Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen - Navid Kermani - E-Book
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Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen E-Book

Navid Kermani

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Beschreibung

Bestsellerautor und Friedenspreisträger Navid Kermani über Religion und den Sinn des Lebens – die Essenz seines Denkens und ein Aufruf zum Miteinander

"Als er im Krankenhaus lag, sollte ich Opa versprechen, dich den Islam zu lehren, wenn er nicht mehr da ist, unseren Islam, den Islam, mit dem ich aufgewachsen bin." So beginnt ein Vater Abend für Abend seiner Tochter zu erzählen – nicht nur von seiner eigenen Religion, sondern von dem, was alle Gläubigen eint, von Gott und dem Tod, von der Liebe und der Unendlichkeit um uns herum. Dieses sehr persönliche Buch ist nicht nur Verzauberung und literarisches Meisterstück, sondern ein wahrer Erkenntnisgewinn, gerade weil Navid Kermani auch ins Dunkle zu schreiben wagt und damit seiner, unserer Ratlosigkeit einen Ausdruck gibt. Und weil seine Sprache, seine Offenheit, sein Wissen aus zwei Kulturen einzigartig sind, so hell und so tief.

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Über das Buch

Bestsellerautor und Friedenspreisträger Navid Kermani über Religion und den Sinn des Lebens — die Essenz seines Denkens und ein Aufruf zum Miteinander»Als er im Krankenhaus lag, sollte ich Opa versprechen, dich den Islam zu lehren, wenn er nicht mehr da ist, unseren Islam, den Islam, mit dem ich aufgewachsen bin.« So beginnt ein Vater Abend für Abend seiner Tochter zu erzählen — nicht nur von seiner eigenen Religion, sondern von dem, was alle Gläubigen eint, von Gott und dem Tod, von der Liebe und der Unendlichkeit um uns herum. Dieses sehr persönliche Buch ist nicht nur Verzauberung und literarisches Meisterstück, sondern ein wahrer Erkenntnisgewinn, gerade weil Navid Kermani auch ins Dunkle zu schreiben wagt und damit seiner, unserer Ratlosigkeit einen Ausdruck gibt. Und weil seine Sprache, seine Offenheit, sein Wissen aus zwei Kulturen einzigartig sind, so hell und so tief.

Navid Kermani

Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen

Fragen nach Gott

Hanser

»Das Buch, das Opa sich gewünscht hat, ist kein Wettbewerb, bei dem am Ende der Islam auf Platz eins landen soll. Solche Bücher gibt es genügend, und Sieger ist zufällig immer die eigene Religion.«

Abend für Abend erzählt ein Vater seiner Tochter von der Religion — nicht nur von seiner eigenen, dem Islam, sondern von dem, was alle Religionen eint, von Gott und dem Tod, von der Liebe und der Unendlichkeit um uns herum. Und ist bald bei den großen Fragen, die sich alle Kinder stellen und viele vergessen, wenn sie erwachsen geworden sind: Warum bin ich, und warum ist nicht nichts? Und was war, bevor etwas war? Was wird sein, wenn nichts mehr ist?

Eine Verzauberung ist dieses Buch, ein poetisches Meisterstück, unglaublich persönlich und ein wahrer Erkenntnisgewinn, gerade weil Navid Kermani auch ins Dunkle zu schreiben wagt und das Vertrauen die Ratlosigkeit nicht überdeckt. Und weil seine Sprache, seine Offenheit, sein Wissen aus zwei Kulturen einzigartig sind, so hell und so tief.

»Eine der aufregendsten intellektuellen Stimmen Deutschlands.«

The New York Review of Books

Mit Raha

für Ayda

Die Unendlichkeit ringsum

Als er im Krankenhaus lag, sollte ich Opa eines Nachts versprechen, dich den Islam zu lehren, wenn er nicht mehr da ist, unseren Islam, den Islam, mit dem ich aufgewachsen bin, den Islam, den auch er als Kind in Isfahan erlebt hatte, den Islam unserer Vorfahren. In dem dunklen, fremden Zimmer dachte er an dich.

Seitdem habe ich dir dieses und jenes Buch vorgelesen, aber keines war so, wie Opa es sich gewünscht hat. Du hast viel gelernt über den Propheten und das Land, in dem er geboren wurde, über Gebote und Verbote, über Schriften, Gebete, Feste und Sitten, über den Unterschied von Sunniten und Schiiten; sogar die vier Rechtsschulen kennst du jetzt und hast eine Vorstellung, vor welchen Problemen die heutige islamische Welt steht. Aber worum es dem Islam eigentlich geht, und nicht nur dem Islam, sondern im Grunde allen Religionen, also weshalb wir von uns sagen, dass wir an Gott glauben, darüber hast du kaum etwas erfahren. Es war, als würden die Bücher die Kleidung eines Menschen beschreiben, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wer dieser Mensch überhaupt ist — sein Gesicht, sein Charakter, nicht einmal, ob er Mann oder Frau ist, jung oder alt, wo er herkommt, wovon er träumt und warum er uns liebt. Wenn in diesen Büchern die Religion überhaupt einen tieferen Sinn hatte, dann den, uns zu anständigen Menschen zu erziehen, also dass wir gerecht sind, liebevoll, hilfsbereit und so weiter. Aber kann man darauf nicht auch ohne Gott kommen?, fragtest du.

Erst stammelte ich etwas von Nächstenliebe, Barmherzigkeit, den Zehn Geboten. Als ich jedoch im Bett lag, dachte ich: Klar kann man darauf auch ohne Gott kommen. Schließlich sind Atheisten, also Menschen, die nicht an Gott glauben, deswegen keine Mörder, Diebe oder Betrüger. Und umgekehrt gibt es so viele Menschen, die an Gott glauben und dennoch ungerecht sind, hartherzig und gemein. Also muss es den Religionen noch um etwas anderes gehen als darum, wie wir unser Leben gestalten und wie wir uns gegenüber den Mitmenschen verhalten. Vielleicht geht es ihnen auch und vor allem um das Leben selbst: also was dieses Leben ist, das wir haben, und ob es nur aus dem besteht, was wir sehen.

Manche sagen: Das Leben ist, was es ist, das Ergebnis von chemischen, atomaren und genetischen Prozessen, sozusagen ein Supercomputer, der sich durch Trial and Error von selbst immer weiterentwickelt, durch Versuch und Irrtum, Auslese und Anpassung, Ursache und Wirkung. Opa gab dann stets zu bedenken, dass irgendwer diesen Computer, der alles in Gang setzt, doch gebaut und programmiert haben müsse. Und wenn die anderen beharrten: Nein, es gebe niemanden, der das Leben baut und programmiert, das entstehe von selbst und verschwinde auch wieder wie ein Tropfen Wasser, der verdampft und sich in Luft auflöst — dann sagte Opa immer: Etwas, das ist, kann nicht einfach nichts werden, weder ein Tropfen Wasser noch der Mensch oder überhaupt unsere Existenz. Und er behauptete sogar, dass die Vorstellung, etwas könne zu nichts werden, für Kinder beinah denkunmöglich sei. Und weißt du was? Ich glaube, Opa hatte sogar recht.

Es ist doch interessant, dass Kinder, wenn ich mich nicht täusche, so gut wie nie am Sinn des Lebens zweifeln, auch gar nicht groß darüber grübeln, Erwachsene hingegen sehr wohl. Oh ja, und wie sie zweifeln und grübeln! Also muss zwischen dem Kindsein und dem Erwachsensein etwas unseren Glauben erschüttern, dass alles schon seine Ordnung habe. Versuch dich selbst zu erinnern: Hast du früher, als du noch klein warst, etwa viel über den Tod nachgedacht? Doch wohl eher nicht. Du wusstest zwar, dass wir alle sterben, aber es hat dich nicht beschäftigt; es kam dir vor, als würde das Leben schon irgendwie weitergehen. Angst hattest du schon mal gar nicht, im Gegenteil: Für dich war es das Natürlichste der Welt, wenn ich vom Jenseits sprach, vom Himmel, von Engeln und vom ewigen Leben. Du konntest dir einfach nicht vorstellen, dass etwas, was ist, plötzlich nicht mehr sein soll, von einem auf den anderen Atemzug.

Erst jetzt, da dein eigener Opa gestorben ist und du auch älter geworden bist, immerhin schon zwölf, hast du den Tod von Angesicht zu Angesicht kennengelernt. Und du hast geweint am Grab. Du hast gemerkt, da stimmt etwas nicht, Opa ist jetzt weg, er wird dir nie mehr eine Geschichte erzählen, du wirst nie wieder im Sommer mit ihm ans Meer fahren. Vielleicht hast du zum ersten Mal darüber nachgedacht, dass du selbst einmal unter der Erde liegen wirst in so einem kalten, unwirtlichen Grab. Dass wir alle zu Staub werden, deine Mutter, dein Vater, deine Schwester. Und ich glaube, es ist unter anderem genau diese bewusste Begegnung mit dem Tod, die zwischen dem Kindsein und dem Erwachsensein geschieht. Es muss gar nicht unbedingt ein bestimmter Mensch sein, der stirbt; ich meine einfach die klare Einsicht, dass wir alle irgendwann nicht mehr da sein werden, niemand von uns. Und zwei, drei oder spätestens vier Generationen nach uns auch niemand mehr, der sich an uns erinnert.

Wisset, das irdische Leben ist nur ein Spiel

Und ein Scherz und ein Schmuck und ein Wettbewerb,

Wer am reichsten ist, wer die meisten Kinder hat.

Es ist wie Regen, der die Pflanzen sprießen lässt,

Und darüber freut sich das ganze Dorf.

Alsdann welken sie, und du siehst sie gelb werden und verdorren.

Und alles zerfällt.    

Sure 57,20

Sicher, unsere Ur- oder Urur- oder Urururenkel werden wissen, dass es uns mal gab — sonst gäbe es sie schließlich nicht. Aber wer wir sind, was wir denken, fühlen, träumen, was uns beschäftigt, ärgert, freut, ängstigt und begeistert, davon werden sie nicht einmal eine Ahnung haben. Wir werden einfach weg sein, wie ausgelöscht, nicht einmal unsere Namen werden noch bekannt sein, selbst der Schriftzug auf unserem Grabstein wird nach und nach verwittern, geschweige denn, dass jemand auf alten Fotos noch unsere Gesichter wiedererkennen würde. All die geliebten Menschen und ebenso wir selbst werden uns wie ein Tropfen Wasser auflösen, scheinbar zu nichts.

Diese Erkenntnis, dass nichts von uns bleibt, überläuft irgendwann einmal jeden von uns kalt. Dann fangen wir an zu zweifeln: Geht es wirklich weiter, wenn ein Mensch stirbt, wie die Eltern immer behauptet haben? Und wo war ich, als ich noch nicht auf der Welt war? Solche Fragen stellt sich früher oder später jeder Mensch, und die Antworten sind ganz verschieden. Aber vielleicht haben gar nicht die Erwachsenen recht mit ihren langen und kurzen Erklärungen, sondern die Kinder, die darauf vertrauen, dass es irgendwie schon weitergehen wird und alles seine Ordnung hat. Und der Koran und überhaupt alle Offenbarungen geben den Kindern darin recht. Sie sagen: Schaut euch doch nur mal um — glaubt ihr denn, dass das alles nur Zufall sein kann?

Schaut aufs Wasser, das ihr trinkt —

Habt ihr es aus den Wolken herabgesandt oder waren’s wir?

Wenn wir wollten, so machten wir es bitter.

Warum danket ihr denn nicht?

Schaut aufs Feuer, das ihr gezündet —

Habt ihr den Scheit erschaffen oder waren’s wir?

Wir schufen es zur Erinnerung

Und damit’s jenen dient, die durch die Wüste ziehen.

Also preise den Namen deines Herrn, der gewaltig ist.    

Sure 56,68ff.

Und als mein Blick aus dem Fenster schweifte, während wir gestern wieder ein Buch über den Islam lasen, dachte ich plötzlich, dass dort draußen mehr oder jedenfalls Wichtigeres über Gott zu lernen wäre, als dass der Koran 114 Suren enthält und welches die erste, zweite, dritte, vierte und fünfte Säule des Islams ist. Der Islam oder das Christentum oder das Judentum oder irgendeine andere Religion ist schließlich nicht in Büros entstanden, in Bibliotheken oder in Klassenzimmern. Die Religionen sind entstanden, wo Menschen sich in der Natur umgeschaut haben oder sich um ihre Liebsten sorgten, als sie selbst krank waren, hungerten oder sich verloren fühlten, bei der Geburt ihres Kindes oder beim Tod der Eltern, also mit den wichtigsten Ereignissen, die es im Leben eines Menschen gibt. Und warum? Weil sie merkten, dass sie von Unendlichkeit umgeben sind. Ja, Unendlichkeit. Der Himmel zum Beispiel, da oben, wenn du jetzt selbst mal aus dem Fenster siehst, also nicht die Erdatmosphäre, meine ich, sondern das Universum, das Weltall — hat es ein Ende? Nein, natürlich nicht. Aber kannst du dir vorstellen, dass etwas immer weitergeht, immer weiter und weiter? Überleg mal genau. Du wirst merken, dass du dir die Unendlichkeit nicht vorstellen kannst.

Oder nimm den Kastanienbaum im Hof, ja, genau den: Kannst du verstehen, dass unter Billionen und Aberbillionen Blättern, die seit Anbeginn der Welt sprießen, kein einziges dem anderen gleicht? Also nicht nur die Blätter auf dem Baum sind jedes für sich unterschiedlich, und zwar auch, wenn man alle Blätter nebeneinanderlegte, die der Baum je trug, sondern alle Blätter aller Bäume aller Zeiten — kein einziges Blatt, das je gewachsen ist oder je wachsen wird, gleicht einem anderen. Und schon wieder hast du eine Unendlichkeit, diesmal eine unendliche Vielfalt, die du zwar siehst, jedoch nicht erklären, geschweige denn selbst hervorbringen kannst. Dieses Staunen aber, das Staunen über all die Dinge, Erscheinungen und Geschehnisse auf der Welt, die du siehst, aber nicht erklären kannst, weil sie unseren begrenzten Verstand übersteigen, manche davon beängstigend, viele wunderschön — ebendieses Staunen ist der Ursprung des Islams und aller Religionen. Denn wir selbst, deine Großeltern, deine Eltern, du, deine Schwester und später einmal eure Kinder und Enkel, wir alle werden geboren und sterben irgendwann. Genauso wie die Blätter des Kastanienbaums im Hof und wie jedes Geschöpf auf Erden blühen wir auf und verwelken. Nicht einmal die Steine, die leblosen, unscheinbaren Steine, die im Hof herumliegen, hat es immer gegeben oder wird es immer geben. Irgendetwas wird vor den Steinen gewesen sein, vor den Häusern, Straßen, Kirchen unserer Stadt, vor den Hütten und Wegen, vor den Menschen, die sich hier ansiedelten, irgendein Feld, vermute ich, ein Ackerfeld, und vor den Äckern zogen sich Wiesen und Büsche entlang des Flusses, oder das Land war von Urwäldern bedeckt. Aber auch die Wiesen und Wälder hat es nicht immer gegeben, nicht einmal den Fluss. Vorher lag hier vielleicht mal Eis oder einfach nur Geröll, vielleicht war das alles auch mal ein Meer. Jedenfalls sind sogar die Steine erst allmählich entstanden, sie haben sich über Tausende oder Millionen Jahre herausgebildet, und in Tausenden oder Millionen Jahren wird nichts mehr von ihnen übrig sein. Nicht einmal von den Steinen! Das heißt, alles, was existiert, ist endlich, es beginnt und hört irgendwann auf. Der Himmel jedoch, der Himmel hört nie auf.

Wenn es die Erde nicht mehr geben wird, gibt es immer noch den Himmel, er mag dann Sterne haben oder nicht. Und genauso wenig ist die Vielfalt der Formen begrenzt, die ein Blatt annehmen kann. Die Welt könnte noch Millionen und Abermillionen Jahre fortbestehen, die Natur fände immer noch eine neue Gestalt für jedes einzelne Blatt eines jeden einzelnen Baums — genauso übrigens wie für das Gesicht, die Hände, die Zehen, ja die Fingerkuppen und meinetwegen die Wimpern eines jeden einzelnen Menschen, der jemals lebte und leben wird. Nichts, aber auch gar nichts ist sich gleich — nicht einmal die Wimpern! Das meinte ich, als ich sagte, dass uns die Unendlichkeit umgibt.

Eben hier entsteht Religion: Sie ist eine Beziehung zwischen dem Endlichen, das wir sind, und dem Unendlichen, das auch Gott genannt wird. Und darüber möchte ich also, nein, muss ich das Buch schreiben, das ich Opa versprochen habe, kurz bevor er starb. Genauer gesagt schreiben wir es zusammen, denn ich werde dir jeden Abend vorlesen, was ich mir notiere, während du in der Schule bist, und mit deinen Fragen und Einwänden fahre ich am nächsten Tag fort. Vielleicht wird es auch gar nicht nur ein Buch über den Islam, sondern über das, was allen Religionen gemeinsam ist. Mal sehen, wohin du uns führst.

Und in uns selbst

Okay, du hast recht: Wenn keine Hand der anderen gleiche, sagtest du gestern, dann seien wir doch ebenfalls unendlich. Oder genauer gesagt: dann seien wir, obwohl wir sterblich sind, Teil einer unendlichen Vielfalt. Auf die Schnelle fiel mir keine Entgegnung ein, aber heute Morgen, beim Zähneputzen, dachte ich: Jeder von uns, jedes Lebewesen trägt etwas Unendliches in sich. Man könnte auch sagen, das wäre das Göttliche in uns. Aber zugleich hat jeder von uns und ebenso jedes Blatt an dem Kastanienbaum im Hof einen Anfang und ein Ende: Wir werden geboren und wir sterben, wir wachsen und vergehen. Diese Endlichkeit ist das Irdische in uns. Das heißt, jeder Mensch und überhaupt jedes Geschöpf trägt die Beziehung zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen in sich selbst. Oder in anderen Worten: Das Göttliche ist nicht irgendetwas Äußeres, sondern liegt in uns selbst. Wir sind sterblich und damit menschlich, aber in unserer Einzigartigkeit — ja, ausgerechnet in unserer Einzigartigkeit und Unverwechselbarkeit und Unwiederholbarkeit — sind wir Teil einer unendlichen Vielfalt und damit göttlich.

Klingt jetzt wie das Wort zum Sonntag, fürchte ich. Dabei ist es eher Physik, Quantenphysik genauer gesagt. Die beschäftigt sich mit den kleinsten Bausteinen der Materie, mit Molekülen, Atomen und noch viel kleineren Elementarteilchen, Millionen Mal kleiner als alles, was wir mit dem bloßen Auge erkennen. So klein, da wird’s sogar den Physikern schummrig.

Denn eigentlich untersucht die Physik die sogenannte Realität. Realität, das kommt von lateinisch res, also »Sache« oder »Ding«. Ich kann etwas in die Hand nehmen, meinetwegen einen Apfel, und das ist die Realität. Der Apfel in der Hand ist real. Gott hingegen wäre eine Behauptung, an die du glaubst oder nicht — also Religion.

So einfach ist das allerdings nicht, jedenfalls nicht im Islam. Und auch nicht in der Physik. Denn die hat herausgefunden: Es gibt diese kleinsten Bausteine der Existenz gar nicht, jedenfalls nicht im gewohnten Sinne, als irgendetwas klar Umrissenes, geschweige denn Greifbares. Anders gesagt: Nicht nur im Weltall oder auf fernen Planeten, nicht nur in der Science-Fiction oder der Religion, nein, in jedem von uns selbst gibt es eine Wirklichkeit, die sich von allem unterscheidet, was wir kennen.

Auf der Erde sind Zeichen für die Festen im Glauben

Und in euch selbst — seht ihr denn nicht?    

Sure 51,20—21

Jene andere, innere Realität gehorcht anderen Gesetzen, sie ist anders als unsere Wirklichkeit aufgebaut, sie kann mit unseren Wörtern gar nicht richtig benannt werden. In ihr sind Teilchen gleichzeitig an verschiedenen Orten, sie reagieren aufeinander, egal wie weit sie voneinander entfernt sind, und können ohne Übergang von einem zum anderen Ort springen. Und nichts lässt sich im Voraus genau berechnen, weil das Prinzip von Ursache und Wirkung nicht immer gilt. Es ist eine Realität ohne »Sache« oder »Ding«.

Gott, wie Opa ihn mir erklärte, ist gar nicht so anders. Strenggenommen glaubte er gar nicht an ihn. Er sah Gott, er begriff Gott, also wirklich, wie du etwas mit den Händen ergreifst, er roch Gott, so wie du einen Apfel siehst, be-greifst, riechst. Ja, indem er »Gott« sprach, schuf er ihn gewissermaßen, das heißt, er gab dem, das bloß für sich besteht, einen Ausdruck, so wie auch der Apfel erst in deinem Geist zu einem »Apfel« wird. Vorher gibt es den Apfel natürlich auch, aber er hat keinen Namen, er gehört keiner Gruppe von Früchten an, er existiert einfach, nein, er »funktioniert«, erwächst aus einer Knospe, gedeiht in der Sonne, wird Nahrung für ein Tier oder fällt auf die Erde, in die er sich nach und nach zurückverwandelt. Der Mensch ist es, der dieser »Realität« einen Namen gibt, die von anderen Realitäten unterschieden ist: Apfel. Nicht Baum, nicht Birne, nicht Hand. Und im Islam ist Gott — das ist vielleicht das Wichtigste überhaupt, das mir dein Opa versucht hat nahezubringen, und meine Großeltern haben genauso gedacht — im Islam ist Gott genauso wirklich wie ein Apfel oder ein Windhauch oder meinetwegen ein Gefühl wie Liebe oder Angst. Nur anders als alles, was wir kennen. Nicht Mensch, nicht Tier, nicht Phantasie.

Ja, wie denn dann?, wirst du vermutlich fragen: Wie ist er denn, dieser Gott und wo und warum? Dabei hast du es doch gestern Abend ganz ähnlich formuliert — gut, du hast nicht die Quantenphysik aufgedeckt, aber doch ein wesentliches Prinzip von ihr, als du sagtest, dass auch wir, obwohl wir endlich sind, dennoch der Unendlichkeit angehören. Ich will versuchen, dir das zu erklären — aber Achtung, das wird ein bisschen kompliziert. Falls du schon genug hast von Physik, sei mit deinem Geist einfach zum Ende der Extrazeilen wieder zurück.

Extrazeilen über Geist und Quantenphysik!

Stell dir vor, du schaust immer genauer auf einen Gegenstand, sagen wir auf eines der Blätter des Kastanienbaums, erst aus der Nähe, dann mit der Lupe, dann unterm Mikroskop, immer weiter, du teilst das Blatt in winzige Einzelteile und spaltest eines dieser Einzelteile immer wieder und immer wieder auf, erst eine Zelle, dann ein Molekül, bis du bei den Atomen bist, aber eines dieser Atome spaltest du ebenfalls wieder auf, dann gelangst du zu den Elementarteilchen, also den Elektronen, Neutronen und Protonen. Und zu jedem Teilchen gibt es ein Antiteilchen mit entgegengesetzter Ladung, die sich ineinander verwandeln oder auch Energie freisetzen können, wenn sie zusammenstoßen. Dann heben sie sich gegenseitig auf und entsenden dafür zwei Lichtteilchen, die Photonen. Wenn du dann immer noch genauer schaust, findest du die sogenannten Quarks, die wie durch ein unsichtbares Band mit anderen Quarks verbunden sind, und dazwischen … ist nichts mehr, keine Gestalt, sondern nur noch Schwingung, Energie, Beziehung oder auch Möglichkeit, also Potentialität.

Das sind schwammige Wörter, ich weiß, aber nicht einmal die Quantenphysik, die exakteste Wissenschaft überhaupt, hat dafür eindeutige Begriffe — weil es nun einmal nicht eindeutig ist. Denn entdeckt hat sie — und das war vielleicht die größte wissenschaftliche Revolution des zwanzigsten Jahrhunderts, auf der im Grunde alle heutigen Technologien beruhen, nicht nur die Atomenergie, sondern auch Computer, Laser, Kernspintomographie, Solarenergie und das Internet bis hin zu deinem Smartphone — die Quantenphysik hat entdeckt, dass im Kern unserer Existenz nicht Materie ist, also etwas Gegenständliches, sondern etwas anderes, etwas eigentlich Unnennbares, das eben keine »Sache« und kein »Ding« mehr ist: eine Realität ohne »res«. Denn Begriffe meinen ja etwas, nach dem du greifen kannst oder das du spürst oder zumindest eingrenzen kannst. Mit Begriffen bist du in einer Welt des Entweder-oder. Entweder ist es der Apfel, oder es ist die Hand, die den Apfel hält.

Aber wenn du einen Gegenstand immer weiter aufspaltest (lieber den Apfel als die Hand!) und spaltest und immer weiter spaltest, bleibt am Ende kein Gegenstand übrig, sondern etwas, das du nicht mehr erklären, definieren, mit dem Verstand durchdringen, sondern allenfalls beobachten, beschreiben und bewundern kannst.

Zum Beispiel entdeckte man, dass sich das gleiche Elementarteilchen — also etwas noch viel Kleineres als ein Atom — wie ein Gegenstand und zugleich wie eine Welle verhält. Das geht ja überhaupt nicht, dachte das Gehirn des Quantenphysikers. Seine Messungen jedoch ergaben, dass etwas zugleich sein Gegenteil sein kann, Gegenstand und Nicht-Gegenstand. Es entzieht sich unseren Begriffen und Vorstellungen — aber es existiert. Ja, mehr noch: Im Grunde existiert nur dieses Eine, Untrennbare, Nicht-Materielle, aus dem sich alles Leben entwickelt, ähnlich wie bei einer Zellteilung eine einzige Zelle zu mehreren wird — nur dass dieses Eine eben keine Zelle ist, sondern etwas Luftigeres, Prozesshaftes.

Luftig, sagte ich eben. Das Wort ist gar nicht so unpassend, denn selbst die strenge Quantenphysik kann sich nicht anders behelfen, als dieses Eine manchmal sogar »Geist« zu nennen. Einer der Begründer der Quantentheorie, Werner Heisenberg, sagte sogar einmal, dass der griechische Philosoph Platon vollkommen recht habe: Die wirkliche Welt sei geistig, und wir sähen nur einen Schatten von ihr. Und Heisenbergs Tochter Christine berichtete, dass die Augen ihres Vaters dabei gestrahlt hätten wie die Augen eines Kindes, das sich über ein riesiges Geschenk freut. Diese Welt, so habe Heisenberg ein ums andere Mal bezeugt, diese innere Welt, die alles Äußere zusammenhält, sei von so unglaublicher Schönheit, dass es einem den Atem nehme.

Schönheit — das ist doch etwas, das du siehst oder hörst oder riechst. Also nichts Abstraktes, nichts Ausgedachtes, nicht einfach nur Leere. Und der Geist ist einerseits gestaltlos und damit unbegrenzt; zugleich jedoch ist er einem bestimmten Wesen zuzuordnen, meinetwegen auch einer Gruppe oder Epoche. Das Arabische, Persische und auch das Griechische, Englische und ebenso die indischen Sprachen fassen diesen Widerspruch genauer als das Deutsche. Denn ruh, nafs, pneuma, spirit oder atman sind alle auf die Bedeutung »Atem« oder »Windhauch« zurückzuführen. Das scheint so ein allgemeines Bewusstsein der Menschheit zu sein, dass der Atem nicht nur die elementarste Tätigkeit eines jeden Menschen ist, sondern das Grundprinzip überhaupt des Lebens. Im alten deutschen Wort »Odem«, von dem sich »Atem« herleitet, hast du noch etwas von diesem Wissen: Gott hauchte dem Menschen von seinem Odem ein, das heißt, er hauchte ihm von seinem Geist ein, er hauchte ihm Leben ein.

»Geist« in diesem Sinne ist also nicht nur etwas Spirituelles, Ungegenständliches, sondern gleichzeitig auch etwas physisch Wahrnehmbares, Spürbares, so wie die Luft. Und das Entscheidende ist — darauf hast du mich gestern aufmerksam gemacht —, dass wir alle Teil dieses selben Einen sind, das so viele Möglichkeiten enthält. Schon wenn du einatmest, bist du verbunden mit der ganzen Welt. Jedes Mal, wenn du ausatmest, nimmt die Welt Anteil an dir.

Ende der Extrazeilen über Geist und Quantenphysik!

»Geist« oder »Atem« wäre also eine zweite Umschreibung von Gott, nachdem ich gestern von Unendlichkeit gesprochen habe. Schließlich besaßen die Menschen nicht immer schon Mikroskope, geschweige denn, dass sie Atome spalten konnten. Doch sie spürten die Luft, mit der sich die Brust füllte und wieder senkte, unsichtbar, unerklärlich und dennoch wirklich. Das Wichtigste überhaupt im Leben, das Persönlichste und zugleich etwas, das in jedem Geschöpf existiert — und du hast überhaupt keine Macht darüber! Du kannst meinetwegen die Luft anhalten, aber dann atmest du umso kräftiger wieder aus. Weder konntest du selbst den ersten Atemzug bestimmen, noch wirst du Macht über den letzten Atemzug haben. Du bist vollkommen abhängig von einer äußeren Kraft, einem »Geist«, der dich mit dem ersten Atemzug erweckt, hoffentlich lange erhält, bevor er dir das Leben auch wieder nimmt. Und dieses Prinzip, dass der Mensch nach Luft schnappen muss, weil er von Natur aus leben will, gleich wie unangenehm und schwierig sein Dasein ist, findest du überall in der Natur.

Die Menschen sahen die Pflanzen und Tiere ringsherum, die wuchsen und vergingen, Sonne und Mond, die Erde und die Meere, die ihnen Nahrung boten und alle Körper an sich nahmen nach ihrem Tod, und sie spürten, die Menschen seit Anbeginn, dass die Welt nicht aus abgeschlossenen Einzelteilen besteht, sondern in allem ein gemeinsames Grundprinzip wirkt — »der Atem des Barmherzigen«, wie die Welt im Islam genannt wird. Ja, die gesamte Schöpfung ist der »Atem des Barmherzigen«. Für Opa existierte dieses Grundprinzip der Einheit, des tauhîd, so unzweifelhaft wie in der Physik etwas jenseits oder vor oder zwischen unserer gegenständlichen Welt. Nur dass du in der Religion kein Labor dafür brauchst, sondern der Blick aus dem Fenster oder ein einziger Atemzug genügt. Gott ist nichts, an was du bloß glaubst, sondern Gott ist etwas, das du erkennst, wenn du genau hinsiehst.

Folge dem nicht nach, wovon du gar nichts weißt;

Denn es sind Ohren, Augen, Herz,

Von denen einst Rechenschaft gefordert wird.    

Sure 17,36

Übrigens dein Smartphone: Wie erklärst du dir, dass du ein paar Tasten drückst, und schon bist du verbunden mit Tante Jaleh in Iran? Früher gab es Telefonleitungen, klar; und ich habe dir schon einmal die Geschichte vorgelesen, wie im neunzehnten Jahrhundert mit zwei Schiffen, die aufeinander zufuhren, das erste Kabel zwischen Europa und Amerika verlegt wurde — was für eine Sensation das damals war. Vielleicht bin ich deshalb etwas altmodisch, aber ich hatte immer gedacht, dass es statt eines Kabels heute so eine Antenne gibt, und diese Antenne sendet irgendwelche Schwingungen aus, und die wiederum lösen eine andere Schwingung aus, und so tragen sich die Schwingungen über den Äther fort bis zu einem Satelliten und von dort wieder hinab zum Handy von Tante Jaleh, ein bisschen so wie Wellen auf dem Meer. Erst vor kurzem habe ich gelernt, dass es den Äther gar nicht gibt. Das heißt, die Schwingungen haben keinen materiellen Träger, da wird überhaupt nichts in Bewegung versetzt, nicht mal der klitzekleinste Hauch. Es ist, als gäbe es die Wellen, aber überhaupt kein Meer. Und doch klingelt Tante Jalehs Smartphone in Isfahan. Wäre Gott dann das Meer, das es nicht gibt, oder die Welle, die sich dennoch von hier nach dort bewegt? Oder beides oder nichts? Denk mal drüber nach.

Opa war zwar kein Physiker, aber als Arzt hatte er auf den menschlichen Körper und überhaupt die Natur ebenfalls einen wissenschaftlichen Blick. Bestimmt hat er im Krankenhaus selbst viele Menschen behandelt, die nicht mehr geheilt werden konnten, kannte die immer größeren Möglichkeiten und die niemals überschreitbaren Grenzen der Medizin. Er sagte immer einen seltsamen Satz, den wahrscheinlich bereits sein eigener Opa gesagt hat und dessen Opa und dessen Opa und immer weiter und unsere Omas und Uromas ebenso: »Halte dich fest am Seil Gottes.« Gott ist alles und daher ewig und unbegrenzt. Aber sein Hauch ist ganz konkret. Gott ist sowohl als auch.

Ja, ich bezeuge es

Gottogott — hätte ich geahnt, dass dich die Quantenphysik begeistert, hätte ich kein Wort darüber verloren. Denn jetzt löcherst du mich mit Fragen nach Kraftfeldern, Wahrscheinlichkeitswelle, Energiequantelung. Bin ich Schriftsteller oder bin ich Stephen Hawking? Wäre ich nur beim Koran geblieben! Dann hättest du mich auch nicht nach den Wundern gefragt, sondern sie für selbstverständlich gehalten wie in anderen Geschichten auch. Du hast ja recht: Ein Smartphone ist ein technisches Gerät, das sich erklären und herstellen lässt. Aber dass Jesus ohne leiblichen Vater geboren wurde, über Wasser gegangen ist oder die Toten erweckt hat, bleibt unerklärlich — wenn es überhaupt stimmt.

Nun könnte ich mich herausreden, dass sich darüber doch die Christen den Kopf zerbrechen mögen, Jesus sei schließlich ihr Messias und nicht unserer. Zum Glück für deinen gesunden Menschenverstand und meinen erzieherischen Auftrag hat Mohammed nichts Übernatürliches vollbracht. Allerdings käme ich damit nicht weit, denn du würdest zu Recht darauf hinweisen, dass der Islam ausdrücklich die Wunder Jesu anerkennt.

Gut, könnte ich dann sagen, die Wunder seien eben nur bildlich gemeint. Mit der jungfräulichen Geburt etwa wolle die Bibel zum Ausdruck bringen, dass Jesus von Gott gesandt sei und nicht dem Samen eines Mannes entstamme. Aber damit würde ich es mir vielleicht zu einfach machen beziehungsweise wäre dein nächster Einwand vorprogrammiert: Und wieso entstamme Jesus dann der Eizelle einer Frau?

Damit ich nicht wieder dem folge, wovon ich gar nichts weiß (Sure 17,36 von gestern!) — lass uns einmal Sure 19 lesen, ab Vers 16, wo der Koran von Marias Schwangerschaft erzählt.

Und gedenke im Buch Marias:

Da sie fortging von den ihrigen

Hin zum Osten

Und sich verborgen hielt.

Ihr sandten wir unseren Geist (wörtlich: »Hauch, Atem«!),

Der als Mensch vor sie trat wohlgestalt.

»Ich flüchte mich vor dir zum Erbarmer«, rief sie:

»Vielleicht dass du Ihn fürchtest.«

»Ein Bote bin ich deines Herrn«, sagte er:

»Dass ich dir schenke einen guten Sohn.«

»Wie soll ich einen Jungen bekommen?«, fragte sie:

»Da mich kein Mann berührt hat

Und ich auch keine Hure bin?«

Da sagte der Geist: »So spricht dein Herr:

Das ist für mich ein Leichtes,

Zu einem Zeichen machen wir das Kind den Menschen

Und zu einer Barmherzigkeit von uns.

Beschlossen worden ist’s.«

Schwanger wurde sie

Und hielt sich im Verborgenen, weit entfernt.

Jetzt schrei bitte nicht gleich auf, dass das ja wohl alles kompletter Unsinn sei mit der jungfräulichen Geburt. Versuch doch erst einmal den Unterschied dieser Version zu der christlichen Erzählung zu verstehen. Dann kannst du mich immer noch für bekloppt halten. Der Unterschied liegt darin, dass die Schwangerschaft Marias innerhalb eines islamischen Weltbildes kein Wunder ist, wie wir heute Wunder verstehen, als etwas Übernatürliches. Im Koran ist die Schwangerschaft Marias nicht ungewöhnlicher als die Natur selbst. Deshalb hat sich Opa, der sonst doch immer alles so rational und wissenschaftlich betrachtete, auch nie groß gewundert, dass Jesus keinen leiblichen Vater gehabt haben soll. Warum denn auch nicht?, sagte er, wenn er hörte, wie sehr das Thema heute unter Christen diskutiert wird — und wunderte sich vielmehr über die Diskussion! Denn im Koran ist eher gemeint, dass wir die Realität einfach noch nicht genügend durchdrungen haben, wenn wir Ursache und Wirkung allein an der Oberfläche suchen und nicht die Welt des Geistes einbeziehen. Auch das Universum ist eine unbestreitbare physische Tatsache, die wir wissenschaftlich durchdringen und bis hin zum Urknall rückverfolgen können. Aber solange wir die Gründe nur innerhalb der Welt suchen, werden wir nie verstehen, warum die Welt entstanden ist.

Siehe, für Gott gleicht Jesus dem Adam;

Er schuf ihn aus Erde, alsdann sprach er zu ihm:

»Sei!«, und er war.    

Sure 3,59

Das überzeugt dich immer noch nicht? Warte mal ab, du wirst noch viel größere Wunder erleben. Nein, du hast sie schon erlebt, angefangen mit deiner Geburt. Du könntest jede mögliche Ursache zurückverfolgen, theoretisch bis an den Anfang der Zeit, ohne je dahinterzukommen, warum etwas ist und nicht nichts. Mag sein, dass die jungfräuliche Geburt tatsächlich nur ein Bild ist, eine Geschichte, eine Metapher, aber du selbst, deine Augen, deine Nase, dein Bauch, dein Lachen, das mich jedes Mal zum Lachen bringt, egal wie traurig ich gerade bin — du bist. Im Islam steht beides für ebendiese Unerklärlichkeit, die jungfräuliche Geburt genauso wie das Leben selbst: Wenn wir etwas sehen und auch unmöglich leugnen können, aber unser Verstand nicht ausreicht, um die Ursache zu erkennen. Denn das bedeutet keineswegs, dass es die Ursache nicht gibt.

Jetzt wirst du vielleicht sagen: Damals verstanden die Menschen die Ursache noch nicht. Wir heute jedoch sind weiter, wir können erklären, warum ein Mensch entsteht, von der Befruchtung über die Zellteilung bis zur Geburt. Dann frage ich dich: Aber warum gibt es die Zellteilung, warum die Zelle, warum das Atom? Wenn ich immer weiterfrage, gelange ich stets an einen Punkt, an dem selbst die Wissenschaft mit ihrem Latein am Ende ist. Die Wissenschaft, behaupte ich, kann nicht einmal die Liebe wirklich erklären, die zwei Menschen zueinander führt, so dass sie ein Kind zeugen wie dich.

Kein Wunder jedenfalls ist es, dass der Anteil von gläubigen Menschen unter Physikern oder Mathematikern, die sich in ihrer Forschung tagein, tagaus mit etwas Unvorstellbarem beschäftigen, viel höher ist als unter Soziologen oder Psychologen. Das wurde wirklich mal untersucht! Und wenn du mir das wieder nicht glaubst, googele es eben selbst. Gerade die Wegbereiter der Quantenphysik fanden über kurz oder lang fast alle zur Religion, auch wenn es nicht unbedingt das Christentum war, das Judentum oder überhaupt eine bestimmte Konfession. »Jene mit einem tiefen Gefühl verbundene Überzeugung von einer überlegenen Vernunft, die sich in der erfahrbaren Welt offenbart, bildet meinen Gottesbegriff«, sagte Albert Einstein. Einstein war nicht gläubig, obwohl, sondern weil er Wissenschaftler war. Das heißt, Wissenschaft und Glaube, Vernunft und Spiritualität ergänzten und bedingten sich für ihn gegenseitig. »Das kosmische religiöse Gefühl ist das stärkste und nobelste Gefühl der wissenschaftlichen Forschung.«

Ich weiß, dass es achtzig Jahre nach Einstein immer noch ungewöhnlich ist, Naturwissenschaft und Religion zusammenzudenken. In deiner Schule sind die Fächer vermutlich strikt getrennt, da gehört die Religion eher zur Ethik oder Philosophie. Und im gewöhnlichen Sprachgebrauch ist zumal das Wunder etwas, an das du glaubst oder eben nicht. Das Wunder durchbricht die Gesetze der Physik. Im Islam hingegen wäre das Wunder die Gesetzmäßigkeit selbst, die du hinter allen Erscheinungen erblickst. Alles, wirklich alles in dieser Schöpfung, so winzig und verloren jedes einzelne Lebewesen für sich sein mag, und selbst das Ungewöhnlichste, Willkürliche, zufällig Wirkende, Wundersame hat einen Grund. Jeder einzelne von uns.

Und die Berge, die du für unbeweglich hältst,

Wirst du wie Wolken dahingehen sehen:

Das Werk Gottes, der gefügt hat jedes Ding,

Und er ist kundig eures Tuns.    

Sure 27,88

Was meinst du, warum ich Muslim bin? Sicher, ich bin Muslim, weil meine Eltern und Vorfahren Muslime waren und mir den Islam vorgelebt, nahegelegt, mich in den Glauben eingeübt haben. Wenn ich in ein christliches Haus geboren worden wäre, wäre ich heute sehr wahrscheinlich Christ. So gesehen war es Zufall, dass ich Muslim geworden bin. Genauso wie es Zufall ist, dass dein Vater dir nicht etwa den Buddhismus ans Herz legt.

Allerdings hätte ich mich irgendwann auch gegen den Islam entscheiden können. Der Koran betont immer wieder, der Glaube müsse auf eigener Erfahrung, eigenem Denken, eigener Erkenntnis beruhen. Unter den fünf Glaubensprinzipien, den usûl, die für uns viel wichtiger sind als die berühmten fünf Säulen, arkân, mit denen in deiner Schule der Islam erklärt wurde — unter den fünf Prinzipien steht für viele Muslime als drittes die Vernunft (caql), gleich nach der Einheit Gottes (tauhîd) und dem Prophetentum (nubûwa), noch vor der Gerechtigkeit (cadl) und dem Glauben an die Auferstehung (macâd). Deshalb soll der Mensch sich im Islam auch erst mit dreizehn, vierzehn Jahren bewusst für die Religion entscheiden oder eben nicht, also sobald er mündig ist. In Sure 2,170 werden Menschen, die blind dem Glauben ihrer Väter folgen, sogar ausdrücklich kritisiert: »Doch wenn es nun so wäre, dass ihre Väter nichts begriffen?«

Täglich gibt es Nachrichten, die den Islam in kein gutes Licht rücken. In Iran, wo wir herkommen, wird das Volk im Namen des Islams unterdrückt. Im Koran selbst stoße ich auf Verse, die mich erschrecken. Warum habe ich mich nicht vom Islam abgewandt? Warum bin ich, obwohl ich so viel gereist bin, in Länder, in denen der Islam engstirnig und sogar gewalttätig ausgelegt wird, obwohl ich so viele Bücher gelesen habe, auch über andere Religionen — warum bin ich bei vollem Bewusstsein Muslim geblieben?

Jetzt wird es schon komplizierter — oder vielleicht auch nicht. Ich bin Muslim, weil ich das Glaubensbekenntnis sprechen kann, die schahâda: Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet. Wenn du diese beiden Aussagen bejahst, bist du eine Muslimin, und niemand darf deinen Glauben in Zweifel ziehen, niemand hat das Recht, dich weiter zu befragen oder dich für eine schlechte Muslimin zu halten. Alles andere, die fünf Glaubensprinzipien, die fünf Säulen, die Verbote und Gebote — sie sind wichtig, sie werden empfohlen, aber sie entscheiden nicht, ob du Muslimin bist oder nicht.

Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist sein Prophet: Das erste Bekenntnis betrifft Gott, das zweite das menschliche Verhältnis zu Gott, also die Religion. Das erste Bekenntnis besagt, dass in allen Erscheinungen dieselbe Kraft wirkt: jenseits der oder, genauer gesagt, in der Dualität, mit der wir die Wirklichkeit notwendig verstehen. In all dieser Verschiedenheit und Widersprüchlichkeit des Lebens gibt es eine Einheit, die alles mit allem verbindet, etwas Untrennbares und Schöpferisches. Das ist damit gemeint, dass es keinen Gott außer Gott gibt, also keine andere Ursache, nur diese eine, schöpferische Kraft: In allen Erscheinungen wirkt das gleiche Prinzip des tauhîd, also der Einheit Gottes. Und das zweite Bekenntnis besagt, dass sich uns in all der Verschiedenheit der Erde und der Sterne, der Menschen und Völker diese eine und überall gleiche schöpferische Kraft zeigt, wenn wir nur genau hinsehen — dass Gott sich mitteilt. Denn wenn ich Mohammed anerkenne, erkenne ich im Islam gleichzeitig auch alle anderen Propheten an, die vor ihm gesandt worden sind.

Bist du mitgekommen?

Es gibt also die Kraft nicht nur, die alles hervorbringt, nein, du kannst sie auch erkennen — diesen doppelten Gedanken drückt das Glaubensbekenntnis aus.

Nun sage ich Bekenntnis, dabei stimmt das eigentlich gar nicht. Bekenntnis ist nämlich ein sehr christlicher Begriff. Das Wort schahâda, das im Deutschen mit »Bekenntnis« übersetzt wird, bedeutet genau genommen »Zeugnis«, im Sinne von »Bezeugen«: »Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt außer Gott.« Bekenntnis, Zeugnis — das scheint nur ein kleiner Unterschied zu sein, und doch verrät er viel darüber, wie Muslime die Welt sehen. Denn Bekenntnis ist die Erklärung, einer spezifischen Lehre oder einer spezifischen Gruppe anzugehören; es ist immer ein Bekennen von etwas oder ein Eintreten für etwas. Ein Christ bekennt sich zum Christentum, das heißt, er glaubt daran. Oder ich bekenne mich dazu, Anhänger des 1.FC Köln zu sein oder Schubert zu lieben. Ich kann mich nur dann zu etwas bekennen, wenn auch andere Bekenntnisse möglich wären, zu Bayern München oder zu Helene Fischer.

Anders das Zeugnis: Bezeugen beruht auf einer Beobachtung, die objektiv vielleicht irreführend, für dich selbst hingegen so eindeutig ist wie der Apfel, den du in der Hand hältst. Ein Quantenphysiker bezeugt, dass die kleinsten Bausteine der Materie keine Materie sind. Ich bezeuge, dass eine bestimmte Sonate von Schubert mich ins Herz getroffen hat. Wenn du endlich mal ehrlich wärst, müsstest du bezeugen, dass ich besser Monopoly spiele als du — jawohl! »Bin ich nicht euer Herr?«, fragt Gott in Sure 7,171 die Menschen am Tag ihrer Schöpfung. »Ja, wir bezeugen es«, antworten die Menschen. Und Gott bekräftigt, dass es hier konkret um eine Zeugenaussage geht, also eine Tatsachenaussage vor einem Gericht:

Nun nehmen wir zu Zeugen euch,

Dass ihr nicht sagt am Tag der Auferstehung:

»Das war uns nicht bewusst!«