Absturz - T. J. Newman - E-Book

Absturz E-Book

T.J. Newman

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Beschreibung

»Liest sich wie ›Apollo 13‹ unter Wasser.« Don Winslow

Ein gesunkenes Flugzeug, eingeschlossene Passagiere und eine fast aussichtslose Rettungsaktion ...

Sechs Minuten nach dem Start stürzt Flug 1421 ins Meer. Die Überlebenden des Crashs glauben für einen kurzen Moment an ein Wunder – sie haben es geschafft! Dann sinkt die Maschine vor Hawaii auf den Grund des Ozeans. Und es gibt es kein Entkommen. Obwohl die Chancen auf Rettung minimal sind, wird sofort ein Großeinsatz geplant. Doch die Zeit läuft gegen die im Flugzeug eingeschlossenen Passagiere. Denn bald wird auch die Luft knapp ...

»›Absturz‹ ist Adrenalin pur und reinste Emotion. Man ist von der ersten Seite an gebannt, wenn Crew und Passagiere eines gesunkenen Flugzeugs um ihr Überleben kämpfen und Rettungskräfte einen Wettlauf gegen die Zeit gewinnen müssen. Schnallen Sie sich an, nehmen Sie die Sicherheitsposition ein, und vergessen Sie das Atmen nicht!« Meg Gardiner

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Seitenzahl: 374

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Buch

Sechs Minuten nach dem Start stürzt Flug 1421 ins Meer. Die Überlebenden des Crashs glauben für einen kurzen Moment an ein Wunder – sie haben es geschafft! Dann sinkt die Maschine vor Hawaii auf den Grund des Ozeans. Und es gibt kein Entkommen. Obwohl die Chancen auf Rettung minimal sind, wird sofort ein Großeinsatz geplant. Doch die Zeit läuft gegen die im Flugzeug Eingeschlossenen. Denn bald wird auch die Luft knapp …

Autorin

T. J. Newman, eine ehemalige Buchhändlerin und langjährige Flugbegleiterin, arbeitete von 2011 bis 2021 für Virgin America und Alaska Airlines. Ihren Debütroman »Flug 416« verfasste sie größtenteils, während ihre Passagiere auf Nachtflügen schliefen. Das Werk wurde zum internationalen Bestseller wie auch »Absturz«, ihr zweiter Roman. Die Autorin lebt in Phoenix, Arizona.

Mehr Informationen zur Autorin und ihrem Buch unterTJNewmanBookst_j_newmantj_author

Von T. J. Newman bei Goldmann lieferbar:

Flug 416. Thriller

Absturz. Thriller

(Alle auch als E-Book erhältlich)

T. J. Newman

––––––––––

Absturz

Thriller

Aus dem Englischen von Thomas Bauer

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Drowning« bei Avid Reader Press, an imprint of Simon & Schuster, Inc., New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung März 2024

Copyright © der Originalausgabe

2023 by T.J. Newman

Published by arrangement with the original publisher, Avid Reader Press, an imprint of Simon & Schuster, Inc., New York

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München, unter Verwendung einer Gestaltung von David Litman

© 2021 Avid Reader Press / Simon & Schuster

Umschlagmotiv: gettyimages/Stuart Westmorland, Ty Mcclelland/EyeEm, quentin houyoux; shutterstock/Rad Ks

Redaktion: Claudia Alt

AB · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29922-4V001

www.goldmann-verlag.de

Für die Schlitzohren Grant und Davis

Der Begriff »last-ditch attempt« bezeichnet im Englischen den letzten, wenig aussichtsreichen Versuch am Ende einer langen Reihe von Fehlversuchen.In der Luftfahrt wird die kontrollierte Notwasserung eines Flugzeugs als »ditching« bezeichnet.

1

Will Kent öffnete die Augen genau in dem Moment, in dem das Triebwerk explodierte.

Er riss den Arm nach oben, um seine Tochter Shannon zu schützen, die am Fenster saß. Das elfjährige Mädchen schien das gar nicht zu bemerken, sondern starrte nur die Flammen an, die hinten aus der Schubdüse des Triebwerks schossen, und stieß ein banges »Boah« aus.

Will setzte sich auf und blickte über die Sitzlehnen. Der Notausgang befand sich zwei Reihen vor ihnen. Eine Flugbegleiterin saß dort entgegen der Flugrichtung mit dem Gesicht zu den Passagieren auf einem Notsitz. Will konnte ihr Namensschild mit Mühe entziffern: Molly. Er versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Molly sagte kein Wort. Das war auch nicht nötig.

Das Flugzeug wurde durchgeschüttelt. In der Kabine kam Panik auf. Alle reckten die Köpfe, um einen Blick nach draußen zu werfen. Flammen. Abgerissene Metallteile, die an den Fenstern vorbeiflogen.

Will beugte sich über Shannon, um besser sehen zu können. Das Triebwerk brannte. Die Tragfläche war zum Teil beschädigt. Unter dem Flugzeug kristallklares türkisfarbenes Wasser.

Shannon sah ihren Vater an. »Warum kehren wir nicht nach Honolulu um?«

Diese Frage hatte Will sich auch schon gestellt.

Im Cockpit wurde der schlimmste Albtraum jedes Piloten wahr.

»Wir haben keinen Schub mehr auf Triebwerk eins«, teilte Co-Pilotin Kit Callaghan über Funk der Flugsicherung mit. Sie sprach ungewollt lauter, als das Flugzeug absackte. »Und kein Hydrauliköl mehr in allen drei Systemen.«

»Wiederholen Sie das bitte, Vierzehn-Einundzwanzig.«

Der Fluglotse klang skeptisch. Auch der Kapitän warf einen kurzen Blick auf das Display, um sich selbst davon zu überzeugen. An jedem anderen Tag hätten Kit die Zweifel der beiden ziemlich genervt.

Heute nicht.

Sie kontrollierte dreimal die Triebwerksparameter, da sie selbst kaum glauben konnte, was sie auf dem Display sah. Die Systemfehler waren ihrer Schwere nach aufgelistet. Die kritischsten Fehler, die der Kategorie drei, standen ganz oben, in Rot. Das ganze Display leuchtete rot. Jedes Mal, wenn sie eine Fehlermeldung löschte, erschien eine neue. Alle gehörten der Kategorie drei an. Das Display sah aus, als würde es ausbluten.

Sie befanden sich noch nicht einmal zwei Minuten in der Luft. Triebwerk eins war ausgefallen. Die Hydraulik ebenfalls. Das ging über ihre Pilotenausbildung hinaus. Solche Situationen wurden im Simulator nicht geprobt.

Das hätte keinen Sinn gehabt.

»Vierzehn-Einundzwanzig, äh, alle drei, sagen Sie? Alle drei Hydraulik…«

»Verdammt, der Steuerknüppel ist ohne Funktion!«, sagte Kapitän Miller.

Kein Hydrauliköl. Keine Hydraulikleistung.

Das Flugzeug ließ sich nicht mehr steuern.

Grün. Blau. Gelb. Die drei Hydraulikleitungen des Flugzeugs. Zwei davon waren Ersatzleitungen für den Fall einer Störung. So wichtig war das System. Das Display hätte drei Leitungen mit einem Druck von 3000 PSI in Grün zeigen sollen. Kit hatte jedoch drei orangegelbe Leitungen mit 0 PSI vor Augen. Sie vermutete, dass bei der Explosion des Triebwerks Metallteile die Hydraulikleitungen wie Schrotmunition durchsiebt hatten und das Hydrauliköl komplett ausgelaufen war. Sämtliche beweglichen Teile des Flugzeugs – Querruder, Landeklappen, Störklappen, Seitenruder –, die zur Steuerung der Maschine dienten, waren blockiert.

Die Piloten konnten dem Airbus A321 keine Befehle mehr erteilen. Sie hatten die Kontrolle über ihn verloren.

»Wir können nicht umkehren«, teilte Kit dem Fluglotsen mit. »Wir brauchen eine Ausweichlandemöglichkeit vor uns.«

Will riss einen der Plastikbeutel auf, die er gerade aus dem Fach unter ihren Sitzen geholt hatte, und drückte ihn Shannon in die Hand.

Sie drehte den Beutel hin und her und betrachtete die zusammengefaltete gelbe Rettungsweste, die sich darin befand.

»Stürzen wir ab?«

Mehrere Passagiere sahen sie an. Sie hatte ihre schlimmsten Befürchtungen laut ausgesprochen.

»Shannon«, sagte Will und drehte sich auf seinem Sitz zu ihr. »Wir haben ein Triebwerk verloren. Ich habe keine Ahnung, warum wir nicht umkehren. Vielleicht können wir nicht.«

Will zog die Weste heraus, schüttelte sie auf und streifte sie Shannon über den Kopf. Dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände.

»Ich weiß, dass du Angst hast, aber was auch immer passiert, ich bin hier bei dir.«

Will hörte, wie ein Gurt geöffnet wurde, und wartete auf das Klicken, mit dem er wieder geschlossen werden würde, wenn dem fraglichen Passagier bewusst wurde, dass es kein Entkommen gab. Stattdessen waren schwere Schritte zu hören. Als Will aufblickte, sah er einen Mann mittleren Alters mit gerötetem Gesicht und einem blauen Polohemd auf dem Weg nach hinten an ihrer Reihe vorbeistürmen. Im hinteren Bereich des Flugzeugs ertönten verärgerte Männerstimmen, als der Typ im blauen Polohemd einen Flugbegleiter anschrie, der in der Mitte des Gangs auf einem ausklappbaren Notsitz saß.

»Sir!«, brüllte der Flugbegleiter. »Setzen Sie sich hin! Sir!«

Plötzlich sackte das Flugzeug ab. Mit allem ging es abwärts, nur mit dem Typen im blauen Polohemd ging es nach oben.

Er prallte mit dem Kopf gegen die Decke. Will wandte sich ab, als der Mann wieder auf dem Boden aufschlug – gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Molly ihren Gurt öffnete und in Richtung Heck des Flugzeugs losrannte. Das Flugzeug wurde noch einmal heftig umhergeworfen. Molly flog nach vorn und rammte mit dem Kopf eine Armlehne, wobei ihr Kinn das meiste abbekam. Sie kroch auf allen vieren zurück zu ihrem Notsitz und schnallte sich an. Von ihrer geplatzten Lippe tropfte Blut.

Will wandte sich wieder seiner Tochter zu. »Shannon. Wir bleiben zusammen. Hast du verstanden? Was auch immer passiert, wir bleiben zusammen.«

Doch Shannon hörte ihrem Vater nicht zu. Will folgte ihrem Blick. Der Typ im blauen Polohemd war wieder auf den Beinen und taumelte inmitten der Turbulenzen vor Schmerzen stöhnend zurück zu seinem Sitz. Er hielt sich den Kopf, und Blut strömte ihm übers Gesicht. Als er an ihrer Reihe vorbeikam, neigte sich das Flugzeug. Er stützte sich ab, dann setzte er seinen Weg fort und hinterließ einen knallroten Handabdruck auf dem weißen Gepäckfach.

Shannon starrte das Blut unverwandt an.

»Wir bleiben zusammen«, wiederholte sie.

Molly Hernandez zuckte zusammen, als sie sich mit dem Ärmel ihres Uniform-Pullovers das Blut vom Kinn wischte. Sie gab sich Mühe, ruhig zu wirken, als sie die Passagiere unter ihrem Pony hindurch ansah, doch ihre Hände wollten einfach nicht aufhören zu zittern.

Ein weiterer Sicherheitsgurt wurde geöffnet. Molly drehte sich um. Eine Frau im langen Blumenkleid stand auf, um den Typen mit dem blauen Polohemd wieder in ihre Sitzreihe zu lassen, als das Flugzeug abermals ruckelte. Die Frau im Blumenkleid verlor das Gleichgewicht und fiel gegen den Mann. Beide prallten mit den Köpfen gegeneinander. Die Frau verzog vor Schmerz das Gesicht. Auf ihrer Stirn befand sich jetzt ein Fleck von seinem Blut. Der Typ setzte sich unbeholfen hin. Als noch einmal ein Ruck durch das Flugzeug ging, fiel die Frau nach hinten auf ihren Sitz.

»Ma’am?«

So ein Scheißkerl, dachte Molly wütend. Drei Leute sind verletzt und voller Blut für nichts und wieder nichts.

»Entschuldigung …«

Molly war nur deshalb überhaupt aufgestanden, weil sie sich Sorgen um das ohne Begleitung reisende Mädchen machte. Es flog ganz allein. Saß im Flugzeug in der letzten Reihe. Das arme Kind hatte beste Sicht auf das ganze Chaos, auf das ganze Blut …

Ein Teil des Triebwerks wurde mit voller Wucht gegen den Flugzeugrumpf geschleudert. Alle zuckten von den Fenstern zurück, und Molly jaulte auf. Ein paar Leute schrien. Verdammt, die Passagiere wirkten völlig verängstigt. Alles passierte so schnell.

Molly schloss die Augen. Sie war im Begriff, die Nerven zu verlieren. Beruhig dich, sagte sie sich und atmete tief durch. Geh einfach noch mal deine Kommandos durch. Kopf runter, unten bleiben. Kopf runter, unten bleiben. Sicherheitsgurt lösen. Verlassen Sie …

»Entschuldigung! Ma’am!«

»Was wollen Sie?«, fuhr Molly die Frau an, die ihr gegenübersaß, bereute es aber prompt. »Tut mir leid.«

»Wo ist denn die Rettungsweste?«

»Unter Ihrem Sitz.«

Als die Frau sich vorbeugte, berührten ihre taillenlangen Zöpfe den Boden. Sie kämpfte mit der Plastikverriegelung des Fachs unter ihrem Sitz, bis diese mit einem Knacken abbrach. Die Frau setzte sich mit einem Beutel in der Hand wieder gerade hin, riss die Verpackung auf, schüttelte die knallgelbe Weste heraus und streifte sie sich über den Kopf.

»Aber ziehen Sie nicht …«

Die Frau packte die roten T-Griffe und riss daran, als handle es sich bei der Weste um einen Fallschirm, worauf sich diese mit einem lauten Zischen aufblies. Alle sahen zu, wie die Frau versuchte, sich in ihrem Sitz zurückzulehnen. Sie hatte jetzt mehr Ähnlichkeit mit einem Schlauchboot als mit einer Passagierin.

Im Cockpit warf Kim einen Blick auf die Anzeigen über ihr. Die gesamte Instrumententafel war erleuchtet. Auf jedem Knopf in der Hydraulik-Sektion schimmerte orangegelb das Wort »Störung«. Darüber leuchtete ein mit »Triebwerk 1« bezeichneter Druckknopf, dessen Plastikabdeckung mit »Feuer« beschriftet war, knallrot. Sie überprüfte noch einmal die kleineren Knöpfe rechts und links davon. Auf ihnen hätte weiß »SQUIB« aufleuchten sollen, um anzuzeigen, dass sowohl das primäre als auch das sekundäre Feuerlöschsystem aktiviert waren. Aber die Knöpfe waren dunkel.

»Die Druckknöpfe sind nicht aktiviert«, sagte Kit.

Die Piloten hatten keine Möglichkeit, den Triebwerksbrand zu bekämpfen oder die Treibstoffzufuhr zu unterbrechen, die ihn schürte.

Kit löschte die Triebwerks-Fehlermeldung, worauf eine weitere Fehlermeldung der Kategorie drei bei den Triebwerksparametern erschien und erklärte, warum das Feuerlöschsystem nicht ausgelöst wurde. Wie ein erhobener Mittelfinger stand dort in knallroten Großbuchstaben: TRIEBWERK 1 FADEC-STÖRUNG.

»FADEC-Störung.«

»Verdammt noch mal«, murmelte Kapitän Miller.

Bei der Full Authority Digital Engine Control, der »digitalen Triebwerksteuerung mit allen Befugnissen«, handelte es sich um einen kleinen Computer, der sich im Inneren des Triebwerks befand und als Verbindung zu den Piloten fungierte. Jede Maßnahme im Cockpit ging zuerst an die FADEC, erst dann reagierte das Triebwerk. Die digitale Steuerung von Triebwerk eins war ausgefallen. Ohne sie bestand keine Verbindung. Die Piloten konnten dem Triebwerk keine Befehle erteilen – und sie wussten nicht, was das Triebwerk gerade tat.

»Ich brauche jemanden, der in der Kabine mal einen Blick nach draußen wirft«, sagte Kapitän Miller.

Kit drückte einen Knopf.

In der Kabine ertönten drei Gongs, und über der Sitzreihe am Notausgang ging an der Decke ein rotes Licht an. Will beobachtete, wie Molly den Hörer des Bordtelefons von der Gabel riss und ihn sich ans Ohr presste, ohne ein Wort zu sagen.

Shannon schaltete an ihrem Handy den Flugmodus aus, öffnete eine Unterhaltung und begann zu tippen. Will erkannte den Kontakt: MOMMY, mit einem pinkfarbenen Herz-Emoji.

Ein lauter Knall ertönte. Will packte seine Armlehnen, als das Flugzeug nach links kippte. Shannons Mobiltelefon fiel ihr aus der Hand und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden. Genau in dem Augenblick, in dem sie sich hinunterbeugte, um es aufzuheben, neigte sich das Flugzeug, und das Telefon rutschte nach vorne.

»Nein!«, rief Shannon und streckte die Hand aus. Wie jedem elfjährigen Kind bedeutete ihr das Handy alles. Ohne es zu sein, war unvorstellbar. Sie machte sich an ihrem Sicherheitsgurt zu schaffen, aber Will hinderte sie daran, ihn zu öffnen.

»Lass das«, sagte er.

»Ich will ihr sagen …«

»Das kannst du tun, wenn ihr euch seht.«

Sein Tonfall war bestimmt. Er wollte ihr Zuversicht vermitteln, dass alles gut gehen würde.

Aber er wusste, dass sie sich nichts vormachen ließ.

Weiter vorn, angeschnallt auf seinem Notsitz in Reihe acht, tat Kaholo Kapule das, was auch alle anderen Crewmitglieder taten: Er hielt sich den Hörer des Bordtelefons ans Ohr, ohne ein Wort zu sagen.

In der Ausbildung war ihnen beigebracht worden, in Notfällen abzuwarten. Die Piloten waren in solchen Situationen beschäftigt. Sie meldeten sich, sobald sie konnten. Falls sie konnten. Man durfte sie nicht ablenken oder stören, indem man sie anrief. Sie waren diejenigen, die einen anriefen.

Während Kaholo wartete, sah ihn das nette junge Pärchen mit großen Augen an, deshalb schenkte er den beiden ein schmales Lächeln. Sie hielten so fest Händchen, dass ihre Fingerknöchel neben ihren glänzenden neuen Eheringen weiß hervortraten. Vorne in der ersten Klasse feierte ein anderes Paar seinen fünfundfünfzigsten Hochzeitstag. Colleen, die Purserin, hatte für beide eine Durchsage gemacht.

»Wer hat einen Blick auf das Triebwerk?«, fragte Kit über das Bordtelefon.

»Ich«, sagte Kaholo. Er öffnete seinen Sicherheitsgurt und stand auf, um besser sehen zu können.

Die Passagiere lehnten sich zurück, damit er freie Sicht hatte. Der gebürtige Hawaiianer hatte surfen gelernt, noch bevor er laufen konnte, deshalb musste er sich selbst bei Turbulenzen nie irgendwo festhalten. Als er sich aber vorbeugte und sah, was draußen vor dem Fenster los war, packte er instinktiv eine der Sitzlehnen.

Will starrte Molly an.

Sie hielt sich seit fast einer Minute den Hörer ans Ohr, hatte aber noch kein Wort gesagt. Sie saß einfach nur da und lauschte.

Will beugte sich zum Fenster. Es war schwierig, den Zustand des Triebwerks einzuschätzen, da er dahinter saß, doch jetzt war das, was noch davon übrig war, in Flammen gehüllt. Die äußere Verkleidung war zum größten Teil vom Luftstrom weggerissen worden. Das mechanische Innenleben lag frei. Der Lufteinlass, die riesige ringförmige Metallverkleidung, die den vorderen Teil des Triebwerks umschloss, hing nach unten, schlackerte gefährlich hin und her und sah aus, als würde er jeden Moment abfallen.

Plötzlich sackte das Flugzeug ab wie ein Ziegelstein, der vom Dach eines Hauses geworfen wurde. Ein Baby fing an zu weinen. Seine Mutter drückte es an sich und sang ihm leise ins Ohr. Niemand wusste, was geschehen würde. Unsicherheit sorgte für Beklemmung. Beklemmung erzeugte Angst. Die Passagiere beteten. Sie weinten. Sie verabschiedeten sich mit Textnachrichten von ihren Angehörigen.

Doch Wills Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf Molly. Und so war er der Einzige, der sah, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich, als die Person am anderen Ende der Leitung etwas zu ihr sagte.

Mollys Lippen öffneten sich. Sie blinzelte ein paarmal. Dann legte sie wortlos auf und blieb einfach ganz ruhig sitzen.

Will streckte den Arm aus und nahm Shannons Hand. Er wusste, was als Nächstes kommen würde.

»Hier spricht Ihr Kapitän. Bereiten Sie sich auf eine Notwasserung vor.«

2

Purserin Colleen Bennett kannte den Wortlaut der Kommandos für die Evakuierung nach einer Notlandung auswendig – aber nicht den der Durchsage für die Vorbereitung zur Notwasserung. Da ihr keine Zeit blieb, um nachzulesen, musste sie improvisieren. Sie holte tief Luft und versuchte, ihre Stimme zu beruhigen.

»Ladys und Gentlemen, wir werden in Kürze notlanden … auf dem Wasser. Unter Ihrem Sitz befindet sich ein Beutel mit einer Rettungsweste. Streifen Sie sich die Weste über den Kopf und schließen Sie die Gurtschnalle. Pumpen Sie die Weste noch nicht auf. Pumpen Sie die Weste erst auf, wenn Sie das Flugzeug verlassen.«

Will sah, dass Shannon Angst hatte, und versuchte, sie mit einem Blick zu beruhigen, der sie aber nur noch nervöser zu machen schien. Er beugte sich zu ihr und zog den Gurt an ihrer Rettungsweste strammer.

Im Cockpit ertönte ein weiteres schrilles Signal, als auf dem Haupt-Flugkontrolldisplay eine neue Benachrichtigung aufpoppte.

Kit hatte bereits dreimal in der Kurzanleitung geblättert, aber alles, was dort stand, hatten sie bereits getan oder konnten sie nicht tun, deshalb warf sie den Hefter in ein Fach hinter sich und lehnte sich vor, um die neue Anweisung zu lesen.

FLUGLAGENWINKELMANUELLJUSTIEREN

Kit sah den Kapitän an.

»Es gibt für alles ein erstes Mal«, sagte er und legte die rechte Hand leicht auf das Trimmrad in der Mittelkonsole. Indem man das Rad nach vorn oder nach hinten drehte, setzte man die Seilzüge in Bewegung, die mit dem Höhenruder und mit dem Seitenruder am Heck verbunden waren. In der Theorie bedeutete das, dass der Pilot damit die Flughöhe und den Fluglagenwinkel des Flugzeugs verändern konnte.

Die Quer-, Seiten- und Höhenruder ratterten. Kapitän Miller gab sich alle Mühe, den richtigen Druck auf das Trimmrad beizubehalten. Selbst bei einem kleinen Flugzeug war das eine schwierige Angelegenheit: Das System war empfindlich und unpräzise, und es konnte leicht passieren, dass man übersteuerte und dann überkorrigierte. Bei einer Verkehrsmaschine war es beinahe unmöglich.

Die Flugsicherung meldete sich mit zwei Ausweichflughäfen: Maui und Kona.

Kit starrte auf die unendliche Wasserfläche, die sich in alle Richtungen erstreckte, und hatte für beide Optionen dieselbe Antwort parat:

»Nicht möglich.«

»Okay, bleiben Sie dran.«

Die Funkverbindung verstummte, während der Fluglotse verzweifelt nach einer weiteren Option suchte, die es, wie die Piloten wussten, nicht gab.

Sie waren vor vier Minuten gestartet. Die Maschine weigerte sich, weiter aufzusteigen. Sie konnten nicht nach Honolulu zurückfliegen. Maui und Big Island waren zu weit entfernt. Direkt vor ihnen lagen Molokai und Lanai, doch diese beiden Inseln waren so gut wie unbewohnt und fast ausschließlich bergig.

Für eine Landung kam nur das Wasser infrage.

Am Heck des Flugzeugs prallte ein Stück vom Triebwerk gegen ein Fenster und ließ die äußere Scheibe splittern. Das allein reisende kleine Mädchen schrie auf, drehte sich um und sah zu Ed Vernon auf seinem Notsitz. Die dunkelbraunen Augen des Mädchens begannen zu glitzern. Ihre Unterlippe bebte, und sie blinzelte, als ihr zwei dicke Tränen über die Wangen kullerten.

Ed warf einen Blick auf das Umhängeband am Hals des Mädchens. Auf der Karte, die in einer durchsichtigen Schutzhülle daran befestigt war, waren handschriftlich ihre Daten vermerkt: Maia Taylor, acht Jahre. Die Kontaktinfo der Person, die sie nach der Landung in Empfang nehmen würde. Und Eds eigene Unterschrift, mit der er die Verantwortung für sie übernommen hatte.

Maia wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Die Turbulenzen ließen die pinkfarbenen Plastikkugeln am Ende ihrer geflochtenen Zöpfe schaukeln.

»Werden wir sterben?«, fragte sie.

Das Funkgerät knisterte, dann verkündete der Fluglotse, dass sämtliche Rollbahnen in Honolulu geräumt und bereit für die Rückkehr von Flug 1421 seien. Kit hielt sich das Mikrofon ihres Headsets nah an den Mund.

»Nicht möglich. Wir können nicht umkehren. Wir können nicht weiter aufsteigen. Die Hydraulik ist ausgefallen. Nennen Sie uns keine Ausweichflughäfen. Versetzen Sie ein Rettungsteam in Bereitschaft, das uns aus dem Wasser holt.«

Das Funkgerät verstummte.

Schließlich war wieder Rauschen zu hören. Dann: »Verstanden.«

Kit versuchte, ihren Blick trotz der Turbulenzen auf die weißen Ziffern der Höhenanzeige zu fokussieren, doch sie brauchte keine genauen Zahlen, um zu wissen, dass sich ihre Flughöhe rasant verringerte.

»Landeklappen?«, fragte Kapitän Miller.

»Immer noch auf zwei«, erwiderte Kit, nachdem sie einen Blick auf die Hebel auf der Mittelkonsole geworfen hatte.

»Fahrwerk?«

»Eingefahren.«

»Notwasserungsschalter?«

Eine Pause. »Wird erledigt.«

Sie streckte die Hand nach oben aus, hob die Schutzabdeckung über dem Knopf mit der Aufschrift »DITCHING« an und drückte ihn, worauf ein Lämpchen mit der Beschriftung »ON« anfing zu leuchten. Falls das System funktionierte, hatte der Kabinendruckregler soeben das Signal »SCHLIESSEN« an die Ventile, Entlüftungsöffnungen und Ventilatoren an der Außenseite des Rumpfes gesendet.

Sie hatte sämtliche Öffnungen geschlossen, um das Flugzeug wasserdicht zu machen.

So weit war es also gekommen. Der Notwasserungsschalter. Manueller Trimm. Jetzt half nur noch beten. Kit kannte keinen einzigen Piloten, der diese Systeme jemals außerhalb des Flugsimulators benutzt hatte.

Wer diesen Schalter gedrückt hatte, konnte seine Geschichte nicht mehr erzählen.

»Zeig es mir noch mal«, sagte Will.

Shannon beugte sich vor, bis ihr Oberkörper auf den Oberschenkeln lag, schlang die Arme unter den Knien um die Beine und umschloss mit den Händen den jeweils anderen Ellbogen. Ihr Kopf lag zwischen ihren Knien, und sie blickte auf ihre Zehen.

»Gut«, sagte Will. »Wenn der Pilot das Kommando gibt, nimmst du diese Sicherheitsposition ein.« Shannon nickte. »Lass die Füße vorn, falls der Sitz zusammenkracht. Und drück die Zunge …«

»An den Gaumen, damit ich nicht draufbeiße«, vollendete Shannon den Satz.

»Gut. Und sobald das Flugzeug zum Stillstand kommt …«

»Steigen wir aus. Und zwar schnell.«

»Wo ist unser Ausgang?«

Shannon deutete auf den Notausgang zwei Reihen vor ihnen.

»Und wenn das nicht geht, wo ist der nächste?«

Der Mann, der neben Will auf dem Gangplatz saß, deutete nach hinten. »Am Heck des Flugzeugs.«

Will und Shannon drehten sich beide um. Der Mann zuckte mit den Achseln.

»Ich folge Ihnen beiden.«

Auf ihrem Fensterplatz in der ersten Sitzreihe des Flugzeugs nahm Ruth Belkin die weiche, faltige Hand ihres Mannes in die ihre.

»Weißt du, Ira«, sagte sie, »fünfundfünfzig Jahre ›bis dass der Tod uns scheidet‹ sind keine schlechte Zeitspanne.«

Auf der anderen Seite des Gangs saß eine junge Frau am Fenster, die sich ein Handy ans Ohr presste. »Ich bin’s, Mom«, sagte sie, während sie sich mit einem Finger das andere Ohr zuhielt. Sie drehte sich zu den orangefarbenen Flammen, die zu ihrem roten Haar passten. Das Triebwerk schüttelte sich. Eine weitere Niete der Verkleidung flog weg, und das riesige Metallteil sackte noch ein paar Zentimeter ab.

»Mom, ich sitze im Flieger, und irgendwas ist passiert, und ich … ich …« Ihr versagte die Stimme. »Ich glaube nicht, dass wir es schaffen werden.«

Ruth stellte sich den Moment vor, in dem die Mutter der jungen Frau sah, dass sie einen Anruf ihrer Tochter verpasst hatte. Sie würde verwirrt einen Blick auf die Uhr werfen: Sitzt sie nicht gerade im Flieger? Die Mutter würde die Sprachnachricht mit einem Lächeln starten, doch schon die Atmung ihrer Tochter würde ihr verraten, dass etwas nicht stimmte.

Ruth hörte die junge Frau weinen und wusste, dass ihre Mutter sehr bald in ihr Schluchzen einstimmen würde.

Ira nahm Ruths Hand in beide Hände und küsste sie.

Kit hörte gedämpfte Geräusche aus der Kabine kommen und fragte sich, was die Passagiere in diesen letzten Momenten taten. Sie nahm an, dass sie weinten. Beteten. Versuchten zu telefonieren. Zu telefonieren, um zu sagen: Ich liebe dich. Es tut mir leid. Ich verzeihe dir. Mit ihr und dem Kapitän befanden sich neunundneunzig Seelen an Bord. Und in diesem Augenblick befanden sich siebenundneunzig von ihnen hinten und erledigten, was vor dem Ende noch zu erledigen war. Siebenundneunzig Männer, Frauen und Kinder, für die sie die Verantwortung trug.

Die Flugsicherung krächzte: »Coastal Vierzehn-Einundzwanzig, sämtliche Landebahnen aller genannten Flughäfen sind geräumt und benutzbar. Rettungsdienste befinden sich in Bereitschaft.«

Kit spürte einen Kloß im Hals. Die Flugsicherung war sich der Situation bewusst. Sie wussten, dass die Maschine es nicht zu einem Flughafen schaffen würde. Sie wussten es ebenso, wie alle Piloten und Fluglotsen es wussten, die über Funk mithörten.

Flug 1421 würde abstürzen.

Doch die Tatsache, dass jeglicher Flugverkehr gestoppt worden war und ihnen die gesamte Aufmerksamkeit zuteilwurde, bedeutete so viel wie: Ihr seid nicht allein.

Kit räusperte sich. »Danke dafür, aber wir können nicht landen. Wir müssen notwassern.«

Kapitän und Co-Pilotin starrten auf das näher kommende Meer, während bis auf ein Rauschen Funkstille herrschte. Kit stellte sich vor, wie der Fluglotse seine Kollegen ansah – in dem Wissen, dass das die letzte Konversation war, die sie mit dieser Crew haben würden.

»Aha, verstanden«, erwiderte der Fluglotse. Seine Stimme klang brüchig. »Wir haben Sie auf dem Radar. Die Küstenwache ist in Bereitschaft zur Rettung und Bergung.« Es entstand eine Pause. »Viel Glück, Vierzehn-Einundzwanzig!«

»Coastal Vierzehn-Einundzwanzig, guten Tag«, sagte Kit. Die übliche Verabschiedung klang eher wie ein Lebewohl.

Keiner der beiden Piloten sagte etwas. Kit war noch nie mit Kapitän Miller geflogen. Er schien in Ordnung zu sein, aber sie waren irgendwie nicht auf derselben Wellenlänge. Mit leichten Schuldgefühlen wurde ihr bewusst, dass sie froh war, mit ihm im Cockpit zu sitzen und nicht mit einem Freund. Sie fragte sich, ob er ähnlich dachte.

»Also dann«, sagte Kapitän Miller.

Kit verstand. Sie drückte einen Knopf. In der Kabine ertönte ein Gong. Als sie zu sprechen begann, klang ihre Stimme ruhig. Bestimmt.

»Bereiten Sie sich auf den Aufprall vor. Sicherheitsposition einnehmen.«

Die vierköpfige Kabinencrew begann sofort damit, immer und immer wieder die Kommandos zum Einnehmen der Sicherheitsposition zu rufen – Kopf runter, unten bleiben! Kopf runter, unten bleiben! Kopf runter, unten bleiben! –, und überall im Flugzeug nahmen die Passagiere die Haltung ein, in der sie die besten Überlebenschancen hatten.

Colleen beobachtete, wie sich das alte Pärchen noch immer Händchen haltend nach vorn beugte. Kaholo sah, wie sich die Frischvermählten ein letztes Mal innig küssten, ehe sie sich beide mit den Unterarmen an den Rückenlehnen der Sitze vor ihnen abstützten. Der Typ im blauen Polohemd lehnte sich zurück und verschränkte trotzig die Arme, während die Frau neben ihm ihre Beine umklammerte und Tränen in ihr langes Blumenkleid sickerten. Molly wurde immer heiserer, als sie ihre Kommandos rief und dabei die Frau in der aufgeblasenen Rettungsweste beobachtete, die unentwegt laut betete. Ed schloss beim Rufen der Anweisungen die Augen. Er ertrug es nicht mehr, dass ihn das kleine Mädchen unentwegt ansah.

Will kontrollierte Shannons Sicherheitsposition ein letztes Mal, dann beugte er sich vor, um sie selbst einzunehmen. Als sein Körper mit dem Flugzeug durchgerüttelt wurde, klapperte sein Kiefer auf seinen Knien. Abgesehen von den Rufen der Kabinencrew war es in der Maschine unheimlich still geworden. Er starrte auf seine und Shannons Füße.

Seine Tochter trug weiße Turnschuhe mit pink-orangefarbenem Zickzackmuster. Einer davon hatte vorn an den Zehen einen Grasfleck, und die Schnürsenkel waren staubig vom Spielplatz in den Schulpausen.

»Ich hab dich lieb, Jellybean«, flüsterte er.

Im Cockpit begann eine roboterhafte Stimme zu blöken: Bodenannäherung, hochziehen! Bodenannäherung, hochziehen! Je kleiner die Ziffern auf dem Höhenmesser wurden, desto lauter schien die Stimme zu werden. Kit drehte den Lautstärkeregler im Gegenuhrzeigersinn, bis die Stimme mit einem Klicken verstummte.

Kopf runter, unten bleiben! Kopf runter, unten bleiben!

In der Kabine nahmen Passagiere und Crew die Sicherheitsposition ein. Im Cockpit setzten sich Kapitän und Co-Pilotin auf und bereiteten sich darauf vor, das Flugzeug bis zum Aufprall zu fliegen.

Die Schaumkronen auf dem klaren blauen Wasser waren so nah, dass man erkennen konnte, wie unterschiedlich sie waren.

Kit blickte auf. Sie erinnerte sich an etwas, an das sie seit Jahren nicht mehr gedacht hatte: die »Gott, steh mir bei«-Knöpfe. Sie war damals neun gewesen. Sie hatte auf dem Co-Piloten-Sitz gesessen, ihr Vater auf dem Pilotensitz. Er hatte ihr erklärt, dass sich sämtliche »schlimmen« Knöpfe auf der Armaturentafel über ihnen befänden, damit man aufblicken müsse, um sie zu drücken. Er hatte gesagt, aufzublicken erinnere einen daran zu beten.

»Denn wenn man die ›Gott, steh mir bei‹-Knöpfe drücken muss, ist man geliefert.«

Kit warf einen Blick auf die leuchtenden Knöpfe und schüttelte den Kopf.

Er würde recht behalten. Er behielt immer recht.

Kapitän Miller verringerte den Schub des rechten Triebwerks. Es fuhr herunter, wie Triebwerke es normalerweise Sekunden vor der Landung tun. Die Stimmen in der Kabine verstummten. Es kehrte Stille ein. Ruhe. Lautlosigkeit. Das Flugzeug wirkte leicht. Als verharre es in der Luft.

Dann, sechs Minuten und siebenunddreißig Sekunden nach dem Start, stürzte Flug 1421 ab.

Die Unterseite des Rumpfes schlug auf dem Wasser auf. Die Oberfläche des Meeres gab nicht nach, war hart wie Beton. Das Wasser war unnachgiebig. Im Gegensatz zum Metall. Die Aluminiumaußenhaut wurde nach innen gedrückt, als sie den Aufprall abfing, doch die Wucht war zu groß. An der Unterseite des Flugzeugs entstanden unzählige Risse, durch die Wasser in den Laderaum eindrang.

Das Flugzeug wurde hochgeschleudert und flog für zweieinhalb Sekunden durch die Luft, ehe es abermals auf dem Meer aufschlug. Hart. Die rechte Tragfläche bohrte sich ins Wasser. Metall scherte ab wie Papierfetzen, als sie vom Rumpf gerissen wurde, und mechanische Eingeweide traten zutage. Der Widerstand der abgeknickten Tragfläche bremste die Vorwärtsbewegung ab.

Wäre die Nase eingetaucht, hätte das Flugzeug einen Überschlag gemacht, wäre irgendetwas anderes passiert, dann wäre der Rumpf auseinandergebrochen, und niemand hätte überlebt.

Doch dazu kam es nicht.

Das Flugzeug schlitterte über die Wasseroberfläche, als würde es an der Nase gezogen werden. Die linke Tragfläche, die sich noch am Rumpf befand, ragte weit nach oben. Ihr Triebwerk brannte noch immer und war in orangefarbene Flammen gehüllt. Das meiste hatte die rechte Seite der Maschine abbekommen. Sämtliche Bauteile wurden auf ihre Belastbarkeit geprüft. Die metallene Außenhaut. Die Fenster. Die Türen. Die Dichtungen. Sowohl im Frachtraum als auch in der Kabine. Die meisten hielten stand. Manche nicht.

Vom Moment des Aufpralls bis das Flugzeug zum Stillstand, kam vergingen neun Sekunden. Aus irgendeinem Grund war die Maschine noch in einem Stück. Die Passagiere, die den Crash überlebt hatten, hielten das für ein Wunder. Sie glaubten, sie könnten sich glücklich schätzen.

Sie hatten keine Ahnung, dass ihnen das Schlimmste erst noch bevorstand.

3

Shannon schüttelte Will immer und immer wieder, doch er reagierte nicht.

»Dad. Dad.«

Er war in sich zusammengesackt und lag halb über dem Mann auf dem Gangplatz. Keiner der beiden rührte sich. Die Sitzreihe hinter ihnen hatte es aus dem Boden gerissen. Sie war nach vorn umgekippt und drückte ihre eigenen Sitze hoch, sodass Shannon am Fenster eingekeilt war.

Sie drehte sich um und sah nach draußen. Wasser schwappte gegen die Fensterscheiben. Das Flugzeug schwamm auf der Oberfläche. Die Spitze und der hintere Teil der linken Tragfläche fehlten, der Rest war noch mit dem Rumpf verbunden. Auch das Triebwerk, das nach wie vor brannte, befand sich noch an der Tragfläche. Alles schwebte über der Wasseroberfläche, da das Flugzeug nach rechts hing.

Shannon ließ den Blick über das Chaos in der Kabine wandern. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Menschen bluteten. Menschen weinten. Einige bewegten sich nicht mehr.

Und sie war auf sich allein gestellt.

»Dad!«, rief Shannon voller Verzweiflung und schüttelte ihren Vater noch fester.

Doch seine Augen blieben geschlossen.

Auf Kaholos Stirn kitzelte etwas. Er berührte die Stelle, und als er die Hand zurückzog, sah er Blut an seinen Fingerspitzen.

Kaholo sah nach links. Das Triebwerk lief noch. Die Lamellen drehten sich noch. Das Feuer tobte noch. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen in die grellen Flammen, aufs Wasser und in den Himmel. Dann wurde es ihm bewusst.

Verdammt, wir leben!

Er sah sich in der Kabine um, dann richtete er den Blick nach oben. Ein Bild rückte in den Fokus.

Ein Laptop, der in der Deckenverkleidung des Flugzeugs steckte wie eine Axt ohne Griff. Bitte vergewissern Sie sich, dass Ihr Sitzgurt geschlossen ist, Ihr Klapptisch und Ihre Lehne sich in aufrechter Position befinden und Ihre Elektrogeräte sicher verstaut sind. Die Sicherheitsdemo ratterte in seinem pochenden Kopf, während er nach oben auf das starrte, was mit nicht sicher verstauten Elektrogeräten passierte.

Er schnallte sich ab und stand auf, wohl wissend, dass er gleich das Ergebnis nicht geschlossener Sitzgurte zu Gesicht bekommen würde.

Fünfzehn Reihen weiter hinten war Molly ihm bereits zwei Schritte voraus.

»Öffnen Sie Ihren Gurt! Unter Ihrem Sitz finden Sie eine Rettungsweste! Legen Sie sie an! Lassen Sie alles zurück und kommen Sie hier entlang!«

Molly machte sich auf den Weg zu ihrem Notausgang, der L3-Tür. Sie sah zu dem Bullaugenfenster hinaus, um sich ein Bild von der Situation auf der linken Seite des Flugzeugs zu machen. Wasser. Feuer. Trümmer. Sie wandte sich ab. Bei der R3-Tür, ihrem Alternativ-Notausgang, erübrigte sich ein Blick nach draußen. Das Flugzeug hatte Schieflage, sodass sich die gesamte rechte Seite des Rumpfes unter der Wasseroberfläche befand. Molly sah nach unten. Auf dem Boden, rechts entlang der Nahtstelle zwischen Fußboden und Seitenwand, stand fünf Zentimeter hoch Wasser.

Das ist nicht gut.

Hinter ihr ertönte ein lautes Krachen. Sie wirbelte herum und sah den Deckel eines Gepäckfachs an einem Scharnier herabhängen. Die Ecke, die nach unten hing, war blutverschmiert. Ein lebloser Passagier, der ihrer Einschätzung nach ein schweres Schädel-Hirn-Trauma oder auch einen Herzinfarkt erlitten hatte, saß noch immer angeschnallt auf seinem Platz. Der Typ mit dem blauen Polohemd, der nach wie vor blutete, fummelte an dem Verschluss seiner Rettungsweste herum. Ein paar Reihen hinter ihm starrte ein junger Mann die Frau auf dem Gangplatz neben ihm an. Er trug keine Rettungsweste. Er bereitete sich nicht darauf vor, das Flugzeug zu verlassen. Er stand einfach nur wie erstarrt da.

Die Schnalle in Mollys Fingern klickte, und sie zog den lockeren Gurt um ihre Taille straff. Es war noch keine dreißig Sekunden her, dass das Flugzeug zum Stillstand gekommen war, doch sie hatte bereits genug gesehen und eine Entscheidung getroffen.

L3 und R3 waren nicht nutzbar.

»Der Ausgang ist blockiert, gehen Sie wieder zurück! Der Ausgang ist blockiert, gehen Sie wieder zurück!«

Will hörte etwas aus weiter Ferne. Eine Stimme. Doch er hatte zu starke Schmerzen, um herauszufinden, wem sie gehörte. Die Stimme verstummte. Will stöhnte. Alles war dunkel. Alles tat weh.

Plötzlich war alles nass und kalt.

Will riss die Augen auf und setzte sich hustend auf. Das grelle Licht ließ ihn blinzeln. Shannon stand neben ihm mit ihrem paillettenbesetzten lilafarbenen Rucksack in der einen Hand und ihrer mit Aufklebern übersäten, jetzt leeren Trinkflasche in der anderen.

Die meisten Passagiere waren bereits auf den Beinen und in Bewegung. Genau das mussten Shannon und er auch tun.

Shannon sah ihn an, wartete auf ihn. Die Vorstellung, dass sie ganz auf sich gestellt gewesen war, während er das Bewusstsein verloren hatte, quälte ihn. Sie musste schreckliche Angst gehabt haben. Will packte sie an den Schultern. »Alles okay mit dir?«

Bevor sie antworten konnte, ertönte ein lautes Knallen aus dem Triebwerk. Die Flammen loderten auf.

»Wir müssen raus«, sagte Will.

Vorne im Flugzeug machte sich Colleen daran, ihren Notausgang zu öffnen: L1, die Tür, durch die die Passagiere in Honolulu an Bord gegangen waren.

»Zurückbleiben! Zurückbleiben!«

Jede der Anweisungen war ihr bei den Notfallübungen im Lauf der Jahre immer wieder eingebläut worden, und so brauchte sie jetzt, als sie sie zum ersten Mal außerhalb eines Trainings benutzen musste, überhaupt nicht nachzudenken. Sie hatte auf Autopilot geschaltet, sodass sie einen klaren Kopf hatte und sich auf ihre Passagiere in der ersten Klasse konzentrieren konnte.

Der jungen rothaarigen Frau fehlten Zähne, und ihre aufgeplatzte Lippe blutete. Der Mann, der neben ihr saß, machte ein Gepäckfach auf und holte eine Tasche heraus.

»Alles hierlassen!«, schrie Colleen ihn an.

Der Mann ließ die Tasche fallen.

Colleen sah auf dem Kontrollpanel nach. Bislang war nur Tür L4 am Heck des Flugzeugs geöffnet. Ihre Tür war als Nächstes an der Reihe. Sie warf einen Blick auf die Cockpittür, die noch geschlossen war, und umfasste mit der rechten Hand den Griff an der Trennwand, um festen Stand zu haben. Dann zog sie mit der linken Hand ruckartig an dem roten Griff in der Mitte der Tür.

»Zurückbleiben! Zurück…«

Ein Plopp ertönte, dann ein dumpfes Geräusch. Durch die Risse in der Verkleidung des Türrahmens drang Sonnenlicht. Nach einer Pause übernahm die Pneumatik, und die Tür schwenkte auf. Die vordere Bordküche füllte sich mit gleißendem Licht. Zwischen den geöffneten Türen vorn und hinten entstand ein Luftzug, der die Kabine mit kühler salziger Luft flutete.

Colleen streckte eine Hand nach hinten aus, während sie zusah, wie sich draußen die Notrutsche zum Wasser hin entrollte. »Zurückbleiben! Zurückbleiben!«

Ruth und Ira sahen zu, wie die Flugbegleiterin die Passagiere anschrie, die im Gang standen und sich hinter ihr in die Bordküche drängten, und sie aufforderte zurückzubleiben, doch sie kämpften sich vorwärts wie verängstigte Tiere.

Als die ersten beiden Passagiere das Flugzeug verließen, trat Ira aus seiner Sitzreihe, um sich in die Schlange einzureihen. Die Frau vor ihm schubste ihn zurück.

»Passen Sie doch auf!«, schrie Ira. Er verlor das Gleichgewicht und stieß rückwärts gegen Ruth. Beide taumelten und hielten sich an den Sitzen fest. Eine weitere Welle von Körpern drückte nach vorn.

Ruth blickte auf. Die Stimme der Purserin klang immer gepresster.

»Rettungswesten aufblasen! Begeben Sie sich auf die Notrutsche! Rettungswesten … Nein! Bleiben Sie ruhig, Sir. Bleiben Sie ruhig!«

Ruth und Ira beobachteten, wie sich die hektische Menge den Weg aus dem Flugzeug bahnte und die Flugbegleiterin mitrissen. Das Letzte, was sie von ihr sahen, war ihre Hand, die von dem Griff abrutschte, an dem sie sich festgeklammert hatte. Ihre Stimme entfernte sich.

Ira drehte sich zu seiner Frau um, und die beiden setzten sich wieder hin.

»Wir warten einfach, bis der größte Andrang vorbei ist«, sagte Ruth.

Will konnte die salzige Meeresluft schmecken und wusste, dass die Türen offen waren. Er steckte die Trinkflasche in den Rucksack und verstaute ihn unter dem Sitz. Dann packte er Shannon unter den Achseln, hob sie über den Mann, der neben ihm saß, und setzte sie im Gang ab. Anschließend folgte er ihr, indem er sich auf den Sitz stellte und über den Mann stieg. Er warf einen Blick nach vorn und einen nach hinten, um zu entscheiden, welchen Weg sie einschlagen sollten, als ihm auffiel, dass Shannon das Blut anstarrte, das unter dem reglosen Körper des Mannes zu Boden tropfte.

»Nicht hinschauen«, sagte er zu ihr.

Shannon ließ den Blick über das Chaos schweifen. »Wohin soll ich denn schauen?«

Will ging in die Hocke, sodass er auf Augenhöhe mit ihr war. »Zu mir. Du schaust mich an. Die ganze Zeit. Okay?«

Shannon nickte.

Molly stand vor ihrer Tür und schickte die Passagiere per Handzeichen zum Heck des Flugzeugs. Diejenigen, die körperlich in der Lage waren, machten sich auf den Weg dorthin. Fassungslos, weinend und zitternd nickten sie im Vorbeigehen, dankbar dafür, dass jemand wusste, was zu tun war.

Molly hörte ein leises Stöhnen und blickte nach unten. Eine Frau versuchte, unter einer zusammengebrochenen Sitzreihe herauszukriechen. Niemand blieb stehen, um ihr zu helfen; alle stiegen einfach über sie.

»Weitergehen, weitergehen …«, sagte Molly und schob mehrere Passagiere aus dem Weg. Dann kniete sie sich im Gang hin, packte die Frau an den Armen und zog. Die Frau schrie auf.

»He! Sie! Heben Sie hier mal an«, forderte Molly einen anderen Passagier auf. Der Mann griff unter die Sitze und hob sie ächzend an. Bei den beengten Platzverhältnissen zu arbeiten war schwierig, doch Molly zerrte die Frau Zentimeter um Zentimeter zu sich, bis sie schließlich frei war.

Während Molly verschnaufte, konnte sie einen genaueren Blick auf die Frau werfen und sah, dass Blut den Teppich bei einem ihrer Beine dunkel verfärbte. Ihr Schienbein war bis zum Knochen aufgeschlitzt.

»Sie müssen mir helfen …«

Doch der Mann, der die Sitze angehoben hatte, war weg.

Bernadette Kowalski wischte sich mit dem Saum ihres langen Blumenkleids das Blut dieses Idioten von der Stirn. Sie stand allein da, blickte nach vorn und nach hinten und versuchte, sich für eine Richtung zu entscheiden.

Wäre Barry hier gewesen, hätte er die Entscheidung längst getroffen. Barry traf immer alle Entscheidungen. Was einer der Gründe dafür war, dass er inzwischen ihr Ex-Mann war. Aber es war auch einer der Gründe dafür, dass sie sich jetzt so schwertat – wie schon die ganze Woche in ihrem ersten Solo-Urlaub seit der Scheidung. Sie war immer noch dabei, sich ihrer angelernten Hilflosigkeit zu entledigen.

Als sie einen Blick nach hinten warf, sah sie, wie die Flugbegleiterin mit dem Pony verzweifelt versuchte, eine verletzte Frau in den freien Bereich vor der ungeöffneten Tür zu zerren. Während Bernadette zusah, riss sich die Flugbegleiterin ihren Pullover vom Leib und wickelte ihn der Frau als provisorischen Druckverband fest ums Bein – doch sie machte es völlig verkehrt.

Molly blickte auf, als die Frau im Blumenkleid neben ihr in die Hocke ging.

»Nein«, sagte die Frau. »Hier, so.«

Molly wich zurück und sah zu, wie die Frau den Pullover aufwickelte und wieder anlegte. Die verletzte Frau stöhnte.

»Sind Sie Ärztin?«, fragte Molly.

»Krankenschwester«, entgegnete die Frau im Blumenkleid. »Bernadette.«

»Molly.«

»Halten Sie das mal, Molly. Hier halten. Fest ziehen.«

Molly nahm die beiden Enden des Pullovers und zog. Die verletzte Frau stöhnte abermals laut auf, wurde aber von einer Kinderstimme übertönt.

»Schau, Dad.«

Als Molly Schritte hörte, blickte sie auf und sah den Vater, der ihr zuvor schon aufgefallen war, mit seiner Tochter auf sie zukommen. Das kleine Mädchen starrte das ganze Blut an. Es bedeckte den Boden. Mollys Kleidung. Ihre Hände.

Der Vater ging neben Bernadette auf die Knie. »Tragen wir sie zur …«

»Nein«, unterbrach Molly ihn atemlos und schüttelte sich ihren Pony aus den Augen. »Gehen Sie.«

»Aber ich kann Ihnen helfen …«

»Nein! Bringen Sie sie hier raus!«

Der Mann verstand, dass Molly seine Tochter meinte. Er erhob sich mit einem widerwilligen Nicken und machte sich auf den Weg Richtung Heck, das Kind vor sich. Molly blickte den beiden hinterher und sah dabei die Frau mit den taillenlangen Zöpfen und der aufgeblasenen Rettungsweste mit einer weiteren Weste kämpfen.

So klappt’s!

Doch die Rettungsweste rutschte Jasmine Harris am Arm hinunter. Während sie damit beschäftigt war, den Knoten zu lösen, blickte sie auf und sah einen Mann und ein kleines Mädchen vorbeigehen. Auf dem Sitz neben ihr lag ein Stapel ungeöffneter Beutel mit Rettungswesten, die sie unter freien Sitzen gefunden hatte.

Also gut, keine Schwimmflügel. Wie wär’s um die Taille? Eine Art Schwimmreifen?

So funktionierte es. Jasmine machte einen Dreifachknoten, um ganz sicherzugehen. Sie schob die Weste nach hinten, sodass sie sich an ihrem Rücken befand. Dann riss sie einen weiteren Beutel auf, schüttelte noch eine Rettungsweste heraus und zog an den roten Griffen. Sie legte sich auch diese Weste um die Taille, band sie mit einem Dreifachknoten fest und packte noch eine aus. Sie würde auf gar keinen Fall aus dem Flugzeug steigen, solange sie nicht genauso viel Auftrieb hatte wie ein verdammtes Boot.

Andy Matthews zupfte am Kragen seines blauen Polohemds. Die Leute, die vor ihm in einer Reihe standen, kamen einfach nicht voran. Er warf einen Blick auf die Schlange am Heck des Flugzeugs. Sie war genauso lang. Ihm fiel eine Frau auf, die bereits eine Rettungsweste trug und sich gerade noch eine weitere über den Kopf streifte. Gute Idee, dachte er und stöberte unter den Sitzen herum, bis er auch noch eine zusätzliche Weste fand. Er öffnete die Schnalle seines Gurts. Die Schlange hatte sich kaum bewegt.

»Scheiß drauf.«

Andy stemmte sich zwischen den Lehnen hoch und begann, über die Sitzreihen zu klettern, vorbei an den Passagieren, die vor ihm warteten. Einem Mann verpasste er dabei einen Fußtritt gegen den Kopf, ohne es zu bemerken. Er setzte seinen Weg zum Ausgang einfach fort, vorbei an den anderen Leuten.

Ryan Wang reagierte nicht auf den Tritt gegen seinen Kopf. Er sah dem Mann nur zu, wie er über die Sitze im Flugzeug nach vorn kletterte. Ryan war bewusst, dass auch er einen Überlebenswillen hätte spüren sollen, der ihn antrieb. Er vermutete, dass dieser irgendwo in ihm schlummerte, machte sich jedoch nicht die Mühe, ihn zu suchen.

Ryan blickte an sich hinunter. Er hatte nicht einen einzigen Kratzer abbekommen.

Er war beim Aufprall bei Bewusstsein geblieben und hatte die Augen offen gehabt. Ungläubig hatte er beobachtet, wie um ihn herum alles Mögliche durch die Luft flog. Gepäckfächer platzten auf. Sitze wurden aus dem Boden gerissen. Metall knirschte. Menschen schrien auf. Das Triebwerk spuckte Feuer und stand auch jetzt noch in Flammen. Er war während alldem hellwach gewesen.

Als es endlich vorbei gewesen war, hatte er sich zu seiner Braut auf dem Gangplatz neben ihm gedreht. Sie hatte leblos vornübergebeugt dagesessen, mit der Brust flach auf den Oberschenkeln.

Ryan hatte sofort die Spuren der stumpfen Gewalteinwirkung erkannt: am entblößten Teil ihres Halses unmittelbar oberhalb der Schultern. Im Bereich der Halswirbelsäule war die Haut bereits gerötet und blutunterlaufen. Der schwere Koffer, der auf sie gefallen war, lag im Gang.

Sie war die brillante Ärztin, nicht er, doch selbst ihm als einfältigem Finanzfuzzi war klar, dass sie tot war. Er war nur eine Woche lang Ehemann gewesen. Jetzt war er Witwer. Ryan richtete den Blick zum Fenster hinaus und sah zu, wie sich die Lamellen des Triebwerks drehten.

»He!«, rief der Flugbegleiter. »Sie müssen hier raus.«