Adam und die Jagd nach der zerbrochenen Zeit - G.Z. Schmidt - E-Book

Adam und die Jagd nach der zerbrochenen Zeit E-Book

G.Z. Schmidt

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Beschreibung

Kann man die Vergangenheit ändern? G.Z. Schmidts magisches Zeitreise-Abenteuer – ein atmosphärischer, zum Mitfiebern spannender Schmöker für alle, die fantastische Geschichten lieben

Ein magisches Versprechen stellt Adams Welt auf den Kopf. „Dir stehen fantastische Dinge bevor“, prophezeit ihm ein mysteriöser Mann, kurz bevor Adam auf dem Dachboden eine verstaubte Schneekugel findet. Als er sie schüttelt, geschieht Unfassbares: Adam reist in der Zeit zurück! Mal ist es 1922, dann 1935, ein andermal 1967. Nach und nach stellt Adam eine Verbindung zwischen den Zielen seiner Zeitreisen her. Sie alle scheinen mit einer alten Legende zu tun zu haben: Drei magische Gegenstände machen es möglich, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu beeinflussen. Einer davon ist Adams Schneekugel. Nun ist es an ihm, die beiden anderen Gegenstände zu finden – bevor sie in die Hände gefährlicher Gegenspieler fallen.

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Über das Buch

Kann man die Vergangenheit ändern? G.Z. Schmidts magisches Zeitreise-Abenteuer — ein atmosphärischer, zum Mitfiebern spannender Schmöker für alle, die fantastische Geschichten liebenEin magisches Versprechen stellt Adams Welt auf den Kopf. »Dir stehen fantastische Dinge bevor«, prophezeit ihm ein mysteriöser Mann, kurz bevor Adam auf dem Dachboden eine verstaubte Schneekugel findet. Als er sie schüttelt, geschieht Unfassbares: Adam reist in der Zeit zurück! Mal ist es 1922, dann 1935, ein andermal 1967. Nach und nach stellt Adam eine Verbindung zwischen den Zielen seiner Zeitreisen her. Sie alle scheinen mit einer alten Legende zu tun zu haben: Drei magische Gegenstände machen es möglich, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu beeinflussen. Einer davon ist Adams Schneekugel. Nun ist es an ihm, die beiden anderen Gegenstände zu finden — bevor sie in die Hände gefährlicher Gegenspieler fallen.

G. Z. Schmidt

Adam und die Jagd nach der zerbrochenen Zeit

Aus dem Englischen von Reiner Pfleiderer

Hanser

Für Emily, meine erste Leserin

1

New York City, 1999

Etwa zwei Stunden vor Mitternacht erschien auf einem der belebten Gehwege Manhattans wie aus dem Nichts ein Mann im Regenmantel. Sein plötzliches Auftauchen hätte eigentlich für Verwunderung sorgen müssen, doch niemand nahm von ihm Notiz. In diesem besonderen Teil New Yorks wimmelte es rund um die Uhr von Autos und Menschen, sodass in dem Gewusel niemand den anderen wirklich wahrnahm. Alle hatten zu tun, und nicht einmal ein Fremder, der im Schatten herumlungerte — obwohl er sich buchstäblich aus dem Nichts materialisiert hatte —, weckte an diesem Oktoberabend ihr Interesse.

Der Mann im Regenmantel ging mehrere Blocks weit bis zu einer Kreuzung, an der eine kopfsteingepflasterte Seitenstraße abzweigte, die in ein ruhigeres Viertel führte. Dort blieb er stehen und sah sich mit einem stillen Schmunzeln um.

Hätte sich jemand die Mühe gemacht, einen Blick auf ihn zu werfen, so hätte er sich darüber gewundert, dass der Mantel des Mannes vor Nässe triefte, obwohl es an dem Tag nirgendwo in der Nähe geregnet hatte. Noch merkwürdiger hätte er gefunden, dass der Mann etwas in den Händen hielt, das wie eine Schneekugel aussah, und es zärtlich an sich drückte wie ein geliebtes Haustier.

Aber New York war voller seltsamer Vögel, sodass sich auch darum niemand kümmerte.

Was schade ist, denn wäre einer der Passanten stehen geblieben und hätte ihn gefragt, wer er sei und was er hier tue, so hätte er seine Antwort am seltsamsten von allem gefunden.

Denn unser Freund im Regenmantel dürfte eigentlich noch gar nicht existieren.

2

Der Besucher im Regenmantel

An der Ecke derselben kopfsteingepflasterten Straße war eine kleine Bäckerei namens Biscuit Basket.

Fragt jemanden aus der Nachbarschaft, und er wird euch antworten, der Biscuit Basket sei »durchaus zufriedenstellend, und jetzt gehen Sie mir bitte aus dem Weg«. Aber das ist eine grobe Untertreibung, denn die Backwaren, die es dort zu kaufen gab, waren weit besser als der Durchschnitt.

Am frühen Morgen, wenn die Sonne noch kaum die gläsernen Wolkenkratzer am East River färbte, wehte der Duft von frisch gebackenem Brot und Schokocroissants aus dem kleinen Backsteinhaus und erfüllte jeden Winkel der Straße.

Doch trotz der verlockenden Gerüche und eines erstklassigen Angebots hatte die Bäckerei nur eine spärliche Anzahl von Kunden. An guten Tagen schauten am Vormittag ein oder zwei Erwachsene vorbei, um vor der Arbeit noch schnell einen Zuckerdonut zu kaufen. Am Nachmittag umlagerten Kinder, eben aus der Schule gekommen, mit klimperndem Taschengeld in den Hosentaschen die bunte Pracht der Cupcakes in der Auslage. Und natürlich schauten gelegentlich auch ältere Damen mit großen, ausgefallenen Hüten vorbei, die für ihren an jedem dritten Dienstagabend im Monat stattfindenden Lesezirkel zwei Pfirsichaufläufe brauchten, und zwar »sofort, wenn ich bitten darf«.

Doch an schlechten Tagen kamen fast gar keine Kunden. An solchen Tagen konnte man den Bäcker — einen stämmigen Mann mit beginnender Glatze und dem Namen Henry — dabei sehen, wie er sorgenvoll hinter dem Ladentisch ausharrte, zum hundertsten Mal die Kuchen im Schaufenster umräumte oder im Bemühen, neue Kunden zu gewinnen, Passanten kostenlos Erdbeer-Mandel-Törtchen zum Probieren anbot.

An Henry lag es nicht. Ganz egal, wie fest er den Teig knetete oder wie schnell er die Sahne steif schlug, der Biscuit Basket schien einfach nicht genügend Kundschaft an seine Straßenecke locken zu können. Jedenfalls nicht, solange es nur zwei Straßen weiter ein riesiges Süßwarengeschäft, ein Café und zwei andere Bäckereien gab.

Und so blickte Henry an solchen schlechten Tagen wehmütig auf das unberührte, nicht mehr ganz frische Gebäck und fragte sich, ob sein Geld wohl für die Miete reichen würde.

So ein Tag war auch jener Samstagabend, an dem unsere Geschichte beginnt. Ein paar Stunden vor dem Erscheinen des geheimnisvollen Mannes im Regenmantel hatte sich ein kalter, grauer Herbstdämmer über die Straße gelegt. Kein einziger Kunde hatte sich in die Bäckerei verirrt, in der Henry den größten Teil des Tages hinter der Theke gehockt hatte.

Schließlich wurde es Zeit zu schließen. Henry seufzte und schaute von den Dollarscheinen auf, die er soeben gezählt hatte. Wie immer war das Geld auch diese Woche knapp, doch wenigstens konnte er es sich heute leisten, einen Großteil der unverkauften Reste zu spenden, statt sie am nächsten Tag ins Regal mit der verbilligten Ware zu legen. Backwaren vom Vortag schmeckten nicht mehr so gut.

»Adam«, rief der Bäcker seinem Neffen zu, »würde es dir etwas ausmachen, das übrige Frühstücksgebäck ins Loch zu bringen?«

Henry hatte nur einen Gehilfen im Laden — seinen zwölfjährigen Neffen Adam. Adam war klein für sein Alter, hatte blasse Haut und kohlschwarze Augen. Hin und wieder konnte man einen kurzen Blick auf den schwarzen Strubbelkopf des Jungen hinter dem Fenster zur Backstube erhaschen. Und wer genau aufpasste, bekam mit, wie er die bestellte Zitronencreme auf den Ladentisch schob, bevor er geräuschlos wieder nach hinten verschwand.

Wegen des Berufs seines Onkels verbrachte Adam seine Zeit entweder in der Schule oder in der Bäckerei. Aber das machte ihm nichts aus. Er hatte sowieso nicht viele Freunde. Adam war in jeder Hinsicht ein sonderbarer Junge. Aber darauf kommen wir später noch zurück.

»Überhaupt nicht, Onkel Henry«, antwortete Adam. Er klappte das Handbuch zur Mäusepflege zu, in dem er gerade gelesen hatte, packte das unverkaufte Gebäck von heute in eine große Papiertüte und marschierte damit nach draußen.

Die Sterne am Nachthimmel wurden von Wolken verdeckt, der Mond war kaum zu sehen. Adam lief bedächtig den Bürgersteig entlang und achtete darauf, dass er stets im Schein der Straßenlaternen blieb, als er sich dem Loch näherte.

Die meisten Dinge gehörten nicht in Löcher. Löcher waren feucht und dunkel und ideal für Hundeknochen, Abfälle und lästiges Getier, das nachts die Gemüsebeete der Menschen zerwühlte. Und trotzdem sprachen die meisten Leute von »dem Loch«, wenn sie das örtliche Obdachlosenheim und die darin lebenden Menschen meinten, die in der Stadt unerwünscht waren.

Wie immer wurde Adam von den verblichenen Backsteinmauern und trüben Fenstern des Lochs empfangen. Mehrere verlorene Gestalten standen vor der zerkratzten Tür, die erschöpften Gesichter halb im Schatten verborgen, die Hände in den Taschen vergraben. Keiner von ihnen erweckte den Eindruck, als hätte er irgendwann in der letzten Zeit gelächelt. Manchmal fragte sich Adam, ob sie vielleicht schon vergessen hatten, wie das ging.

Er schlappte wortlos an ihnen vorbei in das heruntergekommene Haus und weiter bis zur Küche. Ein hagerer, älterer Mann im Rollstuhl rührte in einem großen Topf, dessen Inhalt nach Kohlsuppe roch. Als er Adams Schritte hörte, wandte er dem Jungen sein braun gebranntes, wettergegerbtes Gesicht zu und schenkte ihm ein nahezu zahnloses Lächeln.

»Hallo, mein Freund«, grüßte der alte Mann.

»Hi, Victor. Sonderlieferung«, murmelte Adam und legte ihm die Tüte mit Muffins und Croissants in die ausgestreckten Hände. »Die Reste von heute.«

Victor wohnte in dem Obdachlosenheim. Die Vormittage verbrachte er auf den Straßen, wo er mit anderen Obdachlosen plauderte oder Kindern kurzweilige Geschichten erzählte. An den Abenden kochte er für die anderen. Er gehörte zu den wenigen, mit denen sich Adam gerne unterhielt. Der alte Mann witzelte nie über seine Augen oder seine Körpergröße.

Victor nahm das Gebäck dankbar entgegen und hielt die Tüte dicht an seinen struppigen Bart. »Duftet herrlich«, seufzte er und stopfte die zerknitterte Tüte in den Korb, der an seinem Rollstuhl befestigt war. Angeblich hatte er sein Bein im Kampf mit einer Bulldogge verloren. Oder war es ein Alligator gewesen? Die Geschichte ging jedes Mal anders, wenn Victor sie erzählte.

Adam nuschelte eine Antwort. Victor beugte sich vor und legte die Hand ans Ohr. »Tut mir leid, mein Junge, meine Lauscher sind nicht mehr das, was sie mal waren.«

Adam hob die Stimme. »Da ist ein Blaubeermuffin mit dabei. Die mögen Sie doch am liebsten.«

»Prima. Den muss ich mir auf die Seite legen. Weißt du, dass ich erst heute Morgen eine Dame kennengelernt habe, die Blaubeeren anbaut? In einem kleinen Garten, oben auf dem Dach ihres Mietshauses. Man stelle sich vor, wie gering die mathematische Wahrscheinlichkeit ist, dass es auf so einem Dach ein Heidelbeerbeet gibt …«

Normalerweise wäre Adam noch kurz geblieben und hätte sich von Victor berichten lassen, was er tagsüber erlebt und mit wem er gesprochen hatte. Der alte Mann hatte eine Art zu erzählen, die seine Zuhörer sofort in den Bann zog, selbst wenn die Geschichte nur davon handelte, wie er in den Supermarkt ging, um Milch zu kaufen.

Doch an diesem Abend lag Adam etwas auf der Seele, und er wollte so schnell wie möglich wieder nach Hause.

Victor schien seine Gedanken zu lesen. »Wie geht es Speedy?«, fragte er.

Speedy war Adams zahme Maus, die er an einem schicksalhaften Abend vor zwei Monaten aus dem Schrank in der Backstube des Biscuit Basket gerettet hatte. Onkel Henry hatte gerade einen Schwung Vanilletörtchen gebacken und suchte in dem Schrank nach einer Dose mit bunten Streuseln, als die weiße Maus hinter einem Mehlkrug hervorlugte. Bevor Onkel Henry wusste, wie ihm geschah, flitzte sie an seinem ausgestreckten Arm entlang bis auf die Arbeitsplatte. Onkel Henry, der für pelzige Nager ungefähr so viel übrighatte wie für schimmligen Kuchen, griff kurzerhand zu seinem Brotmesser. Nur Adams entsetzter Ausruf »Warte, tu ihr nichts!« verhinderte, dass der Abend für Speedy in einer Katastrophe endete.

Speedy war ein wichtiger Grund, warum Adam in der Schule keine Freunde brauchte. Was Menschenkinder konnten, konnte die Maus auch: essen, rennen, schlafen, zuhören. Außerdem konnte sie ein paar Kunststücke. Wenn Adam ihren Namen rief, kam sie auf seine Hand getrippelt und rieb ihre rosa Nase und weichen Schnurrhaare an seinen Fingern. Auf Kommando richtete sie sich auf ihre winzigen Hinterbeine auf. Und einmal war sie sogar auf einen Bleistift geklettert, den Adam hoch in die Luft hielt. Adam mochte die putzige Maus sehr, hatte Onkel Henry aber wohlweislich verschwiegen, dass er sie adoptiert hatte.

»Speedy geht es gut.« Adam mied Victors Blick und räusperte sich. »Ich muss jetzt wieder nach Hause. Bis dann.«

»Wiedersehen. Grüß deinen Onkel von mir.«

Adam und sein Onkel lebten in einer kleinen Wohnung über dem Biscuit Basket. Sie bestand aus einem Schlafzimmer von der Größe einer Abstellkammer, einer schmalen Küche, einem engen Badezimmer und einem Wohnzimmer, das geräumig hätte sein können, wenn es nicht gleichzeitig als Henrys Schlafzimmer und als Lagerraum für Backutensilien gedient hätte. Das einzig Gute an der beengten Wohnung über der Bäckerei war, dass sie in allen Ecken und Winkeln nach Gebackenem roch.

Wieder zu Hause, rannte Adam sofort in sein Zimmer hinauf. Er stieg über Tierpflegebroschüren und halb gelesene Bücher aus der Leihbibliothek hinweg, griff unter das schmale Bett und zog die alte Schuhschachtel hervor, in der Speedy schlief. Er stupste die weiße Maus sanft an, doch sie rührte sich nicht. Sie hatte den ganzen Tag noch keinen Mucks gemacht und atmete nur schwach.

»Komm schon, Junge«, flüsterte Adam, »ich hab dir etwas mitgebracht.« Er legte eine zerquetschte Blaubeere neben Speedy in die Schachtel. Laut Handbuch zur Mäusepflege enthielten Blaubeeren »Antioxidantien«, die den Körper angeblich mit gesunder Energie versorgten und stärkten. Sie sollten Speedy wieder auf die Beine helfen.

Adam wartete, aber nichts geschah.

»Adam?« Onkel Henry spähte ins Zimmer. Adam schob die Schachtel rasch hinter sich, doch zu spät: Onkel Henry hatte sie bereits bemerkt. Er seufzte.

»Adam, das haben wir doch besprochen«, sagte er. »Mäuse sind keine Haustiere.«

»Ich weiß …«

»Sie verderben das Mehl und knabbern alles an.«

»Speedy nicht. Er frisst nur den Salat und die Früchte, mit denen ich ihn füttere.«

Onkel Henry seufzte abermals und schüttelte den Kopf.

Manche Leute behaupteten, der Bäcker würde genauso aussehen wie Adams Vater. Was nicht weiter verwunderte, denn Brüder neigen nun mal dazu, einander ähnlich zu sehen. Allerdings hatte Adam seinen Vater schlanker und größer in Erinnerung, mit blonden Haaren und braunerer Haut, wohingegen Onkel Henry immer blass blieb, weil er den ganzen Tag drinnen arbeitete und zu wenig Sonne abbekam. Adam schlug eher nach seiner Mutter, die wie er dunkelhaarig und klein für ihr Alter gewesen war.

Onkel Henry öffnete den Mund, um etwas zu sagen — wahrscheinlich um ihm einen Vortrag darüber zu halten, wieso Mäuse eine Jobgarantie für Schädlingsbekämpfer waren —, doch bevor er loslegen konnte, schellte unten die Türglocke. Adam und sein Onkel tauschten einen verdutzten Blick. Die Bäckerei hatte geschlossen.

»Das wird wohl der Hausbesitzer sein«, sagte Onkel Henry mit leicht besorgter Miene.

Adam folgte ihm die Treppe hinunter. Besuche des gefürchteten Vermieters verhießen nie etwas Gutes, schon gar nicht am Abend. Beim letzten Mal hatte er eine Abmahnung vorbeigebracht, weil Onkel Henry mit der Miete in Rückstand geraten war.

Doch es war nicht der Vermieter. Vor der Tür stand ein Fremder im Regenmantel und winkte Adam und seinem Onkel vergnügt durch die Scheibe zu. In der einen Hand hielt er einen Stadtplan, und mit der anderen fuhr er sich durch die nassen, angegrauten blonden Haare.

»Tut mir furchtbar leid«, rief der Mann durch die Tür. »Ich weiß, es ist spät. Aber ich kam zufällig hier vorbei, und, nun ja, Ihre Kuchen sehen einfach fantastisch aus, wenn ich so sagen darf. Ich muss unbedingt einen haben. Oder fünf. Sie haben doch hoffentlich nicht schon geschlossen?«

Nach einem langen, trostlosen Tag ohne Kundschaft war Onkel Henry so versessen auf das mögliche Geschäft, dass er die Tür aufriss und dem Fremden förmlich die Hand küsste. Letzterer hatte sich kaum als ein gewisser J. C. Walsh vorgestellt, als der Bäcker auch schon wie ein Wasserfall zu reden anfing.

»Wir haben alle möglichen Kuchensorten«, plapperte er munter drauflos. »Möhrenkuchen, Kaffeekuchen, eine rote Samttorte, die ich Ihnen auf Wunsch jetzt gleich mit der köstlichsten Schlagsahne überziehen kann, die Sie je gekostet haben …«

»Ausgezeichnet«, antwortete der Mann im Regenmantel. »Dann hätte ich gerne eine rote Samttorte.« Und er fügte hinzu: »Aber bitte mit Buttercremeglasur, die mag ich am liebsten. Ich bezahle Ihnen auch gerne das Doppelte von dem, was Sie normalerweise verlangen würden.«

Das war mehr, als Onkel Henry verkraften konnte. Er stammelte ein »J-ja, s-selbstverständlich« und taumelte wie benommen in die Backstube. Es folgte das Klappern von Töpfen und Schüsseln, und bald stimmte in Onkel Henrys Summen das beruhigende Surren des Mixers mit ein.

Adam wollte gerade wieder die Treppe hinauf, als der Mann im Regenmantel zu seinem Erstaunen das Wort an ihn richtete.

»Du musst Adam Lee Tripp sein.«

Adam war in New York aufgewachsen und hatte gelernt, dass man in einer so großen Stadt Fremden keine persönlichen Auskünfte gab. Darum antwortete er nicht, sondern starrte den Mann nur verständnislos an, und der erwiderte seinen Blick mit einem breiten Lächeln.

»Es ist schon eine Weile her«, sagte der Mann, jetzt mit sanfterer Stimme.

Er griff in die Tasche und zog eine Schneekugel heraus. Sie enthielt eine Miniatur-Stadtlandschaft, die genauso aussah wie Manhattan, berieselt mit glitzerndem Schneekonfetti. Der Mann betrachtete die Schneekugel bewundernd.

»Das, in dem Vergangnes wiederkehrt«, murmelte er. Dann hob er den Kopf, als erinnere er sich plötzlich wieder an Adams Gegenwart, und sagte: »Speedy ist krank und wird sterben, aber dir stehen große Dinge bevor.«

Adam sah den Fremden entgeistert an. Woher wusste er von Speedy? Ist er vielleicht ein Hellseher?, fragte sich Adam. Onkel Henry sagte immer, Hellseher seien Schwindler in glitzernden Umhängen, die zwanzig Dollar pro Sitzung kassierten und mit ihren Vorhersagen meist komplett danebenlagen.

»Noch ist Speedy nicht tot«, erwiderte Adam mit belegter Stimme und so leise, dass er daran zweifelte, ob der Fremde ihn verstanden hatte.

»Hast du gehört, Adam?«, hakte der Mann nach. »Dir stehen große Dinge bevor. Fantastische Dinge. Du wirst neue Freunde finden, an neuen Orten, und du wirst Reisen unternehmen, die magischer sind, als du dir je hättest träumen lassen.«

Von hinten aus der Backstube rief Onkel Henry: »Möchten Sie Zuckerrosen auf der Torte?«

»Ja, das wäre reizend!«, rief der Mann im Regenmantel zurück. Er steckte die Schneekugel wieder in die Tasche, zwinkerte Adam zu und sagte mit einem geheimnisvollen Lächeln: »Geh heute Nacht auf den Dachboden. Dort wartet das Abenteuer auf dich.«

Adam kam zu dem Schluss, dass dem Mann nicht zu trauen war.

»Äh … ist gut, Sir«, sagte er und trat einen Schritt zurück. »Wiedersehen.«

Er flitzte nach oben, bevor der andere noch etwas sagen konnte. Wieder allein, sah er sofort nach Speedy. Die Blaubeere war unberührt. Die Maus regte sich noch immer nicht.

Adam fühlte sich mau. Er spürte ein Brennen im Hals. Behutsam schob er die Schachtel wieder unters Bett. Dann kickte er das Handbuch zur Mäusepflege wütend in die Ecke, kroch unter die Bettdecke und löschte das Licht.

Er dachte noch lange über den Fremden im Regenmantel nach. Der Mann war ein Spinner. Das war ihm sofort klar geworden, als er ihn mit seinem Namen angesprochen hatte. Und dann hatte der Kerl ihn auch noch auf den Dachboden geschickt — ausgerechnet auf den Dachboden, den er von allen Räumen im Haus mit Abstand am wenigsten mochte.

Es dauerte lange, bis Adam in einen unruhigen Schlaf fiel.

Er konnte nicht ahnen, wie recht der Fremde hatte. Bald schon sollte sich sein Leben in einer Weise verändern, die er sich nicht einmal ansatzweise hätte vorstellen können.

3

Ein Abstecher auf den Dachboden

Ich habe bereits erwähnt, dass Adam ein sonderbarer Junge war.

»Adam ist ein guter Schüler«, schrieb Ms. Basil, seine Klassenlehrerin in der sechsten Klasse, in sein Halbjahreszeugnis, »aber er hat keinerlei Kontakt zu seinen Mitschülern.«

Im Jahr zuvor hatte Mr. Lemon, sein Klassenlehrer in der Fünften, bemerkt: »Adam sitzt in der Pause allein abseits und liest die ganze Zeit. Tagaus, tagein.«

Und wiederum ein Jahr davor hatte Mrs. Rosemary, seine Klassenlehrerin in der Vierten, geschrieben: »Adam hat das ganze Jahr im Unterricht kein Wort gesprochen und sich nur schüchtern gemeldet, wenn er mal auf die Toilette musste.«

Seit dem Kindergarten hielt sich Adam von anderen Kindern fern. Im Klassenzimmer suchte er sich immer einen Platz möglichst weit weg von den anderen. Beim Mittagessen saß er allein. Und wenn ihn in der Pause jemand aufforderte, bei einem Spiel mitzumachen, sei es Verstecken, Himmel-und-Hölle oder Fangen, schüttelte er immer nur den Kopf. Er zog sich in ein unsichtbares Schneckenhaus zurück.

Nun ist es mit dem Sich-Abkapseln aber so eine Sache: Tut man es zu oft, gehen die anderen im Gegenzug dazu über, einen zu meiden. Und so kam es, dass die Kinder irgendwann damit anfingen, gemeine Gerüchte über Adam zu verbreiten. Und sich Spitznamen für ihn auszudenken. Sachen von ihm verschwanden und tauchten in der Toilette wieder auf. In der Sechsten machten sich ein paar Klassenkameraden einen Spaß daraus, ihn in die Schulspinde zu schubsen, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot.

Doch zu ihrem Leidwesen war Adam nicht nur so gut wie unsichtbar, sondern auch flink, sodass es ihm in der Regel gelang, den Schlägertypen aus dem Weg zu gehen.

Die Schulpsychologin Ms. Ginger, eine resolute Dame mit feuerrotem Haar, glaubte fest daran, dass es für jedes Problem eine einfache Lösung gebe. Sie sprach mit Adam regelmäßig über seine Schüchternheit und teilte Onkel Henry unverblümt ihre unverrückbare Meinung mit.

»Als amtlich zugelassene Psychologin empfehle ich Adam, einem Verein beizutreten, damit er Kinder mit ähnlichen Interessen kennenlernen kann. Ich selbst bin ehrenamtliches Mitglied des Amateurtheatervereins. (Im Sommer führen wir übrigens unser erstes Musical auf. Ich spiele die Meerjungfrau im zweiten Akt. Bitte denken Sie daran, Karten vorzubestellen.) Na, jedenfalls weiß ich aus eigener Erfahrung, wie wunderbar außerschulische Aktivitäten sein können. Die Pfadfinder sind beispielsweise eine hervorragende Möglichkeit, den Charakter zu bilden. (Fragen Sie nur meine reizenden Söhne — wussten Sie, dass mein Ältester letzten Monat sein zweites Verdienstabzeichen bekommen hat? Ich bin sehr stolz auf ihn.) Von der schmucken Pfadfinderkluft gar nicht zu reden …«

Doch außerschulische Aktivitäten setzten Freizeit und Geld voraus, und weder mit dem einen noch mit dem anderen waren Adam und sein Onkel gesegnet. Daher trug Adam keine schmucke Kluft, sondern gebrauchte Klamotten aus Secondhandläden. Onkel Henry besaß weder ein Auto noch ein Fernsehgerät.

Aber wenigstens mussten sie nie hungern. Onkel Henry stellte neben dem Brot auch seine Pasta selbst her, weil das billiger war, als sie im Lebensmittelgeschäft zu kaufen. Oft aßen sie auch Brotreste aus der Bäckerei, die sie in Wassersuppe tunkten, damit sie nicht so altbacken schmeckten.

Adam wusste, dass sein Onkel arm war, und ging ihm zur Hand, wo er konnte. Es machte ihm nichts aus, dass er kein Taschengeld bekam wie die anderen Kinder. An seinem letzten Geburtstag hatte er sich nicht darüber beklagt, dass er kein einziges Geschenk bekam, und schon gar nicht das rote Siebengangrad, das er monatelang im Schaufenster des Fahrradgeschäfts bewundert hatte. Er machte einen Bogen um Buchläden und lieh sich Bücher umsonst in der öffentlichen Bibliothek aus. Der einzige Nachteil dabei war, dass Abenteuergeschichten mit Lese- oder Kreuzworträtseln zum Ausfüllen meistens schon vollgekritzelt waren.

Ein Vorteil war, dass Onkel Henry zu den besten Bäckern in der Umgebung gehörte, auch wenn das offenbar zu wenige Leute wussten. Adam musste zwar auf das Eis verzichten, das es in der Schulcafeteria für einen Dollar gab, doch dafür erwarteten ihn zu Hause viele Leckereien.

Nein, obwohl Adam kein Geld hatte und Mitschülern auf den Schulkorridoren aus dem Weg ging, war er kein schlechter Junge. Das habt ihr wahrscheinlich schon geahnt, seit ihr wisst, wie er Speedy in der Backstube das Leben gerettet hat.

Am Ende konnte er die Maus jedoch nicht retten.

So wie er auch seine Eltern nicht hatte retten können.

Im ersten Fall war der Verlust zwar traurig, aber überhaupt nicht verwunderlich. Denn was Adam nicht wusste: Speedy war schon eineinhalb Jahre alt gewesen, als er ihn rettete. Und Mäuse leben normalerweise nicht länger als zwei Jahre.

Und was den Unfall seiner Eltern anging, so hätte Adam die Katastrophe auf keinen Fall verhindern können. Aber ich greife vor.

Etwa eine Woche nachdem der Fremde im Regenmantel die Bäckerei besucht hatte, eröffnete Onkel Henry seinem Neffen, dass sie die Miete für diesen Monat nicht bezahlen konnten.

»Auf dem Dachboden haben wir alte Sachen, die wir nicht mehr brauchen«, sagte er, vermied es aber, Adam dabei anzusehen. »Wenn es dir nichts ausmacht, nach dem Frühstück ein paar herauszusuchen, kann ich sie später im Pfandleihhaus verkaufen …« Er verstummte verlegen.

Adam knabberte an seinem letzten Stück Toast und nickte widerwillig. Der kleine Speicher war staubig und muffig und beherbergte Dutzende herumkrabbelnde Spinnen und anderes grausliges Getier mit mehr als sechs Beinen. Adam hatte keine Angst vor Ungeziefer, konnte es aber überhaupt nicht leiden, wenn es plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte. Er konnte es grundsätzlich nicht leiden, wenn etwas wie aus dem Nichts auftauchte.

Nach dem Frühstück erklomm er die Leiter, die von ihrer Wohnung zum Dachboden hinaufführte. Vergessene Kartons und verbeulte Koffer standen verstreut auf den knarrenden Dielen. Im Licht eines weißen Sonnenstrahls, der gedämpft durch ein kleines rundes Fenster fiel, wühlte sich Adam durch den Raum. Nach halbstündiger Suche hatte er ein paar Gegenstände auf die Seite gelegt, von denen er glaubte, dass sie sich für eine anständige Summe verkaufen ließen — hauptsächlich Kerzenständer, überzähliges Silberbesteck, alte Vorhänge und rostiges Werkzeug.

Dann geschah das Unvermeidliche: Ein Karton in der Ecke erregte seine Aufmerksamkeit. Die Pappe war abgenutzt, das beschriftete Etikett darauf verblasst. Aber der vertraute Familienname war noch zu erkennen. Tripp.

Adam schlug das Herz bis zum Hals. In diesem speziellen Karton hatte er nur ein paarmal in seinem Leben gestöbert — und das aus gutem Grund. Aber heute verspürte er den Drang, ihn zu öffnen. Eine muffige Staubwolke schlug ihm entgegen, als er vorsichtig den Deckel hob. Als Entwicklungshelfer und begeisterte Reisende hatten seine Eltern eine umfangreiche Sammlung an gedruckten Landkarten und Atlanten zusammengetragen. Soweit Adam wusste, hatten sie einer Art Forscherklub angehört. In dem Karton lagen mehrere von diesen Karten und dicken Büchern, eingebettet zwischen Reisemitbringseln aus aller Welt. Adam nahm eine aus Holz geschnitzte Muschel heraus, die seine Eltern von der Küste Brasiliens mitgebracht hatten. Darunter kam ein Stück Vulkangestein aus Hawaii zum Vorschein, ein zackiger Klumpen, der eher wie ein zerknautschter schwarzer Küchenschwamm aussah. Bei ihrem Besuch der tropischen Insel hatten seine Eltern angeblich einen erloschenen Vulkan bestiegen. An den Stein schmiegte sich eine lächelnde Porzellankatze, deren Körper mit chinesischen Schriftzeichen bemalt war, ein Erbstück seiner Mutter aus ihrem Geburtsland.

Adam förderte noch verschiedene andere Gegenstände zutage und legte sie neben sich auf den Boden — Schlüsselanhänger, Kunststoffbecher, auf denen in bunten Buchstaben die Namen ferner Städte prangten, Perlenarmbänder, eine alte Eintrittskarte für einen Rummelplatz in New Jersey —, bis er die verblichene Ansichtskarte fand. Seine Eltern hatten sie ihm aus Norwegen geschickt, nur wenige Tage vor dem Unfall. Wie der Karton war die Karte an den Ecken abgestoßen, und die Tinte war an manchen Stellen verschmiert, aber Adam wusste ohnehin längst auswendig, was sie ihm geschrieben hatten:

Lieber Adam,

schöne Grüße aus Norwegen! Wir hoffen, zu Hause ist alles in Ordnung. Onkel Henry hat im Hotel eine Nachricht für uns hinterlassen, in der er uns mitteilt, dass du beim Eierlaufen im Kindergarten den zweiten Platz gewonnen hast! Wir sind ja so stolz auf dich.

Wir vermissen dich und können es nicht erwarten, nächsten Dienstag wieder zu Hause zu sein. Irgendwann, wenn du älter bist, werden wir dich auf diese Reisen mitnehmen. Dann wirst du von Flugzeugen bald ebenso die Nase voll haben wie wir! (Obwohl sie natürlich bequemer und zuverlässiger sind als andere Formen des Reisens, wenn man so sagen kann.)

Egal wo, wann und wie, wir möchten so viel Gutes auf der Welt tun, wie wir nur können. Sie ist ein so großer und erstaunlicher Ort voller Wunder. Und du weißt nie, welche dieser Wunder sie für dich bereithält oder was dich erwartet.

In Liebe

Mom und Dad

Adam würde natürlich niemals etwas von den persönlichen Sachen seiner Eltern verkaufen. Aber sie allzu lange anschauen mochte er auch nicht. Er wollte die Ansichtskarte schon in den Karton zurücklegen, doch dann stutzte er.

In einer Ecke klemmte, neben einem Atlas, eine Schneekugel. Adam erinnerte sich dunkel, sie in ihrer früheren Wohnung im obersten Fach des Bücherschranks seiner Eltern gesehen zu haben.

Die Schneekugel sah ganz gewöhnlich aus. Die Glaskugel war etwas größer als eine Grapefruit und auf einen viereckigen Holzsockel geklebt. Doch im Unterschied zu den meisten anderen Schneekugeln war das Innere des Glases leer. Es enthielt zwar eine Schicht Schneekonfetti, aber sonst nichts. An einer Ecke des Sockels war eine kleine Windrose eingraviert.

Adam musste an den unheimlichen Fremden im Regenmantel denken, der vor einer Woche mit einer Schneekugel in der Hand bei ihnen aufgetaucht war. Geh auf den Dachboden, hatte er Adam aufgefordert.

Unsinn, dachte Adam. Das hat nichts zu bedeuten. Der Mann war ein Verrückter.

Er ärgerte sich darüber, dass er an den Fremden, der erraten hatte, dass Speedy sterben würde, auch nur einen einzigen Gedanken verschwendete. Anfang der Woche hatte Onkel Henry für Speedys Begräbnis einen leeren Eierkarton vorbereitet. »Eine tote Maus kann die Kälte nicht spüren«, hatte er im vergeblichen Bemühen, Adam zu trösten, gesagt.

Da sie keinen Garten besaßen, hatten sie die Maus im Müllcontainer hinter dem Haus bestattet.

Adam legte die Erinnerungsstücke an seine Eltern in den Karton zurück. Dann stopfte er das Besteck, die Werkzeuge, Kerzenständer und alten Vorhänge, die er für Onkel Henry ausgesucht hatte, in einen Seesack, schlang den Tragegurt über die Schulter und stieg die ersten Stufen der Leiter hinunter.

Doch dann, er konnte auch nicht erklären, warum, blieb er stehen. Er setzte den Seesack ab und kehrte zu dem Karton seiner Eltern zurück.

Als er den Fuß wieder auf die Leiter setzte, hatte er die Schneekugel dabei.

Der Laden unten war leer. Adam stellte den Sack mit den Sachen vom Dachboden auf die Ladentheke, direkt über den Reihen von unverkauftem Frühstücksgebäck, das langsam altbacken wurde.

Onkel Henry werkelte in der Backstube. »Hast du was gefunden?«, rief er durchs Fenster, und als Antwort hielt Adam die Kerzenständer hoch.

Der Onkel kam mit einem Schwung glasierter Zuckerkekse herüber, die wie Mäuse geformt waren. »Die habe ich für dich gemacht. Du warst die ganze Woche so deprimiert.«

Adam begriff, dass die Kekse ihn aufmuntern sollten, wegen Speedy. Onkel Henry zuliebe biss er einen Mäuseschwanz ab und setzte eine genießerische Miene auf, aber eigentlich war ihm gar nicht nach essen zumute. Sie kauten schweigend. Der Onkel räumte die Teller weg.

»Gut, dann mach ich mich mal auf den Weg«, sagte er, hängte das Geschlossen-Schild in die Ladentür und schulterte den Seesack mit den Sachen, die Adam eingepackt hatte. »Das ist doch alles, oder?«

»Warte!« Adam sprang auf und fischte die Schneekugel aus dem Seesack. »Die nicht.« Er stellte sie auf den Ladentisch.

Als Onkel Henry gegangen war, kehrte Adam in sein kleines Zimmer zurück. Er hatte zu Hause nicht mehr viel zu tun, jetzt, wo er seine freie Zeit nicht mehr damit verbrachte, Speedy neue Kunststücke beizubringen. Also setzte er sich hin und las eine Weile in dem neuen Buch, das er sich in der Bücherei ausgeliehen hatte, doch als er an einen Abschnitt über sprechende Mäuse kam, warf er es beiseite. Er kritzelte auf einem Blatt Papier herum, aber bald verschmolzen seine Kreise und Zickzacklinien zu einem Kopf und dann zum Körper einer Comic-Maus, als hätte sich seine Hand selbstständig gemacht. Genervt knüllte er das Blatt zusammen.

Adam gab es nicht gerne zu, aber in besonders einsamen Momenten wie diesem wünschte er sich, er hätte wenigstens einen einzigen Freund. Einen Freund, der ein richtiger Mensch war wie er, mit dem er Geschichten austauschen und Witze machen konnte, wie es andere Sechstklässler taten.

Er blieb im Zimmer sitzen, bis er die Stille, in der Speedys gewohnte Kratzgeräusche fehlten, nicht mehr aushielt. Dann ging er wieder nach unten und suchte nach etwas, womit er sich ablenken konnte.

Draußen blinzelte die Nachmittagssonne träge hinter bauschigen Wolken hervor. Herbstlaub wehte über den Gehweg vor dem Laden. Adam beschloss, es zusammenzufegen — eine langweilige Arbeit, aber Onkel Henry würde es ihm danken.

Vorher aber noch einen Happen essen.

Die Croissants im Tresen sahen noch leidlich frisch aus. Adam griff nach einem mit Himbeergelee. Dann stutzte er.

Die Schneekugel auf dem Ladentisch hatte sich verändert. Sie war nicht mehr leer, sondern enthielt nun eine kleine, verschneite Stadt.

Adam betrachtete die Kugel genauer. Die Stadtlandschaft darin sah aus wie New York. Er musste wieder an J. C. Walshs Schneekugel denken.

Dir stehen große Dinge bevor. Fantastische Dinge.

Adam verbannte die Stimme aus seinem Kopf und nahm wieder die Kugel in Augenschein. Sie sah immer noch wie eine gewöhnliche Schneekugel aus, wie es sie in Spielwarengeschäften und Souvenirläden zu kaufen gab. Er zuckte mit den Achseln und schüttelte sie. Glitzerndes Schneekonfetti wirbelte im Innern des Glases.