wie ihr es schildert, hat vermutlich das Herz versagt. Ihr konntet nichts tun. Wie alt war er?«

»Fünfundzwanzig«, sagte Enda tonlos.

Der Tierarzt sah ihn mitfühlend an. »Ich weiß, dass das kein Trost ist, aber er hat ein gutes Alter erreicht. Und daran gemessen, wie schnell er gestorben ist, hat er nicht gelitten. Um Genaueres zu erfahren, müsstest du ihn obduzieren lassen, aber ich nehme an, darauf wirst du verzichten.«

»Ja.« Endas Miene war wie versteinert.

Der Tierarzt sagte nichts weiter dazu. Er erlebte solche Fälle jeden Tag und war geübt darin, die Tragödien dahinter auszublenden. Aber für Enda war gerade eine Welt zusammengebrochen, und ich hatte keine Antwort auf die Frage, wie er damit umgehen würde.

Als der Arzt gegangen war, saßen wir noch eine Weile still auf dem gefrorenen Boden neben Plutos leblosem Körper. Es war wie eine Totenwache, und keiner von uns bewegte sich. Ich konnte nur mutmaßen, was Enda durch den Kopf ging. Vielleicht verabschiedete er sich im Stillen, vielleicht dachte er an die Vergangenheit. Er hatte Pluto vor fast zwanzig Jahren gekauft, als er beschlossen hatte, Berufsreiter zu werden. Das hatte er mir einmal erzählt. All diese Jahre waren die beiden unzertrennlich gewesen. Sie hatten gemeinsam trainiert, ihre professionelle Dressurausbildung bis zur höchsten Klasse durchlaufen, Wettkämpfe bestritten, in drei verschiedenen Ländern gelebt. Ich hatte eine ungefähre Ahnung davon, wie eng ihre Bindung gewesen sein musste. Und wie groß das Loch in Endas Herz jetzt war.

Ich hatte selber Tiere – Katzen – verloren und kannte die Verzweiflung und den Schmerz. Man trug einen Freund zu Grabe, und es tat nicht weniger weh, nur weil dieser Freund nicht menschlich war. Ich wusste auch, dass man diese Bürde allein schultern musste. Niemand konnte sie einem abnehmen, so sehr ich mir auch wünschte, dies für Enda tun zu können.

Irgendwann kroch die Kälte unter meine dicken Klamotten. Ich fror so sehr, dass meine Zähne aufeinander klapperten. Enda hob den Kopf und sah mich an, als erwache er aus einem Traum. Er streckte die Hand nach mir aus, und ich ergriff sie.

»Komm«, seine Stimme klang ganz fremd, »lass uns die Pferde auf die andere Weide bringen. Dann gehst du besser ins Haus. Vielleicht kannst du uns einen Kaffee machen.«

»Und was hast du vor?«

»Ich will eine Plane über ihn legen. Vor morgen früh wird ihn niemand abholen.«

»Oh … okay. Ich helfe dir.«

»Nein. Das ist etwas, das ich … allein tun will.«

Er sah so unendlich traurig aus, dass es mir fast das Herz brach. Ich drückte seine Hand, und dann kroch ich auf den Knien zu ihm und umarmte ihn. Er vergrub sein Gesicht an meinem Hals und hielt mich so fest, dass ich kaum atmen konnte. Ich schloss die Augen. Es gab nichts zu sagen.

Gondor und Fern standen am hinteren Ende der Koppel und beobachteten uns. Sie wirkten ruhig, aber wachsam. Steffen war nirgends zu sehen. Wir holten die Halfter und führten die beiden Rappen von der Weide, wobei wir an Pluto vorbeimussten. Fern starrte auf den am Boden liegenden Körper und schnaubte misstrauisch. Ich war mir nicht sicher, ob sie ihren besten Freund noch erkannte.

Es dauerte fast eine Stunde, bis Enda ins Haus kam. Ich hatte die ganze Zeit in der Küche an der Heizung gekauert und versucht, wieder warm zu werden, aber ich fror immer noch. Die Kälte schien sich in meinen Knochen festgesetzt zu haben und ließ sich nicht vertreiben.

Der Kaffee, den ich gemacht hatte, war längst kalt geworden. Ich kippte beide Becher in der Spüle aus, als ich Schritte im Flur hörte, und stellte den Kaffeeautomaten wieder an.

Enda sah fürchterlich aus. So niedergeschlagen hatte ich ihn noch nie erlebt. Sein sonst so lebhaftes Gesicht wirkte stumpf und eingefallen. Als er sich mit der vertrauten Geste die Haare hinter die Ohren schob, konnte ich sehen, dass seine Augen gerötet waren. Verdammt. Ich wollte nicht, dass er so litt. Aber es gab nichts, was ich tun konnte, außer für ihn da zu sein, wenn er es wollte. Trauer war etwas sehr Persönliches. Ich hatte da so meine Erfahrung.

Wenn man mit Tieren zusammenlebte, war man früher oder später gezwungen, Abschied zu nehmen. Ich wusste das, und Enda wusste es auch, aber das bedeutete nicht, dass es dadurch leichter wurde.

Plutos Tod schmerzte mich sehr. Ich hatte ihn oft versorgt, ihn geritten. Er war Ferns bester Freund gewesen. Aber all das war nicht sehr bedeutsam im Vergleich zu Endas Verlust.

Er ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen und sah mich an, sagte aber kein Wort. Ich ging zu ihm und fuhr ihm sanft durch die Haare.

»Hey«, sagte ich zärtlich. »Du musst halb erfroren sein. Willst du Kaffee?«

Er legte die Arme um meine Taille und drückte sein Gesicht an meine Brust. Keine Antwort.

Ich ließ ihn gewähren und hielt den Mund. Wenn er einfach nur meine Nähe brauchte, würde ich sie ihm geben. Und keine dummen Fragen stellen. Das schwor ich mir in jenem Augenblick.

In den Tagen und Wochen, die folgten, schien ich für Enda eine Art Rettungsanker zu sein, an den er sich klammerte. Dennoch war es … schwierig.

Es wäre falsch zu behaupten, dass dieses traurige Ereignis unsere Beziehung ernsthaft auf die Probe stellte, denn dafür waren wir uns zu nah. Aber Enda war nicht mehr er selbst. Sein heiteres und entspanntes Wesen war einer Düsternis gewichen, die ich nicht an ihm kannte. Er sprach wenig und schien die meiste Zeit mit den Gedanken woanders zu sein. Neben seiner Ernsthaftigkeit war sein Schweigen am schwersten zu ertragen.

Er machte weiter wie zuvor, arbeitete mit den Pferden, aß, schlief, verbrachte Zeit mit mir, aber ich hatte den Eindruck, dass er nur Routinen abspulte. Selbst wenn wir miteinander schliefen, fühlte es sich mechanisch an. Es war keine Freude dabei. Mehr als einmal wünschte ich mir, er würde die Kontrolle verlieren, schreien, heulen und alles kurz und klein schlagen. Aber abgesehen von der ersten Nacht nach Plutos Tod, als er in meinen Armen geweint hatte wie ein kleines Kind, behielt er seine Gefühle für sich. Er lebte wie unter einer Glocke. Ich wusste das, weil ich selbst schon an diesem Ort gewesen war. Und ich wusste, er brauchte Zeit. Aber ich machte mir Sorgen. Große Sorgen.

Eines Abends ertrug ich es nicht länger. Als er wie so oft in letzter Zeit völlig geistesabwesend neben mir lag und in die Luft starrte, fragte ich ihn geradeheraus: »Willst du darüber reden?«

Er antwortete nicht sofort. Schließlich erwiderte er, ohne mich dabei anzusehen: »Nein.«

»Willst du lieber allein sein?«

Wieder ließ er sich Zeit mit der Antwort. Dann sagte er: »Ich weiß es nicht.«

Ich stand auf, gab ihm einen Kuss auf die Stirn, setzte mich ins Auto und fuhr nach Hause. Ich war nicht sauer auf ihn, sondern einfach nur müde. Vielleicht tat es uns beiden gut, eine Nacht getrennt zu verbringen.

Eine halbe Stunde später stand er plötzlich vor meiner Tür. »Ich will nicht allein sein«, flüsterte er und presste mich so fest an sich, dass meine Rippen knackten. »Es tut mir leid. Ich liebe dich. Tu das nie wieder.«

»Ich liebe dich mehr. Was soll ich nie wieder tun?«

»Einfach so abhauen. Das ist ein schreckliches Gefühl.«

In dieser Nacht war unser Sex nicht mechanisch. Enda liebte mich mit einer fast verzweifelten Intensität. So sehr ich es auch genoss, so sehr beunruhigte es mich auch. Er war noch lange nicht über den Berg.

Während meiner nächsten Freitagsschicht im Pub traf ich Mari wieder, Tammos Freundin. Ich hatte sie zuletzt bei unserer Scheunenfete gesehen und freute mich, als sie mit einer Freundin zur Tür hereinkam und gleich auf mich zustürmte. In meiner Pause unterhielten wir uns. Sie hatte bereits von Tammo gehört, dass Pluto gestorben war, und schien ehrlich betrübt zu sein.

»Wie hat Enda es verkraftet?« wollte sie wissen. Seltsam, dass sie die Erste war, die danach fragte.

»Gar nicht«, antwortete ich düster. »Er läuft seitdem herum wie ein Schatten. Er funktioniert, aber er ist nicht mehr er selbst. Es ist jetzt fast fünf Wochen her, das ist nicht besonders viel Zeit. Vielleicht dauert es einfach, so lange es eben dauert … Ich weiß nur nicht, was ich tun kann, damit es ihm besser geht.«

Mari machte ein nachdenkliches Gesicht. »Du kannst nicht viel tun, schätze ich. Das muss er für sich allein verarbeiten.«

»Das stimmt. Aber er ist … depressiv, verstehst du? Nicht einfach nur deprimiert. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um ihn.« Ich merkte, wie gut es mir tat, endlich darüber reden zu können. Mari, die Tiere so sehr liebte, würde es verstehen.

Sie sah mich an, als würde ihr etwas durch den Kopf gehen. »Weißt du, das Einzige, was mir hilft, wenn ich wieder mal ein Tier verloren habe durch Krankheit oder Missbrauch, sind die anderen Tiere. Die vielen, die noch meine Hilfe brauchen. Neues Leben gegen den Tod, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ja«, sagte ich. »Ich verstehe.«

»Du wirst ihm kaum ein neues Pferd verschaffen können, richtig? Das wäre im Moment auch keine gute Lösung. Aber vielleicht etwas anderes, das ihn ablenkt und aus seinem Loch herausholt. Ich glaube, ich habe eine Idee, mit der nicht nur Enda geholfen wäre.«

Am nächsten Vormittag traf ich mich mit Mari vor einem gepflegten Einfamilienhaus in einem ruhigen Viertel der Stadt. Hier lebten überwiegend Familien. Ich wusste nicht genau, was mich erwartete, und Mari hielt sich bedeckt. »Vertrau mir«, sagte sie mit einem Augenzwinkern.

»Wo sind wir hier?« Ein bisschen mehr Information könnte nicht schaden, fand ich.

»Hier wohnt Eva«, erklärte Mari. »Sie ist eine der Pflegestellen unseres Vereins.«

In diesem Moment öffnete sich die Haustür, und eine freundliche, etwas gehetzt wirkende Frau um die vierzig begrüßte uns. »Moin, immer hereinspaziert! Mari, du kennst den Weg. Der Rote ist im kleinen Zimmer hinten links. Sorry, ich muss die Hühnchenteile wegräumen, die Katzen machen damit sonst kurzen Prozess.« Sprach’s und war schon wieder verschwunden.

Mari lachte in sich hinein. »Komm, ich möchte dir jemanden vorstellen.«

Sie öffnete die Tür zu einem Zimmer, das in warmen Orangetönen gestrichen war. Überall lag Katzenspielzeug herum. In einem Sessel am Fenster saß eine große, kräftige Katze, die sich erhob, als wir eintraten. Ihr rotes Fell passte farblich perfekt zu den Wänden. Sie hatte ein weißes Lätzchen und adrette weiße Söckchen an den Vorderpfoten. Auch die Schwanzspitze war weiß, wie ich feststellte. Als ich mich auf den Boden kniete, kam sie rasch herbeigelaufen und stieß dabei ein krächzendes Maunzen aus. Ohne Umschweife kletterte sie auf meine Oberschenkel, richtete sich an meiner Brust auf und stieß ihr Köpfchen gegen mein Kinn. Ihr Schnurren war so laut wie Donnergrollen. Ich wäre beinahe in Tränen ausgebrochen. Das war meine erste Begegnung mit dem Roten, wie Eva den Kater genannt hatte.

Mari stand schräg hinter mir und lächelte zufrieden.

»Ist er immer so …«

»… distanzlos? Betörend? Charmant? Ja, ist er.« Jetzt lachte sie. »Er liebt alles und jeden. Menschen, Hunde, andere Katzen. Pferde mit Sicherheit auch. Wir haben ihn kurz nach Weihnachten aufgelesen, halb erfroren und fast verhungert. Und guck ihn dir jetzt an. Er wurde letzte Woche kastriert und braucht dringend ein Zuhause. Allerdings kann man ihn nicht drinnen halten, er ist ein echter Wald- und Wiesenkater. Ein Hof wäre perfekt für ihn. Im Haus langweilt er sich und ist unglücklich. Frag Eva … Er hat hier schon einiges geschreddert, weil er seinen Freigang vermisst.«

Ich sah zu ihr hoch. »Wie heißt er?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Bis jetzt hat er keinen richtigen Namen. Tob dich aus.«

Ich strich bewundernd über das dichte Fell des Katers. »Guck mal, was für schicke rote Streifen er hat. Wie ein Tiger. Er heißt Red Stripes. Wenn es Enda nicht gefällt, kann er sich ja einen anderen Namen aussuchen.«

Mari quietschte laut auf vor Begeisterung. »Das heißt, du nimmst ihn mit?«

Red Stripes rieb sein Gesicht an meiner Wange und machte schnurrend Milchtritte auf meiner Brust. Ich seufzte. »Klar nehme ich ihn mit. Aber Enda hat das letzte Wort, vergiss das nicht.«

Eva lieh uns eine Transportbox, in die wir Red Stripes verfrachteten, nachdem ich mit Mari vereinbart hatte, dass wir den Schutzvertrag aufsetzen würden, sobald Enda sich entschloss, den Kater zu behalten. Der Hof brauchte eindeutig einen Mäusefänger, und ich hatte die leise Ahnung, dass eine pelzige, aufdringliche Knutschkugel wie Red Stripes Enda nachhaltig aufmuntern könnte. Ich wusste, dass er Katzen nach Pferden am liebsten mochte. Trotzdem war es nicht an mir, diese Entscheidung zu treffen.

Der Kater war ein vorbildlicher Autofahrer. Ich hatte seine Box neben mir auf dem Beifahrersitz festgeschnallt, und er starrte mich die ganze Zeit durch das Gitter hindurch an und schnurrte dabei. Wenn ich ihn ansprach, antwortete er. Was für ein Herzchen!

Ich legte einen kurzen Zwischenstopp am Minihaus ein, um Katzenfutter und andere nützliche Utensilien einzupacken. Dann fuhr ich schnurstracks zu Enda hinaus.

Als ich mit der Transportbox in der Hand die Scheune betrat, hörte ich ihn in der Futterkammer rumoren. Das traf sich hervorragend. Er rechnete erst abends mit mir, also konnte ich ihn überraschen.

»Hey«, sagte ich halblaut, als ich in den kleinen Raum kam. »Nicht erschrecken. Ich will nur deinen Körper, nicht dein Geld.«

Enda fuhr herum. Er lächelte erfreut, als er mich sah. »Hallo, Sexy. Was machst du hier?« Dann fiel sein Blick auf das verhüllte Etwas in meiner Hand. »Was ist das?«

Statt einer Antwort schloss ich die Tür zur Scheune, stellte die Box auf dem Futtertisch ab und nahm die Decke herunter. »Ich habe dir jemanden mitgebracht«, verkündete ich und öffnete die Gittertür. Vor lauter Aufregung klopfte mein Herz wie verrückt.

Red Stripes spazierte heraus und sah sich neugierig um. Dann entdeckte er den verblüfften Enda und ließ sein heiseres Maunzen ertönen. Enda streckte wie ferngesteuert die Hand aus, und der Kater lief zu ihm und versuchte sofort an ihm hochzuklettern. Enda nahm ihn auf den Arm, und Red Stripes legte ihm die Pfoten um den Hals, drückte sein feuchtes Näschen in seinen Bart und schnurrte wie eine Nähmaschine. Dann begann er ihm gewissenhaft das Gesicht und die langen Haare zu putzen. Enda versuchte ihn lachend abzuwehren, aber der Kater blieb hartnäckig. Ich beobachtete die beiden und wusste nicht, ob ich mitlachen oder weinen sollte. Schließlich tat ich beides ein bisschen, weil Endas Verhalten mir verriet, dass ich mir um die Zukunft des Katers wohl keine Sorgen mehr machen musste.

»Das ist Red Stripes«, brachte ich irgendwann schniefend hervor. »Er braucht ein Zuhause. Und einen Freund.«

Enda sah mich an, mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen, der mich erst recht zum Heulen brachte. Dann legte er seine Hand an meine Wange und beugte sich zu mir herunter, um mich zu küssen. Der Kater kletterte blitzschnell auf seine Schulter und verfolgte von dort aus das Geschehen. Wir wussten es noch nicht, aber sich auf den Schultern des Einsneunzig-Mannes Enda herumtragen zu lassen würde für immer Red Stripes’ Lieblingsbeschäftigung bleiben.

»Er hat bestimmt ›Bob der Streuner‹ gelesen«, witzelte ich, nachdem ich mich einigermaßen gefangen hatte. Der Kater weigerte sich unterdessen kategorisch, seine neue Aussichtsplattform zu verlassen. »Pass auf, dass ihr keine Autogramme geben müsst. Ihr seht James und Bob erschreckend ähnlich.«

Ende der Leseprobe