Flug 416 - T. J. Newman - E-Book

Flug 416 E-Book

T.J. Newman

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Beschreibung

Willst du die Passagiere retten – oder deine Familie?

Der spektakulärste Action-Blockbuster des Sommers – »Gänsehaut-Lektüre!« Lee Child

Coastal Airways Flug 416 hat den Flughafen von Los Angeles gerade verlassen, als Kapitän Bill Hoffman einen Anruf erhält. Ein Entführer hat seine Frau und Kinder in seine Gewalt gebracht und stellt Bill vor eine schreckliche Wahl: Entweder bringt er das Flugzeug mit 149 Menschen an Bord zum Absturz, oder seine Familie wird getötet. Zwar gelingt es Bill, die Crew über die Lage zu informieren, doch irgendwo in der Maschine befindet sich noch ein Komplize des Entführers. Und Bill weiß nicht, wem er vertrauen kann. In 10 000 Meter Höhe entbrennt ein Kampf um Leben und Tod, während sich die Maschine unaufhaltsam New York nähert ...

»Einer der besten Thriller des Jahres. Der Roman erinnert an Filme wie ›Speed‹ oder ›Stirb langsam‹.« Library Journal

»Ein Thriller mit Schallgeschwindigkeit, der Sie bis zur letzten Seite in seinen Bann ziehen wird! Ein absolut herausragendes Werk reinster Hochspannung.« Steve Cavanagh

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Seitenzahl: 409

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Coastal-Airways-Flug 416 hat den Flughafen von Los Angeles pünktlich verlassen, als Kapitän Bill Hoffman einen Anruf erhält. Ein Entführer hat seine Frau und Kinder in seine Gewalt gebracht und stellt Bill vor eine schreckliche Wahl: Entweder bringt er das Flugzeug mit 149 Menschen an Bord zum Absturz, oder seine Familie wird getötet. Zwar gelingt es Bill, die Crew über die Lage zu informieren, doch irgendwo in der Maschine befindet sich noch ein Komplize des Entführers. Und Bill weiß nicht, wem er vertrauen kann. In 10 000 Meter Höhe entbrennt ein Kampf auf Leben und Tod, während sich die Maschine unaufhaltsam New York nähert …

Autorin

T. J. Newman, eine ehemalige Buchhändlerin und langjährige Flugbegleiterin, arbeitete von 2011 bis 2021 für Virgin America und Alaska Airlines. Sie schrieb einen Großteil ihres Debütromans »Flug 416«, während ihre Passagiere auf Nachtflügen schliefen. Sie lebt in Phoenix, Arizona.

Mehr Informationen zur Autorin und ihrem Buch unter www.facebook.com/TJNewmanBooks/twitter.com/t_j_newmanwww.instagram.com/tj_author

T. J. Newman____________

Flug 416

Thriller

Aus dem Englischenvon Thomas Bauer

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Falling« bei Avid Reader Press, an imprint of Simon & Schuster, Inc., New YorkDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung April 2022

Copyright © der Originalausgabe 2021 by T. J. Newman

Published by arrangement with the original publisher, Avid Reader Press, an imprint of Simon & Schuster, Inc., New York

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH, München, unter Verwendung einer Gestaltung von David Litman © 2021 Avid Reader Press / Simon & Schuster

Umschlagmotiv: Ingo Vogelmann/EyeEm/Getty Images, Malorny/Getty Images

Redaktion: Claudia Alt

AB · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-28609-5V002

www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Für meine ElternKen und Denise Newman

Was hat Gott getan!

Viertes Buch Mose, 23,23

In dem Schuh, der auf ihrem Schoß landete, steckte noch ein Fuß.

Sie kreischte und schleuderte ihn weg. Das blutige Etwas schwebte kurz schwerelos in der Luft, bevor es durch das riesige Loch seitlich im Rumpf aus dem Flugzeug gesaugt wurde. Auf dem Boden neben ihrem Sitz kroch eine Flugbegleiterin durch den Gang und schrie die Passagiere an, sie sollten ihre Sauerstoffmasken aufsetzen.

Bill beobachtete das alles aus dem hinteren Bereich des Flugzeugs.

Die Passagierin mit dem Schuh verstand offenbar nicht, was die junge Flugbegleiterin brüllte. Wahrscheinlich hörte sie seit der Explosion überhaupt nichts mehr. Ihr flossen aus beiden Ohren dünne Blutrinnsale.

Die Druckwelle hatte die Flugbegleiterin in die Luft geschleudert, dann war sie mit ihrem braunen Lockenkopf auf dem Boden aufgeschlagen. Sie blieb einen Moment regungslos liegen, bis die Maschine in den Sturzflug ging. Als sie durch den Gang rutschte, streckte sie die Hand nach den Metallsprossen der Passagiersitze aus. Sie bekam eine davon zu fassen, ihr Arm zitterte, als sie versuchte, sich gegen die Abwärtsneigung des Flugzeugs nach oben zu ziehen. Dabei kippte sie zur Seite, und ihre Füße baumelten in der Luft. Überall im Flugzeug flogen Dinge herum, Papier und Kleidungsstücke, ein Laptop, eine Getränkedose. Eine Babydecke. Es war wie inmitten eines Tornados.

Bill folgte dem Blick der Flugbegleiterin durch die Kabine … und sah den Himmel.

Wo sich keine halbe Minute zuvor noch der Notausgang über der Tragfläche befunden hatte, schien jetzt durch ein großes Loch die Sonne herein. Die andere Flugbegleiterin hatte eben noch dort haltgemacht, um Abfall einzusammeln.

Bill hatte die ältere rothaarige Flugbegleiterin lächeln und mit behandschuhter Hand einen leeren Becher in einen Plastiksack werfen sehen – dann, einen explosiven Moment später, war sie weg gewesen. Die ganze Sitzreihe war verschwunden. Die Seite des Flugzeugrumpfs war verschwunden. Bill stellte sich breitbeiniger hin, als die Maschine zu schlingern begann, da sie offenbar keinen geraden Kurs mehr halten konnte. Natürlich, das Seitenruder, dachte er. Wahrscheinlich war das ganze Heck beschädigt.

Über dem Kopf der brünetten Flugbegleiterin gingen mit einem Krachen mehrere Gepäckfächer auf. Gepäckstücke fielen heraus und wurden in der Kabine heftig umhergeschleudert. Ein großer rosafarbener Rollkoffer schoss nach vorn, angesaugt von dem Loch im Rumpf. Auf dem Weg nach draußen prallte er gegen den Rand der Öffnung und riss ein Stück der Außenhaut des Flugzeugs mit. Das Gitterwerk der freigelegten Verstrebungen zeugte von menschlicher Ingenieurskunst vor dem Hintergrund des Himmels. Hinter den schlackernden Kabeln, die gelbe und orangefarbene Funken sprühten, sprenkelten Wolken die Aussicht. Die grelle Sonne ließ Bill blinzeln.

Das Flugzeug nahm wieder eine horizontale Lage ein, worauf es der Flugbegleiterin auf dem Boden gelang, auf alle viere zu kommen. Bill beobachtete, wie sie mit ihrem Körper kämpfte, der sich weigerte, ihr zu gehorchen. Sie schaffte es, ein Bein nach vorn zu ziehen, um dann festzustellen, dass der Knochen aus ihrem Oberschenkel ragte. Sie starrte die blutende Wunde an, kniff ein paarmal die Augen zusammen, dann kroch sie weiter.

»Masken!«, schrie sie, während sie im Gang zum Heck des Flugzeugs robbte. Ihre Stimme war wegen der ohrenbetäubenden Windgeräusche kaum zu hören. Sie sah zu einem Mann hinüber, der nach den Sauerstoffmasken griff. Er erwischte eine davon, doch als er sie aufsetzen wollte, riss der Luftzug sie ihm aus der Hand, und ihre Gummibänder schlackerten wie wild.

Stickiger grauer Nebel füllte die Kabine, zahllose Trümmer wirbelten umher. Eine Metalltrinkflasche flog durch die Luft und traf die kriechende Flugbegleiterin voll im Gesicht. Blut strömte ihr aus der Nase.

»Er ist angeschossen worden! Mein Mann! Hilfe!«

Bill sah zu der Frau, die mit den Fäusten auf den leblosen Torso ihres Mannes eintrommelte. Aus zwei kleinen kreisrunden Löchern auf seiner Stirn strömte es rot über seine Augen und seine Wangen. Die Flugbegleiterin zog sich an der Armlehne hoch und wischte sich die Locken aus dem Gesicht, um ihn sich aus der Nähe anzusehen.

Keine Kugeln. Es handelte sich um Nieten aus dem Flugzeugrumpf.

Das Flugzeug vibrierte heftig, der Boden verwand sich. Bill spürte, wie sich alles unter ihm bewegte. Würde der Rumpf halten? Wie viel Zeit blieb ihnen noch?

Die Flugbegleiterin kroch weiter und setzte die Hand genau in dem Moment in einem dunklen Fleck auf dem Teppichboden ab, als Bill den Urin roch. Die Flugbegleiterin sah zu dem Mann hinauf, der auf dem Gangplatz saß. Er wendete schockiert den Blick ab, während sich die Pfütze zu seinen Füßen ausbreitete.

»Eis«, stöhnte jemand.

Die Flugbegleiterin drehte sich um. Bill beobachtete, wie eine Passagierin auf der anderen Seite des Gangs der jungen Frau die Hände hinstreckte, in denen sie einen Fleischklumpen hielt. Die Flugbegleiterin zuckte zurück. Als sie aufblickte, sah sie, dass Kinn und Hals der Passagierin rot verschmiert waren.

»Eis«, wiederholte sie, und ein Schwall Blut ergoss sich aus ihrem Mund.

Bei dem Klumpen handelte es sich um ihre Zunge.

Bill warf einen Blick über die Schulter zur Rückwand und sah das Kabel des Bordtelefons im Luftzug schlackern, während die Flugbegleiterin darauf zurobbte. Dann richtete er den Blick auf die andere Seite der Bordküche. Die dritte Flugbegleiterin lag neben einem umgekippten Tetra Pak Saft verdreht auf dem Boden. Bill legte den Kopf schräg und beobachtete, wie sich die herausschwappende orangefarbene Flüssigkeit mit der roten Pfütze um ihren Körper vermischte.

Die brünette Flugbegleiterin schleppte sich endlich zum hinteren Ende des Gangs. Unter ihr knirschten Zuckertütchen und Mini-Kaffeesahnebehälter. Sie streckte eine Hand nach vorn, zuckte jedoch zurück.

Ein schwarzes Paar Anzugschuhe versperrte ihr den Weg.

Die Flugbegleiterin sah auf. Sie lag zu Bills Füßen, schwer verletzt und blutüberströmt. Ihr Mund stand offen, aber sie brachte kein Wort heraus. Bills Krawatte flatterte in der Zugluft. Die Triebwerke brüllten sie an, als forderten sie sie auf, etwas – irgendetwas – zu unternehmen.

»Aber … warum …«, stammelte die Flugbegleiterin, den Blick zu Bill hinaufgerichtet. Argwohn stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Wer hat die Kontrolle über das Flugzeug, Kapitän Hoffman?«

Bill atmete scharf ein, als wollte er etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus.

Er blickte zur geschlossenen Cockpittür am anderen Ende des Flugzeugs.

Eigentlich hätte er sich hinter dieser Tür befinden sollen.

Bill sprang über die Flugbegleiterin und sprintete durch den Gang in Richtung Cockpit. Er rannte, so schnell er konnte, doch je schneller er lief, desto größer schien die Entfernung zur Tür zu werden. Überall um ihn herum riefen ihm Passagiere zu, flehten ihn an, stehen zu bleiben und ihnen zu helfen. Er rannte weiter. Die Entfernung zur Tür wuchs stetig. Er schloss die Augen.

Dann prallte er ohne Vorwarnung gegen die Tür, stieß mit dem Kopf gegen die undurchdringliche Oberfläche. Taumelte rückwärts, hielt sich den Kopf. Benommen überlegte er, wie er in das verriegelte Cockpit gelangen konnte, doch ihm fiel nichts ein. Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür, bis seine Finger taub waren.

Schwer atmend ging er einen Schritt zurück, um gegen die Tür zu treten. Dann hörte er ein Klicken.

Die Tür wurde entriegelt und öffnete sich einen Spalt. Bill stürmte ins Cockpit.

Fast überall leuchteten rote und dunkelgelbe Warnlichter. Ein lauter Alarm kreischte unablässig, ein schrilles Geräusch, das von den beengten Platzverhältnissen noch verstärkt wurde. Er setzte sich auf seinen Sitz auf der linken Seite, auf den Sitz des Kapitäns.

Er konnte sich nur schwer auf das Display vor sich konzentrieren, da die heftigen Bewegungen des Flugzeugs die Zahlen durcheinanderwirbelten. Wohin er auch blickte, folgte ihm Rot. Jeder Knopf, jeder Schalter, jedes Display schien ihn anzuschreien.

Durch die Fenster sah er die Erde bedrohlich näher kommen.

Mach dich an die Arbeit, befahl sich Bill.

Seine Hände streckten sich vor ihm aus.

Erstarrten.

Verdammt noch mal, du bist der Kapitän. Du musst eine Entscheidung treffen. Dir läuft die Zeit davon.

Die Alarme wurden lauter. Eine Computerstimme forderte ihn wiederholt auf, die Maschine hochzuziehen.

»Wie wär’s mit asymmetrischem Schub?«

Bill wandte den Kopf. Auf dem Co-Piloten-Sitz saß sein zehnjähriger Sohn Scott. Er trug seinen Schlafanzug mit Planetenmotiv. Seine Füße reichten nicht bis zum Boden.

»Du könntest es doch wenigstens mal versuchen«, fügte der Junge mit einem Achselzucken hinzu.

Bill richtete den Blick wieder auf seine Hände. Seine Finger wollten sich nicht bewegen. Sie verharrten einfach in der Luft.

»Also gut, dann versuch’s auf die harte Tour. Geh in den Sturzflug und richte mithilfe der Geschwindigkeit die Maschine wieder aus.«

Bill drehte erneut den Kopf und sah jetzt seine Frau zurückgelehnt neben sich sitzen. Sie musterte ihn mit verschränkten Armen und einem Schmunzeln. Mit dem Schmunzeln, das sie immer dann zeigte, wenn sie beide wussten, dass sie recht hatte. Sie sah einfach umwerfend aus.

Schweiß lief ihm am Hals hinunter, während er verzweifelt versuchte, sich zu rühren und in Aktion zu treten. Doch er war immer noch vor Angst wie gelähmt. Vor Angst, die falsche Entscheidung zu treffen.

Carrie strich sich das Haar hinters Ohr, beugte sich zu ihrem Mann hinüber und legte ihm die Hand aufs Knie.

»Bill. Es wird Zeit.«

Bill setzte sich abrupt auf und schnappte nach Luft. Durch den Spalt zwischen den Vorhängen drang Mondlicht und warf einen hellen Streifen auf das Doppelbett. Er sah sich im Zimmer nach blinkenden Warnlichtern um. Er lauschte auf Alarme, hörte aber nur den Hund eines Nachbarn draußen bellen.

Er seufzte und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Wieder der gleiche Traum?«, fragte Carrie von der anderen Seite des Bettes.

Er nickte im Dunkeln.

1

Carrie schüttelte die Bettdecke auf und strich sie glatt. Der Geruch von frisch gemähtem Gras lenkte ihren Blick zum offenen Fenster. Der Nachbar auf der anderen Straßenseite wischte sich mit dem Bund seines T-Shirts das Gesicht ab, bevor er den Deckel seiner mit Gras gefüllten Mülltonne geräuschvoll schloss. Er zog die Tonne in den Garten und winkte einem vorbeifahrenden Auto zu. Die laute Musik aus dem Wagen verhallte, als dieser sich entfernte. Hinter Carrie, im Badezimmer, wurde die Dusche abgestellt.

Sie ging aus dem Zimmer.

»Mom, darf ich nach draußen?«

Scott stand mit seinem ferngesteuerten Auto in der Hand am Fuß der Treppe.

»Wo ist denn deine …?«, setzte Carrie an, während sie die Treppe hinunterging.

Elsie kam prustend hereingekrabbelt. Als das Baby bei seinem Bruder anlangte, packte es seine Shorts, zog sich daran hoch, bis es aufrecht stand, und versuchte leicht wackelnd, das Gleichgewicht zu halten.

»Hast du deinen Teller zum Spülbecken gebracht?«

»Hab ich.«

»Also gut, aber nur zehn Minuten. Du kommst wieder rein, bevor Dad geht, okay?«

Der Junge nickte und rannte zur Tür.

»Halt!«, rief Carrie ihm hinterher und setzte sich Elsie auf die Hüfte. »Schuhe.«

Das ungeplante Baby zehn Jahre nach dem ersten Kind war anfangs eine echte Herausforderung gewesen. Doch nachdem die dreiköpfige Familie gelernt hatte, zu viert zu sein, wurde Carrie und Bill bewusst, dass der Altersunterschied auch Vorteile hatte. Der große Bruder konnte das Baby im Auge behalten, wenn Carrie sich anzog oder das Bett machte. Von da an ließ sich vieles leichter bewältigen.

Carrie wischte gerade Süßkartoffel- und Avocadoreste vom Hochstuhl, als sie die Haustür aufgehen hörte.

»Mom?«, rief Scott in leicht verängstigtem Tonfall.

Als sie auf dem Weg zur Tür um die Ecke bog, sah sie Scott zu einem Mann hinaufstarren, den sie nicht kannte. Der Fremde auf der Türschwelle blickte überrascht drein, seine Hand war auf dem Weg zur Türklingel erstarrt.

»Hi«, sagte Carrie und setzte sich das Baby auf die andere Hüfte, während sie sich schützend vor ihren Sohn stellte. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich bin von CalCom«, sagte der Mann. »Sie haben wegen Ihres Internets angerufen?«

»Ach!«, rief Carrie aus und machte die Tür weiter auf. »Natürlich, kommen Sie doch rein.« Ihre erste Reaktion war ihr unangenehm, sie hoffte, dass es dem Mann nicht aufgefallen war. »Entschuldigung, ich habe noch nie erlebt, dass ein Techniker pünktlich kommt, geschweige denn zu früh. Scott!«, rief sie ihrem Sohn hinterher, der sich am Ende der Einfahrt umdrehte. »Zehn Minuten.«

Der Junge nickte und lief davon.

»Ich bin Carrie«, sagte sie, als sie die Tür schloss.

Der Techniker stellte seine Werkzeugtasche im Eingangsbereich ab, und Carrie beobachtete, wie er sich im Wohnzimmer umsah. Hohe Decken und eine Treppe ins erste Obergeschoss. Geschmackvolle Möbel und frische Blumen auf dem Couchtisch. Auf dem Kaminsims Fotos aus einem Zeitraum von mehreren Jahren, die neuesten davon bei Sonnenuntergang am Strand gemacht. Scott war eine Miniaturausgabe von Carrie: Das identisch schokoladenbraune Haar der beiden wehte in der Meeresbrise, mit einem breiten Lächeln kniffen sie ihre grünen Augen zusammen. Bill, über einen Kopf größer als Carrie, mit der damals neugeborenen Elsie auf dem Arm, deren schneeweiße Babyhaut in starkem Kontrast zu seiner südkalifornischen Bräune stand. Der Techniker drehte sich mit einem schmalen Lächeln um.

»Sam«, sagte er.

»Sam«, entgegnete Carrie und erwiderte das Lächeln, »kann ich Ihnen was zu trinken anbieten, bevor Sie loslegen? Ich wollte mir gerade eine Tasse Tee machen.«

»Tee wäre prima. Danke.«

Sie führte ihn durch die lichtdurchflutete Küche in ein mit Spielzeug übersätes zweites Wohnzimmer.

»Danke, dass Sie am Samstag kommen.« Carrie setzte Elsie wieder in den Hochstuhl. Das Baby hämmerte mit den Fäusten auf den Tisch und zeigte lachend seine wenigen Zähnchen. »Das war der einzige Termin für Wochen.«

»Ja, wir haben ziemlich viel zu tun. Wie lange funktioniert Ihr Internet schon nicht?«

»Seit vorgestern«, sagte sie und füllte den Wasserkocher. »Schwarzen oder grünen Tee?«

»Schwarzen, bitte.«

»Ist das normal, dass nur wir in unserem Haus Probleme haben?«, wollte Carrie wissen. »Ich habe ein paar Nachbarn gefragt, die auch bei CalCom sind, und bei ihnen ist alles in Ordnung.«

Sam zuckte mit den Schultern. »Das kommt vor. Vielleicht liegt es an Ihrem Router, vielleicht an der Leitung. Ich seh mir das mal an.«

Aus dem vorderen Wohnzimmer waren schwere Schritte zu hören, die die Treppe herunterkamen. Carrie waren die nun folgenden Geräusche nur allzu vertraut: ein Koffer und eine Kuriertasche, die an der Haustür abgestellt wurden, dann Schuhe mit harter Sohle, die den Flur durchquerten. Ein paar Schritte, und er stand in der Küche: polierte schwarze Anzugschuhe, akkurat gebügelte Hose, Anzugjacke und Krawatte. Über seiner Brusttasche prangte eine Pilotenschwinge, darunter stand in dicken Buchstaben BILLHOFFMAN. Eine dazu passende Schwinge schmückte die goldbesetzte Pilotenmütze, die er behutsam auf die Küchenarbeitsplatte legte. Sein Eintreten wirkte seltsam dramatisch, und Carrie stellte fest, in welchem Kontrast seine autoritäre Aura zu der Atmosphäre im Haus stand. Bislang war ihr das noch nie aufgefallen – schließlich trug er seine Uniform nicht beim Abendessen. Und wahrscheinlich lag es nur daran, dass sich eine fremde Person im Zimmer aufhielt, ein Mann, der ihn nicht kannte, der ihre Familie nicht kannte. Aus welchem Grund auch immer, heute war es nicht zu übersehen.

Bill nickte dem Techniker freundlich zu, ehe er Carrie seine Aufmerksamkeit schenkte.

Sie erwiderte seinen Blick mit zusammengekniffenen Lippen und verschränkten Armen.

»Sam, würden Sie uns bitte …?«

»Ja, ich, ähm, bereite schon mal alles vor«, sagte Sam zu Carrie und ließ die beiden allein.

Die Wanduhr zählte tickend die Sekunden. Die kleine Elsie klopfte mit ihrem speicheltriefenden Beißring so lange auf die Ablage des Hochstuhls, bis er ihr aus den Fingern rutschte und zu Boden fiel. Bill durchquerte die Küche, hob ihn auf, wusch ihn im Spülbecken und trocknete ihn mit einem Geschirrtuch, dann drückte er ihn seiner Tochter in die begierigen Hände. Hinter Carrie fing der Teekessel leise an zu pfeifen.

»Ich ruf dich über FaceTime an, wenn ich im Hotel bin, weil ich wissen will, wie das Spiel …«

»New York, oder?«, fiel Carrie ihm ins Wort.

Bill nickte. »Heute Abend New York, morgen Portland …«

»Nach dem Spiel findet eine Pizzaparty für das Team statt. Bei den drei Stunden Zeitverschiebung schläfst du bestimmt schon, wenn wir nach Hause kommen.«

»Okay, dann melde ich mich gleich morgen …«

»Wir treffen uns morgen Vormittag mit meiner Schwester und den Kids«, sagte sie. »Also mal sehen.«

Bill holte tief Luft und richtete sich auf, wobei sich die vier goldfarbenen Streifen auf seinen Schulterklappen mit seinen Schultern hoben. »Du weißt doch, dass ich nicht absagen konnte. Wenn mich irgendjemand anders gebeten hätte, dann hätte ich es getan.«

Carrie starrte auf den Fußboden. Der Teekessel fing an zu schrillen, sie schaltete die Flamme aus. Der Lärm verstummte langsam, bis abermals nur das Ticken der Wanduhr zu hören war.

Bill warf einen Blick auf die Uhr und fluchte leise. Er küsste seine Tochter auf den Kopf, dann sagte er: »Ich komme noch zu spät.«

»Du bist noch nie zu spät gekommen«, entgegnete Carrie.

Er setzte seine Mütze auf. »Ich ruf dich an, wenn ich eingecheckt habe. Wo ist Scott?«

»Draußen. Spielen. Er kommt jeden Moment rein, um Tschüs zu sagen.«

Das war ein Test, und Carrie wusste, dass Bill sich dessen bewusst war. Sie starrte ihn von der anderen Seite der unausgesprochenen Grenze an, die sie gezogen hatte. Er sah auf die Wanduhr.

»Wir sprechen uns vor dem Start«, sagte Bill und ging aus dem Zimmer.

Carrie sah ihm hinterher.

Die Eingangstür ging auf und kurz darauf wieder zu, und im Haus kehrte Stille ein. Carrie wandte sich zum Spülbecken und betrachtete das Laub der Eiche im Garten, das in der Brise flatterte. Sie hörte, wie Bill seinen Wagen anließ und wegfuhr.

Hinter ihr ertönte ein Räuspern. Sie wischte sich hastig übers Gesicht und drehte sich um.

»Tut mir leid wegen gerade eben«, sagte sie zu Sam und verdrehte verlegen die Augen. »Egal. Sie sagten schwarzen Tee.« Sie riss die Verpackung eines Teebeutels auf und hängte ihn in eine Tasse. Aus dem Teekessel stieg Dampf auf, als sie heißes Wasser in die Tasse goss. »Möchten Sie Milch und Zucker?«

Als er nicht antwortete, drehte sie sich um.

Ihre Reaktion schien ihn zu überraschen. Wahrscheinlich hatte er damit gerechnet, dass sie schreien würde. Dass sie vielleicht die Tasse fallen lassen würde. Dass sie anfangen würde zu weinen, wer weiß. Irgendein Drama hatte er bestimmt erwartet. Wenn sich eine Frau zu Hause in ihrer eigenen Küche umdrehte und sah, dass ein Mann, den sie erst seit ein paar Minuten kannte, eine Pistole auf sie richtete, war eine heftige Reaktion nur natürlich. Carrie hatte gespürt, wie sich ihre Augen reflexartig weiteten, als müsste ihr Gehirn mehr von dem Geschehen aufnehmen, um zu bestätigen, dass es tatsächlich stattfand.

Er kniff die Augen zusammen, als wollte er sagen: Im Ernst?

Carries Herz pochte in ihren Ohren, während ein kühles Taubheitsgefühl an ihrer Wirbelsäule hinunter bis in ihre Kniekehlen wanderte. Es fühlte sich an, als wäre ihr ganzer Körper, ihre ganze Existenz, auf dieses Kribbeln reduziert.

Doch das ging nur sie etwas an. Sie ignorierte die Pistole, konzentrierte sich stattdessen auf ihn und ließ sich nichts anmerken.

Elsie verzog den Mund, krähte und warf ihren Beißring mit einem Kreischen wieder auf den Fußboden. Sam machte einen Schritt auf das Baby zu. Carrie spürte, wie sich ihr unwillkürlich die Nasenflügel blähten.

»Sam«, sagte sie ruhig. »Ich weiß nicht, was Sie wollen, aber es gehört Ihnen. Alles. Ich tue alles. Aber bitte« – ihr versagte die Stimme – »bitte tun Sie meinen Kindern nichts.«

Die Haustür ging auf und knallte wieder zu. Panik stieg in Carrie auf, und sie holte Luft, um zu schreien. Sam entsicherte die Pistole.

»Ist Dad schon weg, Mom?«, rief Scott aus dem anderen Zimmer. »Sein Auto steht nicht mehr da. Darf ich weiterspielen?«

»Sagen Sie ihm, er soll reinkommen«, forderte Sam sie auf.

Carrie biss sich auf die Unterlippe.

»Mom?«, wiederholte Scott mit kindlicher Ungeduld.

»Hier bin ich«, sagte Carrie und machte die Augen zu. »Komm schnell her, Scott.«

»Darf ich draußen bleiben, Mom? Du hast doch gesagt, ich könnte …« Scott erstarrte. Sein Blick ging hektisch zwischen seiner Mutter und der Pistole hin und her.

»Scott«, sagte Carrie und winkte ihn zu sich. Der Junge ließ die Waffe nicht aus den Augen, als er durch die Küche zu ihr ging. Sie stellte sich bewusst vor ihn.

»Ihren Kindern wird nichts passieren«, sagte Sam. »Oder vielleicht doch. Aber das hängt nicht von mir ab.«

Abermals blähten sich Carries Nasenflügel. »Von wem dann?«

Sam lächelte.

Bill spürte die Blicke der Leute auf sich.

Der Grund dafür war die Uniform. Sie hatte diesen Effekt. Er wirkte darin größer.

Bill war vieles, aber alle, die ihn kannten, schienen sich einig zu sein, dass er vor allen Dingen nett war. Seine ehemaligen Lehrer und Ausbilder, seine Ex-Freundinnen und die Eltern seiner Freunde – sie alle hielten Bill für einen netten Kerl. Nicht dass ihm das etwas ausgemacht hätte. Er war nett. Aber wenn er in seine Uniform schlüpfte, veränderte sich etwas. Nett war dann nicht mehr die Haupteigenschaft.

Passagiere hoben den Kopf, als er an der endlos langen Schlange vor der Sicherheitskontrolle am Los Angeles International Airport vorbeiging, doch es bedurfte nur eines kurzen Blickes auf seine Mütze und seine Krawatte, bis sich ihre Verärgerung in Neugier verwandelte. Heutzutage kleidete sich niemand mehr so. Es handelte sich um ein Relikt aus einer Zeit, als Flugreisen noch ein seltenes Privileg waren, ein besonderes Ereignis. Absichtlich unverändert, hielt die Uniform einen gewissen antiquierten Zauber am Leben. Sie rief Respekt hervor. Sie strahlte Pflichtbewusstsein aus.

Bill näherte sich der Mitarbeiterin der Transportsicherheitsbehörde, die allein auf einem kleinen Podium saß, das sich in diskretem Abstand zur Sicherheitskontrolle für die Passagiere befand. Das Gerät piepste, als es den Barcode auf der Rückseite seines Dienstausweises scannte, und der Computer trat in Aktion.

»Morgen«, sagte Bill und reichte der Frau seinen Pass.

»Ist es noch Morgen?«, fragte sie, während sie die Angaben neben seinem Foto studierte. Sie verglich sie mit den Angaben auf seinem Dienstausweis und hielt den Pass unter ein blaues Licht, worauf im unbedruckten Bereich des Dokuments Hologramme und eine verborgene Schrift erschienen. Sie blickte auf, um sich zu vergewissern, dass das Gesicht vor ihr mit dem auf den Ausweisen übereinstimmte.

»Streng genommen wahrscheinlich nicht mehr«, entgegnete Bill. »Aber für mich ist es noch Morgen.«

»Also, für mich ist heute Freitag, deshalb soll sich der Tag beeilen.«

Auf dem Computerbildschirm erschienen das Foto und die Angaben von Bills Dienstausweis. Nachdem die Frau alle drei Identifikationsnachweise dreimal geprüft hatte, gab sie ihm seinen Pass zurück.

»Guten Flug, Mr Hoffman.«

Er entfernte sich von der Sicherheitskontrolle für das Flugpersonal und ging an den Passagieren vorbei, die ihre Schuhe wieder anzogen und Flüssigkeiten und Laptops in ihrem Handgepäck verstauten. Bei seinem letzten Trip war Bill mit einer Flugbegleiterin geflogen, die partout nicht in den Ruhestand gehen wollte, weil sie auf gar keinen Fall auf ihre Mitarbeiter-Sicherheitsfreigabe verzichten wollte. Sie rümpfte die Nase über die Vorstellung, wie eine Normalsterbliche reisen zu müssen: Schlange stehen, Flüssigkeitsbeschränkungen, nur zwei Handgepäckstücke, die jedes Mal durchsucht werden, nicht nur hin und wieder stichprobenartig. Als Bill beobachtete, wie ein Mann in Socken von Kopf bis Fuß abgetastet wurde, musste er ihr im Stillen recht geben.

Bill zog sich an ein unbesetztes Gate zurück und rief wie versprochen zu Hause an. Er sah zu, wie draußen unter ihm auf dem Rollfeld ein Cateringfahrzeug hin und her fuhr und Gepäckabfertiger in gelben Neonwesten den Frachtraum eines Flugzeugs ent- und beluden, während er dem Läuten am anderen Ende der Leitung lauschte. Eine Maschine rollte in Richtung Startbahn, in der Ferne hob eine andere ab.

Carrie und er stritten sich nicht oft. Deshalb waren sie so schlecht darin, wenn es mal dazu kam. Sie hatte allen Grund, sauer zu sein. Scott hatte heute sein Saisoneröffnungsspiel in der Little League, und Bill hatte ihm versprochen, dabei zu sein. Er hatte sichergestellt, dass er am Tag des Spiels sowie am Tag davor und am Tag danach nicht fliegen musste. Aber wenn der Chefpilot anrief und einen bat, ihm einen Gefallen zu tun und einen Flug zu übernehmen, sagte man nicht Nein. Dann konnte man einfach nicht Nein sagen. Bill war der drittdienstälteste Pilot. Als er angefangen hatte, war sich niemand sicher gewesen, ob die Fluggesellschaft überhaupt Fuß fassen würde. Neu gegründeten Airlines gelang das fast nie. Er hatte ihr trotzdem die Stange gehalten. Und jetzt, beinahe fünfundzwanzig Jahre später, war die Fluggesellschaft sowohl bei Passagieren als auch bei Aktionären ein Riesenerfolg. Coastal war sein Baby. Wenn der Boss einem also sagte, das Unternehmen bräuchte einen, dann sagte man Ja. Nein zu sagen kam einfach nicht infrage.

Genau das hatte er Carrie erklärt. Allerdings hatte er ihr nicht gesagt, dass er überhaupt nicht an Scotts Spiel gedacht hatte, als O’Malley sich erkundigt hatte, ob er verfügbar sei. Und er hatte ihr auch nicht gesagt, dass es keinen Unterschied gemacht hätte, wenn er daran gedacht hätte.

Das Telefon läutete und läutete, bis sich schließlich die Mailbox meldete: »Hi! Hier ist Carrie. Ich kann Ihren Anruf gerade …« Er legte auf und sah ein Familienfoto auf dem Display seines Telefons erscheinen, bevor er es in die Tasche steckte.

Bills Blick fiel auf sein Spiegelbild im Fenster, und er betrachtete sein volles dunkles Haar. Ein verräterisches Grau sprenkelte seine Schläfen. Seine Augen waren tiefblau.

Bill schlug auf die Klingel, die in der Mitte des Couchtischs stand.

»Augen. Meine Augen.«

»Ist das deine endgültige Antwort? Es geht ums Ganze.«

»Sie hat gesagt, sie wären wie ein See in der Nacht, durch den man schwimmt. Wenn man den Grund nicht sehen kann. Aber das macht den Reiz aus. Also, ja. Meine Augen. Endgültige Antwort.«

Carrie verschlug es die Sprache.

Bill beugte sich vor. Er roch seine eigene Bierfahne. »Das hab ich dich mal am Telefon zu einer Freundin sagen hören. Ich hab es dir aber nie erzählt. Ich liebe dich so sehr, Schatz.« Er warf Carrie eine Kusshand zu.

Die Frauen jubelten, die Männer spöttelten.

»Also gut, Carrie«, sagte die Gastgeberin der Party. »Seine Augen. War das auch deine Antwort auf die Frage, was dir an deinem Mann am besten gefällt?«

Ihre Wangen liefen rot an. Sie hielt kichernd ein Blatt Papier hoch, auf das sie ihre Antwort geschrieben hatte: sein Po.

Alle brachen in Gelächter aus. Bill lachte am lautesten von allen.

Er rückte seine Krawatte zurecht. Ich bin ein guter Mensch, rief er sich in Erinnerung. Vor seinem inneren Auge tauchte Carries enttäuschter Gesichtsausdruck auf, als er aus der Küche gegangen war. Er kniff kurz die Augen zu, dann wandte er den Blick ab und sah der startenden Maschine hinterher.

2

Bill trat von den Stufen der Fluggastbrücke auf die Rollbahn, schirmte mit der Hand die Augen ab. Herbstlaub und Morgenfrost hatten sich fast im ganzen Land breitgemacht, doch in Los Angeles herrschte endloser Sommer.

Der Rundgang, die übliche Flugzeuginspektion vor jedem Start: das Flugzeug von allen Seiten in Augenschein nehmen und nach Unregelmäßigkeiten, nach Anzeichen für Beschädigungen am Rumpf und anderen mechanischen Problemen Ausschau halten. Für die meisten Piloten handelte es sich dabei lediglich um eine weitere Vorschrift der Bundesluftfahrtbehörde. Für Bill war es wie ein religiöses Ritual. Er legte die Hand auf die Triebwerksverkleidung und schloss die Augen. Dann atmete er langsam ein und wieder aus, spreizte die Finger, und das durch die Berührung gewärmte Metall und die Hand hielten Zwiesprache.

Nächsten Monat war Bills achtzehnter Geburtstag, doch an jenem Tag in der Flugschule war er sich darüber im Klaren, dass ihm ein wichtigerer Übergangsritus bevorstand.

»Weißt du, warum wir ›Seelen an Bord‹ anstatt ›Menschen an Bord‹ schreiben, wenn wir den Flugplan erstellen?«, fragte ihn sein Fluglehrer.

Bill schüttelte den Kopf.

»Wir tun das, damit im Fall eines Absturzes klar ist, nach wie vielen Leichen zu suchen ist«, erklärte er. »Das verhindert Missverständnisse bei Bezeichnungen wie Passagiere, Crew oder Kinder. Es geht nur darum, wie viele Leichen, mein Junge. Mehr braucht man nicht zu wissen. Ach«, er schnippte mit den Fingern, »und manchmal werden im Frachtraum auch Verstorbene transportiert, deshalb muss klar sein, dass sie nicht mitgezählt werden. Also, nachdem man die Anzahl der Seelen eingetragen hat …«

Bill konnte in jener Nacht nicht schlafen. Er lag auf dem Rücken, starrte an die Decke, wo sich der Ventilator drehte, und lauschte dem leisen Schnarchen seines kleinen Bruders auf der anderen Seite des Zimmers. Die cremefarbenen Vorhänge und die warme Illinois-Sommerbrise flirteten am offenen Fenster miteinander und ließen wellige Schatten an der Wand tanzen.

Während das Zimmer noch in Dunkelheit getaucht war, zog Bill sich an, schlüpfte aus dem Haus und fuhr mit dem Fahrrad an den Maisfeldern vorbei zu dem winzigen Flugplatz der Kleinstadt. Auf der Rollbahn standen zwei Flugzeuge. In der Ferne ragte der Kontrollturm empor, leer und still. Bei den Maschinen handelte es sich um Leichtflugzeuge wie die, mit denen er das Fliegen lernte. Wie die, aus denen er herauswachsen und die er gegen schwerere Maschinen mit größeren Triebwerken und höheren Nutzlasten eintauschen würde. Bill stand lange Zeit gegen den Zaun gelehnt da und starrte sie an.

Oder starrten sie ihn an und taxierten ihn? Als die Sterne verblassten und die Morgendämmerung mit pink- und orangefarbenen Streifen anbrach, fühlte es sich an, als hätten die Zweifel die Seiten gewechselt.

Würde er die Last der Verantwortung schultern können? Konnte er der Mann sein, den der Job erforderte?

Alles machte einen guten Eindruck. Frisches Reifenprofil, abgeschmiertes Fahrwerk, richtig positionierte Sensoren, keine Brüche, keine Risse. Bill erhaschte aus den Augenwinkeln eine Bewegung und machte ein paar Schritte unter dem Flugzeug hervor. Oben im Cockpit beugte sich sein Co-Pilot Ben Miro vor, winkte ihm zu und gab ihm damit zu verstehen, dass er angekommen war. Bills Lächeln verschwand, als der junge Mann seine Yankees-Baseballmütze ans Fenster hielt. Bill schüttelte mit angewidertem Gesichtsausdruck den Kopf. Ben grinste und zeigte dem Kapitän den Mittelfinger.

Nachdem der Rundgang beendet war, stieg Bill die Stufen zur Fluggastbrücke hinauf und blickte noch einmal zurück zu seiner Maschine. Das rot-weiße Coastal-Airways-Logo auf dem Heck des Airbus A320 erfüllte ihn mit Stolz – und dann fiel ihm Carrie ein. Er tippte den Sicherheitscode der Tür ein und sah auf seinem Handy nach.

Keine verpassten Nachrichten. Keine verpassten Anrufe.

Die Tür ging hinter Bill zu, seine Augen stellten sich auf das Neonlicht ein. Er stolperte über die Tasche eines Passagiers und entschuldigte sich mit einem überraschten Lachen. Der Mann blickte finster auf ihn herab – was bemerkenswert war, da Bill selbst über einen Meter neunzig groß war. Als er sich an dem Mann vorbeischob, musterte dieser seine Uniform von oben bis unten und bedachte ihn mit einem schmalen Lächeln.

Die Passagiere standen in einer Schlange auf der Fluggastbrücke, und Bill manövrierte sich mit einem freundlichen Lächeln zwischen den Koffern und Kinderwagen hindurch. Schließlich ging er an Bord und warf im Flugzeug einen Blick nach hinten. In der Kabine war die pinkfarben-violette Stimmungsbeleuchtung eingeschaltet, die für die kultige Nachtklubatmosphäre der hippen Fluggesellschaft sorgte.

»Ich denke, wir beginnen mit dem Boarding«, sagte er zu der Flugbegleiterin, die sich auf die Zehenspitzen stellte, um in eines der Fächer der Bordküche zu greifen. Jo drehte sich um, ihre Augen leuchteten überrascht. Als Bill sich zu der zierlichen Frau mittleren Alters hinunterbeugte und sie umarmte, kitzelten ihn ihre weichen schwarzen Locken an der Wange, und von ihrer dunkelbraunen Haut stieg ein vertrauter Vanilleduft auf.

»Ich liebe diesen Duft«, sagte Jo. »Wie schon meine Mutter und meine Großmutter. Wenn ein Watkins-Mädchen dreizehn wird, versammeln sich alle Frauen der Familie, um mit ihr zu feiern. Männer dürfen nicht dabei sein, nur die Frauen. Wir setzen uns in die Küche. Wir unterhalten uns, wir kochen, wir … spüren die Generationen von Frauen.«

Ihre Art und Weise zu sprechen klang wie Musik. Bill erfreute sich an jedem in die Länge gezogenen Vokal, lauschte gebannt dem singenden Tonfall und den unvorhersehbaren Wortbetonungen. Er fragte sie oft nach ihrer Kindheit, weil er es so gerne hörte, wenn ihr verblasster osttexanischer Dialekt stärker wurde, was immer der Fall war, wenn sie über ihre Vergangenheit sprach. Bill trank sein Bier aus und signalisierte dem Barkeeper, dass sie noch eine Runde wollten.

»Ich werde nie vergessen, wie mir meine Urgroßmutter eine Dr.-Pepper-Flasche aus der Hand nahm und sie auf die Küchenarbeitsplatte stellte«, erinnerte sich Jo und lächelte in ihr Weinglas, als spielte sich dort die Erinnerung ab. »Mein Gott, die Hände dieser Frau. Sie war nicht groß, aber ihre Hände …

Jedenfalls sagte sie kein Wort, sie überreichte mir nur eine glänzende goldfarbene Schachtel mit einer königsblauen Schleife. Ich wusste, worum es sich handelte, wir alle wussten es. Ich erinnere mich, dass ich die Schleife ganz vorsichtig herunterschob, und dann machte ich die Schachtel auf, und da war er: mein eigener Flakon Shalimar. Ich roch es. Es roch nach meiner Mutter. Und nach meiner Großmutter. Es roch nach dem, was ich war, und nach der, zu der ich werden würde.«

»Wusste gar nicht, dass du heute mit dabei bist«, sagte Jo.

»Ich habe gestern Abend spontan zugesagt. Sie hatten keinen in Reserve, deshalb hat O’Malley mich gebeten einzuspringen.«

»Sieh einer an, du im Kurzwahlspeicher des Chefpiloten«, sagte sie, während sie unentwegt die einsteigenden Passagiere anlächelte.

»Genau, dir ist klar, was das bedeutet. Würdest du es Carrie bitte erklären?«

Jo zog eine Augenbraue hoch. »Na ja, das kommt drauf an. Was lässt du denn sausen, um hier sein zu können?«

»Scotts Little-League-Saisoneröffnungsspiel. Obwohl ich ihm versprochen habe zuzuschauen.«

Jo schnitt eine Grimasse.

»Ich weiß«, sagte Bill. »Aber was hätte ich machen sollen? Außerdem bin ich doch als Vater nicht ständig abwesend. Wenn ich zu Hause bin, dann bin ich wirklich zu Hause. Ich bin anwesend, ich bin da. Aber ich habe nun mal einen Job, der es mit sich bringt, dass ich weg bin, wenn ich arbeite. Ich werde es wiedergutmachen bei ihm, wenn ich zurück bin.«

Er wartete auf irgendeine Bestätigung, doch Jo fuhr damit fort, für die erste Klasse Getränke vor dem Abflug einzuschenken. Nach einer Weile blickte sie auf.

»Oh, tut mir leid, hast du noch mit mir gesprochen? Für mich hat es geklungen, als würdest du das alles deiner Frau erklären. Oder deinem Sohn. Oder … dir selbst.« Sie hob das Tablett mit den Getränken hoch. »Du liegst zwar nicht falsch, mein Lieber, aber du sprichst mit der Falschen darüber.«

Jo hatte recht. Jo hatte immer recht.

»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte sie über die Schulter, als sie ging, um die Getränke zu servieren.

»Komm schon, die Antwort darauf kennst du doch.« Bill duckte sich und betrat das Cockpit.

»Hey, Boss!«, sagte Ben. Die beiden Männer gaben sich die Hand, als Bill auf dem linken Sitz Platz nahm. Fast alle Oberflächen in dem beengten Raum waren mit schwarzen und grauen Knöpfen und Schaltern übersät. Hin und wieder ein rotes Leuchten oder ein gelbes Blinken. Diese Lämpchen waren Überbringer schlechter Nachrichten – die ungebetenen Gäste auf einem ruhigen Flug.

»Tut mir leid, dass ich so spät dran bin«, sagte Ben. »Ein Scheißverkehr in L.A., sogar samstags.«

»So was kommt vor«, entgegnete Bill. Er griff nach dem Handmikrofon in einer Halterung links neben seinem Sitz und räusperte sich. »Guten Tag, Ladys und Gentlemen, willkommen an Bord des Coastal-Airways-Direktflugs vier-eins-sechs zum John F. Kennedy International Airport in New York. Mein Name ist Bill Hoffman, und ich habe das Privileg, bei diesem Flug Ihr Kapitän zu sein. Neben mir im Cockpit sitzt mein Co-Pilot Ben Miro, dazu haben wir eine tolle Bordbesatzung, die Sie in der Kabine bedient und immer um Ihre Sicherheit bemüht ist. Jo ist für den vorderen Bereich zuständig, Michael und Kellie sind auf den hinteren Reihen für Sie da. Die Flugdauer beträgt heute fünf Stunden und vierundzwanzig Minuten, und wir erwarten einen ruhigen Flug. Zögern Sie nicht, uns wissen zu lassen, wenn wir irgendetwas tun können, um Ihnen den Flug noch angenehmer zu gestalten. Lehnen Sie sich zurück, genießen Sie das im Sitz integrierte Entertainment-System, und wie immer: Vielen Dank, dass Sie sich für Coastal Airways entschieden haben.«

»Hast du Kellie schon gesehen? Die Neue im hinteren Bereich, aus der Reserve?«, wollte Ben wissen.

»Nein, warum?«

Ben hörte auf, das Flugmanagementsystem mit Koordinaten zu füttern, um ein paar anzügliche Gesten zu machen, untermalt mit einer unzweideutigen Hüftbewegung. Bill schüttelte schnaubend den Kopf. Die Zeit vor Carrie, als er selbst noch Co-Pilot und Schürzenjäger gewesen war, lag eine gefühlte Ewigkeit zurück. Ben hörte abrupt auf, als Jo mit einer dampfenden Tasse das Cockpit betrat.

»Kaffee, mein Lieber?«, fragte sie den Co-Piloten, als sie Bill die Tasse reichte. Sie brauchte nicht zu fragen, um zu wissen, dass er ihn schwarz trank.

»Nein, danke, aber ich sage nicht Nein zu einem Drink, sobald wir in New York in der Bar sind.«

»Abgemacht«, entgegnete sie mit einem Nicken. »Wir sind hinten fast startklar, warten nur noch auf zwei Leute. Seid ihr beiden mit einem Besucher einverstanden, während wir die letzten Vorbereitungen treffen?«

Bill drehte sich um und sah einen kleinen Jungen hinter Jos Beinen hervorspähen.

»Klar, komm rein«, sagte Bill, als Jo ging. Er rutschte auf seinem Sitz zur Seite und winkte den Jungen zu sich. Sein Vater ging hinter ihm in die Hocke und flüsterte ihm aufmunternd ins Ohr.

»Er ist ein bisschen schüchtern«, sagte der Mann. »Aber er liebt Flugzeuge. Wir parken regelmäßig in der Nähe des Flughafens und sehen ihnen beim Starten und Landen zu.«

»Auf dem Parkplatz bei dem Burger-Laden in der Nähe der nördlichen Rollbahn? Das habe ich mit meinem Sohn auch immer gemacht, als er so alt war wie dieser junge Mann hier. Ab und zu machen wir es immer noch.« Bill nahm sich vor, mit Scott mal wieder dorthin zu fahren, wenn er zu Hause war. »Möchtest du wissen, wozu einige von diesen Knöpfen hier gut sind?«, fragte er den Jungen, bevor er ihm eine Einführung gab.

Ein paar Minuten später streckte Jo den Kopf ins Cockpit. Hinter ihr gingen gerade die letzten beiden Passagiere an Bord. »Wir sind startklar«, sagte sie und überreichte ihm die fertigen Dokumente.

»Tja, dann machen wir uns besser mal an die Arbeit. Schön, dass du vorbeigekommen bist. Möchtest du eine Pilotenschwinge?« Bill griff in seine Kuriertasche, die links neben seinem Sitz stand, und holte eine kleine Schwinge aus Plastik heraus. Er entfernte die Schutzfolie auf der Rückseite mit einer überschwänglichen Geste und klebte sie dem Jungen aufs T-Shirt. Der Junge blickte auf die glänzende Schwinge hinunter, lachte dann schallend und vergrub das Gesicht am Bein seines Vaters. Bill lächelte mit einem Anflug von Nostalgie, da er an die Zeit denken musste, als Scott noch so klein gewesen war, was eine Ewigkeit her zu sein schien. Der Vater formte mit den Lippen ein »Danke schön«, und die beiden gingen, um ihre Plätze einzunehmen.

Seelen an Bord, rief Bill sich in Erinnerung, als er die Zahlenangaben auf dem Loadsheet überprüfte. Er unterzeichnete das Dokument und gab es Jo zurück, die es dem wartenden Mitarbeiter der Abfertigung aushändigte. Einen Augenblick später schloss sich die Tür des Flugzeugs geräuschvoll, und die Passagiere beendeten ihre Telefongespräche und lehnten sich zurück.

»Startvorbereitungs-Checkliste, Bill?«, fragte Ben.

Bills Telefon leuchtete auf. Da er eine Nachricht von »Carrie Handy« erwartete, machte er ein finsteres Gesicht, als er stattdessen eine Werbemail von seinem Fitnessstudio vorfand.

Hinter ihnen zog Jo die Cockpittür aus der magnetischen Arretierung, die sie offen hielt.

»Kabine bereit für Pushback«, sagte sie und wartete. Bill drehte sich auf seinem Sitz um, nickte und reckte den Daumen. Daraufhin machte sie die Tür zu, und die beiden Männer waren allein.

Bill schaltete sein Telefon in den Flugmodus, sodass er für Carrie nicht mehr zu erreichen war. Seine Zeit war knapp bemessen, wie sie wusste. Nach dem Start würde er nicht mehr mit ihr sprechen können. Es war kindisch von ihm, verärgert zu sein, trotzdem war er es. Wenn sie eine Entschuldigung von ihm wollte, hätte sie ihn anrufen sollen, solange er noch am Boden war. Er würde ihr eine Nachricht schreiben, wenn sie ihre Reiseflughöhe erreicht hatten, damit würde sie sich begnügen müssen, bis sie in New York gelandet waren.

»Okay, Startvorbereitungs-Checkliste, bitte«, sagte Bill.

Ben zog die laminierte Checkliste heraus. »Flugbuch, Freigabe, Kennung …«

Bill streckte die Hand nach oben und schaltete das Anschnallzeichen aus. Die Maschine hatte ihre Flughöhe erreicht und glitt jetzt ostwärts.

»Coastal vier-eins-sechs, kontaktieren Sie L. A.-Zentrale auf eins-zwei-neun-Komma-fünf-null«, tönte das Krächzen des Fluglotsen durchs Cockpit.

»Coastal vier-eins-sechs«, identifizierte sich Bill, »L. A. auf eins-zwei-neun-Komma-fünf-null. Guten Tag.«

Ben griff nach links und drückte einen Knopf auf der unteren Konsole. Dann drehte er ihn gegen den Uhrzeigersinn, und gelbe Digitalziffern zählten herunter, bis die neue Frequenz erreicht war. Der Lotse am anderen Ende der Verbindung würde sie durch seinen Zuständigkeitsbereich leiten, bis er das Flugzeug an den Lotsen für den nächsten Streckenabschnitt übergeben würde. Die Kommunikation zwischen Flugzeug und Boden würde während der Überquerung des Landes wie ein Staffelstab weitergereicht werden.

Bill wartete, bis Ben bei 129,50 ankam, dann drückte er den Übertragungsknopf. »Guten Tag, Los-Angeles-Zentrale«, sagte er ins Mikro mit Blick auf die Konsole, auf der ihre Flughöhe, Flugrichtung und Fluggeschwindigkeit angezeigt wurden. »Coastal vier-eins-sechs meldet sich auf Flugfläche drei-fünf-null an.«

»Guten Tag, Coastal. Bleiben Sie auf drei-fünf-null«, erwiderte der Lotse. Bill steckte das Mikro in die Halterung und drückte einen Knopf auf der Konsole vor ihm. Über der Beschriftung »AP1« leuchtete eine grüne Lampe auf, die bestätigte, dass der Autopilot eingeschaltet war. Bill löste seinen Fünf-Punkt-Gurt und machte es sich in seinem Sitz bequem.

»Sir?«, sagte Jo. »Sir?«

Der Mann starrte auf den Bildschirm in der Sitzlehne vor ihm. Als Jo die Hand vor dem Bildschirm hin und her bewegte, blickte er abrupt auf, setzte hastig seinen Kopfhörer ab und nahm das Glas Wein entgegen, das sie ihm hinhielt.

»Tut mir leid«, entschuldigte er sich und richtete den Blick wieder auf den Bildschirm.

»Wichtiges Spiel?«, fragte Jo und reichte der ungefähr zwanzigjährigen Frau auf dem Erste-Klasse-Platz neben ihm ein Selters ohne Eis von ihrem Tablett.

»Soll das ein Witz sein?«, entgegnete er mit starkem New Yorker Dialekt. »Die siebte Begegnung der World Series? Ja, es ist ein wichtiges Spiel.«

»Ich nehme an, Sie drücken den Yankees die Daumen«, sagte Jo.

»Seit dem Tag meiner Geburt«, erwiderte er und setzte die Kopfhörer wieder auf, um sich die Berichterstattung vor Spielbeginn anzuhören. Die junge Frau neben ihm schickte ihrem Freund eine Nachricht. Wir landen um 22:30 Uhr. Holst du mich ab?Sie sah zu, wie seine drei Punkte arbeiteten, und lächelte, als seine Antwort eintraf.

Vier Reihen weiter hinten, in der Hauptkabine, blätterte ein Passagier in seinem Buch um. Der Lichtstrahl der Überkopflampe störte seinen Sitznachbarn auf dem Mittelplatz, der schlafen wollte. Auf der anderen Seite des Gangs klickte eine Frau auf ihrem Laptop auf »Senden«, Sekunden später traf ihre Mail in der Inbox ihres Chefs in L. A. ein. Der Mann am Fenster rutschte unruhig auf seinem Sitz herum und fragte sich, wie lange er es noch aushalten würde, bis er seine Sitznachbarn bitten musste aufzustehen, damit er auf die Toilette konnte. Hinter ihm saß, laut schnarchend mit gesenktem Kopf und offenem Mund, der »korpulente Passagier«, der die Flugbegleiter beim Boarding nach einer Sicherheitsgurtverlängerung gefragt hatte. Ein kleiner Junge spazierte an ihnen allen vorbei durch den Gang. Seine Mutter hielt ihn an seinen nach oben gestreckten Händen, damit er bei den sanften Bewegungen des Flugzeugs nicht das Gleichgewicht verlor.

Auf der anderen Seite der Cockpittür sprachen die Piloten mit der Flugsicherung und korrigierten nach Anweisung Flughöhe und Geschwindigkeit. Sie prüften die Wetterberichte auf Updates und blickten auf die riesigen Weiten vor ihnen, auf die endlosen Wüsten und die schneebedeckten Berggipfel, auf die spektakulären Landschaften der westlichen Vereinigten Staaten. Während die Maschine auf Reiseflughöhe dahinglitt, verbrachten sie den Großteil der Zeit genauso wie ihre Passagiere. Ben las auf seinem Tablet ein Buch und verschickte hin und wieder eine Textnachricht. Bill aß einen Müsliriegel und befasste sich mit dem computerbasierten Teil der halbjährlichen Schulung, die in ein paar Wochen anstand.

Auf Bills Laptop ertönte das Signal einer eingehenden Mail. Sie war von Carrie, hatte allerdings weder einen Betreff noch Text, nur ein Foto im Anhang. Komisch, dachte er, als er auf den Anhang klickte. Es war nichts Ungewöhnliches, dass sie ihm Fotos von den Kindern schickte oder von dem, was er zu Hause gerade verpasste. Doch nach ihrem verunglückten Abschied wirkte diese Geste unangebracht.

Bill kniff ein paarmal die Augen zusammen, als er das Foto betrachtete, und war jetzt noch verwirrter. Er erkannte die Couch und den Fernseher dahinter. Die Bücher und die gerahmten Bilder waren ihm ebenfalls vertraut. Er sah die Bierflasche, die er am Abend zuvor hatte stehen lassen, nachdem er und Scott die Dodgers das sechste Spiel hatten verlieren sehen, und er konnte sich die große Eiche im Garten vorstellen, die ihren Schatten auf den Fußboden ihres sonnendurchfluteten Wohnzimmers warf.

All diese Dinge ergaben für ihn einen Sinn.

Die beiden Personen, die in der Mitte des Zimmers standen, allerdings nicht.

Barfuß, mit nackten Beinen, die Arme ausgestreckt wie am Kreuz, die Hände ängstlich wie bei einer stillen, hilflosen Bitte zum Himmel hin geöffnet. Er kannte ihre Gesichter, konnte diese unter den schwarzen Kapuzen, die ihre Köpfe verdeckten, aber nicht sehen. Er musste gar nicht den pinkfarbenen Nagellack an den Zehen seiner Frau sehen, um zu wissen, dass es sich bei einer der beiden Personen um sie handelte, und er brauchte keine Bestätigung, um sich sicher zu sein, dass die dürren Beine der anderen seinem Sohn gehörten.

Bill beugte sich vor und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, was Carrie anhatte. Ihr Oberkörper steckte in einer seltsamen Weste, die vorne und hinten mit Taschen übersät war. In den Taschen befanden sich kleine Klötze, aus denen bunte Kabel ragten. Er hatte solche Westen schon in den Nachrichten in unscharfen Videoaufnahmen von Selbstmordattentätern gesehen, die ihre letzte Märtyrer-Erklärung kundtaten. Doch in diesem Moment war sein Gehirn nicht in der Lage, den Anblick seiner Frau zu verarbeiten, der etwas derart Perverses umgeschnallt worden war.

Sein Mund wurde trocken. Alles drehte sich, und er stützte sich mit einer Hand auf dem Klapptisch ab. Er schloss für ein paar Sekunden die Augen und hoffte, dass das Foto verschwunden sein würde, wenn er sie wieder öffnete. Oder dass er aufwachen und feststellen würde, dass alles nur ein Traum gewesen war. Vielleicht konnte er irgendwie noch einmal von vorn anfangen. Oder sich einfach in Luft auflösen.

Als er die Augen wieder aufmachte, glaubte er, sich übergeben zu müssen.

Das Foto von seiner Frau, die eine Sprengstoffweste trug und neben ihrem Sohn in ihrem eigenen Wohnzimmer stand, war immer noch da.

In seiner Inbox traf eine weitere Mail ein.

Setzen Sie Ihren Kopfhörer auf.

Dann poppte auf dem Bildschirm ein eingehender FaceTime-Anruf auf.

3

Bill durchwühlte seine Kuriertasche, bis er die Kopfhörer fand, und fummelte ihren Stecker in die winzige Buchse auf der Vorderseite seines Laptops. Er brauchte zwei Versuche, um sich einen der kleinen weißen Stöpsel ins linke Ohr zu stecken – die Seite, die Ben nicht sehen konnte. Seine zitternden Finger hatten Mühe, den Anruf entgegenzunehmen, da der Cursor unter ihren hektischen Berührungen verrücktspielte. Als es ihm endlich gelang, auf das grüne Symbol zu klicken, und die Verbindung hergestellt wurde, sah er, wie die Liveübertragung seines eigenen Gesichts in die linke untere Ecke wanderte.