Worst Case - T. J. Newman - E-Book

Worst Case E-Book

T.J. Newman

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Beschreibung

16 Stunden, um die Welt zu retten – der neue Actionthriller von der Autorin des SPIEGEL-Bestsellers »Flug 416«.

Es beginnt mit eine Tragödie: Als der Pilot eines Passagierflugzeugs einen Herzinfarkt erleidet, stürzt die Maschine auf das Gelände eines Atomkraftwerks. Zunächst ist das Ausmaß des Schadens unklar, doch für die nahe Kleinstadt im Mittleren Westen der USA laufen sofort die Evakuierungsmaßnahmen an. Dann wird deutlich: Im Kraftwerk steht eine Kernschmelze bevor, da die Kühlung auszufallen droht. Während im Reaktor eine vom Schicksal zusammengewürfelte Crew versucht, das Worst-Case-Szenario abzuwenden, kämpfen zwei Einsatzkräfte um das Leben eines einzelnen Kindes: Herumfliegende Flugzeugtrümmer führten zu einer tödlichen Massenkarambolage, und unter den Opfern sind auch die Eltern des kleinen Connor, der sich nicht mehr aus dem Auto befreien kann ...

Lesen Sie um Ihr Leben – für Fans von »Independence Day«, »The Day After Tomorrow« oder »Outbreak«.

»Warten Sie nicht auf den Film, der Roman hat bereits alles, was ein Blockbuster braucht.« Parade

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 407

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Die Katastrophe ist erst der Anfang … Als ein Pilot in 10 000 Meter Höhe einen Herzinfarkt erleidet, stürzt sein Passagierflugzeug auf das Gelände eines Atomkraftwerks. In einem Wettlauf gegen die Zeit muss die nahe Kleinstadt im Mittleren Westen der USA evakuiert werden. Was nur wenige wissen dürfen, um eine Massenpanik zu verhindern: Im Kraftwerk steht eine Kernschmelze bevor, da die Kühlung auszufallen droht. Während im Reaktor eine vom Schicksal zusammengewürfelte Crew versucht, das Worst-Case-Szenario abzuwenden, kämpfen weiter entfernt zwei Einsatzkräfte um das Leben eines einzelnen Kindes: Herumfliegende Flugzeugtrümmer haben eine verheerende Massenkarambolage ausgelöst, unter den Opfern sind auch die Eltern des kleinen Connor, der sich nicht mehr aus dem Auto befreien kann …

Autorin

T. J. Newman, eine ehemalige Buchhändlerin und langjährige Flugbegleiterin, arbeitete von 2011 bis 2021 für Virgin America und Alaska Airlines. Ihren Debütroman »Flug 416« verfasste sie größtenteils, während ihre Passagiere auf Nachtflügen schliefen. Das Werk wurde zum internationalen Bestseller wie auch »Absturz«, ihr zweiter Roman. Die Autorin lebt in Phoenix, Arizona.

Mehr Informationen zur Autorin und ihrem Buch unter

TJNewmanBooks

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Von T. J. Newman bei Goldmann lieferbar:

Flug 416. Thriller

Absturz. Thriller

Worst Case. Thriller

(Alle auch als E-Book erhältlich)

T.J. Newman

Worst Case

Thriller

Aus dem Englischen von Thomas Bauer

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel

»Worst Case Scenario«

bei Little, Brown and Company

Hachette Book Group

1290 Avenue of the Americas, New York, NY 10104

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2025

Copyright © der Originalausgabe

2024 by T.J. Newman

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich

Pflichtinformationen nach GPSR)

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München,

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Claudia Alt

AB · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-32883-2V001

www.goldmann-verlag.de

Für Granddaddy und GPa,

Marion Newman und Tim J. Mullet, den originalen T.J.

Anmerkung der Autorin

Die Idee zu meinem ersten Roman, Flug 416, kam mir, als ich noch als Flugbegleiterin arbeitete und den Piloten, mit dem ich gerade flog, fragte: »Was wäre, wenn jemand deine Frau und deine Kinder als Geiseln nehmen und von dir verlangen würde, dieses Flugzeug abstürzen zu lassen, sonst werde er sie töten? Was würdest du tun?« Sein Gesichtsausdruck machte mir Angst. Mir wurde bewusst, dass er darauf keine Antwort hatte. Und mir wurde bewusst, dass ich die Zutaten für mein erstes Buch hatte.

Während der Arbeit an diesem ersten Roman führte ich viele Gespräche mit Piloten über die Grundlagen und Regeln der Fliegerei – und auch über die emotionalen und psychischen Herausforderungen, mit denen man als Pilot konfrontiert ist. »Wovor hast du als Pilot am meisten Angst?«, lautete die Frage, die ich immer wieder stellte.

Die Piloten verrieten mir, dass sie unkontrollierbare Brände in der Kabine oder im Frachtraum fürchteten. An Hochspannungsleitungen hängen zu bleiben. In einem Notfall die falsche Entscheidung zu treffen. Wie gelähmt zu sein und überhaupt keine Entscheidung treffen zu können. Dass sie fürchteten, ihre Ehepartner zu Witwen oder Witwern zu machen.

Die Antworten verschwammen miteinander. Ich hörte immer wieder das Gleiche. Bis ich schließlich eine Antwort bekam, die mich wie vom Donner gerührt innehalten ließ:

»Meine größte Angst ist, dass ein Linienflugzeug auf ein Atomkraftwerk stürzen könnte.«

Da ich mir nicht sicher war, ob der Pilot, der mir das sagte, es ernst meinte, tat ich seine Antwort mit einem Lachen ab und erwiderte, dass Atomkraftwerke – genau wie Dämme, wie die gesamte kritische Infrastruktur – in einer Welt nach dem 11. September 2001 sicher seien. Dafür hätten die Verantwortlichen schon gesorgt. Hätten alles getan, was erforderlich war, um sicherzustellen, dass alle Atomkraftwerke einem Angriff widerstehen könnten.

Der Pilot hörte mir schweigend zu, und als ich fertig war, lächelte er und erwiderte: »Und genau das wollen sie einen glauben machen.«

T.J. Newman

Internationale Bewertungsskala für nukleare und radioaktive Ereignisse (INES)

Stufe 1: Störung

Stufe 2: Störfall

Stufe 3: ernster Störfall

Stufe 4: Unfall

Stufe 5: ernster Unfall

Stufe 6: schwerer Unfall

Stufe 7: katastrophaler Unfall

Bislang wurden nur zwei Ereignisse der INES-Stufe 7 verzeichnet: Tschernobyl und Fukushima. Eine 8. Stufe gibt es nicht.

Noch nicht.

Zweihundertfünfundneunzig Leben befanden sich in der Hand eines Piloten, der in knapp elftausend Metern Höhe einen tödlichen Herzinfarkt erlitt.

Ihm blieb keine Zeit, um seinen Co-Piloten aufzufordern, von der Toilette zurückzukommen und die Maschine zu fliegen. Keine Zeit, um der Flugbegleiterin, die hinter ihm im Cockpit stand, die Bedienung des Funkgeräts zu erklären. Keine Zeit, um der Flugsicherung einen Notfall zu melden. Keine Zeit, um die Passagiere und die Crew zu warnen, dass sie sich anschnallen sollten. Ihm blieb keine Zeit, um irgendetwas zu tun, da ihm gar nicht bewusst war, was geschah. Er spürte nur eine plötzliche Enge in seiner Brust, einen Sekundenbruchteil später sackte er tot nach vorn auf den Steuerknüppel, und das Flugzeug ging in den unkontrollierten Sturzflug.

In der Kabine bewegte sich sofort alles nach vorn. Getränke und Tüten mit Snacks rutschten von Klapptabletts. Mobiltelefone fielen aus Händen. Die Passagiere, die an der Toilette anstanden, stürzten aufeinander. Und alle, die nicht angeschnallt waren, mussten feststellen, dass sie sich nicht mehr auf ihren Sitzen befanden.

In der hinteren Bordküche flogen alle Türen der Trolleys und Fächer gleichzeitig auf. Gestapelte Becher, Zuckerpäckchen, in Plastik eingeschweißte Kekse, Kannen mit heißem Kaffee, schwere Getränkepaletten – alles fiel heraus, landete auf dem Boden und verteilte sich im Flugzeug.

Die Flugbegleiterin in der Mitte der Kabine hechtete dem voll beladenen Getränke-Trolley hinterher, der jedoch freie Bahn hatte, als er im Gang nach vorn raste. Acht Sitzreihen weiter rollte der fast zweihundert Kilo schwere Trolley einem Mann über den Fuß und brach ihm die Knochen, bevor er sich zwischen zwei Sitzreihen verkeilte.

Im Flugzeug war jeder Platz besetzt, doch im ersten Moment, beim ersten Absacken, herrschte in der Kabine völlige Stille. Niemand schrie. Niemand gab auch nur einen Laut von sich. Keiner hatte Angst, alle waren einfach nur überrascht. Denn genau wie der Pilot – dem nicht bewusst gewesen war, was der Schmerz in seiner Brust bedeutete – hatten sich auch die anderen zweihundertvierundneunzig Seelen an Bord des Coastal-Airways-Flugs 235 noch keinen Reim darauf gemacht, was vor sich ging.

Als sie einen Moment später realisierten, dass sie sterben würden, fingen sie an zu schreien.

Drück den Steuerknüppel nach vorn, und das Flugzeug fliegt nach unten. Zieh den Steuerknüppel zu dir her, und das Flugzeug fliegt nach oben.

Das war alles, was die Flugbegleiterin, die sich den Sicherheitsvorschriften gemäß während der Toilettenpause des Co-Piloten im Cockpit aufhielt, über die Bedienelemente wusste. Und dass der tote Kapitän sie geradewegs Richtung Boden fliegen würde, wenn sie ihn nicht vom Steuerknüppel wegzerrte.

Ihre Voraussetzungen hätten kaum schlechter sein können: Sie war einen Meter fünfundfünfzig groß und wog gerade einmal fünfundvierzig Kilo, der Pilot war mindestens eins fünfundachtzig und an die hundertdreißig Kilo schwer. Und sie hatte keinen Hebel, da sie ihn auf seinem Sitz nur in einem ungünstigen Winkel seitlich von hinten packen konnte.

Sie stellte sich breitbeinig zwischen Sitz und Mittelkonsole, packte ihn unter den Achseln und zog ihn ächzend nach hinten.

Sein Körper bewegte sich so gut wie nicht. Der Steuerknüppel blieb bis zum Anschlag nach vorn gedrückt.

Die Flugbegleiterin in der vorderen Bordküche kroch zur Toilette und zerquetschte dabei mit den Händen auf dem Boden verteiltes Frühstück. Ihre Knie bluteten von den Scherben des Porzellangeschirrs aus der First Class. Als sie bei der Toilette ankam, schlug sie gegen die Tür.

»Greg!«, rief sie, doch ihre Stimme wurde von den Schreien der Passagiere übertönt. Sie hielt inne und lauschte, ob der Co-Pilot hinter der Tür antwortete, doch er reagierte nicht.

Als das Flugzeug in den Sturzflug gegangen war, hatte sie aus der Toilette ein lautes Krachen gehört, gefolgt vom Geräusch von splitterndem Glas. Seitdem nichts mehr. Die Flugbegleiterin hatte keine Ahnung, was im Cockpit vor sich ging, ihr war jedoch bewusst, dass der Co-Pilot, der außer dem Kapitän als Einziger in der Lage war, die Maschine zu steuern, unbedingt aus der Toilette kommen und übernehmen musste.

»Greg, bitte! Hilfe!«, flehte sie, während sie mit beiden Fäusten gegen die Tür schlug.

Keine Reaktion.

Der Flugbegleiterin im Cockpit zitterten die Arme. Ihr Griff um den toten Piloten lockerte sich. Nach wie vor drückte fast sein gesamtes Gewicht den Steuerknüppel nach vorn.

Das Flugzeug befand sich auf dem direkten Weg nach unten.

»Guten Morgen, Minneapolis Center. Delta zwei-zwei-vier, im Anflug auf tausend Meter.«

Die Flugbegleiterin erschrak, als das routinemäßige Krächzen eines anderen Piloten im Gespräch mit der Flugsicherung aus dem Cockpit-Lautsprecher ertönte, doch dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen:

Die Flugsicherung …

Die Flugsicherung!

»Guten Morgen, Delta zwei-zwei-vier. Bleiben Sie auf tausend.«

Wenn es ihr gelang, mit der Flugsicherung Kontakt aufzunehmen, konnte sie sich Anweisungen geben lassen, welche Knöpfe sie drücken musste, um die Bedienelemente auf der Seite des Co-Piloten zu aktivieren. Dann konnte sie den Steuerknüppel auf dieser Seite, der rechten Seite, zu sich herziehen und das Flugzeug aus dem Sturzflug holen. Die Flugsicherung konnte ihr Schritt für Schritt erklären, was zu tun war.

Durch die Belastungen, die im unkontrollierten freien Fall auf den Flugzeugrumpf wirkten, wurde die Kabine heftig durchgerüttelt. Passagiere holten ihre Handys heraus, um zu filmen oder ihren Angehörigen eine Nachricht zu schicken. Die Purserin ignorierte die weinenden Babys und die lauten Gebete, als sie die Hand nach oben ausstreckte und das silberfarbene Schild mit der Aufschrift »Toilette« anhob, worauf der verdeckte Schließmechanismus der Tür sichtbar wurde. Sie schob einen Hebel nach rechts, und die Tür wurde entriegelt.

»Greg?«, rief sie und drückte gegen die Tür, die allerdings kaum nachgab, da sie irgendetwas von innen blockierte. »Greg!«, rief sie abermals und drückte noch fester.

Sie neigte den Kopf zur Seite, stemmte sich gegen die Tür und spähte mit einem Auge durch den Spalt in die Toilette.

Der Co-Pilot lag verdreht auf dem Fußboden. Er hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht. Aus einer Schnittwunde an der Stirn lief ihm hellrotes Blut übers Gesicht. Sein Körper war mit Scherben des zersplitterten Spiegels übersät.

Sie war sich nicht sicher, ob er noch lebte.

Wenn nicht, waren sie erledigt.

»Greg!«, schrie sie, den Mund gegen den Türspalt gepresst. »Greg, steh auf!«

Die Flugbegleiterin im Cockpit griff um den Sitz des Kapitäns herum und tastete nach dem Funkgerät. Panik stieg in ihr auf, als sie es zunächst nicht fand, bis ihre Finger ein kunststoffummanteltes Spiralkabel ertasteten.

Mit pochendem Herzen schnappte sie sich das Kabel und zog es zu sich her, bis sie das Handmikrofon zu greifen bekam, das sie Piloten unzählige Male hatte benutzen sehen. Sie holte tief Luft und drückte den Sprechknopf.

»Hier ist Coastal … Wir … Bitte helfen Sie uns«, stammelte sie übereilt, da sie nicht wusste, was sie sagen sollte. »Er ist tot. Der Kapitän ist tot. Ich glaube, er hatte einen Herzinfarkt. Der Co-Pilot ist auf der Toilette. Er ist nicht hier. Er ist … Wir haben keinen Piloten mehr! Wir stürzen ab! Bitte helfen Sie uns!«

Ihre Stimme war laut und bebte. Sie unterdrückte ein Schluchzen, und erst jetzt überwältigte sie ihre Angst … als sie ihre Stimme durch die Kabine schallen hörte.

Sie sprach gar nicht ins Funkgerät.

Sie machte eine Durchsage über die Lautsprecheranlage.

Die Purserin starrte die verriegelte Cockpittür an, während die stockende Atmung ihrer Kollegin noch über die Lautsprecher im Flugzeug zu hören war.

Das war es also. Der Kapitän war tot. Sie stürzten ab.

Sie trat gegen die Toilettentür, und ihr tränenersticktes Schluchzen mischte sich unter das der Passagiere.

»Steh auf! Steh auf!«

Im Inneren der Toilette öffnete Greg mit flatternden Lidern die Augen und nahm undeutlich seine Umgebung wahr. Wo befand er sich?

Ihm tat alles weh. Er wusste nicht, was geschehen war. Alles war verschwommen, bis er den zersplitterten Spiegel sah.

Er rappelte sich benommen auf, dann hörte er jemanden seinen Namen rufen. Als er die Tür aufmachte, sah er die Purserin vor sich auf dem Boden kauern. Sie war voller Blut und Essensreste.

»Er ist tot«, schluchzte sie. »Der Kapitän ist tot. Mach irgendwas.«

Er war vor Schock wie gelähmt. Während er die Flugbegleiterin mit zusammengekniffenen Augen ansah, wurde ein Geräusch in der Kabine immer lauter und kam immer näher, bis ein Trolley die Flugbegleiterin rammte und gegen die Cockpittür presste, was ihn schlagartig in die Realität zurückholte.

Wenn er nicht ins Cockpit zurückkehrte, würden sie alle sterben.

Greg kletterte auf den Trolley, der die Türöffnung der Toilette verbarrikadierte, wobei Tassen, Servietten und Rührstäbchen in die Toilette fielen, und hämmerte gegen die Cockpittür.

»Tim!«, rief er den Kapitän. »Mach auf! Tim, mach auf!«

Die Flugbegleiterin, die zwischen dem Trolley und der Cockpittür eingeklemmt war, stöhnte vor Schmerz auf. Die Schnittwunden in ihrem Gesicht bluteten heftig. Greg sah sich auf dem Trolley hockend um und überlegte, was er tun konnte. Als er einen Blick über die Schulter in die Kabine warf, bereute er es sofort.

An Bord befanden sich zweihundertfünfundneunzig Seelen. Fast dreihundert Leben, für die er verantwortlich war.

Und alle sahen ihn an.

»Tim! Mach die verdammte …«

Die Cockpittür flog auf.

Für den Bruchteil einer Sekunde kam es ihm vor, als sei die Zeit stehen geblieben. Die vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen der Flugbegleiterin im Cockpit, die jeden Moment von einem zweihundert Kilo schweren Trolley zerquetscht werden würde. Der tote Kapitän, der auf seinem Sitz nach vorn zusammengesackt war. Die blinkenden Knöpfe auf allen Konsolen im Cockpit. Die roboterhafte Stimme, die unablässig warnte: Hochziehen, hochziehen, hochziehen.

Und dahinter …

… sah er den Boden.

1

Countdown bis zur Stunde null: 16 Stunden, 38 Minuten

Die United-Grace-Kirche von Waketa in Minnesota diente nicht nur als Gotteshaus, sondern auch als Begegnungsstätte.

»Wir gehören zueinander, und wir sind verantwortlich füreinander. Darum geht es in einer Gemeinde. Darum geht es in Waketa.«

Die versammelten Kirchenmitglieder nickten.

»Es heißt immer, Familie ist das Wichtigste überhaupt«, fuhr Reverend Michaels fort. »Aber zur Familie gehören nicht nur unsere Blutsverwandten. Auch unsere Freunde gehören zur Familie. Unsere Nachbarn. Unsere Arbeitskollegen gehören zur Familie. Und alle, die sich heute in dieser Kirche versammelt haben, gehören zur Familie. Wir sind eine Familie.«

In der letzten Reihe der kleinen Kirche saß Steve Tostig, ohne wirklich zuzuhören. Wenn Reverend Michaels die Verantwortung für die Seele von Waketa trug, war Steve dafür verantwortlich, den Körper der Gemeinde zu schützen. Hätte es eine Postkarte von der Ortschaft gegeben, hätte er das perfekte Motiv abgegeben: groß, breitschultrig, mit Flanellhemd und Bartschatten. An der Highschool war er vor allem deshalb beliebt gewesen, weil er Mobbern die Stirn geboten hatte. Der Traumschwiegersohn aller Eltern.

Steve saß allein in der »Witwerreihe«, wie er sie inzwischen nannte, und starrte durch eines der Buntglasfenster hinaus zum Friedhof unten am Fuß des Hügels. Dieses Mal hatte er blaue Blumen dabei. Nelken. Zumindest hatte das auf dem kleinen Schildchen an dem Eimer im Supermarkt gestanden.

Claire Jean Tostig

1975 – 2022

Geliebte Tochter, Ehefrau, Mutter, Lehrerin.

Es war nicht lang genug, aber das ist es nie.

Die letzte Zeile gefiel ihm nicht. Sie klang irgendwie zu … spirituell. Zu naiv und esoterisch. Claire hätte sie bestimmt gefallen. Steve fand jedoch, es hätte dort stehen sollen: Es war nicht lang genug. Punkt. Kein Akzeptieren, kein Relativieren. Nur die ungeschönte unfaire Wahrheit.

»Mir ist nicht entgangen«, fuhr der Reverend fort, »dass heute etliche Parkplätze leer geblieben sind.«

Die wenigen anwesenden Kirchenmitglieder murmelten zustimmend.

»Ich bin deshalb nicht besorgt«, sagte er. »Viele müssen heute arbeiten. Die Kinder sind in der Schule. Und Karfreitag, der Tag, an dem wir an die Kreuzigung des Herrn erinnern … nun, dieser Tag ist nicht gerade ein Publikumsmagnet.«

Die Kirchenmitglieder stießen ein leises kollektives Lachen aus.

»Aber am Sonntag sollte man lieber früh da sein«, fuhr er mit erhobenem Zeigefinger fort. »Junge, Junge, wird der Parkplatz da voll sein. Denn an Ostern feiern wir! Am Sonntag kommen wir als Gemeinde zusammen, in einem Moment der Freude und des Lichts, um gemeinsam zu verkünden: Er lebt! Wir leben!«

Reverend Michaels machte eine Pause. Eine Pause mit der perfekten Länge. So etwas lernte man nicht im Priesterseminar, sondern erst nach vielen Jahren, in denen man Sonntag um Sonntag die Bedürfnisse seiner Gemeinde ergründet hatte – jener schmerzerfüllten Seelen, die einmal in der Woche an diesen Ort kamen, um über das Wie und Warum des Daseins nachzusinnen, um daran erinnert zu werden oder um damit zu ringen.

»Aber ihr seid heute hier.«

Er hielt abermals inne, sah sich in der Kirche um, suchte den Blickkontakt mit seiner Gemeinde. Als sein Blick in die hinterste Reihe fiel, schaute Steve weg. Steve war erst gekommen, als der Gottesdienst schon begonnen hatte, er würde wieder hinausschlüpfen, bevor er zu Ende war, und er würde am Sonntag nicht hier sein. Reverend Michaels wusste, dass Steve sich nur an den Tagen blicken ließ, an denen die Kirche weniger gut besucht war, weil er dann nicht so oft gefragt wurde, wie es ihm gehe und ob er und sein Sohn Matt Unterstützung bräuchten.

»Ihr seid heute gekommen«, sagte der Reverend. »An dem Tag, an dem unser Erlöser gekreuzigt wurde. An dem Tag, an dem alle Hoffnung verloren schien. An dem Tag der Dunkelheit, an dem man nicht sicher sein konnte, ob es jemals wieder Licht geben würde …«

Er hielt inne.

»Ihr seid gekommen.«

Seine Zuhörer nickten zustimmend.

»Ihr müsst wissen, es gibt einen Grund dafür, weshalb wir am …«

Er verstummte, hielt abermals inne, allerdings nicht, um die Dramatik zu steigern. Nicht, um seinen Zuhörern Zeit zum Nachdenken zu geben. Er hielt inne, weil sie alle versuchten, sich einen Reim auf das Geräusch zu machen, das sie hörten. Auf das entfernte Grollen. Ein Grollen, das mit jeder Sekunde lauter wurde.

Die Wände der United-Grace-Kirche begannen zu zittern. Der Boden unter den Füßen der versammelten Kirchenmitglieder vibrierte. Reverend Michaels blickte hinunter auf den Abendmahlskelch. Die Oberfläche des dunkelroten Weines kräuselte sich.

Plötzlich huschte ein Schatten durch die Kirche, als etwas in geringer Höhe über sie hinwegflog. Alle waren sofort auf den Füßen und sahen zu den Buntglasfenstern auf der Westseite der Kirche hinaus. Reverend Michaels blieb, wo er war, drei Stufen über dem Altar, und umklammerte die Brüstung der Kanzel mit beiden Händen. Von dort oben konnte er als Einziger durch die Scheiben über dem Buntglas blicken. Nur er sah ganz deutlich das riesige Linienflugzeug, das tief über den Himmel schoss.

Einen Moment später ließ ein gewaltiger Knall die ganze Kirche erzittern.

Schreie füllten den Raum, als die Kirchenmitglieder sich aneinanderklammerten. Ein gerahmtes Bild fiel von der Wand, und sein Glas zersplitterte, als es auf dem Boden aufschlug. Ein Lichtstrahl hinten in der Kirche erregte Reverend Michaels’ Aufmerksamkeit. Die Tür war aufgegangen und schloss sich langsam wieder.

Durch den Spalt sah der Reverend Steve über den Parkplatz zu seinem Pick-up laufen. Während sich alle anderen vor Angst und Verwirrung zusammenkauerten, war Steve bereits in Aktion.

Ein paar Kilometer entfernt saß Joss Vance in Schockstarre an ihrem Küchentisch. Von ihren Fingern tropfte verschütteter heißer Kaffee auf die Morgenzeitung. Adrenalin ließ ihr Herz heftig schlagen, während sie sich im Zimmer umblickte und sich fragte, was, zum Teufel, das gerade gewesen war. Dann flackerte plötzlich das Licht.

Joss schaute auf.

»Nein, nein, nein …«, murmelte sie, als das Licht noch einmal flackerte. Doch inzwischen war Joss bereits auf den Beinen und in Bewegung.

Sie wusste, was gleich passieren würde. Sie wusste, was das bedeutete. Und dann – wie sie erwartet hatte – fiel der Strom vollständig aus.

2

Countdown bis zur Stunde null: 16 Stunden, 37 Minuten

Neunzig Kilometer südlich von Waketa, im Stadtzentrum von Minneapolis, ging in allen Bürogebäuden das Licht aus. Alle Ampeln erloschen. Alle Supermarktkühltruhen hörten auf zu summen. In allen Häusern in den umliegenden Vororten fielen die Heizungen aus.

An einer Tankstelle hörte ein Mann, wie die Zapfsäule abschaltete, obwohl der Tank seines Pick-ups erst zu einem Drittel gefüllt war. Ein Schüler, der in der Pause den silberfarbenen Knopf des Trinkbrunnens drückte, zog durstig wieder von dannen, weil kein Wasser kam. In einem Aufzug stürzten alle Fahrgäste aufeinander, als die Kabine ruckartig stehen blieb. Das Pärchen im ersten Wagen einer Achterbahn blickte von ganz oben in den Abgrund und fragte sich, ob die lange Pause zur Fahrt gehörte. Ein Chirurg hielt in der Bewegung inne und verharrte mit dem Skalpell über der geöffneten Brust seines Patienten, die er im stockfinsteren OP nicht mehr sehen konnte.

Als sich die fast drei Millionen Einwohner der Metropolregion Minneapolis-St. Paul in diesem ersten Moment ansahen und sich laut fragten: »Was ist passiert?«, waren die meisten von ihnen verwundert, aber nicht sonderlich beunruhigt.

Das war die erste Fehleinschätzung des Tages.

In Waketa waren die Folgen des Absturzes weniger unauffällig gewesen.

Eine Frau zuckte zusammen, als der Knall das Wohnzimmerfenster ihrer Nachbarn bersten ließ. Ihr Arm schoss vor, da ihr Golden Retriever ebenfalls erschrak und an der Leine riss. Sie lief ihm hinterher, als er losrannte, stolperte und fiel der Länge nach hin, wobei sie sich ein Knie aufschlug. Ihr Hund zerrte an der Leine und drehte sie auf den Rücken. Den Blick nach oben gerichtet, sah sie ungläubig zu, wie ein Flugzeugtriebwerk genau über ihr vom Himmel fiel.

Das Triebwerk kam kreischend näher, wobei hinten Flammen herausschossen, während sich die Lamellen noch drehten. Die Frau machte die Augen zu und rollte sich zu einem Ball zusammen. Einen Moment später spürte sie die Hitze, als das Triebwerk über ihr vorbeiflog, ehe es den Briefkasten ihrer Nachbarn unter sich begrub und Rechnungen, Werbebroschüren und zerfetztes Metall in alle Richtungen verteilte.

Einen knappen Kilometer entfernt sah ein Farmer, der gerade mit seinem Traktor fuhr, ein brennendes Stück Metall durch die Luft segeln und in eine Wand seiner Scheune einschlagen, worauf rostrote Holzsplitter hochflogen und Kühe in alle Richtungen stoben. Da er abgelenkt war, rammte er den Fuß erst in letzter Sekunde aufs Bremspedal und riss das Lenkrad des Traktors nach rechts, in dem verzweifelten Versuch, der Flugzeugsitzreihe auszuweichen, die vor ihm in der frisch gepflügten Ackererde einschlug.

Die Sitze waren nicht leer.

Im Ortszentrum ragte ein Wasserturm empor, an dem in ausgebleichten grünen Lettern »Waketa« prangte. Auf dem Bahnsteig lungerten ausnahmsweise keine rebellischen Teenager herum und ritzten ihre Namen in die Farbe, wie es vor ihnen schon etliche Generationen junger Waketaner getan hatten – ein Glücksfall, da genau dort ein fast zweihundert Kilo schwerer Getränke-Trolley in den zwiebelförmigen Metalltank einschlug. Wasser spritzte explosionsartig in die Luft und sprudelte an der Seite heraus, als das markanteste Wahrzeichen der Ortschaft restlos auslief und Schlamm und Gras an seine rostigen verwitterten Stützen spritzten.

Nicht weit entfernt schlug ein Stück Flugzeugrumpf mit solcher Wucht mitten auf der Hauptstraße ein, dass zwei Gullideckel wie gusseiserne Frisbeescheiben in die Luft flogen. Als sie wieder zu Boden fielen, durchschlug eine von ihnen das Schaufenster der Bank, während die andere auf einem Pizza-Lieferfahrzeug landete. Der Besitzer der Pizzeria und eine Bankangestellte rannten gleichzeitig nach draußen, um nachzusehen, was passiert war, blieben dann mit offenem Mund stehen und starrten hilflos auf die Zerstörung um sie herum.

Der große Knall ließ die Angler, die in ihren hohen Gummistiefeln am Ufer des Mississippi standen, zusammenzucken und sich laut fragen: »Was, zum Teufel, war das?« Einen Moment später duckten sie sich, als Gegenstände auf sie herabprasselten und platschend im Fluss landeten. Die Angler sahen den verkohlten Trümmerteilen hinterher, die an ihnen vorbei flussabwärts trieben – von einem Koffer über eine Jacke bis hin zu mehreren Miniflaschen Jack Daniel’s und einem noch brennenden Buch war alles dabei. Doch es war der Anblick eines Schuhs, der den Männern das Blut in den Adern gefrieren ließ.

In dem Schuh steckte noch ein Fuß.

Ein grasendes Rudel Weißwedelhirsche rannte plötzlich los, da die Tiere das zischende Pfeifen der nahenden Metallsplitter nicht einordnen konnten. Sie flüchteten durch Bäume und Gestrüpp, hinaus aus dem Wald auf das freie Gelände neben dem Highway, genau ins Scheinwerferlicht eines heranfahrenden Sattelzugs.

Der Fahrer stieg auf die Bremse, riss aber nicht das Lenkrad herum – im Gegensatz zu dem Fahrer des zweitürigen Honda neben ihm. Der Wagen scherte nach rechts aus, um einem Hirsch auszuweichen, und touchierte dabei die linken Hinterräder des Sattelschleppers. Daraufhin drehte er sich um die eigene Achse, verkeilte sich unter dem Sattelzug und wurde von diesem ein Stück auf dem Highway mitgeschleift, wobei unter dem Auflieger Funken hervorsprühten.

Die Bremsen des Sattelzugs blockierten, und der Fahrer hatte Mühe, ihn unter Kontrolle zu halten, als er wie ein Taschenmesser zusammenklappte. Der kastenförmige Auflieger stellte sich quer zur Fahrbahn, kippte um und überschlug sich – einmal, zweimal, dreimal –, wobei er vier Autos in seinem Weg überrollte und sich sein Inhalt über die Fahrbahn ergoss. Holzpaletten barsten, und die darauf in Kartons verpackten Olivenölflaschen zersplitterten auf dem Highway. Glasscherben und zigtausend Liter Olivenöl bedeckten den Asphalt in beide Fahrtrichtungen.

Eine Limousine fuhr auf einen Pritschenlastwagen voller Gartengeräte auf. Die Ladeklappe ging auf, und Rechen, Laubbläser und ein Sitzrasenmäher verteilten sich über den Highway. Säcke mit Schnittgut platzten, worauf Gras und Blätter durch die Luft und auf die Windschutzscheiben orientierungsloser Autofahrer flogen, die versuchten auszuweichen.

Ein Fahrer verlor die Kontrolle über sein großes SUV und geriet auf den begrünten Mittelstreifen, wo er gegen einen Felsbrocken prallte, sich nach vorn überschlug und auf der anderen Seite des Highways im Gegenverkehr landete.

Ein Auto voller College-Studenten, die fürs Wochenende nach Hause fuhren, sahen das Fahrzeug vor ihnen erst dann bremsen, als es bereits zu spät war. Einer von ihnen war nicht angeschnallt, wurde mit voller Wucht herausgeschleudert und schlug knapp fünfzig Meter entfernt am Waldrand auf, wo zuvor die Hirsche aufgetaucht waren.

In weniger als einer Minute kam der Verkehr auf der I-37, der wichtigsten Zufahrts- und Ausfallstraße von Waketa, in beiden Richtungen vollständig zum Erliegen, nachdem sich siebzehn Fahrzeuge zu einem Gewirr aus verbogenem Metall und verstümmelten Körpern aufgetürmt hatten. Anschließend bewegte sich nichts mehr außer dem Rudel Hirsche, die auf dem Weg zum Wald auf der anderen Seite der Schnellstraße unbeholfen zwischen den demolierten, brennenden Autos und den verletzten, blutenden Menschen hindurchliefen.

Der Pausenhof der Carver-Valley-Grundschule glich einem Bienenstock, als die Kinder am letzten Schultag vor dem Osterwochenende voller Tatendrang aus ihren Klassenzimmern nach draußen strömten.

Einige Viertklässler schwangen sich auf der Schaukel in immer größere Höhen auf. Eine Gruppe Zweitklässler war unter der großen Eiche auf der Suche nach Marienkäfern. Die Sechstklässler, die ältesten Kinder an der Schule, spielten Fußball: eine ausgeglichene Partie, bei der es zwei zu zwei stand.

Miss Carla ging neben einem ihrer Erstklässler in die Hocke. Der Junge weinte lauthals. An seinem aufgeschürften Knie klebte Sand.

»Schon gut, Leo«, tröstete sie ihn. »Lass uns zur Krankenschwester gehen. Sie kann …«

Ein lauter Knall ertönte. Alle erstarrten.

Die Schaukel schwang vor und zurück, angetrieben von der Schwerkraft und dem Schwung, den sie noch hatte, und nicht von den Beinschlägen eines siebenjährigen Mädchens. Ein Marienkäfer krabbelte unter einem Blatt hervor, ohne dass es jemand bemerkte. Der Fußball rollte aus, ohne von jemandem gestoppt zu werden. Miss Carla zog Leo instinktiv nah an sich, und beide richteten den Blick in den Himmel.

Jeder Schüler, jede Lehrkraft, die Schülerlotsin, der Hausmeister: alle blickten voller Ehrfurcht nach oben, als eine Tragfläche, die völlig intakt war, aber vom Flugzeugrumpf getrennt, wie eine fliegende Untertasse vorbeisauste. Sie sahen die Tragfläche hinter den Bäumen am anderen Ende des Parkplatzes verschwinden und warteten gemeinsam auf das, was als Nächstes kam: ein ohrenbetäubendes Krachen, gefolgt von einer riesigen orangefarbenen Stichflamme und einer schwarzen Rauchwolke, die in den strahlend blauen Himmel aufstieg.

Nachdem Steve die Kirche hinter sich gelassen hatte, verringerte er seine Geschwindigkeit auf hundertfünfunddreißig Stundenkilometer und starrte auf die pilzförmige Rauchwolke, die zu seiner Linken aufstieg. Am liebsten hätte er das Lenkrad herumgerissen und wäre darauf zugefahren. War das … bei der Schule?, fragte er sich.

Matt.

Steve spürte einen Adrenalinstoß. War mit Matt alles in Ordnung? Sollte er nach seinem Sohn sehen? Seine Gedanken wanderten zu Claires Viertklasszimmer, obwohl es nicht mehr ihres war. Matt hätte zu ihr laufen können. Er hätte bei seiner Mutter in Sicherheit sein können.

Doch das war einmal. Sie war tot. Und Matt war auf sich allein gestellt.

Steve stieg auf die Bremse und kam mitten auf der Straße zum Stehen. Sein Herz klopfte wie wild vor väterlicher Sorge. Lass dir was einfallen und unternimm was oder fahr weiter. Steve holte tief Luft und zwang sich, das große Ganze zu betrachten – mit klarem Blick, nicht durch die Linse der Angst und Trauer, die alles verzerrte.

Er sah, dass die schwarze Rauchwolke auf der anderen Seite des Waldes aufstieg, auf der Flussseite. Zwar befand sich die Schule tatsächlich in dieser Richtung, aber der Rauch kam eindeutig nicht genau von dort. Mit der Carver-Valley-Grundschule war alles in Ordnung. Mit Matt war alles in Ordnung.

Steve nickte und versicherte sich, dass er das Richtige tat, als er seinen Pick-up wieder auf gesetzeswidrige Geschwindigkeit beschleunigte und weiterraste. Mit Matt war alles in Ordnung, und Steve musste sich an die Arbeit machen. Denn dort stellte jeder Schaden eine weitaus größere Gefahr dar.

Als Steve die einspurige unbefestigte Straße entlangraste und die kleinen und großen Rauchwolken sah, die im ganzen Tal aufstiegen, schüttelte er den Kopf. So etwas passierte hier nicht; nicht in einer so ruhigen Gegend. Und Steve war bewusst, dass gerade überall in Waketa, auch in der Schule, Fassungslosigkeit herrschte, gepaart mit Verwirrung und Angst, wie er selbst sie in der Kirche empfunden hatte. Bestimmt dachten alle, es könnte nichts Schrecklicheres passieren als ein solcher Flugzeugabsturz.

Er wusste, dass sie sich täuschten.

Nachdem Steve mit seinem Pick-up an einem Schild vorbeigefahren war, das stolz verkündete: »Heute erschaffen, um die Welt von morgen mit Energie zu versorgen«, hielt er vor dem Haupttor des Clover-Hill-Kernkraftwerks an. Er hielt seinen Dienstausweis zum Fenster hinaus und war überrascht, als die Tür des Pförtnerhäuschens aufging und ein bewaffneter Wachmann in einem Vollschutzanzug herauskam. Der Mann scannte die Marke, worauf Steves Gesicht über seinem Berechtigungsnachweis auf dem Computerbildschirm im Pförtnerhäuschen erschien.

Steve J. Tostig, Feuerwehrkommandant

Clover-Hill-Betriebsfeuerwehr

uneingeschränkte Befugnisse

»Ist es so schlimm, Bill?«, fragte Steve und deutete auf den Schutzanzug.

Bill zuckte mit den Schultern und drückte einen Knopf, worauf sich die Schranke öffnete. »Sagen Sie es mir. Die da drin sind anscheinend zu beschäftigt, um uns anzurufen und zu informieren. Das kann man interpretieren, wie man will. Ich sag Ihren Leuten über Funk Bescheid, dass Sie wieder da sind.«

Glasscherben knirschten unter Joss’ Stiefeln, als sie über eines ihrer gerahmten Diplome stieg, die in ihrem häuslichen Arbeitszimmer von der Wand gefallen waren. Sie schnappte sich ihren Notfallrucksack, ging damit in die Küche und stellte ihn auf die mit Kaffee bekleckerte Zeitung, die sie nicht mehr zu Ende würde lesen können.

Sie schaltete ihr Satellitentelefon ein und durchstöberte den Inhalt des Rucksacks – Vollschutzanzug, Masken, Handschuhe, Gummistiefel –, bis sie ein Glasfläschchen mit Kaliumiodid-Tabletten fand. Sie schüttelte eine der strahlungshemmenden Tabletten auf ihre Handfläche und spülte sie mit einem Schluck von dem noch warmen Kaffee hinunter, den sie nicht mehr würde austrinken können.

»Komm schon …«, flüsterte Joss ungeduldig, als das Satellitentelefon hochfuhr, und holte tief Luft. Während sie wartete, starrte sie zum Küchenfenster hinaus auf den Rauch, der in der Ferne aufstieg.

Hinter ihr im Wohnzimmer stand eine leere Asia-Takeaway-Schachtel auf einem ungeöffneten Umzugskarton, den sie als Beistelltisch verwendete. Sie war seit neun Monaten wieder da, aber bislang war ihr Arbeitszimmer der einzige Raum im Haus, dem das anzusehen war. Sie zog einen Mantel über ihren abgetragenen braunen Pullover und ihre ausgewaschene Jeans an und nahm ihren Schlüsselbund von einem Haken an der Wand, wobei ihr Blick auf die Thomas, die kleine Lokomotive-Bücher fiel, die in Thomas, die kleine Lokomotive-Geschenkpapier eingepackt waren und auf der Küchenarbeitsplatte lagen. Es schien ihr eine Ewigkeit her, dass sie sich vorgenommen hatte, heute bei der Post vorbeizufahren, um das Geburtstagsgeschenk für ihren Neffen zu verschicken, das jetzt wahrscheinlich nicht mehr rechtzeitig ankommen würde.

Das Satellitentelefon in ihrer Hand piepste, und sein Display leuchtete auf. Als Joss einen Blick darauf warf, öffnete sich eine Alarmmeldung, die ihr bestätigte, dass tatsächlich passiert war, was sie vermutet hatte.

Zwischenfall im Clover-Hill-Kernkraftwerk

Melden Sie sich umgehend

Möglicherweise Ereignis der Stufe 7

Joss warf sich den Notfallrucksack über die Schulter und eilte nach draußen zu ihrem Auto, ohne noch einen Blick in den Spiegel zu werfen, um zu sehen, ob sie noch Schlaf in ihren grünen Augen hatte oder ob ihr schulterlanges braunes Haar hätte gebürstet werden müssen. Dafür war keine Zeit. Außerdem war ohnehin nichts mehr davon von Bedeutung.

Wenn man wie Joss in einem Kernkraftwerk arbeitete, ließ sich die Arbeit nie ganz aus den Gedanken verbannen. Wie gefährlich Atomkraft war, welch schreckliche Folgen sie haben konnte.

Doch man lernte, von der Angst loszulassen.

Die Arbeitstage wurden aufgrund streng reglementierter, von hochqualifizierten Fachkräften mit absoluter Präzision umgesetzter Vorschriften zur Routine und eintönig. Zu Unfällen kam es nicht, da es nicht zu Unfällen kommen durfte. Wenn das Unvorstellbare aber doch eintrat, wenn doch etwas schiefging, kehrte die Angst zurück, schnell und unerbittlich, was alle im Kraftwerk gerade zu spüren bekamen, wie Joss vermutete.

Trotz alledem war ihre Hand ruhig. Ihre Herzfrequenz niedrig. Denn Joss war immer klar gewesen, dass die Frage nicht lautete, ob ein Tag wie dieser kommen würde, sondern wann. Und ihr war klar gewesen, dass sie die Ruhe bewahren würde, wenn es so weit war, wenn der Rest der Welt entdeckte, was sie bereits wusste, wenn alle anderen sich vor Angst vor den schrecklichen möglichen Folgen aufreiben würden.

Ihr fiel es leicht, ihre Angst zu kontrollieren.

Weil ihre Angst sie nie verließ. Joss lebte in ständiger Angst.

3

Countdown bis zur Stunde null: 16 Stunden, 36 Minuten

Der fünfjährige Connor Hays saß in seinen Kindersitz geschnallt in der mittleren Sitzreihe des Minivans und spielte auf seinem iPad. In der hintersten Reihe klebte seine dreizehnjährige Schwester Caity an ihrem Smartphone und nickte zu der Musik, die aus ihren knallpinken Kopfhörern dröhnte. Die Teenagerin ignorierte ihren Vater völlig.

»Ruf sie doch auf dem Handy an«, schlug Valerie Hays vor und sah ihren Mann an, der am Steuer saß. »Vielleicht schaffen wir es so, uns mit ihr zu unterhalten.«

Paul schüttelte den Kopf und warf seiner Tochter im Rückspiegel einen Blick zu. »Sie würde gar nicht drangehen.« Beide Eltern lachten. »Was ist mit dir, Connor? Dir müssten wir nicht auf die Mailbox quatschen, oder?«

Connor blickte von seinem iPad auf. »Was ist denn eine Mailbox?«, fragte er.

»Da wir gerade von Technikkram sprechen«, warf Valerie ein. »Wir müssen fürs Wochenende ein Limit für die Zeit vorm Display setzen. Wir besuchen deine Eltern nur ein paarmal im Jahr, und sie möchten den beiden bestimmt nicht nur dabei zusehen, wie …«

Ein Knall in der Ferne ließ die Straße unter dem Minivan erbeben. Beide Kinder blickten auf, die Augen weit aufgerissen. Valerie streckte den Arm zu ihrem Mann aus, als der Minivan kurz ausscherte. Paul packte das Lenkrad mit beiden Händen.

»Was war das, Dad?«, fragte Caity.

Valerie drehte sich auf ihrem Sitz um. »Paul, wir haben doch nichts überfahren, oder?«

»Nein …«, murmelte er irritiert.

»Dad, was war das?« Caitys Stimme klang angsterfüllt.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Paul, der sich noch nicht zusammenreimen konnte, was vor sich ging. Er ließ den Blick über die Felder und Waldgebiete von Waketa schweifen, von denen die zweispurige Landstraße gesäumt war. Sie kamen um eine Kurve, fuhren bergab auf eine Brücke zu. Alles wirkte völlig normal.

»Aber Dad, ist wirklich alles okay?«

»Alles in Ordnung!«, schnauzte Paul. »Ich weiß nicht, was das war!«

Connor fing an zu weinen.

»Schon gut, mein Kleiner«, tröstete ihn Paul und drehte sich zu den Kindern um. »Caity, tut mir leid. Alles in Ordnung. Das war wahrscheinlich nur …«

»Paul. Paul!«

Als seine Frau schrie, drehte er sich abrupt wieder nach vorn. Vor ihnen tauchte über den Baumwipfeln eine riesige graue Metallplatte auf. Sie war so groß und bewegte sich so schnell, dass sich schwer beurteilen ließ, ob sie direkt über sie hinwegfliegen, seitlich abdrehen oder sie mit voller Wucht treffen würde. Als ihm bewusst wurde, dass es sich um eine Flugzeugtragfläche handelte und dass sie genau vor ihnen auf dem Boden auftreffen würde, war es zu spät. Ihr Minivan befand sich bereits auf der Brücke.

Die Tragfläche schlug mit solcher Wucht auf, dass die Bäume zitterten. Vögel flatterten auf, und die ganze Familie schrie. Valerie streckte die Arme aus, um sich für die Kollision zu wappnen, während Paul das Lenkrad fest umklammerte. Er machte eine Vollbremsung, da Ausweichen mitten auf der schmalen, zweispurigen Brücke keine Option war. Die Räder des Minivans, der sich beim Versuch anzuhalten stark nach vorn neigte, blockierten quietschend.

Genau vor ihnen riss die Tragfläche tiefe Löcher in die Wiese, als sie auf die Brücke zuschlitterte. Dabei drehte sie sich um die eigene Achse und nahm die gesamte Fahrbahn ein, bis sie sich auf der Brücke befand und mit schrecklichen Geräuschen von Metall, das über den Asphalt schrammt, auf den Minivan zukam. Die Familie verstummte und erwartete den Aufprall.

Und dann kam es zur Kollision.

Die Familie wurde vorkatapultiert, wobei ihre Arme und Köpfe von den enormen Kräften, die auf sie einwirkten, unnatürlich weit nach vorn gerissen wurden. Die Windschutzscheibe zersplitterte, als sich die Airbags explosionsartig füllten. Das dicke, robuste Stahlblech der Motorhaube und der Frontpartie des Minivans knitterte wie Alufolie. Die vorderen Reifen platzten, da sie beim Aufprall gequetscht wurden, und die Felgen hinterließen eine Funkenspur auf dem Asphalt.

Die heranrasende Tragfläche war zehnmal so groß und so schwer wie der Minivan. Das metallene Monstrum schob sich mit Leichtigkeit über die Stoßstange, die Motorhaube und die Vorderräder, begrub den Minivan unter sich und schob ihn zurück.

Die Köpfe und Körper der Insassen wurden zurückgeschleudert und prallten gegen die Sitzlehnen, wobei Knochen brachen und inneren Organe verletzt wurden. Die Lenksäule bohrte sich in Pauls Oberkörper, der zerdrückte Türrahmen zerquetschte Valeries Schädel. Der hintere Teil des Minivans wurde am wenigsten in Mitleidenschaft gezogen, war aber den stärksten Fliehkräften ausgesetzt. Caitys Wirbelsäule bekam das Meiste davon ab. Connor, der in der Mitte fest in seinen Kindersitz geschnallt war, blieb nichts anderes übrig, als sich festzuhalten.

Als die Tragfläche den Van auf der Brücke zurückschob, drehte sich das Fahrzeug und durchstieß mit seiner hinteren Stoßstange das Metallgeländer. Während die Front von der Tragfläche nach unten gedrückt wurde und Funken sprühend über den Asphalt schabte, hing das Heck über den Rand der Brücke – zehn Meter über dem eiskalten Mississippi, der unter ihr hindurchfloss.

Die Bewegungsenergie der Tragfläche ließ langsam nach, bis sie schließlich liegen blieb und die ganze Brücke einnahm. Der riesige Teil eines Linienflugzeugs, das sich noch vor wenigen Minuten in mehreren tausend Metern Höhe befunden und mit einer Geschwindigkeit von mehreren hundert Stundenkilometern vorwärtsbewegt hatte, war jetzt verbeult und verbogen, ein Trümmerhaufen, der ebenfalls seine inneren Organe entblößte, einschließlich der riesigen Tanks, in denen sich zigtausende Liter Kerosin befanden.

Vielleicht lag es an der Reibung zwischen Metall und Asphalt, vielleicht auch an einem Funken vom Minivan. Wie es anfing, war unwichtig. Wie es enden würde, war unabwendbar. Ein riesiger Feuerball aus grell orangefarbenen Flammen schoss empor. Als die Treibstoffdämpfe verbrannt waren, wich der Feuerball einer dicken schwarzen Rauchwolke, die über dem stetig brennenden, in den Tanks verbliebenen Treibstoff aufstieg.

Um sie herum kehrte völlige Stille ein. Alle Vögel waren verschwunden. Die Tragfläche bewegte sich nicht mehr. Und der Minivan hing völlig ruhig mit dem Heck über dem Fluss. Das Einzige, was sich bewegte, waren die Flammen auf der Tragfläche und die sich drehenden Hinterräder des Fahrzeugs. Das einzige Geräusch kam aus dem Radio, das durch die zersplitterte Windschutzscheibe aus dem Innenraum tönte.

Connor blickte sich um, war zu verwirrt, um zu weinen, zu verängstigt, um sich zu bewegen. Mit seinen kleinen Händen umklammerte er die Seiten seines Kindersitzes, und ein Kratzer auf seiner Stirn war das einzig sichtbare Anzeichen dafür, dass überhaupt etwas passiert war. Er wartete darauf, dass ihm jemand half, dass ihn jemand holte, dass ihm jemand sagte, was er tun solle. Aber niemand kam, niemand sagte etwas.

»Mommy?«, fragte er leise.

Keine Antwort.

Seine Brust hob und senkte sich, während ihm Tränen in die Augen stiegen und sein Herz zu klopfen begann.

»Mommy!«

4

Countdown bis zur Stunde null: 16 Stunden, 35 Minuten

Ethan Rosen tastete in der Dunkelheit um sich, seine Hände griffen aber nur ins Leere.

Er stand wie erstarrt im stockfinsteren Kontrollraum hinter dem halbkreisförmigen Tisch, wagte es nicht, sich zu bewegen, auch nur einen Schritt zu machen, und sein Puls pochte in seinen Ohren. Ethan wusste, dass alle ihn ansehen würden, sobald das Licht wieder anging – weil er das Kraftwerk leitete, weil er die Verantwortung trug. Alle rechneten damit, dass er Antworten parat hatte.

Doch Ethan hatte keine Antworten. Er hatte nur eine Frage.

Und das war dieselbe Frage, die allen im Kontrollraum durch den Kopf ging.

Was war gerade passiert?

Dann erstrahlte seine Umgebung genauso abrupt, wie sie von Dunkelheit verschluckt worden war, in leuchtenden Farben.

Überall im Kontrollraum von Reaktor 2 blinkten rote, orangefarbene und weiße Lampen. Ethan kniff seine haselnussbraunen Augen zu. Sein Kopf pochte, während ein unablässiges schrilles Klingeln in seinen Ohren den Alarm übertönte, der eigentlich in markerschütternder Lautstärke kreischte. Ethan hatte Mühe, klar zu sehen, als er durch den aufgewirbelten Staub in der Luft spähte, der von den schwankenden Deckenleuchten wie frühwinterlicher Schnee auf sein lockiges braunes Haar und seinen marineblauen Pullover rieselte. Er blickte nach unten und sah vor seinen Füßen Keramikscherben in einer Kaffeepfütze liegen. Das Clover-Hill-Logo des Bechers war zersplittert und nicht mehr zu erkennen.

Benommen und geschockt nahm Ethan das Geschehen um sich wie aus der Ferne wahr. Als liefe vor seinen Augen ein Film ab. Alle im Raum blickten zu ihm hinauf, während er auf der erhöhten Plattform der Überwachungsstation des Reaktors 2 stand, und nickten, als eine laute Stimme die Alarmsirenen übertönte. Überrascht wurde Ethan bewusst, dass es sich um seine eigene Stimme handelte.

Er fragte immer wieder: »Geht’s allen gut?«

Alle nickten: Ja.

Als sich die Welt um Ethan herum wieder in Bewegung setzte und in den Fokus rückte, schärften sich seine Sinne. Seine akustische Wahrnehmung kehrte zurück, und er hörte die Panik in den Stimmen seiner Mitarbeiter. Alle redeten durcheinander, deshalb gelang es seinem Gehirn nur, vereinzelte Satzteile herauszupicken, die wie sichtbare Worte in einem ansonsten geschwärzten Text herausstachen.

»… wissen nicht …«

»… Explosion? Angriff …«

»… offener Reaktor …«

»… Erdbeben. Wenn nicht …«

»… Verlust der Haupt…«

Es war ein ganz normaler Tag gewesen, und dann war die Normalität von einem Moment zum anderen brutal beendet worden. Von einer Bombe? Von einer technischen Störung? Von einem Erdbeben? War es vorbei, oder hatte es gerade erst begonnen? Von ihrer Warte in dem fensterlosen Raum war es unmöglich, das zu beurteilen. Vollkommen unmöglich. Und angesichts all der Unbekannten drohten sie die Nerven zu verlieren.

Ethan drückte ein paar Knöpfe, und der dröhnende Alarm verstummte. Alle hörten vor Schreck wegen der unvermittelten Stille auf zu reden und richteten ihre Aufmerksamkeit auf ihn.

»Also, alle mal herhören.«

Ethans ruhiger Tonfall klang in dem plötzlich stillen Raum wie ein Schrei, doch seine Ausgeglichenheit rief ihnen in Erinnerung, wo sie sich befanden und, noch wichtiger, was sie zu tun hatten. In dem etwa fünfundachtzig Quadratmeter großen Raum erstreckten sich Bedienfelder voller Schalter, Anzeigen, Messwerte, Zahlen, blinkender Lampen und leuchtender Knöpfe über alle Wände und sämtliche Konsolen und schienen in diesem Moment regelrecht darum zu flehen, abgelesen oder bedient zu werden.

»Stopp. Auf der Stelle. Alle tief durchatmen«, sagte Ethan und achtete darauf, langsam und unaufgeregt zu sprechen. Seine Mitarbeiter reagierten mit einem kollektiven tiefen Luftholen, während die Warnleuchten weiterblinkten. Die Krisensituation dauerte an, aber für vier Sekunden hielten alle inne, fokussierten sich auf Ethan.

»Unser Problem ist, dass wir nicht wissen, was unser Problem ist«, sagte er. »Wir können mit allem umgehen, aber wir müssen wissen, womit wir es zu tun haben. Dwight, holen Sie mir ein Funkgerät. Vikram, starten Sie ›Betriebsartwechsel zu Checkliste anormale Abläufe‹. Maggie, bestätigen.«

Dwight rannte mit baumelndem Schlüsselband los und verschwand durch die Tür, die zum Korridor führte. Vikram schnappte sich eine laminierte Seite aus einem Ordner mit Trennblättern, begann aber mit dem Ablesen, ohne nachsehen zu müssen.

»Betriebsartschalter steht auf Shutdown«, sagte Vikram. Er beugte sich über eine Konsole und las Messwerte ab. »Werte des Neutronenfluss-Monitors fallend. Reaktordruck fünfundsechzig Bar, langsam sinkend.« Vikram warf einen kurzen prüfenden Blick auf die laminierte Seite, dann drehte er sich nach rechts, um eine andere Anzeige abzulesen. »Kühlwasserpegel minus hundert Zentimeter, langsam steigend …«

Während sein Team arbeitete, trat Ethan einen Schritt zurück. Er wandte sich ab und holte diskret sein Handy aus der Hosentasche. Seine Hände zitterten, als er tippte.

Guter Tag für eine Spritztour nach Osten.

Sofort erschienen drei Punkte. Die Antwort seiner Frau kam genauso schnell.

Ich liebe dich.

Ethan steckte sein Telefon wieder in die Hosentasche.

»… Notbetrieb wegen niedrigem Kühlwasserpegel und hohem Druck im Reaktordruckbehälter«, sagte Vikram abschließend.

»Betriebsartschalter steht auf Shutdown«, sagte Maggie, die neben Vikram stand und die abgelesenen Messwerte verbal und bildlich bestätigte. »Werte des Neutronenfluss-Monitors fallend. Reaktordruck fünfundsechzig Bar, langsam sinkend. Kühlwasserpegel minus hundert Zentimeter, langsam steigend. Voraussetzungen für Notbetrieb wegen niedrigem Kühlwasserpegel und hohem Druck im Reaktordruckbehälter«, schloss sie ab.

Dwight kam wieder in den Raum gerannt und stolperte über die Stufe zur Plattform, als er Ethan das Funkgerät reichte.

»Alles korrekt«, sagte Vikram.

»Sämtliche Steuerstäbe sind eingefahren«, bestätigte Maggie, um die Checkliste abzuschließen.

Der Reaktor war sicher abgeschaltet worden, die Steuerstäbe waren eingefahren. Nach erster Einschätzung war das Kraftwerk unter Kontrolle. Doch als alle im Raum Dwights flache Atmung und sein gespenstisch bleiches Gesicht sahen, wurde ihnen bewusst, dass das offenbar eine Fehleinschätzung war.

Ethan beobachtete den jungen Mann, als dieser versuchte, sich wieder zu beruhigen, und ihm wurde bewusst, dass Dwight, um das Funkgerät zu holen, den langen verglasten Gang im ersten Obergeschoss hatte entlanglaufen müssen, von dem aus man das Gelände des Kernkraftwerks überblicken konnte.

Dwight war der Einzige von ihnen, der gesehen hatte, was draußen los war.

»Was ist passiert?«, wollte Ethan von ihm wissen.

Dwight konnte nur den Kopf schütteln. »Es ist … Ich … ich kann nicht …«

»Steve«, sagte Ethan in dringlichem Tonfall in das Funkgerät. »Hören Sie mich?«

Steve schlüpfte mit den Armen durch die Hosenträger und zog die dicke Flammschutzhose hoch, bevor er seine Flammschutzjacke aus seinem Spind nahm und seinen Helm aufsetzte. Als Kommandant der Betriebsfeuerwehr hatte Steve einen weißen Helm, während die Helme der übrigen Feuerwehrleute schwarz waren. Als er zum wartenden Löschfahrzeug sprintete, drückte er auf die Sprechtaste seines Funkgeräts und hielt es sich nah an den Mund.

»Wir hören Sie.«

»Steve, wir werden aus den Messwerten nicht schlau«, ertönte Ethans Stimme knisternd über den Lautsprecher, als Steve auf den Notsitz sprang. Noch bevor die Tür zu war, fuhr das Löschfahrzeug los. »Womit haben wir es zu tun? War das etwas von außen? Oder ein mechanischer Fehler? Ein Feuer?«

Steve drückte die Sprechtaste. Sein benommener Tonfall stand im Kontrast zu Ethans Panik.

»Ja.«

Das Löschfahrzeug bahnte sich mit rhythmisch leuchtendem Lichtbalken und heulenden Sirenen den Weg zwischen den Wrackteilen des Flugzeugs hindurch, die auf dem Gelände des Kernkraftwerks verstreut lagen, darunter zwei Räder, die über einen Randstein sprangen und um eine brennende Reihe Flugzeugsitze rollten. Als Steve nach links sah, stockte ihm beim Anblick der abgerissenen Flugzeugnase der Atem. Das Cockpit war von einem sengend heißen Feuer eingehüllt, dessen Flammen aus den zersplitterten Scheiben loderten und dicke schwarze Rußnarben auf der weißen Außenlackierung hinterließen.

Nichts davon fühlte sich real an. Dafür war es zu extrem, zu überlebensgroß. Bei dem Anblick verschlug es allen im Löschfahrzeug die Sprache. Ihr Gehirn hatte Mühe, das, was sie vor Augen hatten, in etwas zu übersetzen, das einen Sinn ergab. Steve wusste nicht, wie er es hätte erklären sollen.

»Was … was soll das heißen?« Ethans Stimme klang scharf, als würde er sich das Funkgerät ganz nah an den Mund halten. »Wir sehen von hier aus nichts. Was ist passiert?«

»Ein Flugzeug, Ethan«, erwiderte Steve mit monotoner Stimme. »Ein Flugzeug, das ist passiert.«

Ethan spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich.

Am 11. September 2001 hatten er und seine Kollegen nur ein kleines Stück von dort entfernt, wo er jetzt stand, auf dem Fernseher im Pausenraum mitverfolgt, als das zweite Flugzeug in den Südturm geflogen war. Er konnte sich noch genau erinnern, wie sich in dem Moment, in dem ihnen bewusst geworden war, dass es sich nicht um einen Unfall handelte, alles verändert hatte.

Das Land wurde angegriffen.