Blutdorf - Rolf Eversheim - E-Book

Blutdorf E-Book

Rolf Eversheim

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Beschreibung

»Stirb in der Eifel, da kannst du was erleben«, philosophiert Roman Mülenberk. - Als er seinen alten Studienfreund nach Jahren unter merkwürdigen Umständen in einem Eifeldorf wiedertrifft, ahnen beide nicht, welche tödlichen Entwicklungen es schon bald geben wird, während das seltene Ereignis eines Blutmondes langsam näher rückt. Auch der Bonner Oberstaatsanwalt Westenhoff hatte sich seine Ermittlungen in der Idylle der Eifel gänzlich anders vorgestellt. Während die Ermittler in der verschwiegenen Dorfgemeinschaft zwischen Kriminellen, Hinterwäldlern, Jägern, Heilern und Schamanen jeden Stein umdrehen, mehren sich die Todesfälle und sie blicken schon bald in menschliche Abgründe. Die »Dorfhexe« prophezeit ein »Blutdorf« … Das Manuskript zu diesem Buch entstand zu einer Zeit, als noch niemand etwas von Covid-19 gehört hatte, die Geschichte ist daher erfreulicherweise coronafrei.

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Ähnliche


Rolf Eversheim

Blutdorf

Ein Eifel-Krimi

Copyright: © 2020 Rolf Eversheim – [email protected]

Lektorat: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

Satz & Umschlag: Erik Kinting

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

978-3-347-13550-5 (Paperback)

978-3-347-13551-2 (Hardcover)

978-3-347-13552-9 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Tom

Dr. Rolf Eversheim, 1959 in einem Forsthaus in der Eifel geboren, hat die Seele der Eifel mit der Muttermilch aufgesogen. Seine Lehr- und Wanderjahre trugen ihn nach Bonn, wo er ein Vierteljahrhundert studiert, gearbeitet, geliebt, gesungen, geweint und gelacht hat.

Er hängte seinen Beruf an den Nagel, um seiner Berufung zu folgen: Schreiben und seine Leser in der Spannung eines Krimis Entspannung finden zu lassen – und den Teilnehmern an seinen Lesungen und Mitspielkrimis Eifler Lebenskunst so zu vermitteln, dass sie leichter und unbeschwerter nach Hause gehen.

Prolog

Der eiskalte Nordwind fegte, begleitet von grellen Blitzen und lautem Donnern, einen Schneesturm über das Dorf. Der Winter hatte sein letztes Gefecht begonnen, wütend darüber, dass er den Frühling nicht länger aufhalten konnte. Das tiefgezogene Dach des Meier-Hofes schützte Mensch und Vieh, die in dem alten Gehöft lebten. Schon bald würde es einer weniger sein.

Der alte Bauer lag auf seinem Bett. Er war nassgeschwitzt und der eisige Sturm hatte seinen Weg durch die alten Fenster ins Sterbezimmer gefunden. Es kam ihm vor, als würde er den kalten Hauch des Todes auf seiner Haut spüren. Ihn fröstelte. Sein Blick wandte sich dem Sterbekreuz zu, das von zwei flackernden Kerzen in unruhiges Licht gehüllt wurde. Dieses Kreuz hatte schon seinen Großeltern und seinen Eltern beigestanden, als der Augenblick des Todes nahte. Jetzt hatte man es für ihn aufgestellt.

Der Alte lachte bitter auf. Alle im Zimmer wussten, dass ihm jedes Stück Vieh im Stall näherstand als der Pfaffe, den die Bäuerin herbeigerufen hatte. Nun standen die beiden in respektvollem Abstand da und fixierten ihn mit diesen Blicken, mit denen er als Kind interessiert, aber ohne jegliche innere Regung, dem Sterben der Hühner, Kaninchen und Schweinen auf der Schlachtbank zugeschaut hatte.

Nun wartete er selbst auf den Tod, der schon das Zimmer betreten zu haben schien. Dass der Tod wie selbstverständlich sein Schlafzimmer betrat, machte dem Alten auf schmerzliche Weise bewusst, dass seine irdische Macht und Stärke bald ebenso bedeutungslos sein würden wie sein Land und sein Vieh, für das er sein Leben lang hart geschuftet hatte.

Sein Blick wandte sich den vier Söhnen zu, die sich – verstört und voller Angst vor dem, was kommen würde – an der dem Sterbekreuz gegenüberliegenden Wand aufgestellt hatten. Als er merkte, dass es zu Ende gehen würde, hatte er mit jedem von ihnen unter vier Augen gesprochen – alle anderen mussten währenddessen das Zimmer verlassen. Er hatte jedem Einzelnen von ihnen das Versprechen abgenommen, dass sie alles dafür tun würden, dass der Meier-Hof der kommenden Generation in gutem Zustand übergeben werden konnte. So hatte es sein Großvater mit seinem Vater und sein Vater mit ihm gemacht. Er hatte dieses Versprechen vom Sterbebett seines Vaters jeden Tag seines Lebens eingelöst. Der Alte war sich sicher, dass auch seine vier Söhne ihr Versprechen als lebenslange Verpflichtung verstehen und ihr persönliches Wohl und das ihrer Familien stets dem Interesse des Hofes unterordnen würden. So wie sein Vater und er es auch ihr Leben lang getan hatten.

Nur bei Benno, dem Jüngsten, war er sich nicht sicher. Nie wusste er, was in dessen Kopf wirklich vorging. Nicht dass der Junge ihm jemals widersprochen hätte, nein, so war Benno nicht. Dafür war er viel zu klug. Er ließ den Alten gewähren, sagte zu allem Ja und Amen und suchte sich seine eigenen Freiheiten und Wege. Benno verfügte über die Stärke und Sprengkraft, die Einigkeit der Brüder und damit die Existenz des Meier-Hofes zu gefährden. Wenn es darum ging, das Vieh zu versorgen, oder wenn jemand Hilfe brauchte, war Benno immer da. Aber wenn es ums Schlachten ging, war er andauernd weg. Er akzeptierte das Schlachten ihrer Nutztiere, machte es sich aber nie zu eigen. Er aß ihr Fleisch, aber stets mit Respekt, und nie mehr, als er glaubte, wirklich zu brauchen. Er tat dies leise, unauffällig, für Außenstehende unbemerkt. Dies machte er mit allen Freiräumen so, die er sich errang, und das machte ihn in den Augen des Alten so unberechenbar. »Lass den Jungen, Konrad«, hatte seine Frau Katharina ihn jedes Mal beschwichtigt, »du weißt doch …« Mehr hatte sie nicht gesagt und mehr brauchte sie auch nicht zu sagen. Ja, er wusste es. Dieses dunkle Kapitel seiner Familie, das niemals den Weg nach draußen finden durfte, lag ihm seit Jahren auf der Seele.

Unvermittelt schaute er zu seiner Frau und dem Pfaffen. Was, wenn sie es in ihrem religiösen Wahn diesem Lambrecht in seiner verherrlichenden schwarzen Robe gebeichtet hatte? Wenn es einen außerhalb der Familie gab, der ihr Geheimnis kannte? Er musste den Pfaffen warnen, und wenn es das Letzte war, was er tat. Mit einem Wink dirigierte er Heinrich, den Ältesten zu sich. Er flüsterte ihm seinen Befehl ins Ohr, während sein Zeigefinger auf Pfarrer Lambrecht wies. Heinrich nickte, dann dreht er sich zu Lambrecht hinüber und blickte ihn mit seinen eiskalten blauen Augen an.

Lambrecht verstand diese Drohung sofort. Er zögerte kurz, dann nickte er dem Alten und Heinrich zu. Das Beichtgeheimnis war unverletzlich. – Und Lambrecht wollte es auch bleiben.

Heinrich gesellte sich wieder zu seinen Brüdern und versuchte Benno zu fixieren. Der zwinkerte ihm nur kurz mit einem Auge zu und Heinrich gab auf. Benno war seinem Blick niemals ausgewichen, auch wenn er sechzehn Jahre jünger war. Benno wich überhaupt niemals aus, wie jemand, der sich seiner ganzen Stärke voll bewusst war. Der Vater hatte recht: Benno war latent gefährlich. Heinrich würde ihn im Auge behalten müssen.

Der Alte horchte auf den erneut aufbrausenden Sturm. Er sah zum Fenster und konnte nicht mehr unterscheiden, ob Schneeflocken vor der Scheibe tanzten oder ob sich der letzte Schleier über ihn senkte. Wenn der Winter nicht bald weichen würde, hätten sie zu wenig Futter für das Vieh. Unruhig schloss er die Augen. Im Sterben erschlafften seine Muskeln und sein Körper versuchte, noch einen letzten Atemzug zu tun.

Alle traten an das Bett heran und hörten dem Pfarrer zu, der das Sterbegebet sprach: »Brich auf, Seele, von dieser Welt, heute noch sei dir in Frieden deine Stätte bereitet, deine Wohnung bei Gott im heiligen Zion. Du kehrst zurück zu deinem Schöpfer, der dich aus dem Lehm der Erde gebildet hat. Mögest du deinen Erlöser schauen von Angesicht zu Angesicht und dich der Erkenntnis Gottes erfreuen in Ewigkeit. Amen.«

In die Stille hinein hörten sie das Vieh schreien. Die Milch drückte und der Hunger plagte es.

Benno bekreuzigte sich und sagte beim Hinausgehen: »Das Vieh will versorgt werden, es kann nicht länger warten. Er hat jetzt Zeit.«

An zwei Äcker sollst du denken,

einen nur bestellst du,

in den anderen wird dich senken

Gottes Hand zur Ruh.

1. Kapitel

Fassungslos beugte sich Julia Scheffer hinunter, um das Unvorstellbare besser betrachten zu können: Das satte Wiesengrün des Sommers war rot mit Blut getränkt. Sie betrachtete die geöffnete Bauchhöhle und musste sich zwingen, den Blick nicht abzuwenden. Ihre feinen Hände, die so gar nicht zu der groben Tracht passen wollten, klammerten sich an den Hütestab aus Schwarzdorn, der ihr ein wenig Halt gab. Bis auf den Verdauungstrakt war der komplette Bauchinhalt verschwunden. Es gab nur eine logische Erklärung … Sie überwand sich und fühlte den Hals ab. Jetzt hatte sie völlige Gewissheit: Das Opfer war durch einen Biss in die Luftröhre getötet worden. Der Biss hatte so lange gedauert, bis das Opfer erstickt war. Dieser Drosselbiss war typisch für vom Wolf gerissene Schafe.

Die Wanderschäferin musste sich setzen. Das Bild, das sie fast dreißig Jahre versucht hatte, aus ihrer Erinnerung zu löschen, war in seiner ganzen Erbarmungslosigkeit wieder da, so als wäre es gerade erst geschehen …

Als junges Mädchen hatte sie wunderbare Sommerferien bei ihrem Großvater und seiner Schafherde verbracht. Was hatte er ihr nicht alles über die Schäferei beigebrach, über die Natur und das Leben da draußen, über Hütehunde … und über Wölfe.

Sie hatte gelacht. »Großvater, Wölfe gibt es doch bei uns gar keine mehr. Das habe ich in der Schule gelernt. Du erzählst mir Märchen.«

Der Großvater hatte sie lange schweigend angeschaut, so als würde er überlegen, ob er ihr sein Wissen mitteilen sollte; er wollte die Kinderseele nicht verstören. Doch schließlich hatte er mit seiner warmen und ruhigen Stimme geantwortet: »Julia, der Wolf ist hier. Ich kann ihn spüren. Ich merke es an der Unruhe der Schafe und Hunde. So ist es immer, wenn er da ist, der Wolf. Kein Tier ist gut oder böse. Diese Einteilung nehmen die Menschen vor, genauso wie die von nützlich oder schädlich. Allerdings wurden die Wölfe Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in der Eifel zur regelrechten Plage. In harten Wintern wagten sich die Rudel bis ans Dorf, um Vieh zu reißen. Wovon sollten sie auch sonst satt werden?«

»Großvater, es gibt doch ganz viel Wild in den Wäldern. Das hast du mir selber erklärt.«

»Heute ist das so, Julia, heute. Damals war die Eifel ein karges Land. Die Wälder waren abgeholzt und Wild gab es kaum noch. Flurnamen wie die Wolfsschlucht, die du da drüben siehst, oder die Wolfsgasse im Dorf erinnern noch an diese Zeiten.«

»Du machst mir Angst. Das Dorf macht mir Angst. Hör auf!«

»Angst ist ein schlechter Ratgeber, meine Kleine. Ich wollte dich nur dazu anhalten, vorsichtig zu sein. Geh schon mal in den Wagen und mach uns einen Kräutertee. Ich habe den Eindruck, dass noch ein paar Schafe fehlen. Ich schaue mal nach ihnen.«

Das waren die letzten Worte, die ihr Großvater zu ihr gesprochen hatte. Als die Dämmerung hereinbrach und der Großvater noch nicht zurück war, wurde sie unruhig. Sie war zur Schafherde gegangen und hatte nach ihm gerufen, doch er antwortete nicht.

Nach einer Zeit kam Oskar, der Hütehund, mit eingezogenem Schwanz angelaufen. Wo war sein Bruder Anton? Die beiden waren doch unzertrennlich. Oskar hatte sie angeschubst, um sie aufzufordern, ihm zu folgen. Es würde bald dunkel sein. Sie war zum Wagen des Wanderschäfers gelaufen und hatte die große Taschenlampe geholt.

Bangen Herzens war sie der sich nahenden Dunkelheit entgegengegangen. Oskar war immer nur so weit voran gelaufen, dass sie ihm folgen konnte. Sie bewegten sich Richtung Wolfsschlucht. Immer wieder hatte sie nach dem Großvater und nach Anton gerufen, doch es hatte niemand geantwortet. Sie hatte längst die Taschenlampe angemacht, um zu sehen, wo sie hintrat. Plötzlich war Oskar stehen geblieben. Ein Gefühl von Kälte und Angst hatte sie überkommen. Oskar hatte alle Haare gesträubt. Vorsichtig bewegte sie sich auf ihn zu. Dann sah sie im Schein der Taschenlampe das Bild, das sie seit dreißig Jahren wie ein Schatten verfolgte: Großvater und Anton lagen tot in einer großen Blutlache. Die Bauchhöhlen waren aufgerissen und die Innereien aufgefressen. – Wer wem zur Hilfe geeilt war, hatte sich nie klären lassen.

Der Schock, den sie erlitten hatte, führte zu einem ihr heute noch absolut unverständlichen Handeln: Sie leuchtete mit der Taschenlampe in Großvaters Gesicht und sah seine weit aufgerissenen Augen, von denen sie nicht sagen konnte, ob sie vor Erstaunen, Wut oder Schmerzen den sonst immer gütigen Blick des alten Mannes ausgelöscht hatten. Sie hatte sich niedergekniet, die gebrochenen Augen geschlossen und ein kurzes Gebet gesprochen. In der rechten Hand hielt der Großvater seinen Hütestab aus Schwarzdorn fest umklammert und sie musste die erkaltenden Finger einzeln aufbiegen, um ihn an sich nehmen zu können. Erst dann hatten sich alle Angst, Trauer und Panik, die ein junges Mädchen überhaupt zu empfinden in der Lage ist, Bahn gebrochen. Sie wollte schreien, aber ihre Stimme versagte.

Sie rannte los und hätte sich nicht gewundert, wenn auch ihre Beine versagt hätten. Doch die Beine trugen sie schneller, als sie es je getan hatten, fort von diesem grauenvollen Ort. Sie rannte immer weiter, ohne eine Richtung zu kennen. Oskar wich ihr nicht von der Seite. Ihr war egal, ob er sie beschützen wollte oder selber Schutz suchte, Hauptsache Oskar war da. Wenn sie fiel, stand sie sofort wieder auf. Sie spürte keinen Schmerz, nur den Wunsch, ganz weit fortzukommen. Fort von diesem schrecklichen Bild, das sich längst in ihre Seele eingebrannt hatte. Fort vom Wolf, dessen mögliche Existenz in der Eifel sie eben noch vehement bestritten hatte.

Irgendwann hatte sie die Lichter des Dorfes gesehen und das Dorf, das ihr nie geheuer gewesen war, wurde zu ihrem Zufluchtsort. Doch sie klopfte nicht an die erste Haustür, die sich ihr anbot. Einem ganz tiefen Instinkt folgend, so als würde sie jemand leiten, lief sie bis zum Haus der Zauberin, wie Großvater sie immer genannt hatte. Sie hatte seinen Hütestab an die Hauswand gestellt und mit ihren kleinen Händen so lange an die Tür geklopft, bis geöffnet wurde.

Die Frau mit den wallenden roten Haaren, die sie jetzt wild hochgesteckt hatte, und den geheimnisvollen grünen Augen schien keinesfalls überrascht, als sie die beiden erblickte, sondern sagte nur: »Da seid ihr ja endlich.« Dann hatte sie den Hütestab reingenommen und die Tür geschlossen.

Weinend hatte Julia sich in die Arme der Zauberin, deren richtigen Namen sie nicht kannte, fallen lassen und nach kurzer Zeit hatte sie zu ihrer großen Überraschung gespürt, wie eine tiefe Wärme und Geborgenheit sie umhüllte. Der Großvater war da und strich ihr über ihr Haar und sie wusste nicht, was Traum und was Wirklichkeit war. Dann war sie sicher, dass es ein Traum war, denn sie träumte, dass sich Oskar gerade mit wedelndem Schwanz eine große Schüssel Futter einverleibte. Doch als Oskar sich schnauzeleckend neben sie gelegt hatte, dachte sie, dass es unmöglich ein Traum sein könnte.

Nun saß sie dreißig Jahre später hier, neben ihrem gerissenen Schaf, Großvaters Stab in den Händen. Schon wieder war sie zu spät gekommen.

2. Kapitel

Roman Mülenberk hatte seinen Wagen neben der Landstraße auf einem kleinen Feldweg stehen lassen. Er war mit seinem alten Freund Jupp Boergaard verabredet, den er seit ihren gemeinsamen Studentenzeiten in Bonn kannte. Danach hatte er Boergaard über dreißig Jahre nicht mehr gesehen. Mülenberk hatte keine Ahnung, ob die alte Freundschaft noch trug. Und er hatte auch keine Ahnung, warum Jupp Boergaard sich mit ihm in ausgerechnet diesem Dorf treffen wollte.

Boergaard hatte Philosophie studiert und war damit in ihrer Studentenverbindung, dem Corps Tartarus, ein Exot gewesen. Was hatten sie eine jugendliche Begeisterung gehabt, wenn der Philosoph auf ihren Kneipentouren zu seinen berühmten Reden für Normalsterbliche ausgeholt hatte. Das hörte sich dann ungefähr so an: »Die chemische Verbindung von Mensch und Alkohol kann sich auf tiefem wie auf hohem Niveau stabilisieren. Studenten üben das oft fleißig, erhalten aber zunächst keinen Schein dafür, später den Krankenschein, soweit sie wenigstens vorübergehend arbeitsfähig geworden sind. Das ist philosoffich betrachtet, ganz im Widerspruch zum Streit unter den Professoren nicht ziemlich unwahr, sondern vielmehr wahrhaft scheinheilig gemäß den Wahrscheinheiligen. Was zunächst hindert, ist der Verstand. Ist er versoffen, hindert nichts mehr am geradezu kamelhaften Saufen.«

Mülenberk lächelte, als er das Bild dieses schmächtigen langen Kerls mit seinen verschmitzten, stets wachen Augen und den scharfen Gesichtszügen, die an einen Greifvogel erinnerten, vor sich sah. Weiß der Teufel, woher er seine Reden hatte, die heutzutage in den üblichen Zitatesammlungen ergoogelt werden können. Er musste sich wohl noch klassisch aus alten Schmökern zusammengesucht haben. Sie hatten jedenfalls eine gute Zeit mit Jupp Boergaard gehabt, der nach seinem Studienabschluss von der Bildfläche verschwunden war. Was mochte er aus seinem Leben gemacht haben?

Es war noch eine Stunde bis zum Treffen und Mülenberk genoss die überbordende Natur der Sommertage, das emsige Treiben der Vögel und den unverwechselbaren Duft nach neuem Leben. Wie oft würde er den Sommer noch erleben dürfen? Er war fast sechzig Jahre alt und die perspektivische Endlichkeit des Lebens machte ihm gelegentlich zu schaffen. Bevor die Melancholie ihn einholte, beschleunigte er lieber seine Schritte und beschloss, einmal um das Dorf herumzugehen. Zeit hatte er genug.

Er war zwar schon ein paarmal durch das Dorf gefahren, aber immer nur, um von A nach B zu kommen. Das Dorf selber war heute zum ersten Mal sein Ziel, das er sich nun ganz bewusst anschaute. Es lag in einem schmalen tiefen Tal, das seinen frühen Ursprung in den nahen Vulkanausbrüchen hatte. Während die ersten Bauern und Jäger ihre Häuser weit unten im Tal gebaut hatten, vermutlich um Schutz und Zuflucht vor den Elementen zu finden, waren einige Häuser weiter oben neu gebaut worden, wo Sonne und Ausblick ein deutliches Plus an Wohnqualität versprachen. In den Dorfkern drang die Sonne nur an wenigen Stunden durch und bis vor Kurzem entsprachen Internet und Fernsehempfang der frühen Steinzeit. Deshalb wurde das Dorf in der Umgebung immer noch das Dorf der Ahnungslosen genannt, auch wenn es mittlerweile über das Internet mit dem Rest der Welt verbunden war.

Es hätte ein malerisches Dorf sein können, doch je mehr Mülenberk sich ihm näherte, desto mehr beschlich ihn ein Unbehagen, das er weder näher beschreiben noch deuten konnte.

Zögernd trat er in das kühle dunkle Labyrinth der wenigen kleinen Straßen ein. Das Dorf war definitiv zu klein, um sich darin zu verlaufen, trotzdem kam es ihm so vor, als könnte er die Orientierung oder besser gesagt seine Sicherheit hier verlieren.

Längst verblasste Schriftzüge an einigen Häusern ließen erkennen, dass es hier früher zwei Gaststätten, einen Lebensmittelladen und eine Schmiede gegeben haben musste. Was es allerdings gab, war eine kleine Dorfkirche, die sich mit ihrem frischen weißen Anstrich von den dunklen Farben der Umgebung abhob. Mülenberk hatte gar nicht damit gerechnet, dass die Tür sich öffnen ließ. Die rostigen Scharniere knarzten ein wenig und deuteten darauf hin, dass Besucher eher selten waren.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Mülenberk zuckte zusammen, denn er hatte den alten Dorfpfarrer Lamprecht, der betend in der Bank kniete, nicht bemerkt.

»Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken, aber wenn schon mal jemand in das Haus des Herrn kommt …« Lamprecht sah Mülenberk mit einem Blick an, der fragte, was um Himmels willen er denn hier in dem Dorf suche.

Mülenberk zögerte. Einerseits ging es niemanden etwas an, was er hier wollte – zudem er es selber ja nicht wusste, andererseits wollte er dem alten Pfarrer gegenüber nicht unhöflich sein. Dann beschloss er, das Höfliche mit dem Nützlichen zu verbinden: »Vielen Dank der Nachfrage, Hochwürden …«

»Hochwürden? Hochwürden … Na und ich dachte schon, dieses Wort wäre längst ausgestorben, für alle Zeiten in Vergessenheit geraten.« Verbitterung war in seiner Stimme zu hören. »Würde«, fügte er mit zitternder Stimme hinzu, »Würde hat dieses Dorf längst verlassen.« Pfarrer Lambrecht hatte in Zeiten zunehmender Priesterknappheit nicht nur das Dorf zu betreuen, vielmehr war sein Zuständigkeitsbereich im Laufe der Jahre immer weiter auf die umliegenden Orte ausgedehnt worden. Lambrecht war, wie viele seiner Mitbrüder, zunehmend ausgebrannt. Priester wurden immer mehr wie selbstverständlich als Dienstleister wahrgenommen. Das Sorgen um die Seele, weshalb er ja Seelsorger geworden war, rückte auch bei den Katholiken oder, wie er sich mit zunehmender Bitterkeit ausdrückte, mit Taufwasser Begossenen, immer weiter in den Hintergrund.

Mülenberk vermied es, auf die Bitterkeit in den Worten einzugehen. »Ich suche das Haus von Kassiopeia.«

»Kassiopeia?« Der alte Pfarrer schaute ihn plötzlich interessiert an. »Was wollen Sie von Kassiopeia?«

»Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ein alter Freund bat mich, dort hinzukommen.«

»Ein alter Freund? Was für ein alter Freund?«

Lambrechts Interesse wuchs, was Mülenberk die ganze Situation nicht angenehmer machte. »Ein alter Freund eben«, wich er aus. »Wir wollen uns dort treffen.«

»Und der Freund sagte: Komm ins Haus von Kassiopeia?«

»Ja. Er sagte: Komm ins Dorf und komm ins Haus von Kassiopeia!«

»Mehr sagte er nicht? Nur: Komm ins Haus von Kassiopeia?«

»Komm ins Dorf und frage nach dem Haus von Kassiopeia. Sei um zwölf Uhr dort. Mehr sagte er nicht.«

»Dann sollten Sie jetzt gehen, sonst kommen Sie zu spät.«

»Wo finde ich denn nun das Haus?«, fragte Mülenberk irritiert.

»Das Haus … das Haus werden Sie sofort erkennen. Gehen Sie einfach die Straße ein Stück weiter hoch.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ließ er Mülenberk stehen.

Als Mülenberk die Kirche verließ und auf die Straße trat, läutete die kleine helle Glocke zwölfmal.

3. Kapitel

Wie ein gieriges Monster fraß sich die schwere Maschine lautstark durch den Wald. Mit ihrer Riesenfaust packte sie die vierzig Meter hohen Fichten wie Schnittblumen am Stamm, sägte sie in Sekundenschnelle ab und entastete sie, um sie dann behutsam abzulegen und auf Länge zu sägen. Ludwig Meier liebte seine Arbeit. Früher hatte er sich mit der Motorsäge durch die Fichtenbestände gekämpft. Dann hatte er einen Holzvollernter, einen sogenannten Harvester bei der Arbeit gesehen, der am Tag problemlos zweihundert Bäume schaffte, wofür Meier, wenn es gut lief, zehn Tage gebraucht hatte. Er hatte nicht eher geruht, bis er sich einen gebrauchten Harvester leisten konnte. Fast hunderttausend Euro hatte er zahlen müssen.

Das Geld dafür konnte er allerdings nicht mit der Motorsäge verdienen, deshalb hatte er begonnen, mit Holz zu handeln. Er hatte schnell heraus, dass den meisten Kleinwaldbesitzern in der Eifel jegliche Erfahrung beim Holzverkauf fehlte. Er zahlte einen besseren Preis als die großen etablierten Forstunternehmen und er zahlte immer einen gewissen Anteil bar aus, was die anderen mit ihren Warenwirtschaftssystemen nicht konnten. Die konnten allerdings auch beim Aufmaß und der Abrechnung keine Stämme vergessen. Wenn Bargeld vorbei am Fiskus lachte, fraß die Gier den Eifelern das Hirn auf. Mit ein paar Gesprächen unter vier Augen, ein paar Bier hier und ein paar Schnäpsen da, hatte Ludwig schnell das Vertrauen der Leute gewonnen. Außerdem saß sein Handelspartner in Belgien. Wenn sie erst einmal das Bargeld in der Tasche hatten, war es den Leuten egal, was mit ihrem Holz passierte. Von seinem Vater hatte er gelernt, wie man mit Viehhändlern umzugehen hatte, Menschen einer Branche, die seit Jahrhunderten mit einem schlechten Ruf lebten. Er hatte sich ihnen vieles abgeschaut und beherrschte die gesamte Klaviatur der Händlerpsychologie, ohne jemals an einer Schulung teilgenommen, geschweige denn einen Hörsaal von innen gesehen zu haben. Sein Traum vom Harvester rechtfertigte die Mittel. Und warum sollte er etwas ändern, das funktionierte? Der Wald und sein Holz waren zu Ludwigs Lebensinhalt geworden. Er liebte seine Arbeit und die Einsamkeit, die sie mit sich brachte, denn die meiste Zeit war er in der Steuerkabine des schweren Gerätes auf sich gestellt. Nur ab und zu schaute mal der Förster oder ein Waldbesitzer vorbei. Das waren dann immer gute Gelegenheiten, um das nächste Geschäft einzufädeln.

Die Elektronik zeigte ihm an, dass eine Sägekette stumpf war. Sein bestens ausgestatteter Werkstattwagen, ein schwarzer Ford Transit, dem man seine harten Einsätze ansah, stand immer in der Nähe. Ludwig schaltete den Motor des Riesen aus, legte Gehörschutz und Helm ab und stieg die eisernen Stufen des Monsters hinunter, um das Spezialwerkzeug zu holen.

Auf dem Weg zum Werkstattwagen stellten sich die Haare an seinen muskulösen und braun gebrannten Armen auf. Er blieb abrupt stehen, lauschte angestrengt und tastete mit seinen geschulten Augen die Umgebung ab. Doch außer Vogelstimmen und dem leisen Wehen des Windes vermochte er nichts auszumachen. Er konnte sich aber auf seine Instinkte verlassen und blieb unschlüssig stehen. Aber was sollte schon sein? Da! Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, eine leichte, nicht dorthin gehörende Bewegung im Unterholz ausgemacht zu haben. Nein … er hatte sich wohl getäuscht. Kopfschüttelnd ging er weiter.

Hätte er sich noch einmal umgedreht, hätte er den Kopf sehen können, der jede seiner Bewegungen sorgfältig verfolgte. Wenn sich das Monster mit seinen bedrohlichen, Zerstörung verkündenden Arbeitsgeräuschen durch den Wald fraß, ergriff alles, was Beine oder Flügel hatte, die Flucht. Niemals im Leben wäre Ludwig auf die Idee gekommen, dass ein Wolf aus kurzer Distanz jede seiner Bewegungen registriert hatte.

4. Kapitel

Es war so, wie der alte Pfarrer es gesagt hatte: Das Haus von Kassiopeia erkannte er direkt. Selbst wenn es sich mit seinem schmucken Fachwerk, den bunten Fensterläden und der üppigen Blumenpracht in den vollen Farben des Sommers nicht von den düsteren Häuserfronten abgehoben hätte, wäre er nicht daran vorbeigegangen. – Das Haus strahlte eine unglaublich positive Energie aus.

Mülenberk betätigte den Türklopfer, den ein schwarzer Metall-Wolfskopf fest in seinem Maul hielt.

Er hatte sich auf dem Weg vielfach vorgestellt, wie eine Frau mit dem geheimnisvollen Namen Kassiopeia wohl aussehen würde, aber die Erscheinung, die ihm jetzt die Tür öffnete, nahm ihm den Atem: Die stramm sitzende Jeans und das weiße Männerhemd standen ihr einfach fantastisch, die Clogs passte zu dem Outfit, aber der Blick in ihre grünen Augen traf ihn völlig unvorbereitet, Augen, die seinem Blick standhielten, nicht wie im Kampf um die Überlegenheit, sondern gefühlvoll und anregend. Augen, die er zu kennen glaubte, aber schon lange nicht mehr gesehen hatte. Grüne Augen die Erotik, Sinnlichkeit und Mystik ausstrahlten. Es war ihm, als schaute er in die Augen seiner viel zu früh verstorbenen großen Liebe Esther … Esther Hansen, die ihm ihre gemeinsame Tochter Marie geschenkt hatte, von deren Existenz er dreißig Jahre lang nichts wusste. Bilder begannen in seinem Kopf zu kreisen, immer schneller, immer bunter, immer wirrer. Es hatte den Eindruck, als würde seine Seele aus seinem Körper herausgezogen – hin zu Esther, die ihn an die Hand nahm und ihn durch eine Welt leitete, die er nicht kannte oder längst vergessen hatte.

Als die warmen Hände von Kassiopeia sich auf seine Schultern legten und sie völlig unverständliche Worte in einer nie gehörten Sprache flüsterte, kam er wieder zu sich, es war, als kehre er zurück in seinen Körper … als ob er weg gewesen wäre. Aber nein, das war völlig unmöglich, sagte er sich, vermutlich eine Kreislaufschwäche. Vielleicht sollte er vorsichtshalber einen Zuckertest machen lassen.

Er blickte sich um. Er befand sich in einem ganz normal eingerichteten Zimmer; kein Altar, keine Kugeln, keine Voodoo-Puppen, kein Zauberstab und auch kein Hexenbesen. Neben den Blumen und Getränken auf dem Tisch fiel ihm lediglich ein hauchdünner Tablet-PC modernster Bauart auf.

Plötzlich stand Jupp Boergaard vor ihm – er erkannte ihn nach all den Jahren sofort. Lange sahen sie sich nur an, musterten sich von oben bis unten und schauten sich tief in die Augen. Es war gerade so, als sei jeder von ihnen in die Vergangenheit eingetaucht, um ein Band zu finden, mit dem sie sich in der Gegenwart neu verknüpfen konnten.

Schließlich schienen sie es in ihren Erinnerungen gefunden zu haben. Langsam und schweigend bewegten sie sich aufeinander zu und nahmen sich in die Arme. Kassiopeia sah ihnen die ganze Zeit zu, während sie leise das alte deutsche Lied aus ihrer Studentenzeit sang:

Wahre Freundschaft soll nicht wanken,

wenn sie gleich entfernet, ist;

Lebet fort noch in Gedanken

und der Treue nicht vergisst.

Keine Ader soll mir schlagen,

wo ich nicht an dich gedacht,

ich will für dich Sorge tragen

bis zur späten Mitternacht.

Wenn der Mühlstein träget Reben

und daraus fließt kühler Wein,

wenn der Tod mir nimmt das Leben,

hör ich auf getreu zu sein.

»Jupp«, krächzte Mülenberk ergriffen.

»Roman.«

Langsam lösten sie ihre Umarmung.

Kassiopeia sprach aus, was sie fühlten: »Tja, Freunde, eure Körper sind älter geworden, aber eure Freundschaft ist sehr lebendig. Was für ein kostbares Geschenk.« Sie war völlig aufgekratzt und strahlte. »Setzt euch, ihr habt bestimmt viel zu erzählen. Ich besorge was für unser leibliches Wohl. Das Wiedersehen wollen wir feiern.« Sie verschwand durch die Tür in die Küche.

Mülenberk spürte, dass sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Die irritierenden Umstände waren geradezu irrelevant und er sah zu seinem eigenen Erstaunen ohne mit der Wimper zu zucken darüber hinweg. »Es kommt mir so vor, als hätte ich dich gerade gestern gesehen.«

»Das ist wahre Freundschaft. Sagt man.«

Wie immer an der Stelle, kam jetzt auch bei Mülenberk und Boergaard der Zeitpunkt, an dem ein langes Schweigen entsteht, weil zwei Menschen, die sich nach vielen Jahren wiedersehen, soviel vom anderen hören und soviel über sich mitteilen wollen, dass das Gehirn erst mal darüber nachdenken muss, was es denn nun Wert wäre, erzählt zu werden. Und da erst einmal alles unwesentlich zu sein schien und keiner dem anderen mit Belanglosigkeiten die Kostbarkeit des Augenblicks nehmen wollte, waren beide erst einmal sprachlos. Es war ein beredtes Schweigen, das tiefer drang, als Worte es vermochten.

Kassiopeia beendete es mit ihrem Erscheinen. Sie deckte schnell den Tisch.

Mülenberk war einmal mehr erstaunt, wie völlig naturbelassenes Essen sich geschmacklich von der Fertignahrung abhob, die er sich in seinem Wohnmobil, das ihm als Hauptwohnsitz diente, aus reiner Bequemlichkeit viel zu oft einverleibte. Er dachte ganz kurz darüber nach, seine Gewohnheiten umzustellen, verwarf den Gedanken aber sofort wieder; sein Essen hatte ihn noch nie krank gemacht und es sparte ihm ganz einfach viel Zeit. Mit halb vollem Mund machte er seiner Neugierde Luft. »Jupp, wo hast du denn all die Jahre gesteckt? Und warum möchtest du mich jetzt wiedersehen?«

»Willst du die Lang- oder Kurzfassung hören?«

»Heute bin ich mit der Kurzfassung zufrieden. Aber zu gegebener Zeit möchte ich viel mehr erfahren.«

»Okay«, sagte Jupp, »dann wollen wir mal. Aber erst noch eine Tasse von Kassiopeias unvergleichlichem Grünen Tee.« Er trank seine Tasse langsam und genussvoll leer, dann seufzte er und fing an: »Die Zeit in Bonn und die Zeit bei Tartarus war gut, doch ich sehnte mich nach Neuem. Ich wollte Grenzerfahrungen machen, mich den Grenzen der irdischen Existenz nähern … sie vielleicht sogar überschreiten und in andere Welten und anderes Wissen vordringen. Auf diesem Weg, auf dieser Suche verlieren sich viele junge Menschen in Drogen, doch nach einigen experimentellen Erfahrungen war mir klar: Drogen würden das Bewusstsein niemals in der von mir gesuchten Weise erweitern, sondern in kürzester Zeit Leib und Seele zerstören. Erinnerst du dich noch an unseren Bundesbruder Konrad Eiden, der Physik studierte und den wir deshalb Einstein nannten? Er kommt hier aus der Eifel. Seine Mutter wird oft als Heilerin gerufen. Die Eifel ist ja eine Hochburg der Gesundbeter. In fast jedem Dorf leben Menschen, von denen es heißt, sie könnten Blutungen stillen, Schmerzen lindern oder Verbrennungen heilen. So ist es wohl auch.«

»Das wusste ich gar nicht. Die Mutter unseres Bundesbruders eine Heilerin? Der Einstein war schon eine besondere Type. Der hat tatsächlich das schwere Physikstudium geschafft und rechnet jetzt für die Mobilfunkanbieter aus, wo die Masten stehen müssen und so einen Kram.«

»Er hätte Besseres verdient. Schade. Mit Einstein habe ich viele Nächte trinkend und vor allem diskutierend verbracht. Er erzählte mir von der neuen Physik und dass sich die Erfolge der sogenannten Geistheilung auf Quantenphänomene zurückführen lassen. Ich war wie elektrisiert, doch je mehr ich darüber las, desto mehr wuchs die Erkenntnis, dass ich in die ursprüngliche Welt der Schamanen und Heiler eintauchen müsste, wenn ich Antworten auf meine ganzen Fragen erhalten wollte.«

Mülenberk war sichtlich irritiert. »Geistheilung? Schamanen? Quantenphysik? Ich kann dir nicht wirklich folgen, Jupp.«

Kassiopeia sah Mülenberk aufmerksam an. Der konnte ihren Blick nicht einordnen, der ihm durch ihre grünen Augen noch viel rätselhafter erschien. Foppten sie ihn gerade beide? Bemitleideten sie ihn, weil er es nicht raffte? Oder war sie einfach milde und freundlich?

Jupp verzog keine Miene. »Wie heißt es schon in Schillers Wallenstein: Was ist der langen Rede kurzer Sinn? Fast drei Jahrzehnte verbrachte ich also an Orten und bei Kulturen auf der ganzen Welt, von denen ich mir Erkenntnisse erhoffte. Ich lebte bei den Jakuten in Sibirien, auf Malaysia, bei den Pueblo-Indianern in Arizona, bei den Sioux in Dakota und in einigen Ländern Afrikas, dem Kontinent der Medizinleute, Zauberer, Hexen und der Besessenheit.«

»Und wovon hast du die ganzen Jahre gelebt?« Mülenberk dachte gerne praktisch.

»Nun, ich brauche nicht viel. Ich bekam immer wieder kleinere Lehraufträge an Universitäten, die sich mit Schamanismus beschäftigen. Während meiner Aufenthalte an den Universitäten schrieb ich zwei Bücher zum Thema, die sich erstaunlich gut verkaufen. So bekomme ich heute zahlreiche Anfragen für Vorträge, die auskömmlich honoriert werden.«

»Dann sind wir ja schon zwei Lebenskünstler«, stellte Mülenberk erstaunt fest.

Kassiopeia lachte. »Wir sind zu dritt, Roman, drei Menschen, die die Kunst zu leben zu ihrem Alltag gemacht haben.«

»Und die besteht bei dir worin?«, wollte Mülenberk wissen.

»Ganz einfach: Die Kunst zu Leben besteht darin, zu lernen im Regen zu tanzen, anstatt auf die Sonne zu warten. Und bei dir, Roman?«

»Was soll ich sagen? Eigentlich ganz ähnlich. Die meisten Menschen meinen, ich sei ein Aussteiger, das war aber nicht meine ursprüngliche Motivation. Ich sehe mich als Einsteiger. – Einsteiger in ein Leben, das mir Freiräume und Möglichkeiten verschafft, die ich vor dem Einstieg nicht hatte.«

»Dann machst du alles richtig, Roman.« Jupp sah ihn freudig an. »Dann weiß ich jetzt auch definitiv, dass es richtig war, dich hierher zu bitten. Es gibt ein Thema, das Kassiopeia und mir auf der Seele liegt.«

»Stopp, Jupp, soweit sind wir noch nicht«, unterbrach ihn Mülenberk. »Mir liegt nämlich auch noch ein Thema auf der Seele. Was verbindet euch beide und wie habt ihr euch kennengelernt? Und wieso bist du hergekommen?«

Kassiopeia nahm Jupp die Antwort ab. »Das gehört ganz sicher in die Langfassung. Lass mich aber noch ein paar Sätze zur Spiritualität sagen: Die meisten Menschen sind der Meinung, dass spirituell arbeitende Menschen verhuscht, verschroben und in dieser Welt nicht zu Hause sind. Das ist natürlich Unfug. Wir sind ganz normale Leute, die ihren ganz normalen Alltag leben. Auch wenn wir uns energetisch verbinden können, nutzen wir soziale Netzwerke und moderne Kommunikationsformen. Menschen mit ähnlichen Werten und Zielen wollen einander finden, ihr Talent und ihr Lebensfeuer zusammenbringen und ihre Träume und Ideen in Projekte gießen. Ein solches Netzwerk ist Value-Space, auf Deutsch Werte-Raum. Es ist ein internetbasiertes soziales Netzwerk, das darauf ausgerichtet ist, Menschen, Ideen und Aktivitäten zusammenzuführen, deren Motivation einer inneren Wertegemeinschaft entstammt. Und da sind Jupp und ich uns begegnet.«

»Und wir haben gleich unsere Seelenverwandtschaft erkannt«, ergänzte Jupp.

»Seelenverwandtschaft?« Mülenberk hielt das für blanken Unfug. Sollte etwas Wahres dran sein, so konnte er es jedenfalls nicht nachvollziehen.

Jupp sah über seinen skeptischen Blick hinweg und fuhr unaufgeregt fort. »Wir beide sehen in einem Seelenpartner einen fehlenden Teil der eigenen Persönlichkeit. Findest du also den einen Menschen, mit dem du dich in der Seelenpartnerschaft vervollständigst, wirst du eine ganz neue Dimension der inneren Zufriedenheit erleben.«

»Und woher weiß ich, dass ich gerade meinem Seelenverwandten begegnet bin?«, spöttelte Mülenberk.

Kassiopeia übernahm. »Oft triffst du deinen Seelenverwandten auf außergewöhnliche Weise. Ob im Supermarkt, auf einer Gartenparty oder beim Hundespaziergang: Plötzlich bringst du einer Person uneingeschränktes Vertrauen entgegen, auch wenn sie dir fremd ist. Du verspürst dann eine überwältigende Anziehungskraft. Seelenverwandte fühlen sich zu Hause, Raum und Zeit scheinen keinerlei Bedeutung mehr zu haben.«

Ein Stich fuhr Mülenberk mitten durchs Herz. Genauso war es gewesen, als er Esther damals in Paris begegnet war.

»Wenn du deinen Seelenpartner triffst, kann dein Verstand das nicht erfassen, doch deine Seele erkennt ihn aus einem tiefen inneren Wissen heraus. Eine Seelenliebe in einer Paarbeziehung oder einer Freundschaft ist als geistige Verbindung bedingungslos. Sie ist an keine Erwartungen geknüpft und braucht keine Machtspiele«, schloss Kassiopeia ihre Erläuterung ab.

Mit leicht brüchiger Stimme fragte Mülenberk: »Und was geschieht, wenn mein Seelenpartner stirbt und nicht mehr verfügbar ist? Kann ich dann überhaupt noch glücklich sein?«

»Dein Seelenpartner ist dann nicht mehr in seinem Körper, aber seine Seele ist hier auf dem Planeten, lebendig und unversehrt und wird es auch für die vorhersehbare Zukunft sein! Wir reden davon, dass der Seelenpartner hier auf Erden gestorben ist, sozusagen seine körperliche Hülle abgeworfen hat, und dann noch mit uns kommuniziert und anwesend ist.«

»Du denkst an Esther, Roman?«, fragte Jupp. »Was ist geschehen?«

Mülenberks Augen füllten sich mit Tränen. »Das ist auch eine lange Geschichte. Heute möchte ich nur so viel sagen, dass sie sich für ein Leben mit einem anderen Mann entschieden hat und viel zu jung an einem Aneurysma gestorben ist. Wir haben eine gemeinsame Tochter, wie ich dreißig Jahre nach ihrer Geburt erfahren habe. Marie und ich sind sehr glücklich, dass wir uns gefunden haben.«

»Wie könnte es auch anders sein, mein Freund«, sagte Jupp liebevoll.

Mülenberk konnte mit diesen geballten Emotionen und seinem Gefühlsausbruch nicht umgehen. Seit der Lektüre von Henning Mankells Wallander-Krimis hatte er sich den Satz angeeignet, mit dem der schwedische Kommissar Wallander, der an der Welt und sich selbst leidet, Sitzungen zusammenfasst: »Dann wissen wir das.« Wieso schoss ihm gerade jetzt durch den Kopf, was Mankell selbst über seine Figur Wallander geschrieben hatte? Ich bin mir nicht sicher, ob wir Freunde wären, wenn wir uns im richtigen Leben treffen würden. Wir sind ziemlich verschieden und ich mag ihn nicht besonders. Mülenberk schüttelte den Kopf. Dann wechselte er rasch das Thema. »Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehn! Warum sind wir hier?«

Jupp lachte. »Der Schüler Roman Mülenberk hat auch vier Jahrzehnte nach dem Besuch des Gymnasiums Goethes Faust noch nicht vergessen. Dann kommen wir zu des Pudels Kern … Du erinnerst dich?«

»Klar. Auf dem Spaziergang begibt sich ein schwarzer Pudel an Fausts Seite, der ihn bis in sein Studierzimmer begleitet. Vor seinen Augen verwandelt sich das Tier in Mephisto und Faust ruft erstaunt aus: Das also war des Pudels Kern. Und was ist es hier und heute?«

»Der Wolf ist zurück und nach allem, was Kassiopeia und ich an Botschaften erhalten, rollt mit ihm eine Welle von Angst und Gewalt auf das Dorf zu.«

»Woher wisst ihr, dass der Wolf zurück ist? Die hochempfindlichen Seismografen der Jägerschaft haben noch nichts verlauten lassen. Eine solche Nachricht würde sofort durch Hunderte Whatsapp-Gruppen gejagt werden.«

»Er hat ein Schaf der Wanderschäferin gerissen.«

»Das kann auch ein Hund gewesen sein.«

Kassiopeia schüttelte energisch den Kopf. »Glaub mir, Roman, wenn Julia Scheffer sagt, es war ein Wolf, dann war es ein Wolf.«

Mülenberk wiegelte ab: »Es wäre schon merkwürdig, dass niemand sonst davon wissen sollte. Ein Wolf in der Gegend wäre ein gigantisches Medienereignis.«

»Genau deshalb schweigt Julia. Ein medialer Hype würde die Leute hier völlig aufwühlen. Mit dem Wolf kommen auch so schon genug Probleme auf sie zu.«

»Ich verstehe nichts von dem, was ihr zu verstehen scheint. Und dieser Wolf soll an dem schuld sein, was eurer Meinung auf das Dorf zukommt?« Mülenberk blieb skeptisch.

»Nein, er ist nicht schuld. Aber er ist ein sicheres Indiz.« Jupp war so leise geworden, dass es sich bedrohlich anfühlte.

Mülenberk spürte, wie die Haare auf seinem Körper sich aufrichteten. Jetzt flüsterte auch er: »Ein sicheres Indiz für was?«

Über Kassiopeias Augen hatten sich dunkle Schatten gelegt. »Dass dieses Dorf ein Blutdorf werden wird.«

5. Kapitel

Die Schafe grasten friedlich am Ortsrand von Schalkenbach. Julia Scheffer mochte diesen Ort ganz in der Nähe eines nachgebauten Kohlenmeilers. Sie erinnerte sich daran, was ihr Großvater ihr über die Herstellung von Holzkohle erzählt hatte und welch große wirtschaftliche Bedeutung sie früher für die waldreiche Eifel hatte. Er hatte ihr auch erklärt, dass in der Region zwischen Vinxt- und Ahrtal bereits vor der Römerzeit an mehreren Stellen Eisenerz abgebaut wurde. Das originalgetreue Modell eines römischen Eisenverhüttungsofens neben dem Holzkohlenmeiler erinnerte an diese Zeit.

Großvater … Sie vermisste ihn so sehr. Sofort erschienen die Bilder vor ihrem geistigen Auge, wie der vom Wolf Getötete vor ihr lag. Ihre Hände umklammerten den Wanderstab – seinen Wanderstab – so fest, dass die Knöchel weiß wurden.

Julia wusste, dass die Schafe bei den Hütehunden gut aufgehoben waren, aber gegen den Wolf konnten sie die Herde und sich selber auch nicht schützen. Sie würde sich Herdenschutzhunde zulegen müssen. Ihre Hütehunde waren lediglich dazu ausgebildet, die Herde zu lenken und ihr bei der Arbeit zu helfen, Herdenschutzhunde hingegen wuchsen im Schafstall auf und waren deshalb komplett auf das Zusammenleben mit diesen Tieren sozialisiert. Sie lebten auf der Weide mit den Schafen und verteidigten diese und das entsprechende Gebiet vehement. Sie hatte sich bei den Kollegen erkundigt, die schon länger mit dem Wolf zu tun hatten, und sich für den Maremmen-Abruzzen-Schäferhund entschieden. Ein archaischer kräftiger Hund mit langem weißen Haar, dessen angeborene Verhaltensmuster stark ausgeprägt waren. Nach allem, was Julia in Erfahrung gebracht hatte, war diese Hunderasse sehr gelehrig und würde dennoch keinen unterwürfigen Gehorsam zeigen. Diese Hunde wurden jahrhundertelang daraufhin selektiert selbstständig, also ohne Anweisungen des Menschen zu arbeiten. Sie hatte selber beobachten können, wie die Hunde ihre Aufgabe, das Beschützen ihrer Herde, wahrnahmen. Sie hoffte, dass der Züchter aus Italien sich bald bei ihr melden würde.

Die Schafe alleine zu lassen bereitete ihr gemischte Gefühle, aber Julia wollte diesen Besuch jetzt unbedingt machen. Sie ging auf dem Köhler- und Loheweg, querte den Schalkenbach, marschierte weiter zum Waldgut Schirmau und erreichte schließlich den Aussichtsturm Weiselstein, der den höchsten Punkt in der Wacholderheide anzeigt. Mit schnellen Schritten bestieg sie den hölzernen Turm.

Der Blick war atemberaubend, aber deshalb war sie nicht hierhergekommen. Sie suchte ihn. Wie jedes Jahr im Sommerhalbjahr würde er hier leben. Auch wenn er sich nicht versteckte – schließlich hatte er nichts zu verbergen – wollte er doch nicht leicht gefunden werden. Ein ganz feines Rauchfähnchen, vom milden Westwind rasch weggetragen, zeigte ihr schließlich an, wo sie ihn finden würde.

Mingan hatte sich nicht verändert, seit sie ihn zum ersten Mal mit ihrem Großvater besucht hatte. Er war groß, das Gesicht hager und sie war heute genauso erstaunt wie damals, wie muskulös der Mann war. Das volle schulterlange Haar war mittlerweile weiß und er faszinierte sie wie eh und je. Wenn die Sonne noch nicht ihre volle Kraft entwickelt hatte, zog er über seinen nackten Oberkörper ein Hemd aus weichem Hirschleder, demselben Material, aus dem seine Hose gemacht war. An den Füßen trug er Mokassins, die ihm zusätzlich etwas Jugendliches verliehen.

Mit seinem harten festen Blick betrachtete er sie lange und schweigend. Dann wurden seine Gesichtszüge weich und er sagte freundlich: »Du warst sehr lange nicht mehr hier, Julia.«

»Das stimmt, Mingan. Ich war damals ein kleines Mädchen. Wie hast du mich erkannt?«

»Dein Großvater steht neben dir. Ich habe ihn erkannt. Wir saßen oft zusammen am Feuer und er erzählte mir von seiner großen Liebe zu seiner Enkelin Julia.«

»Ich kann meinen Großvater nicht sehen. Was siehst du, was ich nicht sehen kann?«

»Du kannst ihn nicht mit deinen Augen sehen, Julia, aber wenn du dein Herz weit öffnest, wirst du spüren, dass er da ist. Komm, setze dich zu mir ans Feuer.«

Schweigend saßen sie eine Weile nebeneinander. Julia war überrascht, wie Mingan es verstand, mit so wenig Rauch ein solch wärmendes Feuer am Leben zu halten. Dann hatte sie das Gefühl, als ob ihr Großvater sich neben sie setzen würde. Mingan sah sie an und nickte. Er sah ihn also dort sitzen. Unsichtbar für das menschliche Auge und doch mit ihnen vereint.

»Was ist damals passiert, Mingan?«

Traurig schaute er sie an. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht und kann es mir auch nicht erklären. Seit dem Tod deines Großvaters habe ich mir diese Frage immer und immer wieder gestellt. Er gibt mir keine Antwort und auch sonst bekomme ich kein Zeichen von den Ahnen. Es beunruhigt mich immer mehr. In diesem Jahr ist es besonders intensiv vorhanden, dieses Gefühl der Unruhe.«

»Darf ich dich was fragen?«

»Ja, frag nur.«

»Wieso bist du hier?«

Mingan schwieg lange, während er mit einem Stück Holz vor sich in die Erde malte. Schließlich schaute er sie an. »Wie dankbar bin ich für deine Frage, Julia. Sie ist wie ein Geschenk für mich. Denn manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich vergessen, warum ich hier bin. Mein Stamm gab mir den indianischen Namen Mingan, was so viel wie Grauer Wolf bedeutet. Unser Stamm lebte immer in Frieden mit den Wölfen, bis eines Nachts ein Wolf in das Zelt des Häuptlings, der unterwegs war, um seinen Stamm zu schützen, eindrang und seine beiden kleinen Kinder tötete.«

»Vielleicht war er hungrig?«, vermutete Julia.

»Nein, das war er nicht. Er hat die Kinder mit gezielten Kehlbissen getötet, dann verschwand er im Dunkel der Nacht. Noch heute höre ich manchmal im Traum das Schreien der Kinder.«

»Wie ging es dann weiter? Mit dir und dem Stamm?«

»Es herrschte große Ratlosigkeit und Trauer, nicht nur um den Tod der Kinder, sondern auch um den Verlust des Vertrauens zu den Wölfen. Die Ältesten, Medizinmänner und Häuptlinge von sechs befreundeten Stämmen, trafen sich zur Beratung auf dem heiligen Berg, einem verborgenen Ort, der nur in höchster Gefahr aufgesucht werden darf. Nach sieben Tagen der Beratungen und des Fastens stiegen sie herab und überbrachten ihren Stämmen die Nachricht, dass das Gleichgewicht zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Wölfe aus den Fugen geraten sei.«

»Das ist hier nicht anders, Mingan, der Wolf kommt zurück in eine Welt, die es für ihn noch nie gab. Und in der ich auch keinen Platz für ihn sehe.«

»In meinem Land war und ist es anders. Es ist ausreichend Lebensraum für alle dort. Deshalb habe ich es auch nicht verstanden, dass mein Stamm weiterzog.«

»Wohin seid ihr gezogen?«

»Mein Stamm zog immer weiter nach Süden. Ich blieb.«

»Du bliebst alleine zurück?«

»Ja, Julia, fortzugehen, fühlte sich nicht richtig an.«

»Aber jetzt bist du hier?«

»Letztendlich führte mich ein langer verschlungener Pfad hierher. In jenen Tagen bereiste eine Forschergruppe aus Deutschland unser Land und wir fanden uns. Sie waren auf der Suche nach dem uralten tradierten Wissen unserer Medizinmänner, um Heilungswege für bisher noch unbesiegte Krankheiten zu erkunden. Ich schloss mich ihnen an. Als sie ihre Arbeit beendet hatten, folgte ich ihnen nach Deutschland. Schnell lernte ich eure Sprache, besuchte eure Schulen und studierte in Bonn Medizin.«

»Du bist Arzt?«, fragte Julia erstaunt.

»Unmittelbar vor dem Staatsexamen führte die Fügung mich zu einem weisen Mann. Diese schicksalhafte Begegnung veränderte mein Leben radikal. Kurze Zeit nachdem der Angriff des Wolfes unsere Stämme im Innersten erschüttert hatte und ich alleine lebte, verlor ich sämtliche Haare. Was im westlichen Kulturkreis als kosmetisches Problem und dem diffusen Krankheitsbild Alopecia universalis betrachtet wird, spielt in unserem indianischen Kulturkreis eine ganz andere Rolle: Danach erfüllt jeder Teil des Körpers hochsensible Arbeit für das Überleben und Wohlergehen des Körpers als Ganzes. Der Körper hat einen Grund für jeden seiner Teile. Haare sind gewissermaßen eine Erweiterung des Nervensystems.«

»Hört sich gerade so wie in der Geschichte von Samson und Delilah in der Bibel an«, fasste Julia zusammen. »Als Delilah Samsons Haare schnitt, war der einst unbesiegbare Samson besiegt.«