Abschuss - Rolf Eversheim - E-Book

Abschuss E-Book

Rolf Eversheim

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Beschreibung

Eine schlagende Verbindung in Bonn. — Gewehrschüsse in der Eifel. Drogen und das soziale Abseits. Roman Mülenberk, ein Mittfünfziger mit Wohnmobil und von Beruf Aussteiger, wird von einem Bundesbruder seiner Studentenverbindung gebeten, bei der Suche nach seiner entführten Tochter mitzuhelfen. Er willigt ein, obwohl er sich kurz zuvor in den Fall einer zuerst unter Drogen gesetzten und dann verschleppten jungen Frau hat hineinziehen lassen. Drogen und Prostitution, echte Männerfreundschaften und zwei miteinander verwobene Geschichten ganz großer Lieben und tragischer Entscheidungen verändern Mülenberks Leben unwiderruflich. »Abschuss« ist ein Volltreffer unter den Regionalromanen und reiht sich in die Eifelkrimis ein, die für dieses ortsgebundene Genre in der jüngeren Krimiliteratur stehen. Der Autor Rolf Eversheim entführt den Leser in die wenig transparenten Alltagsnischen der Jagd und der Burschenschaften mit ihren Gefühlswelten, die er aus seiner Biografie genau kennt und phantasievoll ausmalt. Der Aussteiger, Jäger und Burschenschaftler Roman Mülenberk gerät in ein Geflecht von Abgründen, wo Drogen, Prostitution, organisierte Kriminalität ihre Schauplätze ausgerechnet in der beschaulichen Welt der Weinbau- und Touristendörfer im Rhein-Ahr-Ausläufer der Eifel finden. Das mag vielleicht nicht jedem Jäger und jedem Corpsbruder passen, zu welchen Handlungen Romanfiguren fähig sein können; aber: sie handeln schließlich unter dem Druck ihrer menschlichen Verwicklungen, die alltagsgerecht sind und jeder kennt. Ein gut und geschriebener und spannend aufgebauter Kriminalroman, der in mancher Hinsicht einfach andersartig und damit lesenswert ist. — Jost Springensguth (Der Journalist und Autor Jost Springesguth war Chefredakteur in deutschen Tageszeitungen und Mitglied der Jury für die Vergabe des Theodor-Wolff-Preises, des Journalistenpreises der deutschen Tageszeitungen. Er ist Referent am Institut zur Förderung des publizistischen Nachwuchses.) Trailer: https://blutundwurst.de/eifelkrimis/Abschuss/

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Ähnliche


Rolf Eversheim

Abschuss

Eifelkrimi

Neuauflage 2022

Copyright: © 2022 Rolf Eversheim

www.blutundwurst.de – [email protected]

Cover: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

Verlag und Druck: tredition GmbH Halenreie 40-44

22359 Hamburg

ISBN 978-3-347-59193-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Einen sicheren Freund erkennt man in unsicherer Lage.

Quintus Ennius

Dr. Rolf Eversheim, 1959 in einem Forsthaus in der Eifel geboren, hat die Seele der Eifel mit der Muttermilch aufgesogen. Seine Lehr- und Wanderjahre trugen ihn nach Bonn, wo er ein Vierteljahrhundert studiert, gearbeitet, geliebt, gesungen, geweint und gelacht hat.

Er hängte seinen Beruf an den Nagel, um seiner Berufung zu folgen: Schreiben und seine Leser in der Spannung eines Krimis Entspannung finden zu lassen – und den Teilnehmern an seinen Lesungen und Mitspielkrimis Eifler Lebenskunst so zu vermitteln, dass sie leichter und unbeschwerter nach Hause gehen.

Prolog

Die Luft ist zum Schneiden dick. Vollgepackt mit Bierdunst, Kerzenbrand und Männerschweiß. Keiner der sechzig Anwesenden stört sich daran. Gekleidet in schwarze Anzüge, das Burschenband stolz auf der Brust und die schwarzen Mützen in den abenteuerlichsten Positionen auf den Köpfen, feiern sie sich gerade in einen ekstatischen Zustand. Das Sommersemester geht zu Ende und es entspricht dem alten Brauch, es mit einer Semesterabschlusskneipe feierlich unter den Tisch zu schlagen.

Solide Holztische sind in U-Form entlang der holzvertäfelten Wände aufgestellt. Kleine gerahmte Bilder mit den Porträts lebender und verstorbener Bundesbrüder sind akkurat angebracht und stellen in chronologischer Folge ein Mitgliederverzeichnis dar. Unschwer ist zu erkennen, dass der Trauerflor am Rahmen die verstorbenen Mitglieder ehrt.

Ein schwarzer Flügel, an dem die vielen Bierorgien sichtbare Spuren hinterlassen haben, steht im Raum. Enthusiastisch haut ein Student in die Tasten. Ihm ist es egal, dass das jeweils in den Semesterferien stattfindende Stimmen des Flügels, das sich die Alten Herren etwas kosten lassen, längst nicht mehr zu erkennen ist. Klaus Kupp ist wegen seiner musikalischen Begabung seit den ersten Tagen seiner Mitgliedschaft Biermusikus und erfüllt diese Aufgabe mit großer Freude. Voraussetzung ist, dass er ausreichend mit Bier versorgt wird. Dann kann man ihn zu jeder Tages- und Nachtzeit an die Tasten holen.

Die Stimmung ist hervorragend. Lautes Stimmengewirr, Lachen, Gläserklingen erfüllen den Raum. Am Kopfende der Tischordnung sitzt der Präside, der aktive Senior, der das Semester so erfolgreich geleitet hat. Ihm gegenüber, an den beiden Enden der Tischreihen, sitzen seine wichtigsten Mitstreiter, der Fuchsmajor und der Consenior, die in ihren jeweiligen Tischreihen für Ordnung zu sorgen haben.

Auf ein unauffälliges Kopfnicken des Seniors hin erheben sich die drei Chargen. Im Verlaufe des Semesters haben sie gelernt, sich mit winzigen, unauffälligen Gesten sicher zu verständigen. Sie wissen dies zu schätzen, hat es doch dazu beigetragen, Konflikte oder schwierige Situationen schnell und unauffällig zu klären, ohne dass andere es mitbekamen. Auch die Debatten auf ihren Conventen, den regelmäßigen Mitgliederversammlungen mit basisdemokratischem Prinzip, hatten sie so schnell unter Kontrolle gehabt.

Die drei Chargen in Vollwichs heben ihre Schläger in die Höhe und lassen sie in parallelen Bewegungen mit lautem hartem Schlag auf die vor ihnen liegenden Speckbretter krachen. Es geschieht synchron, so dass nur ein Schlag im Saal zu hören ist, der dies mit einem Raunen quittiert.

Ein lautes »Silentium« donnert durch den Kneipsaal, und die Corona ist schlagartig still. Disziplin ist ein elementarer Bestandteil ihres Zusammenlebens und bedarf keiner weiteren Erläuterung. Wer gegen die Regeln verstößt, wird mit geeigneten Maßnahmen diszipliniert. Das gilt beim Trinken genauso wie auf dem Fechtboden oder im Studium. Das Corps Tartarus zu Bonn legt größten Wert darauf, dass seine Mitglieder ordentliche akademische Ausbildungen mit überdurchschnittlichen Examina absolvieren.

Der Senior hat das Wort. »Es steige nun der altehrwürdige Cantus Alles schweige! Jeder neige. Biermusikus, eine Weise voraus.« Klaus Kupp stärkt sich noch mit einem ordentlichen Schluck aus dem Glas und gibt der Corona weich und leise die Melodie vor.

Auf das Kommando »Ad stropham!« erheben die Männer ihre Stimmen. Sie sind sich der Bedeutung des Augenblickes bewusst und ein voller Chor scheint seine ganzen Gefühle in dieses Lied zu legen.

»1. Alles schweige! Jeder neige ernsten Tönen nun sein Ohr! |: Hört, ich sing’ das Lied der Lieder, hört es, meine deutschen Brüder! |: Hall es :| wider, froher Chor! :|

2. Laß dir reichen nun zum Zeichen, was den Bund nach außen ziert: |: dieses Band, das uns verbindet, das der Außenwelt verkündet,

|: was uns:| was uns hier zusammenführt. :|«

Der Senior bittet die Corona mit knappen lateinischen Formeln, die allen längst in Fleisch und Blut übergegangen sind, sich von den Plätzen zu erheben.

»Es folgt nun die Burschung unseres Fuxen Roman Mülenberk. Der Fuchsmajor geleite den Fuxen zu mir nach vorne. Ebenfalls nach vorne bitte ich seinen Leibburschen Tom Lammers.«

Im Lichte des Kerzenscheins bewegen die drei sich nach vorne zum Senior. Roman Mülenberk hat lange auf diesen Augenblick gewartet. Er hatte sich für ein alternatives Lebensmodell zu der immer anonymeren, digitalisierten Welt an der Universität entschieden und dabei ganz bewusst das Corps Tartarus ausgesucht. Es ist für ihn die perfekte Mischung aus Tradition und Moderne, aus Geborgenheit und Herausforderung, aus Freundschaft und einem funktionierenden Netzwerk, das weit über das Studium in den Lebensalltag hinein reicht. Besonders gefiel ihm, dass er im Corps Tartarus, obwohl es eine schlagende Verbindung ist, das Fechten mit seinem körperlichen und mentalen Training erlernen konnte, jedes Mitglied aber selber entscheidet, ob es eine oder mehrere Partien mit der scharfen Waffe ausfechten will.

Natürlich gibt es einen nicht unerheblichen sozialen Druck, wenn ein Bundesbruder »sich drücken« will. Aber er hat immerhin die Wahl.

Nach Ende seiner Fuxenzeit musste er zu einem festgelegten Termin vor dem Convent erklären, ob er nach aller Vorbereitung und dem intensiven Training bereit sei, eine Partie auszutragen. Für Roman war es immer klar gewesen, ein persönliches Zeichen zu setzen, dass er das Risiko auf sich nimmt und für die Verbindung »den Kopf hinhält«. Er hatte die Partie gegen einen gleichwertigen Gegner aus dem Kreis der Bundesbrüder gewonnen, wobei ihm eine kleine Unachtsamkeit des Gegners für den entscheidenden Hieb ausreichte. Rudolph von Pleskau hatte sich einen Augenblick zu lange darauf verlassen, dass er aus einem erfolgreich fechtenden Adelsgeschlecht stammte und ein Kampf gegen »den Mülenberk« unter seinem Niveau lag. Doch konnte von Pleskau auch ohne Betäubung die drei Nähte an der Stirn locker aushalten. Dagegen schmerzte ihn die Niederlage noch lange innerlich und hinterließ einen Schmiss auf seiner Seele.

Roman Mülenberk genoss seit dieser Partie ein noch höheres Ansehen bei Tartarus, als es aufgrund seiner herausragenden sportlichen Leistungen, seiner Geselligkeit und Kameradschaft sowie seinem charmanten Auftreten den Damen gegenüber ohnehin schon der Fall war. Seine mäßigen Bemühungen im Studium der Agrarwissenschaften, das ihn nie sonderlich interessierte, wurden noch vom Corps toleriert und am Tag seiner Burschung würde er sich bestimmt nicht mit solchen Lebensqualität vernichtenden Themen beschäftigen.

Mülenberk und sein Leibvater Tom Lammers stehen nun vor dem Senior, hinter ihnen die Fahne der Verbindung. Die versammelte Gemeinschaft hat sich erhoben und die Kopfbedeckungen zum Zeichen der Bedeutung dieses besonderen Aktes abgenommen.

Dann spricht der Senior, in der Studentensprache kurz X genannt, die Burschungsformel:

»Roman Mülenberk, schwörst du mir mit deutschem Handschlag auf Burschenehre, der Lebensverbindung Tartarus treu ergeben zu sein, ihr Wohl zu fördern, an den Prinzipien unverbrüchlich festzuhalten, Freud und Leid mit ihr zu teilen, das Conventsgeheimnis zu wahren und dich stets zu den Farben zu bekennen?« Tom Lammers gibt ihm die Fahne in die linke Hand. Der X reicht ihm die rechte Hand.

Laut und deutlich spricht Mülenberk: »Ich schwöre es!«

Der X reißt Roman mit einem kurzen festen Ruck das schwarzblaue Fuxenband, das er während seiner Probezeit getragen hat, von der Brust und bindet es als äußeres Zeichen der Verbundenheit seinem Leibburschen Tom Lammers an den linken Oberarm.

X: »So nimm denn hin das schwarz-rot-blaue Band Tartarus’ und trage es in Ehren, stets eingedenk seiner Bedeutung. »Niemals zurück« sei dein Losungswort auf ewig!«

Der Ruf des Fuxmajors geht durch den Kneipsaal: »Was ist Roman?«

Die Corona antwortet: »Bursch!«

Fuxmajor: »Wer ist Bursch?«

Die Corona antwortet mit Mülenberks allen bekannten Biernamen »Romulus«.

Sie hatten es seit seinem Eintritt sehr passend gefunden, seinen Vornamen Roman, der Römer, unmittelbar mit den Gründern der Stadt Rom, Romulus und Remus, zu verbinden. Er führte seinen Biernamen mit heiterer Gelassenheit und war sogar ein wenig stolz darauf.

X: »Das stehende Lied zieht fort und fällt über seine Letzte!«

Der Biermusikus gibt ein letztes Mal die Melodie vor und alle stimmen ein.

»Wir begrüßen und umschließen, Bruder dich nach Bruderart.

|: Nicht ein Freundschaftsbund alleine,

Brüder sind wir im Vereine,

|: um ein:| um ein edles Burschenband geschart. :|«

X und der Neobursch besiegeln diesen Pakt fürs Leben mit einem großen Krug Bier, den sie beide in langen, sicheren Zügen zur Neige bringen. Die Corona äußert ihre Freude über den perfekt zelebrierten Biercomment durch Klopfen der Gläser und Krüge auf die Holztische. Weicheier, die ewig am Humpen nuckeln, sind verpönt.

Während das Bier seinen Weg in den Magen findet und dort ein freies Plätzchen sucht, ist Roman Mülenberk als vollwertiges Mitglied des Corps Tartarus ergriffen und tief bewegt. Er hatte sich seit langem vorgestellt, in diesem Augenblick der glücklichste Mensch der Welt zu sein und wäre es auch sicherlich, wenn auch nur kurze Zeit, gewesen, wenn ihn nicht sein sicherer Instinkt gewarnt hätte, etwas in Tartarus sei so gar nicht in Ordnung. Als sich sein Blick mit dem seines Leibburschen trifft, spürt er die tiefe Gewissheit, dass sein Instinkt ihn auch diesmal nicht trügt. Und hätte er sich in diesem Moment herumgedreht und die Tränen in den Augen eines Bundesbruders sehen können, der sich ganz tief über sein Bierglas gebeugt hat, wäre seine Unruhe ins Unermessliche gestiegen.

1. Kapitel

Der Regen trommelte sanft auf das Dach des Wohnmobils. Doch davon wurde Roman Mülenberk nicht geweckt. Dieses Trommeln war ihm vertraut und beruhigte ihn, seit er vor zwei Jahren beschlossen hatte, sein Eigenheim zu verkaufen und gegen ein komfortables Wohnmobil zu tauschen. Der Schritt war heftig gewesen und keiner seiner Freunde hatte ihn verstanden. Es störte ihn nicht. Er wollte nicht verstanden werden, er wollte einfach nur noch das tun, was er wollte. Er fühlte sich in der Mitte seines Lebens, wenngleich die Statistik ihn mit seinen zweiundfünfzig Jahren jenseits der Mitte einordnete. Was scherte ihn die Statistik. Er konnte morgen sterben oder auch hundertvier werden. Den heutigen Tag aber hatte er nur einmal zur Verfügung.

Die Uhr zeigte 4:35 Uhr. Erst in gut zwei Stunden würde Dämmerlicht die Dunkelheit verdrängen, in der so viele Menschen und Tiere Schutz suchten. Mülenberk spürte, dass es eine innere Unruhe war, die ihn geweckt hatte. Er konnte keinen Grund dafür erkennen. Seit er vor zwei Jahren beschlossen hatte, seinen gut bezahlten Job an den Nagel zu hängen und das Hamsterrad zu verlassen, konnte er sich seine Tage so gestalten, wie er es wollte. Anfangs hatte er sich schwer damit getan, die alleinige Verantwortung für sein Leben zu übernehmen. Sein ganzes Leben war er es gewohnt gewesen, dass andere ihm konkret sagten, was er zu tun habe. Oder das Leben hatte zumindest einen Rahmen für seinen Tagesablauf, Halt und Sicherheit gegeben. Es waren nicht finanzielle Ängste, die er feststellte. Seine Rücklagen und seine monatlichen Einkünfte erlaubten ihm dieses freie Leben und zum ersten Mal seit vielen Jahren war er wirklich überzeugt davon, wie gut es sei, keine familiären Bindungen zu haben.

Mülenberk hatte sich als Berater und Coach selbstständig gemacht und war mehr als zufrieden mit seinen Aufträgen. Er hatte gelernt, dass es Phasen mit mehr Arbeit und mehr Einkommen gab, von denen er in den eher lauen Monaten zehrte. Stresssymptome traten bei ihm nur noch sporadisch auf. Da sie vorübergehende Erscheinungen waren, beachtete er sie nicht weiter.

Er hatte seine Nische gefunden und nahm seine Kunden mit in die Natur, wenn sie wollten, auch zum Jagen oder Angeln. Dadurch fiel es ihnen leichter, die linke, stark vom Verstand beherrschte Gehirnhälfte ruhigzustellen und die meist brachliegende rechte, in der Emotionen und Kreativität beheimatet waren, zu aktivieren. Schnelle und überdurchschnittlich gute Lösungen waren das Ergebnis. Seine Kunden waren dankbar und empfanden die gemeinsame Zeit mit Mülenberk so, als wären sie mit einem guten Freund zusammen.

Er schaute aus dem Fenster, dann auf die Uhr. Alle Versuche, noch einmal in einen erholsamen Schlaf zu finden, würden nicht von Erfolg gekrönt sein. Mülenberk beschloss, sich in den neuen Tag einzufädeln.

Bevor er sich ans Steuer setzte und seinen nächtlichen Standort verließ, bereitete er sich einen Tee aus gerösteten Mateblättern zu, so wie er es in Argentinien gelernt hatte. Am Vorabend hatte er sich in der Wellnessabteilung des Beauty Spa Hotels Maravilla in Bad Bodendorf verwöhnen lassen. Eine Annehmlichkeit, die er sich regelmäßig gönnte. Sollte er sich irgendwann einmal so wie Udo Lindenberg dazu entschließen, in einem Hotel zu leben, wäre das »Maravilla« für ihn die Eifler Alternative zum Hamburger »Atlantic«. Anschließend hatte er bei einem Sauerbraten vom Hirsch reichlich dem Ahrrotwein zugesprochen. Dass er den Hirsch selber erlegt hatte, verschaffte ihm zusätzlich das Gefühl, im richtigen Leben angekommen zu sein.

Der Spätburgunder Blauschiefer traf seinen Geschmack und erwies sich als sehr bekömmlich. Nach dem Genuss des Rotweins hatte er sich in sein Wohnmobil begeben, noch einige Seiten gelesen und war dann in tiefen Schlaf gefallen.

Mülenberk liebte diese frühen Morgenstunden, in denen er noch die Jungfräulichkeit des neuen Tages spüren konnte. Wenige frühe Pendler und die Zeitungsboten waren die einzigen, denen er um diese Uhrzeit begegnete.

Er fuhr über Sinzig und bog am REWE-Kreisel Richtung Königsfeld ab. Die Mitte des Kreisels zierte ein besonderer Sinziger Bürger: ein bronzener »Stadtmauredrisser«, der in den sozialen Netzwerken schon massiv gebasht worden war.

Die Statue zeigte einen Mann, der mit heruntergelassenen Hosen auf der Stadtmauer hockte. Das entblößte Hinterteil stadtauswärts ausgerichtet, begrüßte er die von Westen kommenden Autofahrer auf spezielle Weise. Schon zu historischen Zeiten war der Gang zur Behörde eine Zumutung. Denn um die langen Wartezeiten zu überbrücken, wurde der Behördengang erst einmal zum Stuhlgang umfunktioniert. Und eben dies geschah auf der Stadtmauer. Dem Sinziger Plumpsklo. Und richtigerweise hatte der Stadtmauredrisser auch Papier in der Hand. Mülenberk stellte sich jedesmal vor, es sei sein Steuerbescheid.

Schmunzelnd bog er rechts ab, verließ Sinzig und fuhr hinter Schloss Ahrenthal nach rechts Richtung Königsfeld. Die Straße durch den Sinziger Stadtwald, den Harterscheid, passierte er stets mit Vorsicht, da mit Wildwechsel zu rechnen war. Besonders am frühen Morgen wechselte das Wild gerne von den Plätzen, wo es Nahrung gesucht hatte, zu seinen verborgenen Ruheplätzen.

Weiter ging es nach Dedenbach. Hier hatte er die Jagd gepachtet und für seine Freunde und sich ein Refugium geschaffen. Kurz hinter der kleinen Marienkapelle, in der er gelegentlich ein paar Kerzen aufstellte, begann sein Revier. Er fuhr in den Ort hinein und steuerte den Parkplatz hinter der Gaststätte »Zur wilden Sau« an. Hier war der Stellplatz für seinen Jagdwagen, denn das Wohnmobil war für den jagdlichen Einsatz denkbar ungeeignet.

Er hatte die Genehmigung bekommen, einen Waffenschrank in sein Wohnmobil einzubauen, der – von außen nicht sichtbar – in den Boden eingelassen war.

Mülenberk nahm Minox-Fernglas, Waffe und Messer und packte alles mit wenigen Handgriffen in seinen Jagdwagen, den er sich so umgebaut hatte, dass jedes Teil schnell und sicher platziert werden konnte.

Als er alles verstaut hatte und gerade losfahren wollte, bemerkte er Licht im großen Fenster des ersten Stocks. Er glaubte, durch die Gardinen die Umrisse eines Mannes erkannt zu haben, was ihm einen leichten Schlag in die Magengrube versetzte. Er mochte es nicht, wenn die Wirtin Besuch hatte, seine Person ausgenommen. Ein Paar waren sie nie gewesen und so würde es wohl auch bleiben, aber sie verstanden sich sehr gut und daher kam es gelegentlich vor, dass sein Wohnmobil leer blieb und er in der »Wilden Sau« sein Nachtlager fand. Sie hatten die gleichen Vorlieben, was ihrem Zusammensein Leichtigkeit und trotzdem eine hohe Intensität verlieh. Daraus konnte er jedoch kein Alleinstellungsmerkmal herleiten, zumal sie einander stets gegenseitig Freiheit und Toleranz bescheinigten. Eine Mischung aus Neid, Eifersucht und Verlustangst hatte dem Haken in seinen Bauch die Wucht verliehen. Er machte, dass er fortkam, nicht ohne vorher den schwarzen Porsche mit holländischem Kennzeichen am Ende des Parkplatzes bemerkt zu haben.

Die Dämmerung hatte noch nicht begonnen und die schmale Sichel des abnehmenden Mondes war zu schwach, um den Sauen den schützenden Vorhang der Nacht zu entziehen. Er lenkte sein Fahrzeug den Plattenweg Richtung Oberdürenbach hinauf, jene gesperrte Straße, auf der jeder hin und her fuhr, wie er lustig war. Gemeinde und Behörden tolerierten die Nutzung dieser stark befahrenen Abkürzung, und er hatte zu Beginn der Jagdpachtperiode schnell begriffen, dass es sinnlos war, auf Änderungen zu drängen, um dem Wild in der viel beanspruchten Feldflur mehr Ruhe zu ermöglichen. Niemand wollte sich mit der Bevölkerung anlegen, entweder um wieder gewählt zu werden oder, ganz einfach, um im Dorf seinen Frieden zu behalten. Das war in der Eifel nicht anders als auf den großen politischen Bühnen dieser Welt.

Wenn der Schnee die Eifel in weiße Stille packte und Feld und Flur nicht begehbar, geschweige denn befahrbar waren, dann begann das Wild langsam wieder, seinem natürlichen Rhythmus von Nahrungsaufnahme und Ruhephasen zu folgen, und war somit auch tagsüber aktiv. Mülenberk hielt sich in dieser Zeit sehr zurück, um Störungen zu vermeiden, die stets zu einem Fluchtverhalten und in der Folge zu erhöhtem Nahrungsbedarf führten. Einzig, wenn das Wild hungerte, fuhr er mit einem Traktor Futter ins Revier. Er konnte dabei beobachten, dass das Wild kurze Fluchtwege wählte, als wusste es, dass keine Gefahr von ihm und dem Traktor zu erwarten war.

Jetzt ging sehr wohl Gefahr von ihm aus. Er konnte durch Schlammspuren auf dem Weg einen breiten Wechsel von Sauen aus dem Wald in die Wiesen ausmachen. Er hielt an, stieg aus und schnell war er sich sicher, dass hier erst vor kurzem eine starke Rotte ins Feld gelaufen war, um bei der Suche nach tierischem Eiweiß in Form von Würmern, Käfern und Engerlingen die Wiesen umzudrehen. Wenn er nicht aufpasste, konnten die Schäden in die tausenden Euros gehen, vom Ärger mit den Landwirten ganz abgesehen.

Er stellte seinen Wagen ab, schulterte die Waffe, nahm seinen Schießstock, der ihm im Feld eine sichere Schussabgabe ermöglichte, sowie das Nachtsichtgerät. Es erlaubte ihm, in der Dunkelheit die Sauen ausfindig zu machen, um sie dann anzupirschen. Sauen sehen nicht sehr gut, dafür ist ihr Geruchssinn stark ausgeprägt. Der Wind blies ihm in den Rücken. Das bedeutete, er musste einen Bogen schlagen, um aus dem Wind herauszukommen, sonst würden die Sauen sofort mit ihrer langen Rüsselnase Wind bekommen und wären auf und davon. Da zwei kleine Waldstücke, die inselartig in den Wiesen lagen, ihm die Sicht versperrten, entschied er sich, einen Bogen um sie herum zu schlagen in der Hoffnung, die Sauen dahinter auf frischer Tat zu überraschen.

Mülenberk hatte immer großen Wert auf eine gute körperliche Verfassung gelegt und so hatte er in wenigen Minuten die kleinen Waldstücke umschlagen. Er trat an den Wiesenrand und stellte zufrieden fest, dass ihm der leichte Wind nun plangemäß ins Gesicht wehte. Er schaltete das Nachtsichtgerät an und suchte die Wiesen ab. Er zuckte. Fehlalarm! Zwei kräftige Dachse machten sich in den Wiesen zu schaffen. Waren die Sauen einfach ohne Halt durchgezogen? Hatten sie ihn vielleicht sogar mitbekommen und waren flüchtig ab? Das hatte er mehr als einmal erlebt, denn eine kaum bemerkbare kurze Richtungsänderung des Windes, die durch Temperaturgefälle oder kleinräumige Veränderungen der Bodenverhältnisse verursacht wurde, reichte aus, um einige Moleküle der verräterischen menschlichen Witterung in die langen schwarzen Nasen zu tragen. Die Sauen quittierten dies mit einem kurzen Grunzen der Bachen, die ihre Frischlinge zusammentrommelten, um dann in einer geordneten Flucht zu verschwinden, bei der sie gerne, wie um ihn zu verhöhnen, die Pürzel nach oben stellten und ihm zum Abschied damit winkten.

Enttäuscht wollte er die Aktion abbrechen, als er in der kleinen Senke etwa hundertfünfzig Meter entfernt einen dunklen Fleck ausmachen konnte. Mit dem Nachtsichtgerät konnte er erkennen, dass eine Rotte Sauen aus der Senke hochkam. Direkt auf ihn zu. »Heiliger Hubertus hilf!«, betete Mülenberk. Nicht weil er Angst hatte, sondern weil das Dämmerlicht gerade erst zaghaft begann, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Es war noch viel zu dunkel für einen sicheren Schuss. Sein Atem ging schneller, während er sich mit dem Nachtsichtgerät einen Überblick verschaffte. Das war eine starke Rotte, die sich auf ihn zu bewegte. Er zählte vier Bachen und dreizehn Frischlinge. Die Leitbache, eine Mordssau, führte die Rotte an und wachte umsichtig. Vom Abschuss her war es eine klare Sache. Es kam nur einer der Frischlinge in Frage. Der Abschuss führender Muttertiere war gesetzlich streng verboten.

Die Rotte begann auf der Wiese zu brechen, wie die Jäger es nennen. Sie drehten mit ihrem Rüssel die Grasnarbe um und untersuchten sie auf Fressbares. Ein paar Minuten noch, dann sollte der Morgen genug Licht für einen Schuss hergeben. Geräuschlos brachte Mülenberk den dreibeinigen Schießstock in Position.

Er legte die Waffe oben hinein, schaltete das kleine, schwach rot leuchtende Kreuz im Zielfernglas an, das auch bei ungünstigen Lichtverhältnissen einen sicheren Schuss ermöglichte, und entsicherte die Waffe. Alles geschah unter hoher Konzentration und Anspannung.

Mülenberk wollte sich gerade kurz entspannen und tief durchatmen, als es im Wald links hinter ihm knackte. Er erschrak auch nach den vielen Jagdjahren immer noch, wenn Geräusche in seiner unmittelbaren Nähe aus der Dunkelheit kamen. Er lauschte. Offensichtlich waren es zwei oder drei Rehe, die unterwegs waren, um auf der Wiese zu frühstücken. Jetzt wurde es eng. Noch wenige Meter, dann würden die Rehe Wind von ihm bekommen und polternd und unter lautem Fluchen die Flucht ergreifen, dadurch die Sauen warnen und mit in die Flucht ziehen.

Jetzt zählte jede Sekunde. Ein Blick durchs Zielfernrohr bestätigte, dass das Licht ausreichend sein würde, wenn die Sauen noch fünfzig Meter näher kämen. Mülenberk bemerkte einen kleinen Windstoß im Gesicht und Sekunden später begann der PirschGAU, der größte annehmbare Unfall. Die Rehe polterten, durch die nahe menschliche Witterung gewarnt, schreckend von dannen und setzten die Rotte blitzartig in Alarmbereitschaft. Die Leitbache war erfahren genug, um zu wissen, dass keine Zeit zu verlieren war. Die heraufziehende Dämmerung hatte ihr bereits vor einigen Minuten signalisiert, dass es an der Zeit sei, ihren Familienverbund in den schützenden Wald zu führen.

Wenn er auch nur noch den Hauch einer Chance haben wollte, musste Mülenberk sich jetzt voll auf die Frischlinge konzentrieren, die manchmal ein paar Sekunden zu lange brauchten, um in den Fluchtmodus zu gelangen. Die Rotte rannte auf ihn zu, um 40 Meter vor ihm Richtung Wald abzudrehen. Tatsächlich blieben zwei Frischlinge kurz stehen, um sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen – ein tödlicher Fehler. Mülenberks Stammhirn hatte den Befehl, den Abzug zu ziehen, unmittelbar an den rechten Zeigefinger weitergeleitet, nachdem es vom Auge die Botschaft bekommen hatte, dass das kleine rote Kreuz sich im Herzbereich des Frischlings festgesaugt hatte.

Ohne das Auge vom Zielfernglas zu nehmen, hatte der geübte Schütze mit schnellem Repetieren eine neue Patrone schussbereit gemacht und dabei den zweiten Frischling nicht aus dem Auge gelassen. Es hatte ihn schon gereizt, einen zweiten Schuss hinterher zu setzen, doch der Frischling rannte ohne zu zögern mit einem Affenzahn der Rotte hinterher. Das ergab keine realistische Chance mehr. Er sicherte die Waffe, nahm die Patronen heraus und atmete einige Male tief durch. Er sog die reine Luft des frühen Morgens tief ein und rekapitulierte die Ereignisse der letzten Minuten. Er war zufrieden mit sich und der Welt. Diesen jagdlichen Erfolg hatte er seinem Können, seiner Erfahrung und seiner guten körperlichen Verfassung zu verdanken. Und dem heiligen Hubertus.

Als das Licht hell genug war, ging Mülenberk zu seiner Beute, die auf dem kühlen Gras leicht dampfte. Mit wenigen sicheren Handgriffen waidete er den Frischling aus und zog ihn an den Wegrand.

Als er seinen Wagen holte, sah er auf dem Feldweg, der zum Sendemast und zur Schutzhütte »Schau ins Land« führte, ein Auto ohne Licht fahren. Durch das Fernglas sah er einen schwarzen Porsche mit holländischem Kennzeichen. Ihn fröstelte.

2. Kapitel

In der »Wilden Sau« hängte er den Frischling in den Wildkühlschrank. Er hatte mit der Wirtin eine Vereinbarung getroffen und konnte das erlegte Wild quasi mitten im Revier kühlen.

Ihn schauderte jedes Mal bei dem Gedanken, dass man in früheren Zeiten Wild bis zur Fäulnis hängen ließ und das Ganze Hautgout nannte. Dieser »Hohe Geschmack« war in Wirklichkeit nichts anderes als der süßlich-strenge und intensive Geruch wie Geschmack von überlang oder zu warm abgehangenem Wild. Um es überhaupt noch essen zu können, wurde es deshalb früher in einem Sud aus Rotwein und Gewürzen gebeizt und überdeckte so den Hautgout.

Nachdem er seine Waffe und die anderen Jagdutensilien im Tresor des Wohnmobils verstaut hatte, traf er in der Gaststättenküche auf die Wirtin, die anders wirkte als sonst. Den meisten wäre es nicht aufgefallen, doch Mülenberk sah mit einem Blick, dass die sonst stets perfekt abgestimmte Kleidung am heutigen Morgen nur provisorisch ihren gut gebauten Körper umhüllte.

»Guten Morgen, meine liebe Anna«, grüßte Mülenberk fröhlich und tat so, als ob er niemals diesen Schatten in ihrem Zimmer gesehen hätte.

Doch statt des üblichen kleinen Rituals, bei dem Anna ihn in den Arm nahm und ihm ein »Guten Morgen, mein lieber Roman« ins Ohr flüsterte, wobei sie es wie zufällig mit ihrer Zungenspitze berührte, wich sie einen Schritt zurück und antwortete nur kühl: »Was gibt’s?«

Mülenberk kannte sie gut genug, um zu wissen, dass er erst mal nicht nachfragen sollte. »Ich habe uns eine Frischlingsleber mitgebracht und fände es schön, wenn wir die gemeinsam zum Frühstück essen würden.« Frisch gebratene Leber zum Frühstück empfanden viele als Zumutung, doch Anna und er liebten deren Geschmack. Würde sie jetzt ablehnen, läge ein Mega-Problem vor, bei dem sein Computer immer die Meldung »Error 403. Zugriff verweigert!« anzeigen würde.

»Ich habe keinen Hunger!« Zugriff verweigert. Jetzt wurde es schwierig. Natürlich konnte er die Leber auch in die Kühlung legen oder in seinem Wohnmobil zubereiten. Doch jetzt ging es erst einmal um Anna, die gerade den Kaffeeautomaten hochgefahren hatte.

»Magst du auch einen Cappuccino?«, fragte Anna.

»Ja, gerne.«

Immerhin keine Totalverweigerung. Er setzte sich auf die gemütliche Eckbank, die, wie es in Eifler Küchen auch heute noch üblich ist, dafür sorgte, dass in diesem arbeitsreichen Raum noch Platz für Erholung, Entspannung und Miteinander blieb. Nachdem die Maschine ihre Geräusch- und Dampforgie beendet hatte, stellte Anna wortlos zwei Tassen Cappuccino auf den blitzeblank geputzten Holztisch.

Er sog den Geruch tief ein und freute sich auf den ersten Schluck. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Anna, die ihre Tasse in beiden Händen hielt und sich daran wärmte.

Anna Hergarten war eine stattliche Mittvierzigerin, die sich und ihre damals zwölfjährige Tochter allein durchgebracht hatte, nachdem ihr aus Italien stammender Mann allen Vorurteilen gerecht geworden war und sich über Nacht nach Italien abgesetzt hatte. Anna war sich eine Zeit lang sicher, dass es wegen einer anderen Frau war. Die Erkenntnis, dass dies nicht der Fall war, sondern er es in der kalten Eifel mit ihren knorrigen Bewohnern nicht mehr ausgehalten hatte, war für sie noch schwerer zu ertragen gewesen. Sie kannte auch in jungen Jahren das Leben schon gut genug, um damit klarzukommen. Das Leid, das er ihrer Tochter Sarah gebracht hatte, wog viel schwerer für sie. Mutter und Tochter hatten damals gemeinsam beschlossen, einen Schlussstrich zu ziehen und ihn nie wieder gesehen. Die Tochter hätte ihren Vater jederzeit besuchen können; Anna hatte es selber mehrfach vorgeschlagen. Aber es war nie dazu gekommen. Jetzt studierte Sarah in Bonn, so dass jeder sein eigenes Leben führen konnte und sie trotzdem nahe beieinander waren. Das war beiden wichtig.

Anna schwieg und trank in kleinen Schlucken. Sie fasste sich wie in Trance mit ihrer Hand unter das Halstuch und schien sich vorsichtig zu massieren. Dabei verrutschte das Tuch und gab ihren Hals frei. Mülenberk erschrak, als er die blauen Flecken sah. Die mussten mit dem Mann im Schlafzimmer und vermutlich auch dem schwarzen Porsche zusammenhängen. Er wusste, dass Anna freiwillig kein Wort hierüber verlieren würde, und ohne lange darüber nachzudenken, stand er auf, ging auf sie zu und riss ihr den Schal herunter. Ihre grünen Augen funkelten und sprühten Gift und Galle und im selben Moment fing er sich eine Ohrfeige ein, die nicht von schlechten Eltern war. Zugleich beschimpfte sie ihn mit den übelsten Flüchen, von denen »Mülenberk, mögen dir die Gedärme im Leib verfaulen« noch der harmloseste war. Bizarr – er musste dabei an die Frischlingsleber denken, die jetzt so schön in der Pfanne brutzeln könnte.

Er hatte das Schlimmste hinter sich und wartete ab, bis der Taifun, der über ihn hinwegfegte, sich gelegt hatte. Dann nahm er sie in den Arm und drückte sie so zärtlich an sich, wie man Kinder tröstet. Er spürte, wie sie zitterte. Er strich über ihr volles rotblondes Haar. Die Tränen brachen sich ihren Weg, und er hatte das Gefühl, dass alle Traurigkeit, die sie in ihren inneren Kammern verschlossen hatte, hinaus ins Licht wollten, um sie für immer zu verlassen. Er ließ sie so lange in seinen Armen weinen, bis keine Tränen mehr kamen.

»Dieses gottverdammte dreckige Schwein!«, schluchzte Anna und wiederholte es immer und immer wieder. Dann erzählte sie, anfangs nur in Brocken, später einigermaßen flüssig, die Ereignisse des Abends und der Nacht.

Wenn er alles verstanden und Fehlendes richtig ergänzt hatte, hatte ein gutaussehender, braungebrannter Mann mit holländischem Akzent am späten Abend, als die Stammgäste sich auf den Heimweg machten, die Gaststätte betreten. Er bestellte zu essen und zu trinken und schäkerte mit Anna, die den Fremden auf Anhieb sympathisch fand. Bereitwillig ließ sie sich von ihm zu dem roten Sekt von der Ahr einladen, den sie so mochte. Nachdem, schon weit nach Mitternacht, auf dem Bierdeckel keine freien Stellen mehr zu finden waren, äußerte der Fremde den Wunsch nach einem Zimmer.

Anna gab ihm einen Zimmerschlüssel, zeigte ihm den Weg, räumte noch auf und ging dann ebenfalls zu Bett. Sie hatte es als sehr angenehm empfunden, dass der Fremde keinerlei Anstalten gemacht hatte, sie über den Flirt hinaus anzumachen, was sie bei den Stammgästen regelmäßig nervte, wenngleich sie wusste, dass ihre Eifler Gäste ab einem gewissen Alkoholpegel nicht nach Hause gehen konnten, ohne wenigstens versucht zu haben, ob nicht doch ein bisschen was ginge. Es erinnerte sie an den Klammerreflex der Froschlurche während der Paarungszeit, bei dem die Männchen ungestüm jeden passend erscheinenden Gegenstand zu umgreifen versuchen, selbst Treibholz oder tote Fische.

Wie der Fremde schließlich in Annas Zimmer gekommen war, konnte Mülenberk nicht herausfinden. Vielleicht hatte Anna eine durch Alkohol oder Schock ausgelöste Erinnerungslücke. Jedenfalls hatte er plötzlich vor ihr gestanden, sie süffisant angelächelt und ihr zugeflüstert: »Jetzt machen wir beide uns eine schöne

Nacht, meine kleine Anna!«

Seine Mimik und seine Körpersprache hatten ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass Widerstand ihr nicht gut bekommen würde. Während sie gegen die Lähmung ihres Verstandes ankämpfte und überlegte, was zu tun sei, hatte der Fremde, nach dessen Namen sie unverständlicherweise nie gefragt hatte, sie mit der linken Hand an den Haaren gefasst und ihr den Kopf ins Genick gezogen. Als sie den Mund öffnete, um zu schreien, hatte er ihr lächelnd zweimal aus einer kleinen Sprayflasche in den Mund gesprüht.

Annas Verstand gab das Signal zur Flucht und zur Abwehr, so wie sie es in den beiden Selbstverteidigungskursen gelernt hatte, die sie besucht hatte, nachdem einige Gäste etwas zu aufdringlich geworden waren. Doch ihr Körper folgte seltsamerweise nicht. Wärme breitete sich in ihr aus, und während sie noch dachte, dass das Spray über die Mundschleimhäute ganz besonders schnell seinen Weg in ihr Nervensystem gefunden hatte, öffnete sie ihren Mund und küsste den Fremden leidenschaftlich und hemmungslos. Sie war nicht nur von Sinnen, sondern genoss es fast, dass seine Hände mit geübten Griffen ihre Kleidung abstreiften und sich wie selbstverständlich an ihr bedienten. Während sie – ohne nachzudenken und ohne zu zögern – alles tat, was der Fremde ihr ins Ohr flüsterte, nahm sie die Rolle einer Sklavin an, die absoluten Gehorsam leistete. Je hemmungsloser und gehorsamer sie wurde, desto mehr Lust empfand sie.

Erst als der Fremde, anscheinend selber wie von Sinnen, die Hände um ihren Hals legte und ihr dabei ins Ohr flüsterte: »Ich will dich sterben sehen!«, erwachte Widerstand in ihr. Er fühlte sich wie ein erweckendes Tauchbad nach einem viel zu langen Saunagang an. Sie wollte dem Fremden mit aller Kraft zwischen die Beine treten und merkte aber voller Entsetzen, dass ihre Füße ans Bettende gefesselt waren. Während der Fremde mit seinem ganzen Gewicht auf ihr lag und ihr abwechselnd Drohungen und Zärtlichkeiten ins Ohr flüsterte, um dann mit der Zunge über ihren Mund zu fahren, hatte sie es endlich geschafft, ihre Panik zu unterdrücken und sich ihr Notfall-Kit ins Bewusstsein zu rufen.

Zum Glück hatte er ihre Hände nicht gefesselt, damit sie mit ihnen seinen Anweisungen Folge leisten konnte. Unter Aufbringung ihres ganzen Willens und mit letzter Dehnung ihres Körpers schob sie die rechte Hand unter die Matratze. Ihre Finger umschlossen das Pfefferspray, das Roman ihr besorgt hatte, und suchten Düse und Druckknopf. Dann holte sie tief Luft, hielt den Atem an, schloss die Augen und sprühte dem Vergewaltiger voll ins Gesicht.

Die Mischung aus dem Extrakt scharfer Pfefferschoten wirkte unmittelbar. Der Fremde fing an zu husten und zu weinen und ließ fluchend von ihr ab. Die Zeit, die er brauchte, um sich die Augen zu reiben und ein Waschbecken zu suchen, nutzte sie, um sich von den Fesseln zu befreien. Sie hielt neben dem Pfefferspray stets ein kleines scharfes Messer versteckt. Nach zwei entschlossenen Schnitten war sie frei und stürzte sich mit dem Messer auf den Eindringling.

Der Vergewaltiger nahm jedoch mit tränenverschleiertem Blick ihre Bewegungen wahr. Er schien zu überlegen, ob er die Sache hier zu Ende bringen sollte, entschied sich aber wegen des eigenen Handikaps und der Entschlossenheit der Frau, die eben noch seine Sklavin gewesen war, für einen schnellen Rückzug.

Letztlich war Anna erleichtert darüber gewesen, dass der Peiniger mit seinen Kleidern unter dem Arm nackt geflohen war. Sie hatte noch gehört, wie er die Haustür mit dem von innen steckendem Schlüssel aufgeschlossen hatte und mit heulendem Motor davongebraust war.

»Machst du uns noch einen Cappuccino?«, bat Mülenberk. Schweigend saßen sie einander gegenüber und waren froh, dass sie sich an den Tassen festhalten konnten.

»Hattest du dir die Autonummer aufgeschrieben?«

»Nein, ich hatte keinen Grund dazu«, stellte Anna fest. »Ich habe es mir zwar angewöhnt, bei Gästen, die ich nicht kenne, die Autonummern zu notieren, falls einer die Zeche zu prellen versucht. Dieser Schweinekerl hat allerdings die gesamte Rechnung einschließlich Übernachtung bar gezahlt, bevor er in sein Zimmer ging.«

»Sonderbar. Wenn er die Absicht gehabt hätte, dich zu töten, wieso hätte er dann zahlen sollen?«

Anna zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wollte er mich möglichst lange in Sicherheit wiegen. Anders kann ich es mir nicht erklären.«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Weißt du, was jedoch das Allerschlimmste ist?«

Roman sah sie an.

»Dass es mir bis zu seiner Drohung, mich zu töten, Spaß gemacht hat.«

Mülenberk wusste, was sie meinte. Anna konnte sich beim Sex völlig fallenlassen; dies setzte jedoch größtes Vertrauen voraus, was einem Fremden gegenüber absolut unmöglich war. Es musste an dem Spray gelegen haben, das er Anna verabreicht hatte. Anders konnte Mülenberk sich ihr Verhalten nicht erklären. Wenn der Holländer damit durch die Lande zog oder kriminelle Organisationen es in Händen hatten, ging eine massive Bedrohung davon aus.

»Anna, wir brauchen diese Sprayflasche! Vielleicht können wir sie in deinem Schlafzimmer finden.«

»Ich habe schon alles durchsucht, die Bettwäsche in die Waschmaschine gestopft, alles geputzt und desinfiziert, und mich gefühlte drei Stunden unter die heiße Dusche gestellt.« Anna hatte Tabula rasa gemacht. Die Spurensicherung würde sich bedanken.

»Wann kommt die Polizei?«, erkundigte sich Mülenberk. Sie sah ihn an, als hätte ein Außerirdischer zu ihr gesprochen. »Du bist der einzige Mensch, mit dem ich darüber gesprochen habe und jemals sprechen werde. Und das auch nur, weil du gerade da warst.«

»Anna, ich kann dich ja wirklich gut verstehen. Oder ich versuche es zumindest. Du warst bestimmt nicht die erste Frau und wirst auch nicht die letzte sein, der dies widerfährt. Du hast die Möglichkeit, weitere Taten dieses Mannes zu verhindern.«