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Auf dem bayerischen Schloss Neuschwanstein lebt die junge Küchenhilfe Emma ein arbeitsreiches, von strengen Regeln bestimmtes Leben. Ein Tag scheint wie der andere. Harte Strafen drohen denjenigen, die sich den Regeln widersetzen. Doch Emma hat ein schreckliches Geheimnis. Dann kam Paul, der eine unglaubliche Wahrheit offenbarte. Können sie zusammen den Bann brechen? Können sie alleine über ihr eigenes Schicksal entscheiden? Oder werden sie für immer Gefangene der Zeit bleiben?
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Seitenzahl: 610
Veröffentlichungsjahr: 2021
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A. IM SPINNENNETZ
EMMA ~ Wie misst sich Zeit?
SCHWANHOLD ~ Ich muss mich erinnern
EMMA ~ Ein angehender Dieb
EMMA ~ Mit einer alten Draisine
B. HEUTE
PAUL ~ Das Leben ist wie das Drachensteigen
ELEKTRA ~ Es wäre schade, ein so schönes Buch nicht zu kaufen
ELEKTRA ~ Wie das süße Gefühl, das glückliche Träume morgens hinterlassen
ELEKTRA ~ Ein Beinahe-Unfall
PAUL ~ Wenn du das vergisst, woran du dich unbedingt erinnern willst
EMMA ~ Andernfalls gibt es keine Erlösung für mich
ELEKTRA ~ Die Tour, die niemals endete
PAUL ~ Zeit für ein Rätsel
PAUL ~ Ein funkelnder, schwarzer Füllfederhalter mit goldener Spitze
ELEKTRA ~ Der Schwanenreiter
PAUL ~ Figuren im Computerspiel
ELEKTRA ~ Leben und Tod
PAUL ~ Porzellanscherben
ELEKTRA ~ Die Anzeichen von Gefahr
PAUL ~ Nichts ist so einfach, wie es zunächst scheint
ELEKTRA ~ Das Nachtkonzert
ELEKTRA ~ Die Küche
PAUL ~ Es sind Diebe!
ELEKTRA ~ Am Tisch Seiner Majestät
PAUL ~ Der Weg der Tinte
PAUL ~ Die Illusion ist stärker als die Realität
PAUL ~ Albtraum
ELEKTRA ~ Der Stieglitz hat nicht gesungen
PAUL ~ Wie viel Hässlichkeit kann in der Schönheit verborgen sein?
EMMA ~ Der Preis für die Ewigkeit
EMMA ~ Der Anführer des Füllfederhalters
PAUL ~ Eine fruchtlose Anstrengung
PAUL ~ Der Schlag des Schattens
MAX ~ Die verlorene Seite
MAX ~ Vergessene Geister
SCHWANHOLD ~ Ein neuer Ritter
PAUL ~ Der Schäfflertanz
FRANZ ~ Meine Fantasie, dieser Verräter
PAUL ~ Zurück zur Realität
JOSEF MÜLLER ~ Auf der Polizeistation
C. EPILOG
Eine weitere Dämmerung ist gekommen und nun ist es an der Zeit, dass wir uns in unsere Zimmer zurückziehen. Die Zeiger der großen Küchenuhr zeigen kurz nach 6:00 Uhr, als ich Frau Hofbauer mit einem Blick signalisiere, dass ich vorhabe zu gehen, und sie nickt zustimmend und schenkt mir ein Lächeln.
Ich gehe aus der Küche und steige die Stufen der schmalen Personaltreppe in das obere Stockwerk hinauf, wo sich unsere Zimmer befinden. Obwohl ich durch den Flur eile, bleibe ich einen Moment am Fenster an der Rückseite des Gebäudes stehen, der Versuchung erlegen, einen flüchtigen Blick nach draußen zu erhaschen. Der Himmel im zwielichten Grau ist von eisigen Wolken bedeckt. Ich bleibe noch einen weiteren Moment stehen und schaue aus dem Fenster, obwohl ich weiß, dass die beiden Wächter der letzten Nachtpatrouillenschicht gleich hinter mir erscheinen werden. Ihre rhythmischen Schritte, die wie zur Warnung immer lauter werden, treiben mich weiter.
Ich erreiche mein Zimmer, öffne die Tür und schlüpfe auf Zehenspitzen hinein. Als ich die Tür hinter mir schließe, berührt mich der gefrorene Atem der Dunkelheit. Obwohl alle Räume über Strom verfügen, dürfen wir ihn aus wirtschaftlichen Gründen nicht nutzen, worauf uns Hubert Senker, der für den Energieverbrauch verantwortlich ist, oft genug hinweist. Ich mache ein paar blinde Schritte in Richtung des kleinen Holztisches an der gegenüberliegenden Wand, bewege mich tastend zwischen den beiden Einzelbetten, um die alte, schwarz verrußte Gaslampe mit dem trüben Glas anzuzünden, die die Hofbauer dort hingestellt hat.
Wegen meiner müden, vom Wasser schrumpelig aufgeweichten Finger erfordert es viel Kraft und mehrere Versuche, bis die Lampe brennt. Als ich es schließlich schaffe, ist das spukhafte, unheimliche Licht schwach, erhellt den Raum jedoch gerade genug, damit ich und Frau Hofbauer nicht über die spärlichen Möbel stolpern.
Ich seufze traurig und lasse mein langes schwarzes Kleid auf den Boden über meine schmerzenden Füße fallen. Erschöpft sitze ich auf der Bettkante meines Bettes. Meine Beine brennen vom nächtelangen Stehen in der Küche. Es herrscht totale Stille. In Gedanken versunken reibe ich mechanisch meine Waden und versuche sie etwas zu entspannen. Die schwach flackernde Flamme wirft grässliche Schatten auf die nackte Wand des Raumes , verhärmte Gestalten, die durch die Bedrohung der Dämmerung genährt werden.
Das verriegelte Fenster und die geschlossenen Fensterläden halten das erste Licht der Morgendämmerung hartnäckig fern und lassen mich allein mit dem muffigen Geruch der Isolation. Für einen Moment kämpft meine Fantasie mit fiebriger Sehnsucht darum, die grauen Steine der Wand zu durchdringen. Nach draußen, wo der Tag anbricht und der Himmel die Dunkelheit von sich abwerfen wird.
Sanft reibe ich meine nackten Knöchel und versuche dem Atem der Stille zu lauschen. Die Wahrheit ist, dass ich mich nie daran gewöhnen konnte, mich jeden Morgen in meinem Zimmer einzusperren, auch wenn alle anderen mit dieser Einschränkung kein Problem zu haben scheinen. Bei jedem Tagesanbruch sehne ich mich danach hinauszugehen, auf das Kommen der Morgendämmerung zu warten und zu spüren, wie die gefrorene Morgenluft mich ins Gesicht beißt. Unglücklicherweise muss ich mich, wie wir alle, wie unser Gesetzgeber das vorschreibt, zu unser aller Wohl vor Beginn jedes neuen Tages in meinem Zimmer einsperren, gefangen und hilflos, und mit einem Gefühl der absoluten Schwäche dort bleiben, bis die Nacht und die Dunkelheit zurückkehren.
Es gab Momente in der Vergangenheit, in denen ich kurz davor war, dem Gebot des obligatorischen morgendlichen Rückzugs zu widersprechen, um mit der Welt von Franz in Kontakt zu treten. Aber ich habe es nie getan, weil Franz mir immer wieder eindringlich davon abriet.
„Es wird nichts ändern, Emma“, beharrte er, „wenn du heimlich das Zimmer verlässt. Ich wünschte, das wäre die Lösung des Problems. Abgesehen davon denke ich, wenn du erwischt wirst, bist du die erste Kandidatin für das nächste Verschwinden. Es ist zu riskant – wir wissen nicht, ob sie euch beobachten, wann sie es tun oder mit welchem System sie euch kontrollieren. Ich bin nicht sicher, ob die Wächter, die nachts mit ihren Gewehren auf den Korridoren patrouillieren, einfach ihre Pflicht erfüllen oder ob er sie zu würdigen Instrumenten und euren Gefängnisaufsehern gemacht hat.“
Nachdem ich meine Beine ein wenig entlastet habe, lege ich mich auf die harte Matratze, bewegungslos und steif von der Anspannung, bereit wie ein Pfeil aus dem Bett zu springen falls nötig. Ich ersticke und mein Kopf fühlt sich an, als würde er gleich explodieren. Ich weiß, dass ich lange brauchen werde, bis ich einschlafe, es fällt mir nicht leicht, die Augen zu schließen. Ich hatte nicht immer ein Schlafproblem. Früher genügte es, ein paar Seiten eines Buches zu lesen, um sofort einzuschlafen. Aber nach den Bekenntnissen von Franz wurde alles anders.
In der vertrauten Erinnerung an den Mann, der alles in meinem Leben änderte, wälze ich mich unruhig auf der harten Matratze des Holzbettes hin und her. Sein Bild blitzt vor meinen vor Schlaflosigkeit roten Augen auf. Es erscheint erst leicht wie ein Schmetterling, der geschäftig davon flattern will, und dann, als würde er seine Meinung ändern, fällt er auf den halbdunklen Boden wie eine schwarz-weiße Schlange, die sich hinterlistig schlängelnd zu nähern versucht.
Es ist lange her, seit ich mit Franz gesprochen habe. Wie lange, kann ich nicht mehr nachvollziehen. Irgendwo zwischen damals und heute habe ich das Zeitgefühl verloren. Es kommt mir vor, als wären es schon Jahre, aber wie lange wirklich? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Die Zeitberechnung war schon immer eine meiner Schwächen. Ich habe nie verstanden, warum wir die Zeit berechnen müssen. Für mich gibt es nur das Jetzt. Mein Schöpfer hat mir keine Vergangenheit vor meinem Leben hier gegeben, außerhalb dieser Mauern. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, Bilder und Erinnerungen aus Momenten einer Vergangenheit vor dem Schloss zu besitzen, und was die Zukunft angeht, kann ich nicht genau sagen, wann genau sie beginnen wird.
Franz dagegen bestand immer darauf, dass seine eigene Zeit genau wie sein Leben einen Anfang und ein Ende hätte.
„Die Zeit, die uns gegeben wurde, wird gemessen, Emma“, erklärte er mir einmal, als ich ihn fragte, warum sein Körper sich verändert hatte. Das war, als er seine erste Jugend hinter sich gelassen hatte, aber sein Gesicht lebhaft und voller Energie war und sein Blick scharf wie ein gut geschliffenes Messer, noch bevor der Tod seiner Tochter seinen Blick für immer verdunkelte.
Ich hatte mich gewundert, während ich ihm zuhörte.
„Da draußen misst man die Zeit? Wieso? Aus welchem Grund?“
„Ich denke, unsere biologische Uhr zwingt uns dazu. Wir messen die Zeit unserer Existenz. Die Veränderungen an unserem Körper, während wir von einem Ende unseres Lebens zum anderen gehen, sind der Beweis dafür, dass die Zeit unaufhörlich vergeht“, hatte er damals mit einer ungewöhnlichen Strenge gesagt. „Wir messen die Zeit, die uns zum Ziel führt.“.
Seine Stimme klang betrübt, sein Blick war voller Traurigkeit.
„Wie misst man die Zeit?“, flüsterte ich, hingerissen von seinen Worten.
Franz versuchte geduldig, mir die Tage und Nächte, die Wochen und die Jahreszeiten zu erklären.
Seine für mich rätselhaften Worte erschreckten mich und ließen mich zittern wie Halme im Sturm. Meine Logik reichte nicht aus, es fiel mir sehr schwer zu verstehen, wann genau das Jetzt aufhört und wann der nächste Moment beginnt.
Danach, inspiriert von seinen Worten, habe ich versucht die Zeit zu messen. Ich fing an Kartoffeln in eine Tüte zu legen, um die Tage zu zählen, die vergingen, und Zwiebeln für die nacheinander folgenden Jahreszeiten. Aber ich musste aufgeben, als Frau Hofbauer meine Tüten durch den Gestank des faulenden Gemüses entdeckte und meinen Kalender wegwarf.
Ich habe nie verstehen können, was Zeit für Franz bedeutete, aber es ging mich sowieso nichts an. Trotzdem lernte ich an der Härte seines Gesichts und an der Verkrümmung seines Körpers die brutalen Spuren zu erkennen, welche die Zeit auf seinem Körper hinterließ. Franz wuchs vor meinen Augen heran. Die Spuren seines gesamten Lebens, von seiner frühen Jugend bis später, als sich tiefe Falten in sein Gesicht gruben, prägten mein Leben und meine eigene Seele unauslöschlich.
Aber was mein Leben komplett durcheinanderbringen sollte, war das Geheimnis, das Franz mir offenbarte.
Ich sehe nach oben, versuche in den Schatten an der Wand seine Silhouette zu entdecken, will mich genau an diese Nacht erinnern. Franz hatte sich lange Zeit gelassen, bevor er mir das schreckliche Geheimnis offenbarte. Ein Geheimnis von jener Sorte, die schwer in Worte zu fassen und deren Logik noch schwerer zu verstehen ist.
Wir saßen gemeinsam auf einer Holzbank im hinteren Teil der Küche, abseits von indiskreten Blicken, halb versteckt hinter dem großen Ofen. Mit einer fast krankhaften Blässe im Gesicht vertraute er mir das schreckliche Geheimnis an, das meine Welt bestimmt. Er redete ununterbrochen, und ich hörte ihm entgeistert und sprachlos zu, ohne ein Wort von dem zu verstehen, was er mir erzählte.
Seine Hände zitterten, als er versuchte mir das Unerklärliche zu erklären. Ich streckte meine Hand aus, um seine kalten Finger zu fassen, aber Franz zog seine abrupt zurück. Ich fühlte mich, als würde ich in einen dunklen Brunnen fallen. Erst später machte alles, was ich in dieser Nacht hörte, Sinn für mich.
Doch gerade, als es mir gelang, Ordnung in das Unbegreifliche zu bringen, hörte Franz auf mich zu besuchen. Ich erinnere mich an die ersten Male seiner Abwesenheit, als ich leise in meinem Zimmer weinte, um Frau Hofbauer nicht zu wecken, die in ihrem Bett neben meinem, ins Glück ihrer Unwissenheit getaucht, selig schlief. Auf meinem von heißen Tränen durchnässten Kissen versuchte ich einzuschlafen, um von ihm zu träumen. Der Gedanke, dass ich ihn nie wiedersehen würde, ließ meinen Körper erstarren, so als würde mich die Kälte des Winterlandes erreichen. Wütend wegen seiner unbegreiflichen Abwesenheit versuchte ich ihn zu hassen, mich selbst davon zu überzeugen, dass er mich mit seinen Offenbarungen erst in tiefes, dunkles Wasser geworfen und dann gegangen und mich allein und hilflos zurück gelassen hatte. Doch ich schaffte es nicht.
Die unzähligen Tage, die folgten, waren erfüllt von abscheulichen Albträumen. Die einsamen Nächte, gefüllt mit den Gerüchen der Abfälle, die ich jeden Morgen in der Erde begraben musste, zwangen mich die Realität zu akzeptieren. Franz würde nicht zurückkehren.
Doch tief in mir steckte eine Art Glaube, eine verrückte Hoffnung, die mich nicht einschlafen ließ. Deshalb musste ich geduldig im Dunkeln warten, bis die Menschenstimmen und die hastigen Schritte der Besucher vor der geschlossenen Tür des Zimmers zu hören waren. Ich wusste, dass Leute kommen würden. Jeden Tag kommen sie. Ich spitzte die Ohren und hoffte, dass ich in dem Trubel ihrer Gespräche und ihrer schrillen Stimmen die von Franz heraushören würde. Und dann würde alles wieder so werden, wie es einmal war.
Mit der Zeit habe ich die Kraft gefunden, mich zu beruhigen. Seine lange Abwesenheit zwang mich zu akzeptieren, dass keine Hilfe mehr von ihm kommen würde. Sein Bild verblasste und verschwand fast aus meinem Kopf. Allerdings versteckte sich die Hoffnung immer noch in einer Ecke meiner Seele.
Ich habe aufgehört ihm die Schuld zu geben, wie in der ersten Zeit. Die Vorstellung, dass Franz nicht zurückkehren wird, hat mich nicht mehr schaudern lassen. Um so lange nicht zu erscheinen, muss ihm etwas Schlimmes passiert sein. Etwas unwiderruflich Hässliches zwang ihn, sich von uns fernzuhalten. Wer weiß? Vielleicht war es Zeit für ihn zu verschwinden. Vielleicht war seine Zeit vorbei.
Ich musste in der Tat akzeptieren, dass die Erwartung seiner Rückkehr aussichtslos und vergebens war. Und vor allem musste ich mich mit dem zunehmenden Verschwinden meiner Mitmenschen befassen. Immer wenn neue Gerüchte wie nervige Augustfliegen um meine Ohren schwirrten, etwa dass einer von uns weggegangen sei, um woanders zu leben, oder jemand an einen fremden Ort gezogen sei, war ich die Einzige, die wusste, dass dies nicht stimmen konnte. Niemand konnte einfach wegziehen, nur auf eine ganz bestimmte Art und Weise.
Mit jedem Verschwundenen wurde mein Herz rauer, kälter. Ich konnte nicht mehr denken. Zu verzweifelt und zu schwach, um zu reagieren, sank ich mit meinem vor Trauer betäubten Körper immer tiefer in graue Einsamkeit. Ich erinnerte mich an die glückliche Phase der Unwissenheit, bevor Franz es mir gesagt hatte, bevor er mit mir über die Gefahr gesprochen hatte. Eine Trägheit, eine vorgetäuschte Ruhe breitete sich in mir aus. Gefährliche Stille lähmte mich und versuchte mich davon zu überzeugen, dass ich mich entspannen und Geduld haben musste, einfach warten, bis diese Etappe der Geschichte von selbst endete. Dass schließlich alles wieder in seinen normalen Rhythmus zurückkehren würde. Obwohl ich davon überzeugt war, dass es so nie kommen würde.
Denn seit Franz mir die Wahrheit offenbart hatte, war mir leider klar, dass ich etwas unternehmen musste. Solange ich es nicht tat, würde sich unsere Situation nur verschlechtern. Sogar Frau Hofbauer wusste, dass es im Leben so ist: dass Trägheit nicht der richtige Weg ist, um Probleme zu lösen. Ich hatte oft gehört, wie sie die Frauen anschrie, die ihr in der Küche halfen: „Nicht aufhören, bewegt eure Hände, meine Damen. Der Haferbrei gerinnt, wenn er nicht gerührt wird!“
Als Franz noch da war, hatte ich keine Angst, weil ich mir seiner Unterstützung sicher war. An wen soll ich mich jetzt wenden? Wen kann ich um Hilfe bitten? Das fragte ich mich oft verzweifelt. Ich war zu der Überzeugung gelangt, dass das verdammte Wissen mein eigenes Leben in Stücke zerrissen hatte, während alle anderen um mich herum friedlich und glücklich weiterlebten.
Warum? Ich möchte aus vollem Hals schreien. Ich verzweifle und verstecke mein Gesicht im Kissen, so dass nicht das geringste Geräusch aus meinem Mund kommen kann. Warum nur hat Franz von allen Menschen mich ausgewählt? Ein Stöhnen presst sich aus meinen geschlossenen Lippen. Was kann ich tun? Ich bin so schwach, so verängstigt. Wenn ich das Problem nicht wirklich verstehen kann, wie kann ich dann die Lösung finden? Und ich habe nicht die Kraft, den Täter allein zu konfrontieren. Meine Gedanken kreisen ständig, wie ein Boot, das immerzu um eine Insel fährt und nach einem Hafen zum Anlegen sucht. Aber ich habe es noch nicht geschafft, aus meinem eigenen Kreis herauszufinden.
Ich höre im Flur jemanden mit schnellen Schritten auf das Zimmer zulaufen. Die Tür öffnet sich und Frau Hofbauer kommt vorsichtig auf Zehenspitzen ins Zimmer, um mich nicht zu wecken. Ich drehe meinen Kopf zur Wand, um sie nicht anzusehen. Aber ich kann mir ihr Gesicht vorstellen. Meine liebe Frau Hofbauer, immer mit einem warmen Blick und unstillbarer Lebenslust, betritt den Raum wie immer verspätet für den morgendlichen Schlaf. Ich sage nichts. Ich möchte nicht, dass sie meine geröteten Augen sieht. Es würde doch nichts nützen.
Ich erwarte sowieso keine Hilfe von meinen Leuten. Sie alle wissen nichts von der lauernden Gefahr, die immer näher kommt. Sie alle haben keine Ahnung von dem Feind, der uns vom Angesicht der Erde zu wischen droht. Ein Krieg hat begonnen, aber sie merken davon nichts. Eingenommen vom Leben in der zwielichtigen Realität gleiten sie alle durch die Zeit, unwissend und unfähig, ihren wahren Zustand wahrzunehmen. Und da ich Bescheid weiß, fühle ich mich mehr und mehr in Lüge und Heuchelei verstrickt. Die Tatsache, dass ich, obwohl ich die Wahrheit kenne, die Lüge nachdrücklich und laut unterstützen muss, als wäre sie die einzige Wahrheit, ist ein echtes Martyrium für mich geworden.
Und er, der Feind, spielt Gott. Er ist so böse und schlimm, dass ich fürchte, niemand wird am Ende überleben. Das Unwissen der Opfer seiner katastrophalen Pläne ist die Beute, die seine grausame, bestialische Macht nährt und unkontrolliert wachsen lässt. Es ist zum verzweifeln, dass ich das Geheimnis nicht allen offenbarte, als Franz es mir anvertraute. Wenn ich es ihnen gesagt hätte, hätten sie mir vielleicht geglaubt und ich hätte jetzt ein paar Verbündete. Doch ich habe es nicht getan und jetzt bin ich ganz allein. Wie konnte ich nur glauben, dass ich ohne Hilfe so eine schreckliche Aufgabe lösen könnte? Ich bin so unglaublich naiv!
Franz hatte mir versichert, dass alles sich ändern würde, nachdem das Buch von hier entfernt worden war. Ich fürchte, er hat den Feind damals unterschätzt. Er dachte, dass dieser Schritt ausreichte, um ihn aufzuhalten. Die Größe der Bosheit und der Raffiniertheit, die sich in der Seele unseres Unterdrückers versteckt, war ihm nie bewusst, sonst hätte er die Zeit nicht verstreichen lassen ohne einzugreifen, ohne zu versuchen ihn zu beseitigen. Denn Franz wusste, wie er ihn aufhalten konnte. Er wusste, wie ich dieses ungerechte Verschwinden meiner Leute verhindern könnte. Ich habe oft gehört wie er drohte, den bösen Plänen des Feindes ein Ende zu setzen, aber er fand nie den Mut, ihn zu verletzen. Vielleicht glaubte er in seinem tiefsten Inneren, dass sich die Dinge im Laufe der Zeit ändern würden. Unser Unterdrücker würde wieder zu sich kommen, seine Seele würde heilen. Leider hat sich alles nur zum Schlimmsten verändert und ich habe die Befürchtung, dass mir die schwierige Aufgabe zugefallen ist etwas zu unternehmen.
Ich habe keine Ahnung, ob ich es schaffen kann oder nicht, aber ich werde es versuchen. Das Wissen um das Geheimnis hat mich verändert, ich bin nicht mehr die, die ich einmal war. Das Wissen hat mich gezwungen, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Als ich merkte, dass ich mich ändern würde müssen, wenn ich gewinnen wollte, änderte sich die Art und Weise, wie ich denke. Ich muss mich für all die Verschwundenen rächen, für alle, die verloren gegangen sind. Dieser Gedanke hat mich zunächst verängstigt. Ich habe Angst, dass dieses Verlangen nach Rache nicht leicht mit unblutigen Opfern zu befriedigen ist. Ich habe den Verdacht, dass der Tag kommen wird, an dem ich den Preis der Leidenschaft bezahlen muss, die mich erobert hat. Aber ich kann nicht untätig bleiben und unbeteiligt einfach nur darauf warten, was das Schicksal uns vorbehalten hat.
Ich schaue vorsichtig zu meiner schlafenden Mitbewohnerin hinüber. Der Körper von Frau Hofbauer ist mir zugewandt. Ihre Augen sind geschlossen, ihr weißes Haar fällt sanft über Wange und Nacken und verbirgt alle ihre Falten. Ihr Atem kommt ruhig und gelassen aus ihrem halb offenen Mund, zusammen mit einer feinen, nassen Speichellinie, die aus ihrem Mundwinkel läuft. Sie schläft tief.
Ich seufze und versuche ein Summen in meinem linken Ohr zu ignorieren, das wie eine lästige Mücke durch meinen Kopf surrt. Es ist Zeit, die wichtigste Entscheidung meines Lebens zu treffen. Meinen Leuten sind in letzter Zeit so viele Dinge widerfahren, dass ich fürchte, er bereitet sich auf seinen letzten Angriff vor. Ehrlich gesagt habe ich keine Angst vor dem Tod. Nachdem ich oft mit Umsicht und Gelassenheit über die Situation nachgedacht habe, wurde mir klar, dass ich nicht zu denen gehöre, die direkt in Gefahr sind. Ich bin in unserer Welt so unbedeutend, nur wenige kennen mich. Noch weniger gibt es, die auch nur einmal mit mir gesprochen haben. Ich bin sicher, unser Verfolger hat keine Ahnung von meiner Existenz. Eigentlich habe ich mehr Angst, wenn ich daran denke, dass ich handeln muss. Aber was soll ich nur tun? Die einzige Waffe, die den Tyrannen vernichten würde, die einzige Waffe, die ihn umbringen würde, ist das Buch, und das ist nicht mehr hier. Franz hatte es mit nach draußen genommen, in dem Glauben, dass dies die Lösung wäre.
Ich drehe mich aufgeregt in meinem Bett um. Wenn es Hilfe gibt, kann die nur von außen kommen, denke ich verzweifelt. Abgesehen vom verschwundenen Franz kenne ich jedoch niemanden von denen dort draußen, den ich um Hilfe bitten könnte. Franz war der Einzige, der uns erreicht hatte.
Neulich erinnerte ich mich in meiner Verzweiflung an den Enkelsohn von Franz. Ein dünner, blonder, kleiner Junge, den er einmal mitbrachte. Leider sah mich der kleine Junge nicht, und ich habe mich auch überhaupt nicht um ihn gekümmert. Könnte das Kind uns tatsächlich helfen? Wenn ich ihn nur finden und ihm erklären könnte, wie sehr wir ihn brauchen! Wenn ich ihn nur überzeugen könnte, das Buch zurückzubringen, wie sehr würde sich unser aller Leben ändern!
Ich versuche mich an seinen Namen zu erinnern, aber es ist unmöglich. Selbst wenn ich es einmal wusste, habe ich es vergessen. Es muss Jahre her sein, seit Franz mit mir über ihn gesprochen hat. Wie alt wohl heute der junge Mann ist? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ist er alt genug, um zu verstehen? Hat Franz jemals mit ihm gesprochen oder nicht? So viele Fragen, die für immer unbeantwortet bleiben werden, befürchte ich.
Ich atme stoßweise, während der Schweiß, der mir über das Gesicht läuft, mein Kissen und meine Betttücher befeuchtet. Ich weiß nichts über die Außenwelt. Ich habe keine Ahnung, wo Franz wohnt. Aber selbst wenn ich es wüsste, was würde es nützen? Es ist unmöglich dorthin zu gelangen. Ich komme von hier nicht weg.
Wenn ich meinen Leuten helfen will, bleibt mir nur, den Füllfederhalter zu stehlen.
Der Schwan, den die Menschen Schwanhold genannt hatten, stand regungslos neben dem großen Fenster und wartete darauf, die neuen, süßen Tagesstunden willkommen zu heißen, eine Gewohnheit, die er seit Jahren pflegte.
Vor dem Fenster war alles in Frost und Morgentau gehüllt. Der Geruch der nassen Erde erreichte seine Nase. Er atmete langsam und gleichmäßig, als wollte er bei diesem Ritual die Feuchtigkeit des Bodens einsaugen, wie der durstige Wüstenreisende, der sich vom letzten Tropfen seiner Flasche das Stillen seines Durstes erhofft. Der feuchtkalte Sonnenaufgang begann leise und dunstig seinen schüchternen Auftritt hinter den morgendlichen Märzwolken, wie die meisten Morgendämmerungen in dieser Gegend eingehüllt in den Wasserdampf der Morgenluft, und sandte seine hellen Strahlen auf die Glasscheibe mit den schönen Glasmalereien, als wollte er die Farben des Glases aufwecken. Die Wärme, die großzügig von den grellen Farben des Glases überquoll, als die hellen Strahlen langsam aufwachten und aufstiegen, berührte seinen frierenden Körper. Der Regen hatte längst aufgehört, aber einige vergessene Tropfen, klar wie die Tränen Gottes, flossen langsam die Scheibe hinab und hinterließen winzige, durchsichtige Spuren auf dem bunten Glas.
Er streckte seinen Hals und sein Blick suchte die rosafarbene Linie, die bald am Horizont zu sehen sein würde, ein Zeichen dafür, dass es Zeit war aufzubrechen und sich in die schreiende Stille seiner Isolation zurückziehen.
Er drehte seinen schönen, schlanken Hals und blickte seitlich über seinen Rücken.
Der Raum mit der hohen Decke war leer. Abgesehen von den heroischen Figuren, die in allen Fresken des Raumes verstreut waren und ihn gleichgültig ansahen, hatten sich die Gäste und das Personal in ihre Zimmer zurückgezogen.
Die Möbel, die vor wenigen Stunden noch den riesigen Raum ausgefüllt hatten, waren an die Ränder des Raumes in die schmalen Seitengalerien gezogen worden, wo sie für den Rest des Tages bleiben würden, mit Ausnahme der vier goldenen Leuchter, die vor den Wänden stehen geblieben waren. Die halb heruntergebrannten Kerzen in den drei Kronleuchtern, die von der hölzernen Decke hingen, wurden durch neue ausgetauscht, so dass der Geruch des verbrannten Wachses diskret den Raum verließ. Der leere Holzboden löste die bekannte Kälte der Leere aus.
Max, der wie jeden Morgen den letzten Kontrollgang machte, eilte von einem Ende des Raums zum anderen, elegant mit seiner exquisiten, großen, schlanken Gestalt, die etwas von der Größe und Arroganz der mythischen Titanen hatte.
Die Stille des Zimmers erinnerte an die Ruhe, der der Sturm folgt. Das tiefe Schweigen schien die Ängste von Schwanhold zu verspotten. Welche Antwort würde Max diesmal auf die Frage geben, die Schwanhold ihm gerade gestellt hatte?
„Entschuldigung“, antwortete Max wie nebenbei. „Was hast du mich gefragt?“
Der Schwan sah ihn nicht an, er genoss lieber die Wärme der Glasmalerei.
„Was habe ich Max gefragt? Wieder weicht Max Fragen aus, chhh“, antwortete Schwanhold, indem er sich wie gewöhnlich an seinen Gesprächspartner in der dritten Person wandte, als bezog er sich auf jemanden, der nicht an dem Gespräch beteiligt war.
Er reckte charmant den Hals, nachdem er einen apathischen Ausdruck angenommen hatte, um zu zeigen, dass er bereit war, das Spielchen mitzuspielen, das Max erneut mit ihm spielen wollte. Bis zum Umfallen würde er mitspielen.
„Ich weiche deiner Frage nicht aus, aber hast du es nicht satt, mir immer dieselbe Frage zu stellen?“
Langsam und majestätisch drehte er seinen Kopf zu Max, öffnete jedoch seinen Schnabel nicht.
„Jedes Mal, wenn wir dieses Gespräch führen, sage ich dir dasselbe“, fuhr Max fort und nickte mit einem herablassenden Lächeln auf den Lippen. „Ich sage es dir, aber du vergisst es immer. Karl hat dich hierhergebracht, glaub mir. Ich habe ihn mit meinen eigenen Augen gesehen. Ich war in dieser Nacht hier.“
Die Stimme von Max war ruhig, aber er sah Schwanhold nicht in die Augen. Stattdessen drehte der sich um und starrte Max erwartungsvoll an.
„Ich bin mir sicher, Max weiß viel mehr als das, chhh. Wann kann mir Max endlich sagen, wer ich bin und warum ich hierhergebracht wurde? Max weiß alles über jeden hier. Chhh. Warum besteht er darauf, mir nichts zu sagen?“
Max räusperte sich und seine Stimme wurde lauter.
„Ich habe nichts gegen dich persönlich. Du weißt, wie sehr ich dich wertschätze und wie oft ich an deiner Seite stand und dir geholfen habe, seitdem du zu uns gekommen bist. Aber deine Vergangenheit, Schwanhold, ist deine Sache, tut mir leid. Ich weiß wirklich nicht, wo du warst und was du getan hast, bevor Karl dich hierhergebracht hat.“
Er machte eine kurze Pause und warf ihm einen ernsten Blick zu. „In deinen Erinnerungen. Dort musst du nach den Antworten suchen, nicht bei mir.“
„Das ist das Problem. Was auch immer ich versuche, es ist unmöglich, die Antworten zu finden, chhh. In meinem Kopf ist alles verschwommen und verwirrt. Ich erinnere mich an nichts weiter als die drei schrecklichen Bilder, die ich Max oft beschrieben habe. Sie sind so unzusammenhängend, so unverständlich, wenn ich mich an sie erinnere, bekomme ich Gummibeine vor Angst, chhh, chhh.“
„Ja, ich weiß“, murmelte Max gleichgültig, mit seinem üblichen herablassenden Ausdruck und seiner aristokratischen Arroganz.
„Perfekt, chhh“, sagte der Schwan enttäuscht und schüttelte sein linkes Bein zur Seite. „Alle anderen wissen, außer mir.“
„Was ist jetzt schon wieder los, Schwanhold? Warum ziehst du heute wieder so ein Gesicht? Lächle ein wenig. Du siehst aus wie ein aufgescheuchtes Huhn und das steht dir überhaupt nicht.“
Es war nicht leicht für ihn zu lächeln. Er warf einen Blick auf die Membranen, die die drei Zehen seiner Füße miteinander verbanden. Jedes Mal, wenn sie dieses Gespräch führten, begann eine Art gewolltes Martyrium für ihn. Denn jedes Mal durchlebte er erneut dieselben drei albtraumhaften Erinnerungen und glaubte doch, dass er auf diese Weise das Böse exorzieren und schließlich die Lücken in der Geschichte seiner Vergangenheit füllen könnte.
Jedes Mal, wenn er versuchte in seine fragmentierte Erinnerung einzutauchen, fiel er buchstäblich in die Tiefe:
Er fällt in einen breiten Fluss tiefschwarzen und unbeweglichen Wassers. Sein müder Körper, schwer wie eine Bleikugel, sinkt in das eisige Dunkel des Flusses, der ihn mit Gewalt tief zum Grund zieht. Seine Augen sind offen aber es fällt ihm schwer, im trüben Wasser etwas zu erkennen. Die Dunkelheit um ihn herum ist so tief und unergründlich wie die schwarze Ewigkeit. Das eisige Wasser, das seinen Körper wie ein Leichentuch fest umhüllt, nimmt ihm den Atem. Von blinder Panik erfasst bittet er um ein Wunder, das nicht kommt, weil er immer weiter sinkt, ohne reagieren zu können, als wäre er noch nie in seinem Leben geschwommen, als sei es sein erstes Mal im Wasser. Und doch sagt ihm etwas, dass er das Wasser liebt und schwimmen kann. Wenn er die Kraft fände, seinen Körper wieder zu kontrollieren, könnte er das Absinken möglicherweise stoppen. Bald wird sein Rücken den Boden berühren, wo der Tod auf ihn wartet. Er hat in seinem Leben noch nie so viel Angst gehabt. Er ist wie gelähmt. Ich möchte nicht ertrinken, denkt er verzweifelt.
Und dann, kurz bevor er in der absoluten Dunkelheit das Ende erreicht, ein paar Zentimeter bevor sein Körper den Schlamm des Flussgrundes berührt, blendet ihn ein starkes, helles Licht, wie der blinkende Strahl eines Leuchtturmes. Erstaunt und atemlos, sein Körper ist fast gelähmt, muss er die Augen schließen.
Als er sie wieder öffnet, befindet er sich nicht mehr in tiefen und kalten Gewässern, sondern in einem schrecklichen Gefühl der Gewissheit, dass seine Augen sehr lange geschlossen waren.
Er starrt verwirrt die dicken, dunklen Stämme der Bäume an, die ihn wie die Stäbe eines Käfigs umgeben. Er hat das Gefühl, dass er sich im Herzen eines dunklen und gefährlichen Waldes befindet. Er öffnet und schüttelt seine verwundeten Flügel, um das Wasser loszuwerden, doch es fällt nicht ein Tropfen. Sein Gefieder ist trocken, als ob es seit Jahrhunderten nicht mehr mit dem Wasser in Kontakt gekommen wäre. Ein plötzlicher Schauder läuft durch seinen Körper. So sehr er sich wundert, wie er aus der Tiefe seines nassen Beinahe-Grabes an diesen schrecklichen Ort geraten ist, an dem die dichten Äste der hochragenden Bäume kein Tageslicht zu ihm durchlassen, er bekommt keine Antwort. Er steht reglos da, völlig unfähig seine Füße und die vom Druck des Wassers schmerzenden Flügel zu bewegen. Der Boden ist feucht und rutschig unter seinen Zehen. Warum bin ich hier? Was hält mich hier? Chhh. Warum öffne ich nicht meine Flügel, um wegzufliegen?, wundert er sich und beobachtet die schwarzen Tautropfen, die mit jedem Windhauch von den Blättern der Bäume fallen. Eine tiefe Angst hat begonnen, sich in seinem Inneren einzunisten. Vielleicht verstecke ich mich aus irgendeinem Grund, denkt er. Aber er wüsste nicht warum. So benebelt und durcheinander, wie er sich jetzt fühlt, kann er nur Annahmen machen. Wahrscheinlich muss ich noch eine Weile hierbleiben, bis ich mich erholt habe. Mein Körper ist schwach und meine dünnen Beine zittern bei der kleinsten Bewegung der Blätter, chhh. Es ist besser hier zu bleiben, bis ich wieder auf die Beine komme. Er muss essen, sich stärken, damit er die Kraft und den Mut findet wegzufliegen. Doch wie soll er nach Nahrung suchen, wenn ihn seine Füße nicht tragen und der Hunger wie ein verwundetes Tier aus seinem Bauch schreit? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich wieder stark bin, tröstet er sich. Ich werde schnell wieder zu Kräften kommen, chhh, ich werde es schaffen. Ich bin ja nicht alt. Wie alt bin ich eigentlich, chhh? Seine zerknitterten Flügel fühlen sich extrem schwer an und seine Augen füllen sich mit Zweifel und Furcht, als ein schrecklicher Verdacht in seinen Kopf kriecht. Verstecke ich mich vielleicht immer noch, weil mich diese unbekannte, tödliche Macht verfolgt, die mich in das eisige Wasser des Flusses gezogen hat, chhh?
Er schafft es nicht einmal, den Gedanken zu Ende zu denken, als er plötzlich den feuchten, kalten Boden unter seinen Füßen verliert. Als ob das alles nicht schon schlimm genug wäre, erwartet ihn jetzt eine neue Bedrohung. Ein Wolf nähert sich ihm lauernd im Dunkeln. Er spürt den übelriechenden Atem des Tieres in seiner Nähe und ein Schauer läuft ihm über den Rücken. Er erstarrt, er kann sich nicht bewegen. Er bleibt wie angewurzelt stehen, um die feuchten, finsteren und gefahrvollen Augen des Wolfes zu beobachten, die im Dunkeln schimmern. Wieder einmal nicht in der Lage zu reagieren, erwartet er das Unvermeidliche. Apathisch, nur in Gesellschaft des Windes, der im Laub der Bäume singt.
Das wilde Tier hat sich in der Dunkelheit heimlich genähert und nur seine rotglühenden Augen und sein nach Tod stinkender Atem haben es verraten. Der Wolf macht einen weiteren Schritt. Schwanhold fürchtet, dass er sich gleich auf ihn stürzen wird, um ihn zu zerreißen.
Angsterfüllt starrt er in die feuchten Augen des Wolfes, und erkennt plötzlich sich selbst im Glanz der Wolfsaugen, sieht sich mühevoll und völlig außer Atem der Silhouette eines großen, stämmigen Mannes hinterherlaufen. Eines Unbekannten, der wie ein Schatten zum Mondlicht wandert.
Sein eigener gefiederter Körper, steif wie ein Brett, folgt ihm mühselig. Seine Flügel, die schwer an seinen Seiten hängen, erschweren ihm den Gang. „Wer bist du? Chhh. Wohin bringst du mich?“, fragt er, erwartet aber keine Antwort. Die Schatten sprechen nicht. Sie durchqueren schweigend endlose graue und verlassene Straßen. Das Einzige, was ihren Weg erhellt, ist die brennende Fackel, die der Unbekannte in seiner rechten Hand hält. Schwanhold kann dessen Gesicht nicht sehen, weil sein Gefährte niemals nach hinten schaut. Er ist nicht immer so schnell wie der Schatten des Mannes. Er ist langsam, er ist immer noch schwach, seine Füße gehorchen ihm kaum. Aber er beißt die Zähne zusammen und läuft entschlossen weiter. Es ist eine Frage des Gleichgewichts, sagt er zu sich selbst, während er wankt, stolpert, sich vorwärts lehnt und versucht über jede Unebenheit der Straße zu springen.
In Erinnerungen versunken spürte Schwanhold erneut die Erschöpfung. Mühsam hob er seine dünnen Füße vom Boden an. Er schüttelte den Hals, um die Bilder der Vergangenheit vertreiben, die begannen sich wie ein Sandsturm in der Flut aufzulösen.
„Nach den Worten von Max ist dieser Mann Karl, chhh“, flüsterte er, und zog sich aus seiner eigenen Erinnerung heraus, während er immer wieder seufzte. „Aber warum hat er mich hierhergebracht? Und warum hält er mich eingesperrt, chhh?“
„Das ist der Befehl, den er hatte“, sagte Max kurz und warf ihm einen durchdringenden Blick zu.
„Von wem? Chhh. Wer hat ihm den Befehl gegeben, mich hierher zu bringen?“
„Du weißt, wer den Befehl gegeben hat. Warum fragst du ihn nicht selbst? Wir alle wissen, dass er eine besondere Schwäche für dich hat“, murmelte Max. Am Klang seiner Stimme war Neid zu erkennen.
Der Schwan, den die Menschen Schwanhold nannten, machte einige zögerliche Schritte, ohne sich vom Platz zu rühren, um seinen schweren Körper zu balancieren. „Es ist sehr viel Zeit vergangen, seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Sieht Max ihn oft?“
Max antwortete ihm nicht. Sie schwiegen beide, verlegen, wie immer am Ende ihres Gesprächs.
„Ich muss mich erinnern. Eines Tages werde ich mich daran erinnern, wer ich bin und woher ich gekommen bin, chhh“, murmelte Schwanhold nachdenklich und unterbrach als erster die unbehagliche Stille. Er streckte seinen Hals, als wollte er ein Taubheitsgefühl loswerden, und legte ein Bein auf seinen Rücken. „Ja, ich werde mich definitiv erinnern, chhh, chhh.“
Unzählige Morgen haben wir das gleiche Gespräch geführt, das mich nie weitergebracht hat, überlegte Schwanhold als er den Raum verließ und seine schweren Flügel dabei ab und zu anhob.
Max folgte ihm mit langsamen, gleichmäßigen Schritten zum Ausgang.
„Etwas sagt mir, dass der Tag, an dem ich mich erinnern werde, sehr bald kommen wird“, flüsterte er mit halbgeschlossenem Schnabel, so dass Max ihn nicht hören konnte.
Es war stockdunkel in dieser Nacht, als ich aus meinem Zimmer kam, um in die Küche zu gehen. Im Flur war es warm. Der Atem der Mitarbeiter der Nachmittagsschicht lag noch in der Luft, obwohl sie schon vor einiger Zeit verschwunden waren. Die elektrischen Lichter waren bereits ausgeschaltet, während jetzt Kerzen und Gaslampen brannten.
Stille herrschte im Gebäude. Ich atmete tief ein und genoss das Echo meines Atems, als ich den Korridor durchquerte. Nach einigen einsamen Schritten erreichte ich die Austrittsstufe der Treppe, die zur Küche führte, als ein unangenehmer Geruch in meine Nase stieg. Ich konnte nicht identifizieren, was so schlecht roch. Ich hielt unruhig inne. Woher kam dieser starke Geruch? Die Neugier ließ mich kehrtmachen. Mit langsamen, nervösen Schritten ging ich in die Richtung zurück, aus der ich gekommen war. Das Geräusch meiner eigenen Schritte auf dem Marmorboden hörte sich irritierend eintönig an.
Ich blieb vor der Tür des ersten Zimmers zu meiner Rechten stehen. Es war eines der Schlafzimmer des Schlosses, wo hochrangige Herrschaften lebten, „die der guten Gesellschaft“, wie die Frauen der Küche sie nannten, mit einer Grimasse des Ekels im Gesicht. Diese Zimmer waren viel besser ausgestattet als die Angestelltenzimmer, wie das, das ich mir mit Frau Hofbauer teilte. Bessere Betten für mehr Schlafkomfort, mehr Möbel mit teurem Zubehör und Wände, die von kleinen Fresken mit tapferen Helden und bildhübschen Damen geschmückt waren.
Überrascht entdeckte ich, dass die Zimmertür nicht vollständig geschlossen war. Aus einer schmalen Öffnung glitt ein dünner Strahl stumpfen, gelblichen Lichts, das flackernd auf dem Boden des Korridors reflektierte. Ich nahm an, dass der Bewohner dieses Zimmers unterwegs war und die Kerzen angelassen hatte. Obwohl wir alle wissen, dass die Vorschriften aus Gründen der Wirtschaftlichkeit, aber auch zur Vermeidung von Feuerunfällen das unnötige Anzünden von Kerzen verbieten, schien der Mieter des Zimmers vergessen zu haben seine zu löschen.
Ich näherte mich, schob meinen Körper zum Türspalt und schaute vorsichtig in den Raum, um sicherzustellen, dass sich niemand darin befand, bevor ich eintrat. Ich konnte nichts erkennen. Ich drückte die Tür vorsichtig auf, um besser zu sehen. Die Tür gab mit einem quietschenden Geräusch nach.
Ich trat ein, schaffte aber keinen weiteren Schritt. Meine Füße blieben vor Überraschung wie angeklebt auf der Stelle stehen. Ein Mann beugte sich über einen dunklen Nachttisch, die Knie leicht angewinkelt, der Rücken krumm, und versuchte mit einem Arm, einen Gegenstand aus einer geöffneten Schublade zu ziehen.
Ich stand sprachlos ohne zu atmen, beobachtete ihn und versuchte herauszufinden, was er dort suchte. Ich schluckte trocken und versuchte nachzudenken. Mir wurde schnell klar, dass ich vor einem Dieb stand.
Plötzlich, als hätte er meine Anwesenheit gespürt, drehte er den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Ich stand verblüfft da. Er blieb einige Momente, die sich wie ein Jahrhundert anfühlten, so stehen: der Rücken gekrümmt, die Arme hingen vor der Brust und der Mund klaffte offen. Und dann zog er seine Arme zusammen, richtete seinen Körper auf, schloss den Mund und war mit zwei schnellen Schritten bei mir, bevor ich einen zweiten Atemzug machen konnte. Er zog mich heftig in die Mitte des Raumes und schloss die Tür hinter sich.
Während ich mich bemühte seinem Griff zu entkommen, wurde mir klar, dass ich jetzt besser einen kühlen Kopf bewahren sollte. Der Fremde konnte mir mehr antun als körperliche Schmerzen.
„Lassen Sie mich los. Warum zerren Sie mich so herum?“, rief ich und versuchte nicht, den Ärger in meiner Stimme zu verbergen.
Er sah mich mit einem ironischen Blick und einem frechen Lächeln an, als er meinen Arm losließ.
Das gelbliche Licht der brennenden Lampe auf dem Nachtschränkchen, die er anscheinend selbst angezündet hatte, beleuchtete sein Gesicht. Er war groß und schlank und sah aus wie ein armer Mönch. Sein Gesicht war hager, knochig und hart mit blasser Haut, seine grünen Augen sahen aus wie die Augen eines Tieres. Seine Zähne waren spärlich und gelb. Sein langes blondes Haar lag fettig und ungekämmt auf seinen Schultern. Seine Kleidung, die ihm mindestens zwei Nummern zu groß war, hing an ihm wie eine Fahne bei Flaute.
Ich war überrascht. Ich hatte bisher noch nie einen derart schlecht gekleideten und ungepflegten Menschen gesehen. Vor mir stand eine menschliche Ruine. Da ich keine Antwort bekam, fragte ich weiter.
„Was machen Sie hier? Ich bin sicher, dass dies nicht Ihr Zimmer ist.“
„Und was interessiert es dich? Sagen wir mal, ich kenne denjenigen sehr gut, der hier lebt“, erwiderte der Mann.
Ohne auf meine Antwort zu warten, näherte er sich dem Nachttisch und zog mit seiner linken Hand einen kleinen, silbernen, dreiarmigen Kerzenständer heraus. Seine rechte Hand nahm kaum an dem Vorgang teil. Es war bestimmt schwierig wegen ihres elenden Zustands. Die Haut der Hand war an vielen Stellen rau und gerafft, als ob sie verbrannt wäre; die Finger waren ungewöhnlich gekrümmt und konnten sicher nicht fest greifen.
„Unfall?“, fragte ich und fühlte direkt eine Anspannung im Bauch. Ich bedauerte sofort meine indiskrete Frage.
Doch er nickte zustimmend. „Erinnerung an das Unglück“, antwortete er, ohne mich anzusehen, mit einem rätselhaften, bitteren Lächeln auf seinen Lippen.
„Lassen Sie ihn hier“, sagte ich und starrte auf den silbernen Kerzenständer in seiner linken Hand.
„Vergiss es!“, antwortete er. Sein Blick war wütend. „Hör mit den Befehlen auf und hau ab, wenn du nicht wegen Diebstahls verhaftet werden willst“, fauchte er. „Es ist die Zeit der ersten Kontrolle. Die Wächter werden bald hier vorbeikommen.“
„Mich? Warum sollten sie mich verhaften?“
Ich sah den fremden Mann an, der mir Befehle zu geben schien, als hätte ich den größten Spinner der Welt vor mir. Was wohl so ein Mann hier zu suchen hat, dachte ich und betrachtete seine stechenden Augen.
„Hau doch endlich ab, worauf wartest du noch?“, wiederholte er seine Aufforderung. „Dir zuliebe. Wenn sie mich erwischen, werden sie mich schnell freilassen. Ich habe dir doch gesagt, ich kenne den Zimmerbewohner. Aber du? Wie willst du deine Anwesenheit rechtfertigen?“, fragte er spöttisch.
Der Gestank kommt von seinen Socken und seiner schmutzigen Kleidung, er braucht auf jeden Fall ein gutes Bad, dachte ich, ohne mich in Richtung Tür zu bewegen. Ich hatte es, trotz seiner Drohungen, nicht vor. Meine Neugier auf den fremden Mann wurde mit jedem Moment größer.
„Sie müssen den Kerzenständer an Ort und Stelle lassen“, wiederholte ich erneut, verwirrt durch sein unverantwortliches Verhalten.
„Auf keinen Fall. Geht nicht.“
„Wieso? Sie brauchen ihn nicht. Ich bin sicher, Sie haben ein Leuchtmittel in Ihrem Zimmer. Nicht wahr?“
„Ich nehme ihn nicht für mich. Ich kann dir versichern, dass ich einer von denen bin, denen die Dunkelheit besser steht als das Kerzenlicht.“
Seine Worte verwirrten mich. In seinem Blick war etwas, was mich unruhig werden ließ.
„Aber warum dann?“, wisperte ich.
Er zuckte nur verlegen mit den Schultern und versank in Schweigen. Obwohl er mich leicht lächelnd ansah, war mir klar, dass er nicht bereit war mir zu antworten. Sein Schweigen gab mir Zeit, mich zu fassen. Ich warf ihm einen strengen Blick zu und hoffte, dass ich ihm Angst machen und so zwingen würde, den Kerzenständer hier zu lassen.
„Geben Sie mir einen guten Grund, warum Sie es tun, und ich verspreche zu versuchen Ihnen zu glauben“, sagte ich zu ihm. „Aber ich hoffe, Sie erzählen mir keinen Mist, denn dann werde ich sofort die Wächter rufen.“
Er seufzte, als hätte ihn meine Beharrlichkeit erschöpft.
„Du bist so naiv! Wie willst du deine Anwesenheit neben mir erklären? Oder glaubst du, du kannst sie davon überzeugen, dass du hier bist, um die Beute zu beschützen?“
„Ich werde ihnen die Wahrheit sagen, dass ich vorbeigegangen bin und Sie beim Klauen ertappt habe!“
„Mach dir keine Illusionen. Sie werden dir nicht glauben.“
Ich bemerkte, dass sowohl seine Stimme als auch sein Gesicht weicher geworden waren.
„Vielleicht haben Sie recht, Herr...“, sagte ich.
„Bastian Schwarz. Und du? Wie ist dein Name?“
„Emma.“
„Emma was? Einfach Emma? Ohne Nachname?“
„Einfach Emma“, wiederholte ich kurz und beeilte mich das Thema zu wechseln. Ich konnte absolut nicht zugeben, dass ich keinen Nachnamen hatte. Und das vor einem Unbekannten! „Lassen Sie den Ständer hier und lassen Sie uns beide verschwinden.“
Bastian Schwarz nahm wieder seinen steifen Ton an und schüttelte verneinend den Kopf.
„Ich fürchte derjenige, der darauf wartet, wird wütend sein, wenn ich ihn ihm nicht rechtzeitig liefere.“
Seine Antwort ließ mich ihn mit offenem Mund anstarren.
„Worin sind Sie verwickelt? Wer hat Sie dazu beauftragt, ihn zu stehlen?“
„Sind wir jetzt plötzlich Freunde geworden? Glaubst du, du kannst mich verstehen, wenn du die ganze Geschichte hörst?“
„Ihre Gedanken sind schmutziger als unser Taubenhaus“, erwiderte ich wütend.
„Meine Gedanken?“, fragte er sarkastisch. „Du meinst wohl meine Kleider. Macht dir mein Aussehen etwa Angst, weil es nicht zu deiner Welt passt?“
„Ich versuche Ihnen zu helfen“, sagte ich protestierend.
„Wie?? Mit Schlägen unter die Gürtellinie?“, höhnte er, indem er mich abschätzend mit seinen kleinen grünen Augen ansah, in denen ich nur Abwertung und Gleichgültigkeit erkennen konnte.
„Schön, ich hoffe es ist bei Ihnen angekommen, dass ich keine Angst davor habe, mit ähnlichen Schlägen weiterzumachen.“
„Ich fühle mich von deinem Interesse geschmeichelt. Ein nettes und hübsches Mädchen wie du. Bist du dir sicher, dass du mit jemandem wie mir zu tun haben willst?“
„Noch nie in meinem Leben war ich mir sicherer. Ich fürchte Sie sind bereit etwas zu tun, was Ihnen überhaupt nicht zugute kommen wird. Was haben Sie zu verlieren?“
„Ich? Nichts. Aber du wirst mindestens deine Zeit verlieren und vielleicht bekommst du auch noch eine Strafe für deine Abwesenheit aus der Küche.“
Ich starrte ihn verdutzt an.
„Dein schwarzes Kleid... Es ist schon von Weitem zu erkennen, dass du in der Küche arbeitest.“
Die Härte in seinem Gesicht verschwand plötzlich. Ich sah ihn trocken schlucken, als wollte er seine Würde zurückgewinnen. Er runzelte die Stirn.
„Ihr jungen Leute, ihr seid stur wie Maulesel“, murmelte er.
Ich versuchte zu lachen, aber mir wurde klar, dass mir gerade nicht zum Lachen zumute war.
Er dagegen grinste mit einem dunklen, bitteren Ausdruck, der perfekt zu seinen gelblichen, spärlichen Zähnen passte.
„Warum gehst du jetzt nicht und wir setzen dem Ganzen ein Ende. Hast du nichts Besseres zu tun? Ihr Frauen der Küche würdet alles geben für Klatsch, Gerüchte, Gelächter und Kritik von oben herab.“
„Hören Sie mit den Beleidigungen auf. Sie werden mich nicht entmutigen. Wenn ich es richtig verstehe, missbrauchen Sie Ihre Bekanntschaft mit dem Herrn, der hier wohnt, um Dinge aus seinem Zimmer zu stehlen, ohne Angst zu haben, gefasst zu werden. Ich bestehe darauf, dass Sie den Kerzenständer stehen lassen und wir sofort gehen“, sagte ich verbissen und spürte die Empörung wie einen Knoten in meinem Hals.
„Auf keinen Fall. Den Kerzenständer werde ich mitnehmen“, beharrte er und scharrte nervös mit seinem Fuß auf dem Boden.
„Erklären Sie es mir doch endlich. Warum bestehen Sie so sehr darauf?“
„Wer weiß? Vielleicht möchte ich die Kerzen anzünden, damit die ganze Welt niederbrennt, und ich mit ihr. Damit alles verbrennt, bis es nichts anderes als Asche gibt“, zischte er mit einem mehrdeutigen Lächeln auf den Lippen und lief zur anderen Seite des Raumes, als wollte er in den Schatten verschwinden. Leider konnten die Schatten ihn nicht verbergen. Meine Welt ist zu klein, um sich darin zu verlieren.
„In diesem Raum wohnt der Architekt Erich Gabelsberger. Er kennt mich sehr gut, weil er mich hierhergebracht hat. Wenn die Wärter mich in seinem Zimmer finden, werden sie mir nichts tun. Ich kann nicht sagen, dass dasselbe für dich gilt. Ich glaube nicht, dass deine prachtvollen blonden Haare, deine strahlend blauen Augen, deine vollen rosaroten Lippen oder dein schlanker Körper dich retten werden. Du weißt, wie die Dinge hier funktionieren. Du wirst in einem der Kerker im Keller landen und wirst dort von allen vergessen verrotten. Lebendig kommst du da nicht raus.“
Als ich ihm zuhörte, musste ich schlucken. Seine Worte verursachten mir Gänsehaut am ganzen Körper, aber ich schaffte nicht, etwas zu sagen, bevor er gebeugt und krumm zur offenen Schublade des Nachtschränkchens lief. Er legte den Kerzenhalter hinein und schloss die Tür des Schränkchens sorgfältig.
„Bist du jetzt zufrieden? Hau jetzt ab! Ich hoffe, ich sehe dich nicht wieder, denn beim nächsten Mal werde ich dich von den Wächtern erwischen lassen“, sagte er mit einem leichten Zittern in der Stimme.
Als ich Bastian Schwarz das nächste Mal traf, befand er sich in einem noch schlechteren Zustand. Es war Mittwochnachmittag und ich schlief noch. Frau Hofbauer war schon eine ganze Weile vor mir wach, saß auf ihrem Stuhl und studierte die Bibel. Im Schloss herrschte absolute Stille. Zu dieser Zeit blieb es mittwochs für Besucher geschlossen. Die Einzigen, die morgens durch die Korridore liefen, waren die Wachmänner.
Auf einmal weckte mich ein lautes, kräftiges Klopfen an der Tür, beharrlich und unruhig, wie die Wellen, die am Fuße einer steilen Klippe brechen.
Ich öffnete die Augen und spitzte die Ohren, das Klopfen wurde lauter und hartnäckiger. Ich schob die Decke beiseite, stand langsam vom Bett auf und sah dabei verwirrt Frau Hofbauer an, die ihren Kopf von ihrer Bibel gehoben hatte und unsicher zurück blickte. Während ich mich in aller Eile anzog, signalisierte ich ihr, dass sie sitzen bleiben sollte. Als ich fertig war, ging ich zur Tür. Ich versuchte zu hören, was draußen geschah. Absolute Stille, nicht einmal die Schritte der Wachen waren zu vernehmen, die normalerweise den Korridor des Stockwerks inspizierten.
„Wer auch immer es war, er ist gegangen“, sagte Frau Hofbauer erleichtert.
Ich war bereit in mein Bett zurückzukehren, als ein neuer Schlag mich erstarren ließ. Ich öffnete die Tür und vor mir stand Bastian Schwarz, der mich abrupt zur Seite stieß und schnell ins Zimmer trat.
Ich machte verblüfft einen Schritt zurück. Er war in einem sehr schlechten Zustand, als wäre er geschlagen worden, und blutete. Erschöpft sank er auf die Knie. Er trug keine Schuhe, seine nackten Füße waren verletzt und schwarz. Ich half ihm auf den leeren Stuhl neben Frau Hofbauer, die, vom Eindringen des unbekannten Mannes in unser Zimmer fassungslos, verblüfft dasaß, den Blick stetig auf den ungebetenen Gast geheftet. Ich zögerte einen Moment, als ich ihren kritischen Blick sah. Ich erklärte ihr, dass ich den Mann kannte und nannte seinen Namen, aber ich vermied es, ihr mehr Informationen zu geben. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf Bastian, der uns mit einem kalten Blick beobachtete.
Sein schlankes Gesicht war unnatürlich geschwollen. An einigen Stellen schimmerten getrocknete Blutflecken auf seiner bleifarbenen Haut. Auch an seiner guten Hand waren getrocknete Spuren von verschmiertem Blut zu sehen.
Er musste die Unruhe in meinen Augen gelesen haben, denn mit einem Schulterzucken gab er mir zu verstehen, dass ich keinen Grund zur Sorge hatte.
„Bis die Wächter vorbei sind“, sagte er zwischen kurzen Atemzügen. „Ich werde es nicht leicht haben, wenn sie mich um diese Uhrzeit und in diesem Zustand im Flur erwischen. Ich habe gerade keine passende und überzeugende Erklärung, um mich zu verteidigen.“
„Was ist passiert? Wo sind Ihre Schuhe?“
„Diese Dreckskerle, nachdem sie mich niedergeschlagen haben, haben sie auch meine Stiefel mitgenommen“, murmelte er voll Ärger und Verachtung, als er sah, dass ich seine Füße betrachtete.
„Wer? Wer hat Sie geschlagen?“
„Ich bin den ganzen Weg vom Dorf bis hier hoch barfuß gelaufen“, sagte er und ließ seinen blutigen Arm zur Seite fallen. Seine Lippen wurden schmal, als ob er Schmerzen hätte.
„Vom Dorf aus hierher? Sie sind im Dorf gewesen?“
„Fang nicht wieder mit deinen Ermahnungen an, Mädchen“, sagte er mit einer Stimme, die in einem Stöhnen erstickte.
„Haben Sie Schmerzen?“
„Es ist nichts, es geht schon“, antwortete er abrupt und biss die Zähne zusammen.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Frau Hofbauer aufstand. Sie schien mit dem, was sich vor ihren Augen abspielte, überhaupt nicht zufrieden zu sein. Sie schüttelte ununterbrochen den Kopf und murmelte unverständliche Worte. Sie sah wütend aus. Ich war mir sicher, dass ich ihr die Anwesenheit von Bastian in unserem Zimmer später erklären würde müssen.
„Ich werde Ihnen sauberes Wasser holen, um die Wunden zu waschen, Frau Hofbauer“, sagte ich und warf einen ihr einen hastigen Blick zu. In diesem Moment öffnete meine Mitbewohnerin die Kiste mit ihren berühmten Wundersalben, die schon manches Mal vielen von uns bei kleineren Unfällen in der Küche geholfen hatten. Mir wurde klar, dass sie Bastian trotz ihres Unmuts helfen würde.
„Um Himmels willen, mach doch jetzt bloß nicht die barmherzige Schwester. Es ist alles deine Schuld, dass ich so aussehe“, warf mir Bastian zu und lächelte mich dann müde an.
Ich sah ihn zweifelnd an, ich konnte nicht verstehen, was er meinte.
„Ich habe ihnen nicht das gegeben, was sie wollten. Das ist meine Belohnung.“
„Der silberne Kerzenständer“, sagte ich und versuchte zu verstehen, wie es ihm gelungen war, mit Menschen außerhalb des Schlosses in Kontakt zu treten. Ich fragte mich, wie er die Wachen ausgetrickst hatte, um auszubrechen. Wo war er gewesen? Was hatte er da draußen gemacht?
Bastian nickte, sagte aber keinen Ton, solange Frau Hofbauer ihre Salben auf die Kratzer an seinen Beinen und in seinem Gesicht verteilte. Gelegentlich hob er seinen Blick zu meiner Mitbewohnerin, sah sie mit versöhnlichen Blicken an und lächelte schwach.
„Verzeihen Sie meinen ungebetenen Eintritt in Ihre Kammer, Frau Hofbauer“, sagte er und verzog das Gesicht zu einer schmerzhaften Grimasse, die die Lücken zwischen seinen gelblichen Zähne zeigte.
„Es gibt nichts zu verzeihen“, antwortete sie seufzend. „Es reicht, wenn Ihre Anwesenheit hier unter uns bleibt und niemand davon erfährt. Nicht so sehr für mich wie für meine Emma.“
„Ich gebe Ihnen mein Wort. Ich werde dafür sorgen, dass Sie nicht wieder von mir hören werden.“
„Jetzt übertreiben Sie. Wie alle in Ihrem Alter“, antwortete Frau Hofbauer mürrisch.
Nachdem sie mit Bastians Pflege fertig war, sammelte sie die Gläschen mit ihren Salben ein und kehrte zu unserer Kommode zurück, um sie dort aufzubewahren. Ich nutzte den Moment, in dem sie uns den Rücken gekehrt hatte, um Bastian zuzuflüstern: „Ich möchte auch hinausgehen. Ich möchte sehen, wie es ist.“
Er sah mich mit großen Augen an. In ihnen sah ich Ironie, aber auch Angst.
„Warst du jemals dort draußen?“
Ich schüttelte verneinend den Kopf und fügte noch schnell hinzu, bevor Frau Hofbauer zu ihrem Platz am Tisch zurückkehrte: „Ich habe es aber vor. Ich bin mir sicher, eines Tages werde ich es schaffen.“
„Ich würde es dir nicht empfehlen. Die Welt da draußen hat sich verändert, es ist nichts mehr wie früher. Sehr schnell hat sich alles gewandelt. Manchmal denke ich, dass diese Veränderung an einem Tag stattfand, als ob ich nachts in einer Zeit eingeschlafen und in einer komplett anderen aufgewacht wäre.“
Ich verstand nicht, was er damit meinte, aber seine Worte ließen meine Wut verfliegen.
„Ich bin nie aus dem Schloss gekommen“, seufzte ich und erkannte, dass Frau Hofbauer unserer Diskussion mit besonderem Interesse folgte.
„Wo wurdest du geboren? Wo wohnt deine Familie?“, fragte Bastian mit hochgezogenen, fragenden Augenbrauen.
„Ich habe keine Familie“, antwortete ich und hoffte, dass meine abrupte Antwort ihn von weiteren Fragen abhalten würde.
„Alle Menschen haben eine Familie. Vielleicht hast du sie nie kennengelernt, aber sie ist irgendwo da draußen.“
„Ich habe keine“, beharrte ich unwillig.
Meine Mitbewohnerin war indessen zu ihrem Platz zurückgekehrt und war scheinbar entschlossen das Thema unserer Diskussion zu wechseln, offensichtlich hatte sie meine Anspannung gespürt.
„Wo arbeitest du?“, fragte sie ihn mit einem minimalen Hauch Interesse.
„Ich war einmal im Dienst des Architekten Erich Gabelsberger. Heute habe ich meine eigenen Aktivitäten entwickelt“, sagte er lächelnd.
Frau Hofbauer warf ihm einen strengen Blick zu, der zeigte, dass sie seinen Humor überhaupt nicht schätzte.
„Neulich habe ich gehört, dass Leute für das Kerzengießen gebraucht werden. Jemand, der mit Frau Eva arbeitet, die für die Waren verantwortlich ist, die ins Schloss geliefert werden, zum Beispiel für den Einkauf des Paraffins, für die zu bestellende Menge und so weiter. Oder jemand, der das Material empfängt, wenn sie es in das Schloss bringen, solche Jobs, denke ich. Ich kenne den Aufseher, ich werde mit ihm über Sie sprechen“, sagte sie zu ihm.
Der Ton ihrer Stimme war eher befehlend als fragend.
„Hmmm, Kerzen, Feuer, genau das Richtige für meinen Fall“, murmelte Bastian. „Seit einem bestimmten Punkt meines Lebens fühle ich mich immer mit dem teuflischen Rot des Feuers verbunden“, fuhr er sarkastisch und rätselhaft fort.
Frau Hofbauer hob neugierig die Augenbrauen und ihre Stirn war voller Falten.
„Ein schlechter Kommentar, aber eine interessante Offenbarung, wenn sie wahr ist“, sagte sie zu ihm. „Ich würde sehr gerne wissen, was Sie meinen, Herr Schwarz.“
Ich sah Bastian an. Sein Gesicht hatte einen machiavellistischen Ausdruck angenommen.
„Es gibt Dinge, die besser in der Vergangenheit begraben bleiben sollten“, flüsterte er.
Ein flüchtiger Schatten von Schmerz flatterte in seinem Blick. Es war Verzweiflung, die ich in ihm spürte, und obwohl ich nicht wusste warum, wollte ich unbedingt wissen, was ihm widerfahren war. Vielleicht, weil ich niemanden kannte, der so war wie er. Vielleicht war die Geschichte seines Lebens genauso besonders, genauso einzigartig wie er selbst.
„Was ist mit Ihnen passiert“, beharrte meine Mitbewohnerin.
Bastian zuckte mit den Schultern und nach einem langen Moment des Schweigens hob er den Blick und sah sie resigniert an.
„Es ist das passiert, was mit all denen passiert, deren Träume auf den Felsen zerschellen und die ihre Hoffnung verloren haben. Über mir schwebt seitdem eine schwere, finstere Wolke. Es ist wie ein Geruch von Unglück, der aus den Körpern meiner Geliebten strömt.“
„Es ist nicht richtig, so zu sprechen, mein Kind, das ist Blasphemie. Sag ihm doch Emma, erzähl ihm, was in deinen Büchern über Hoffnung und Glauben steht“, sagte Frau Hofbauer, die sich nun davor fürchtete, das zu hören, was sie aus Bastian hatte herauslocken wollen.
Er achtete nicht auf ihre Worte und fuhr mit gebrochener Stimme fort:
„Ich erinnere mich, dass ich mit meiner Mutter in einer feuchten, dunklen Hütte lebte, die uns ihr Arbeitgeber aus Mitleid gegeben hatte, als ich noch ein Kind war. Zu dieser Zeit war trotz unserer Armut alles anders, leichter und sorgloser. Mich störte weder die Abwesenheit meines unbekannten Vaters noch die meiner Mutter, die den ganzen Tag arbeiten war und die Kleider der Damen des Hauses wusch.
Mit einer alten Draisine, die ich im Stall des Arbeitgebers meiner Mutter versteckt in einer Ecke entdeckt hatte und deren hölzernes Gestell von Feuchtigkeit und Alter aufgequollen war, raste ich jeden Tag den Hügel hinab, der vor unserer Hütte begann. Ich hatte keine Angst mir weh zu tun; mein Leben zu verlieren war damals kein Schrecken für mich. Ich denke, so sind alle Kinder, furchtlos.“
„Armer Junge“, sagte Hofbauer leise, um ihn nicht zu unterbrechen.
Bastian schien sie nicht gehört zu haben.
„Umso älter ich wurde, desto mehr Zeit verbrachte ich auf den schlammigen Straßen des Dorfes statt in der stickigen Hütte, und genoss das, was ich damals Freiheit nannte. Eine Freiheit, die mich oft in dunkle und gefährliche Straßen geführt hat. Die Angst habe ich erst später getroffen, als ich Elsa kennenlernte, einen Engel, der sich auf die Erde verirrt hatte. Ein Engel, der seine Hände ausstreckte und mich aus dem Schatten und der Dunkelheit herauszog. Diesen Engel ließ ich nicht gehen. Ich habe Elsa geheiratet. Zum ersten Mal hatte ich einen Job, in einer der neuen Papierfabriken der Umgebung. Ich hatte ein richtiges Zuhause und nach neun Monaten mein eigenes Kind.“
Er machte eine kurze Pause. Seine Augen waren geschlossen, seine Hände zitterten.
„Mein Versuch, durch die himmlischen Augen meiner Frau wiedergeboren zu werden, endete in Flammen. Alles, was schlecht laufen konnte, wurde noch schlimmer.“
Seine Stimme wurde rau. Frau Hofbauer füllte ein Glas Wasser und stellte es vor ihn auf den Tisch.
„Trink etwas und atme kurz durch“, riet sie ihm.
Er trank das Wasser und erzählte dann weiter.
„Als meine Tochter sechs war, in der Nacht vor Heiligabend, hatte ich einen Traum, voller Dunkelheit und Tod. Ich war erschrocken aufgewacht und sah erleichtert meine beiden Lieben, die friedlich mit mir im Raum schliefen. Die schlechten Gedanken flogen davon wie der schwarze Rauch, der durch die kühle Brise aufgelöst wird. Es war nur ein schlechter Traum