Adaption - Sylvia Kaml - E-Book

Adaption E-Book

Sylvia Kaml

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Beschreibung

Kadett 889, genannt Neun, gehört zur nächsten Generation, genetisch verbessert, um auf der verseuchten Erde überleben zu können. Wie alle Kadetten in der militärisch geführten Station träumt auch er von einer Zukunft in der utopischen Großen Stadt. Als ein sadistischer Offizier das Kommando übernimmt und den Kadetten das Leben zur Hölle macht, versuchen Neun und seine Freunde dem Terror zu entkommen und stoßen auf den wahren Zweck ihrer Existenz.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

10/2022

 

Adaption – Kadett 889

 

© by Sylvia Kaml

© by Hybrid Verlag

Westring 1

66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2022 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

Lektorat: Johannes Eickhorst, Annette Böhler

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Lena Widmann

Autorenfoto: Andrea Rings

 

Coverbild ›Predyl‹

© 2017 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Die Verschwörung des Raben‹

© 2018 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Dangerous Person – Die Verdammten‹

© 2020 by Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Omega – Das Erbe der Gottmaschine‹

© 2020 by Creativ Work Design, Homburg

 

ISBN 978-3-96741-171-3

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Printed in Germany

 

 

Sylvia Kaml

 

Adaption

-

Kadett 899

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dystopie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für wahre Freunde.

Ganz gleich, wo ihr seid.

 

 

Teil 1 - Station

Ankunft

Erwachen

Treffen

Austausch

Kälte

Fragen

Begegnung

Wechsel

Frost

Strafe

Trennung

Taub

Gewissheit

Konfrontation

Teil 2 - Wüste

Spuren

Wunde

Weiter

Reise

Abwehr

Fragen

Kontrolle

Mangel

Übergriff

Vorstadt

Teil 3 - Endstation

Stadt

Leere

Computer

Lauf

Begegnung

Halt

Geständnisse

Ankunft (2)

Ende

Die Autorin

Weitere Werke von Sylvia Kaml

Hybrid Verlag …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wir sind Meister im Wandeln,

Wachsen und Denken.

Die Anpassung ist unsere Fähigkeit.

Doch wie wir auch handeln

und diese Welt lenken:

Dem Menschen fehlt die Menschlichkeit.

 

 

 

 

 

 

 

Teil 1 - Station

 

 

Ankunft

 

Der Zug war fensterlos, das Abteil hell erleuchtet. Beinahe lautlos glitt die Bahn die nahtlosen Schienen entlang.

Neun blickte gegen die Kabinenwand, als könnte er durch diese nach draußen schauen. Anstelle der verseuchten Öde Sibiriens spiegelte sich auf dem blank polierten Metall die verzerrte Darstellung eines schmalen Siebzehnjährigen mit dunklen Haaren. Die silbrig schimmernde Iris seiner mandelförmigen Augen blieb starr, als rätselte er über etwas, das sich fernab jeden Erkennens befand. Mit der grauen Uniform in der künstlichen Beleuchtung wirkte sein Gesicht geisterhaft weiß.

Auf einmal erhoben sich zwei Finger über dem gespiegelten Kopf, die hin und her wackelten. Die Augen des Jungen erwachten zum Leben und verfinsterten sich, er fuhr kurzerhand herum und versetzte seinem Banknachbarn einen leichten Schlag gegen den Bauch. »Hör auf mit dem Blödsinn, Sieben!«

Der Blonde neben ihm krümmte sich zusammen und röchelte theatralisch. »Aua! Diese Schmerzen! Ich sterbe!«

»Idiot.«

Sieben grinste ihn mit strahlenden Zähnen an. »Ich wollte nur testen, ob du noch bei Bewusstsein bist. Willst du die gesamte Fahrt über die Wand anstarren?«

»Besser als dich, oder?«

»Sag schon, worüber grübelst du wieder? Beschäftigt dich der Umzug?«

Neun zuckte die Schultern. »Wenn man glaubt, was so erzählt wird von Station A.«

Sieben strich sich mit der Hand die blonden Haare zurück. Er war etwas größer und muskulöser, doch auch seine Augen hatten einen silbrigen Glanz in der ansonsten blauen Iris.

»Sicher nur Gerüchte und Angstmacherei. Es wird kein deutlicher Unterschied zu Station D sein. Die sind doch alle ähnlich konstruiert.«

Neun verzog skeptisch den Mund. »Wieso wurde unsere dann geschlossen?«

»Das haben die Ausbilder doch gesagt. Eine Zusammenführung aufgrund von Budgetkürzung. Immerhin kommen wir beide in eine Gruppe.«

»Aber sonst keiner von uns, oder?«

Sieben klopfte mit dem Zeigefinger gegen seine Unterlippe. »Ich glaube, noch Einundsiebzig«, überlegte er laut. »Aber mit der hatte ich nie viel zu tun.«

Neun blickte aus den Augenwinkeln durch das Abteil, ohne den Kopf auffälliger zu drehen als nötig. Es war gefüllt mit grau uniformierten Teenagern, in den hinteren Reihen saßen die Ausbilder. Die meisten Kadetten hockten starr und sichtlich angespannt auf den Sitzen. Auch Neun spürte nur allzu deutlich die strengen Blicke der drei Männer und zwei Frauen in Offiziersuniform im Rücken.

»Einundsiebzig ist das Mädchen in der dritten Reihe von hinten, links«, sagte er zu Sieben und zeigte diskret mit dem Daumen in die Richtung. »Die mit den glatten, schwarzen Haaren, die am Gang sitzt. Ich kenne sie, das ist eine Streberin. Verpetzt jeden, der auffällt.«

»Na das ist ja nichts Besonderes hier. Wer sich einschleimt, wird schließlich belohnt.«

»Eher weniger bestraft«, korrigierte Neun flüsternd und hob den Zeigefinger.

 

Der aufkommende Druck im Magen ließ ihn erraten, dass die Bahn an Geschwindigkeit abnahm. Eine weibliche Computerstimme ertönte aus den Lautsprechern: »Ankunft Haltebucht Station A in einer Minute.«

Im Abteil wurde es noch stiller, was kaum möglich schien. Die Anspannung der Kadetten lag förmlich in der Luft. Auf dem Bildschirm vor ihnen zählte eine digitale Anzeige in warnend roten Ziffern die Zeit rückwärts.

»Dann auf in ein neues Abenteuer.« Sieben straffte den Rücken. Auch Neun nahm Haltung an. Es kam ihm vor, als lägen bleierne Gewichte auf seinen schmalen Schultern. Er unterdrückte den Drang, sich wie ein Igel einzurollen und unter dem Sitz zu verschwinden. Was brächte das auch? Er würde nur zertreten werden.

Die Bahn stoppte. Doppeltüren glitten zischend zur Seite. Warme, staubige Luft wehte hinein und verdrängte den sterilen Geruch der Klimaanlage. Die Kadetten verharrten auf ihren Sitzen, bis die Ausbilder an ihnen vorbeigeschritten waren.

Hauptmann Keller blieb an der Tür stehen und drehte sich um. »Aussteigen und in Dreierreihe antreten!« Seine tiefe Stimme ließ die grau uniformierte Menge ohne Zögern gehorchen.

Da sie starr nach vorne sehen mussten und Neun in zweiter Reihe stand, konnte er nicht viel von der Umgebung wahrnehmen. Was er erkannte, war ein ähnlicher Platz wie die Haltebucht auf Station D: zementierter Boden und glatte Basaltwände mit Nummerierungen. Es kam ihm beinahe vor, als wäre die Bahn nie losgefahren.

Ein leicht untersetzter Mann mit verspiegelter Sonnenbrille, Glatze und grauem Schnauzbart trat herbei. Er trug die Abzeichen eines Generals.

Hauptmann Keller, der wesentlich größer und breitschulteriger war, stand stramm und salutierte. »General Petrow.«

»Stehen Sie bequem!«

Keller senkte den Arm, blieb aber in seiner eher steifen Pose stehen und holte ein Pad hervor. Mit einer energischen Handbewegung hielt er es dem Vorgesetzten hin. »Dies sind die Informationen über alle Neuzugänge einschließlich der Offiziere, General.«

Petrow nahm das Gerät entgehen und winkte einen weiteren Mann in Uniform herbei. »Hauptmann Jiang wird Ihnen Ihre Unterkünfte zeigen. Die Kadetten überlassen Sie uns.«

Keller nickte und die Ausbilder von Station D verließen den Platz. Neun gefiel es nicht besonders, kein vertrautes Gesicht mehr unter den Erwachsenen zu sehen.

General Petrow schritt die Reihe ab. Er nahm seine Sonnenbrille ab und betrachtete die Kadetten mit stechend grauen, beinahe farblosen Augen. Neun war froh, nicht vorne zu stehen.

»Kadetten«, begann der General in scharfem Ton. »Sie werden von nun an auf dieser Station unterrichtet. Nehmen Sie Ihre Tornister und marschieren Sie zum Gebäude F. Dort werden Ihnen nach der Registrierung die Sender übergeben. Es ist streng verboten, das Gerät von der getragenen Uniform zu entfernen. Beim Wechsel der Kleidung muss der Sender unverzüglich wieder angelegt werden! Ihre Unterkünfte teilt man Ihnen dort ebenfalls zu. Wegtreten!«

Die Jungs und Mädchen holten ihre grauen Rucksäcke aus dem Gepäckraum der Bahn und gingen in Zweierreihen zur genannten Halle. Die meterhohen braunen Buchstaben und Zahlen auf den Betonklötzen waren kaum zu übersehen.

Im Foyer des genannten Gebäudes standen drei Tische, über denen auf einer Leuchttafel angezeigt wurde, wer sich zu welchem begeben sollte. Einige anwesende Kadetten in grauer Uniform betrachteten die Neulinge abschätzend.

»Da drüben!« Sieben stieß Neun an und zeigte auf den Bildschirm über dem rechten Tisch. 800 bis 899 war hier zu lesen. Sie stellten sich in die Reihe.

»Zum Glück sind unsere Bezeichnungen so dicht beieinander«, sagte Neun. »Hoffentlich kommen wir in ein Zimmer.«

Sieben nickte. »Das hoffe ich auch. Es soll hier nur Fünfer-Schlafräume geben.«

»Woher weißt du das?«

»Ruhe in den Reihen!« Dem harten Tonfall folgte ein klatschender Laut. Das Gemurmel verstummte schlagartig. Neun drehte sich zur Seite und sah einen großen, blonden Mann in der Uniform eines Leutnants. Seine Augen blickten streng, der Kiefer war angespannt und in der Hand hielt er etwas, das wie eine dieser antiken Reitgerten aussah, nur kürzer. »Hat man euch auf Station D keine Disziplin gelehrt? Na, das kann ja heiter werden.« Der Mann hob warnend den Stab. »Der Erste, der noch ungefragt einen Laut von sich gibt, darf die Arrestzellen von innen besichtigen, verstanden?«

Jeder der Kadetten nahm Haltung an, es wurde auf der Stelle still im Foyer.

»Ich sagte: verstanden?«, brüllte der Leutnant. »Das war eine Frage!«

»Ja, Sir!«, tönte der einheitliche Chor. Der Mann zog seine Mundwinkel in die Länge und verließ den Raum wieder. Sieben und Neun sahen sich an. Neuns Lippen formten eine Frage, worauf sein Freund wortlos die Schultern zuckte. Dann war er an der Reihe.

»Bezeichnung?«, fragte der Kadett hinter dem Pult an den Blonden gewandt.

»877.«

Der braunhaarige Junge verzog keine Miene, weder freundlich noch missmutig. Er scannte mit einem Gerät Siebens Iris und übertrug die Daten auf einen grauen Plastikchip in Hosenknopfgröße.

»Hier ist dein Sender, stecke den sofort an.« Daraufhin nahm er ein Pad vom Stapel und zog auch dort die Daten des Scanners darauf. »Hier ist dein Privatpad für den Unterricht. Wenn es verloren geht, bist du verantwortlich. Ein anderes zu klauen wäre zwecklos, da es mit deinem Irisscan registriert ist. Es enthält einen Lageplan der Station, den Stundenplan für morgen, Dienste und Essenszeiten mit Raumangaben. Du kommst in Zimmer 10, Baracke 3.« Er drehte den Kopf zu Neun. »Bezeichnung?«

»Ich … äh … 889«, kam es stotternd. Etwas überrumpelt ließ er sich ebenfalls die Iris scannen.

Der Kadett hinter dem Tisch überreichte ihm ausdruckslos den Sender und das Pad.

»Hier sind deine Sachen, ihr seid beide in Gruppe S und zusammen auf einem Zimmer.«

Die beiden sahen sich erleichtert an, doch der fremde Kadett hatte schon das Mädchen hinter Neun im Blick. »Bezeichnung?«

Die Angesprochene trat vor. »828.«

Sieben zog seinen Freund am Ärmel aus der Reihe. »Komm, sehen wir uns die Räumlichkeiten an.«

 

Obwohl die Unterkünfte der Kadetten mehrstöckige Betonklötze waren, wurden sie als Baracken bezeichnet. Man erkannte auch diese Gebäude an den braunen Nummern an der Außenfassade. Zimmer 10 befand sich im ersten Stock.

Sieben hielt seinen Sender vor das Schloss und es klackte hörbar. Die rote Lampe wechselte zu Grün. Die beiden drückten die Tür auf und betraten einen kleinen, achteckigen Aufenthaltsraum mit einem Tisch in der Mitte. Von hier gingen sechs Schiebetüren ab, von denen fünf schwarze zu den Schlafkojen führten und eine weiße in das gemeinsame Badezimmer. An der leeren Wand, gegenüber dem Eingang, stand ein Metallregal mit Schubfächern, das sich die Bewohner teilen mussten. Drei weitere Jungs in Uniform saßen mit Pads an dem runden Tisch und betrachteten sie abschätzend.

»Hallo«, grüßte Sieben. »Wir sind die Neuen.«

Ein muskulöser, rothaariger Junge in der Mitte hob die Augenbrauen. »Ach? Das wäre uns nie in den Sinn gekommen.«

Die anderen beiden kicherten.

»Die halten uns für doof«, bemerkte der braunhaarige Lockenkopf neben ihm.

Sieben verdrehte die Augen. »Hey, wir müssen es hier miteinander aushalten, also was soll das? Ich heiße Siebenundsiebzig.«

»Mein Name ist Neunundachtzig«, sagte Neun. Er fühlte sich merklich unwohl.

Der Rotschopf erhob sich und baute sich vor den beiden auf. »Ich bin Fünfundsiebzig und bestimme hier, kapiert?« Er zeigte auf den relativ dicken Lockenkopf. »Das da ist Einundachtzig und der da«, er wies auf einen schmalen, dunkelhaarigen Jungen mit Akne im Gesicht. »Ist Drei.«

Die Jugendlichen begrüßten sich mit einem abschätzenden Nicken.

»Welche Kojen sind noch frei?«, fragte Neun höflich in der Hoffnung, seine Unsicherheit würde sich nicht in der Stimme widerspiegeln. Er wollte nur weg von diesen Halbstarken, es roch zu sehr nach Provokation in dem Raum.

Fünfundsiebzig deutete mit dem Finger auf die beiden Türen rechts neben dem Eingang und blinzelte dann den anderen zu. Sieben öffnete eine davon. Ein widerlicher Gestank wie vergammelter Käse zog ihm entgegen, sodass Neun keuchte und sich angewidert Mund und Nase zuhielt. Die Koje war voll mit Essensresten, Verpackungsmüll und dreckiger Wäsche. Neun spürte seinen Mageninhalt hochkommen.

Siebens Gesicht blieb ausdrucklos. Er verschloss die Tür und drehte sich zu den anderen um, die albern kicherten.

»Ein Willkommensgruß«, tönte Fünfundsiebzig.

Sieben ließ sich nicht beirren, er trat hinüber zu dem Rotschopf und sah ihm fest ins Gesicht. »Ihr macht sofort wieder sauber da drinnen!« Er wies mit dem Daumen hinter sich auf die Kojen.

»Hah! Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Das ist die Einweihung für Neulinge«, posaunte Einundachtzig mit leicht krächzender Stimme. »Räumt das auf und ihr seid unserer würdig.«

»Klar, als Hausdiener.« Neun versuchte, so selbstbewusst wie möglich zu klingen, auch wenn sein Herz raste und sich Schweißtropfen auf seinem Rücken bildeten. Er war sich bewusst, dass er schon lange vor den anderen gekniet hätte, wenn Sieben nicht dabei gewesen wäre.

»Station D ist wegen Inkompetenz geschlossen worden«, erklärte Drei und hob den Zeigefinger. »Ihr seid dazu bestimmt, uns zu dienen.« Der Finger krümmte sich in Richtung der Neuankömmlinge.

Fünfundsiebzig verschränkte die Arme. »Ja, ihr seid zu behindert, da hat etwas bei der Selektion nicht geklappt.«

Einundachtzig kicherte albern. »Wahrscheinlich war in der Aufzuchtstation gerade Stromausfall, als sich eure Gehirne entwickelten.«

Sieben stemmte die Fäuste in die Hüften. »Immerhin habe ich schon in dieser kurzen Zeit begriffen, dass ihr drei Vollidioten seid. Ganz so doof kann ich also nicht sein.«

Der Rotschopf trat vor Sieben. Beide waren gleich groß und ähnlich muskulös. Die Spannung zwischen ihnen ließ förmlich die Luft knistern. Sieben hob das Kinn. Fünfundsiebzig ballte die Fäuste und trat so dicht an den Neuling heran, dass sich ihre Nasen beinahe berührten. »Willst du jetzt ein paar aufs Maul oder nach dem Essen?«

Siebens Augen verengten sich. »Nur zu! Regeln wir es gleich. Und danach räumt ihr euren Dreck weg.«

»Träum weiter!«, tönte der Lockenkopf von der Seite.

»Wenn nicht, dann nehmen Neun und ich uns zwei der anderen Kojen und ihr könnt euch aussuchen, wo und wie ihr heute Nacht pennt!«

Fünfundsiebzigs Antwort kam prompt. Er holte aus und zielte mit der Faust auf Siebens Kopf. Dieser wich dem Schlag aus und nutzte den Schwung, um den Rotschopf am Arm quer vor sich zu Boden zu ziehen. Die anderen beiden stürzten sich auf ihn. Neun rammte seine Schulter in Einundachtzig, bevor der auf Sieben einschlagen konnte, und warf ihn dabei gegen den Tisch. Tassen und Pads rutschten klappernd die Tischplatte entlang zu Boden. Neun merkte bald darauf nicht mehr, wer auf wen einschlug, sondern versuchte nur noch, sich aus Körpermassen freizukämpfen und sein Gesicht vor umherfliegenden Fäusten zu schützen. Immer wieder prallten schmerzhafte, dumpfe Schläge auf seinen Körper nieder und er boxte wild um sich.

Ein Alarm ertönte im Raum.

Die Sender an der Brust verteilten allen fünf einen schmerzenden und beinahe lähmenden Stromschlag. Die Jungs stoben entsetzt auseinander. Neun hielt sich keuchend die geprellten Rippen und Sieben stand mit blutender Nase neben ihm. Die drei anderen sahen auch nicht weniger zugerichtet aus. Fünfundsiebzig hatte ein geschwollenes Auge, das sicher morgen ein Veilchen sein würde. Drei umfasste leicht gekrümmt seinen Bauch und wirkte, als kämpfe er damit, den Mageninhalt unten zu halten. Einundachtzigs Gesicht war schmerzverzerrt, doch er stand aufrecht.

Nach kurzem gegenseitigen Anstarren, bei dem jeder der Jungs die Blessuren des anderen zu inspizieren schien, öffnete sich die Tür und eine ältere Frau trat herein, deren brauner Dutt mit deutlich grauen Strähnen unterlegt war. Sie trug die Uniform einer Majorin. Die Kadetten nahmen Haltung an. Neun holte dabei tief Luft, um den Schmerz von den Rippen beim Strammstehen erträglich zu halten. Erst jetzt, wo der scharfe Blick der Ausbilderin das Zimmer streifte, bemerkte er das Chaos um ihn herum. Sie hatten im Gefecht sämtliche Stühle umgeworfen sowie alle Utensilien vom Tisch geräumt.

Die Frau betrachtete Neun und Sieben mit vereister Miene und schnalzte mit der Zunge. »Kaum fünfzehn Minuten auf dieser Station und schon auffällig geworden.«

»Ma’am …«, versuchte Sieben, doch die Offizierin hob energisch die Hand und er verstummte.

»Ich will nichts hören!«, zischte sie. »Ihr alle fünf bringt den Raum wieder auf Vordermann und meldet euch dann nach dem Abendessen zum Putzdienst in der Kantine, haben wir uns verstanden?«

»Jawohl, Majorin«, ertönte es im Chor.

»Und keine Schummeleien, ich werde die Kameras aktivieren und euch beobachten. Wenn einer von euch nicht mit vollem Eifer dabei ist oder sich gar heimlich zu drücken versucht, bleibt er eine Stunde länger!«

Mit diesen Worten drehte sie sich auf dem Absatz um und ging hinaus. Die beiden Parteien warfen sich gegenseitig einen hasserfüllten Blick zu.

Das fing ja gut an, dachte Neun missmutig und presste die Lippen aufeinander. Immerhin mussten die drei anderen nun auch mithelfen, die verdreckten Kojen zu säubern.

 

Erwachen

 

Neun spürte, wie er durch ein Schütteln aus dem Schlaf gerissen wurde. Blinzelnd erkannte er blonde Haare … Sieben? Was wollte der mitten in der Nacht?

»Wir haben verschlafen«, rief sein Freund ihm aufgebracht ins Gesicht. »In fünf Minuten fängt der Unterricht an! Die Schweine haben unsere Wecker manipuliert, da wette ich drauf.«

»Mist!« Der Adrenalinstoß, der durch seine Adern pulsierte, weckte Neun schlagartig. Er hatte kein Verlangen, noch einmal unangenehm aufzufallen. Der Putzdienst gestern bis spät in die Nacht hatte ihm gereicht. Er sprang aus der Koje und in die Uniform, das Duschen musste warten.

»Ich bin glücklicherweise aufgewacht, als die Tür surrte«, sagte Sieben. »Beeil dich!«

Neuns Herz raste. »Verdammt, verdammt, verdammt.« Nicht noch eine Strafarbeit. Mit zitternden Fingern schloss er die Druckknöpfe und hechtete hinter seinem Kumpel aus dem kleinen Raum. Wie vom Teufel gejagt, rannten beide den grauen Gang entlang. Ihre Schritte hallten derart parallel, dass man meinen könnte, eine Person renne über den Betonboden. Neuns Kopf glühte, seine Schläfen pochten. Schnell!

Auf dem asphaltierten Hof zum Lehrgebäude fiel sein Blick auf die Uhr über dem Eingang. 07:59:42. Die blauen Ziffern stachen ihm ins Auge, die Sekundenanzeige schritt beinahe bedrohlich voran. Sie konnten es schaffen, der Ausbildungsraum war am Anfang des Korridors.

Erschöpft erreichten sie die Tür, atmeten noch einmal durch und traten zaghaft ein. Der Ausbilder sah Sieben und ihn strafend an. Die anderen Jugendlichen saßen schon unbeweglich an ihren Tischen, doch die Computer waren noch nicht eingeschaltet. Im selben Moment, in dem sich die beiden auf dem Metallstuhl niederließen, erwachten die Bildschirme zum Leben und strahlten ihr flimmerndes Licht auf die Gesichter der Kadetten. Neun spürte die Erleichterung durch den gesamten Körper gleiten. Geschafft.

Hauptmann Jiang notierte etwas auf seinem Pad, bevor er monoton mit der Unterrichtung in Geschichte und Erdkunde begann.

Neun schwitzte noch immer, doch langsam normalisierte sich sein Herzschlag wieder. Er schaute zu Fünfundsiebzig, der schräg vor ihm saß. Dessen schadenfrohes Grinsen war regelrecht zu spüren. Neun zeigte ihm heimlich den Mittelfinger. Er bereute diese Reaktion sofort wieder, denn der Zimmergenosse zwinkerte ihm nur heiter zu. Zumindest machte das strahlende Veilchen im Gesicht des Rotschopfs einiges wieder wett.

Neun riss seinen Blick los und starrte ausdruckslos auf den Bildschirm vor sich. Dieser zeigte einen Film über den eurasischen Kontinent vor den Drohnen- und Chemiekriegen. Neun rollte innerlich die Augen. Wozu das Lernen von Städten, die es höchstwahrscheinlich gar nicht mehr gab? Kulturen, die längst Vergangenheit waren? Das alles wirkte nur frustrierend, nutzlos und einschläfernd. Wie so oft versuchte er, seine Gedanken davon abzuhalten, Fangen mit sich selbst zu spielen. Natürlich konnte man nichts verbergen, die Körperfunktionen der Kadetten wurden mit Hilfe von Kameras und des Sensors an der Uniform überwacht. Sobald sich die Augen eine Zeit nicht mehr bewegten und der Puls zu ruhig wurde, ertönte ein mahnender Alarm am Pult. Reagierte man nicht darauf, erhielt der Schüler einen leichten Stromschlag über den Sensor sowie einen Akteneintrag. Neun hatte auf der alten Station bereits einige Warntöne erhalten, doch bisher noch keinen Eintrag. Fiel es nur ihm immer so schwer? Warum erklang dieser nervende Surrton bei kaum einem anderen? Sie stammten doch alle von derselben Aufzuchtstation und waren genetisch getestet.

All das Lernen wofür? Neun hatte zuvor selten an den Worten der Ausbilder gezweifelt, doch in der letzten Zeit musste er immer öfter über sowas nachdenken. Je näher sie dem finalen Jahrgang kamen, desto mehr begann er, Dinge zu hinterfragen. War er krankhaft paranoid?

Während er noch darüber nachdachte, ertönte ein schmerzhaftes Pfeifen aus den Lautsprechern seines Bildschirms. Neun zuckte zusammen, das Geräusch fuhr ihm gefühlt bis ins Rückenmark. Hinter ihm vernahm er das spöttische Kichern von Einundachtzig und seine Ohren glühten. Er atmete tief durch und widmete sich den Fragen zum Filmbeitrag.

 

In der kurzen Pause zwischen den sechs Vormittagsstunden durfte keiner den Raum verlassen. Sieben und Neun saßen nebeneinander auf der Betonstufe, die den Bereich der Offiziere von dem der Kadetten trennte. Neun hatte sich aus dem Automaten einen Snack geholt. Die Riegel besaßen die Konsistenz von Pappe, beinhalteten aber alle nötigen Nährstoffe und stillten den Hunger. Etwas anderes gab es zwischen den Mahlzeiten nicht, auch ihre Ernährung wurde reguliert.

Sieben aß nichts, er wirkte abwesend.

Neun folgte seinem Blick und sah, dass sein Freund beobachtete, wie Fünfundsiebzig, Drei und Einundachtzig am anderen Ende des Raumes die Köpfe zusammensteckten.

»Lass die!«, sagte er. »Eine weitere Kriegsplanung führt doch zu nichts. Die haben sich gerächt und gut ist. Belassen wir es dabei.«

Sieben spannte den Kiefer an. »Du hast recht, wir schaden uns nur selbst damit.« Er straffte den Rücken. »Ist ja noch mal gut gegangen. Dank meiner überragenden Instinkte.«

Neun warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Danke fürs Wecken«, sagte er dennoch. »Du hast mir den Hals gerettet.«

»Denkst du, ich will hier alleine mit diesen Robotern hocken, während du schön genüsslich pennst und dann deine Strafstunden absitzt?«

Neun lächelte freudlos und biss ein weiteres Stück ab, das Gefühl im Mund, auf Gummi mit sprödem Getreidegeschmack herum zu kauen. Er betrachtete die Kadetten, die er noch kaum kannte.

»Hast du dir mal die Bezeichnungen unserer Mitschüler angeschaut?«, fragte Sieben.

»Nein.« Neun sah keinen besonderen Reiz daran zu wissen, welche Nummern vertreten waren. Die, die ihn interessierten, würde er schon kennenlernen. »Wieso fragst du sowas?«

»Weil einige hier Buchstaben haben.«

Neun runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

Sieben zeigte auf ein braunhaariges Mädchen. »Die Hübsche da, die zum Fenster hinaus sieht. Sie heißt Aica. Und die Bezeichnung des großen Jungen da hinten ist 3Ca.«

»Das hast du dir alles gemerkt?«

»Nur diese beiden, wegen der ungewöhnlichen Namen. Wir haben doch die Liste mit Foto und Bezeichnung bekommen.« Er strich ein paar blonde Strähnen aus der Stirn. »Jetzt schau nicht wie ein Zug, warst du denn gar nicht neugierig?«

Neun schüttelte den Kopf und Sieben lachte.

»Du bist echt vertrödelt manchmal!«

»Gibt es noch mehr mit Buchstaben?«

»Nicht in unserer Klasse.«

Neun wandte sich wieder den Mitschülern zu. Ein Großteil der dreißig Kadetten saß am Bildschirm und wiederholte die Übungen der letzten Stunde.

Roboter! Solange er das Gefühl hatte, nicht für sich, sondern für das System zu lernen, sah er nicht ein, mehr zu ackern als verlangt. Er wusste ja nicht einmal genau, wofür er dies tat. Fragen zu stellen war nur bedingt möglich.

Die Einzigen, die außer ihnen nichts Unterrichtsbezogenes machten, waren interessanterweise genau die beiden mit den Buchstaben im Namen. Der große schmale Junge — 3Ca — saß nur da und grinste Einundsiebzig an, das neue Mädchen aus Station D. Die Streberin verunsicherte das sichtlich, denn es hielt sie vom Lernen ab, was 3Ca wiederum zu amüsieren schien. Dieser Junge mit der ausdrucksstarken Mimik war Neun auf Anhieb sympathisch.

Aica sah einfach stumm zum Fenster hinaus. Sie war Neuns Meinung nach das schönste Mädchen der Klasse. Er wollte gerade eine Andeutung zu Sieben machen, als der mahnende Gong durch die Lautsprecher hallte und sie alle auf ihre Plätze hasteten.

Sekunden später trat der Ausbilder ein und in dem Raum wurde es totenstill. Die Lehrkraft für die nächste Stunde war Leutnant Jean Sanders, das wussten sie vom Stundenplan.

Neun und Sieben warfen sich einen vielsagenden Blick zu, als sie in ihm den Mann wiedererkannten, der gestern im Foyer herumgeschrien hatte. Sein Gesichtsausdruck war heute nicht sympathischer, im Gegenteil. Starr in die graue Uniform gekleidet, das Barett verdeckte fast vollständig die kurzen blonden Haare, trat er in den Raum, das glatt rasierte Gesicht eisern auf die Schüler gerichtet. Es zeigte nicht die geringste Regung, als er sofort mit dem Unterricht begann. Auch heute hatte er die kurze Reitgerte bei sich. Neun bemerkte, wie die meisten der Kadetten zusammenzuckten, wenn er bei einer falschen Antwort damit auf das Pult hieb.

Alle Jugendlichen in dem Raum wirkten angespannt und es war wesentlich stiller als bei Jiang. Sie schienen diesen Lehrer zu fürchten. Das war ein Offizier, mit dem man sich besser nicht anlegte, mutmaßte Neun.

»Heute Morgen erhielten wir eine interessante Nachricht vom Generalcomputer«, berichtete der Leutnant gegen Ende der Stunde. »Es ist unserer Regierung gelungen, eine Verbindung zu einem der Satelliten herzustellen.«

Ein leises Raunen ging durch die Klasse, kaum ein Kadett schaffte es, diese Nachricht ohne einen emotionalen Ausbruch zu hören. Auch Neuns Augen weiteten sich. Einer der Satelliten! Man könnte endlich erfahren, wie es mit dem Rest der Menschheit steht. Die Zerstörung genauer untersuchen. Vielleicht eine Funkverbindung herstellen. Bilder! Der Gedanke ließ sein Herz schneller schlagen.

Drei oder vier Kadetten erhoben sich und warteten geduldig, bis Sanders ihnen mit einem Nicken erlaubte, zu sprechen.

»Welche Umlaufbahn hat dieser Satellit, Sir?« Das Mädchen konnte die Aufregung kaum verbergen. »Wann kann man mit Datenempfang rechnen? Sind es nur Bilder oder werden wir auch eine auditive Funkverbindung herstellen können?«

Sanders richtete sich auf und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Er schien die Ungeduld der Kadetten zu genießen.

»Das werdet ihr sicher als Letze erfahren.«

Er nickte einem Jungen zu, der ebenfalls stand. Das Mädchen setzte sich mit irritierter Miene.

»Sir, was glauben Sie, gibt es noch menschliche Siedlungen außer den Stationen und der Großen Stadt?«

Ein spöttisches Lachen ertönte von dem Leutnant, doch seine Haltung blieb wie immer steif. »Ob du es glaubst oder nicht: Was ich glaube, ist kaum mehr von Belang als das, was du glaubst!«

Der Kadett setzte sich ebenfalls enttäuscht. Diejenigen, die noch gestanden hatten, ließen sich sichtlich resigniert nieder. Es war zwecklos, sie würden keine Fragen beantwortet bekommen, allerhöchstens Spott ernten. Dann stand Sieben ruckartig auf. Neun musterte das Verhalten mit zusammengezogenen Brauen. Er kannte seinen Kumpel, wenn der einen solch entschlossenen Gesichtsausdruck hatte, war er bereit, Grenzen zu überschreiten. Sieben wollte doch hoffentlich nicht diesen Sanders gleich am ersten Tag herausfordern? Neun wäre am liebsten aufgesprungen, um seinen Freund zurück in den Sitz zu pressen, doch dazu fehlte ihm der Mumm.

Der Leutnant nickte Sieben zu und der hob stolz das Kinn.

»Warum erzählen Sie uns das überhaupt, wenn Sie ohnehin keine Frage beantworten … Sir.«

Neun wich das Blut aus dem Kopf. Allein für das verzögerte Sir konnte der Leutnant ihm eine Strafarbeit verpassen.

Die schmalen Lippen des Ausbilders zogen sich beinahe unbemerkt in die Länge. Ohne die Hände vom Rücken hervor zu nehmen, schritt er langsam die Stufe hinunter und auf Sieben zu, bis er direkt vor ihm stand. Sein Freund verharrte still und blickte weiter starr geradeaus, ohne mit der Wimper zu zucken. Sanders musterte ihn einige Sekunden, die Neun wie Stunden vorkamen. Er rechnete jeden Augenblick damit, dass der Mann Sieben eine Ohrfeige verpasste. Dann ging der Leutnant ans Pult, sah kurz auf sein Pad und drehte sich zu der Klasse.

»Unser Neuzugang, Kadett 877, wird bis morgen einen Bericht über die gesamten bekannten Satelliten der Umlaufbahn abgeben«, erklärte er beinahe feierlich. »Vom Datum des Starts, Zweck der Errichtung, Leistung des Datenverkehrs bis hin zur Abschaltung und den Versuchen heute, einige wieder zu aktivieren. Auch soll erwähnt werden, warum dies so schwer ist und welche technischen Hindernisse dafür überwunden werden müssen. Damit dürften die meisten eurer Fragen morgen beantwortet sein. Wegtreten!«

Alle Kadetten steckten ihr Pad ein und verließen wortlos den Raum. Nach diesen Stunden war Mittagspause.

»So ein Arsch«, zischte Sieben, als er mit Neun den Gang entlang zum Speisesaal ging.

»Was bist du auch so dämlich und konfrontierst ihn?« Neun schüttelte fassungslos den Kopf. »War doch klar, dass wir nicht mehr erfahren. Jetzt lässt er uns erst recht zappeln. Ich dachte, der schlägt gleich auf dich ein.«

»Pah, soll er doch, ich lass mich von diesem arroganten Typen doch nicht verarschen.« Sieben ballte die Fäuste. »Wirft uns ein Häppchen zu und lässt uns dann im Dunklen, das hat dem Idioten eine richtig kranke Genugtuung gegeben.«

»Er ist ein Offizier und sitzt am längeren Hebel. Bitte lege dich nicht mit so einem an. Nicht am ersten Tag!« Neuns Augen blickten beinahe flehend.

Sieben nickte verbissen. »Er wollte demonstrieren, dass unsere Meinungen nicht von Belang sind«, brummte er. »Ich habe es so unendlich satt, wie ein niederer Mensch behandelt zu werden.«

Sie hatten die Kantine erreicht und von einem Moment auf den anderen hellte sich Siebens Miene auf. »Hey, schau, es gibt Pfannkuchen, mein Lieblingsessen.«

Neun schüttelte lachend den Kopf. »Du hast echt einen an der Klatsche.«

Sieben hob die Brauen. »Was denn, willst du sagen, dass unsere Erschaffer versagt haben? Unsere Gene sind 1a! Wenn ich dich jedoch so betrachte …«

»Pass auf, was du sagst!« Neuns Faust zielte in Richtung Oberarm, doch Sieben wich lachend aus.

Die beiden füllten ihr Tablett mit Pfannkuchen, eingemachtem Obst und einer Suppe aus Wurzelgemüse und setzten sich an eine der langen Tischreihen.

»Hast du bemerkt, wie oft Megaarsch diese Aica drangenommen hat? Als hätte er etwas gegen sie«, sagte Sieben. »Ich würde gerne wissen, ob da mal was vorgefallen ist.«

»Dieser Sanders scheint gegen alle etwas zu haben, dafür muss sicher nichts vorfallen.«

»Er hat bestimmt gehofft, er ertappt sie, wenn sie nicht aufpasst, aber sie wusste immer alles, Pech!«

Neun fiel der bewundernswerte Blick auf, den Sieben auf Aica warf, die weiter hinten am Tisch saß. Er spürte eine leichte Eifersucht. Sein Kumpel hatte stets Erfolg bei den Mädchen. Er war einer der wenigen Blonden, dazu noch attraktiv, sportlich und charmant. Neun hingegen war mit den dunklen Haaren und der blassen Haut die graue Maus schlechthin.

Er beschloss, nicht weiter über Aica nachzudenken. Sieben war sein Freund und wenn er etwas mit dem Mädchen anfangen sollte, wäre er der Letzte, der dagegen sein würde … und könnte! Nur ein ganz klein wenig hoffte er insgeheim, dass Siebens Interesse an ihr nachlassen würde.

Aica war hübsch, sie hatte eine schlanke Figur und lange, dunkelbraune Haare, doch das bemerkenswerteste an ihr waren die Augen. Sie hatte ebenfalls den silbrigen Schimmer in der Iris, wie alle Kadetten, aber dabei eine blaugrüne Färbung, dass sie regelrecht strahlten. Ein Blick von ihr drang tief in einen ein und es würde Neun nicht überraschen, wenn sie im Dunklen leuchteten.

Sieben schien leider einen ähnlichen Eindruck von ihr bekommen zu haben.

»Ich habe eine Idee.« Ehe Neun etwas erwidern konnte, winkte der Blonde zwei kleinere Jungs zu sich, die mit ihren Tabletts in der Hand einen Platz suchten. »He, ihr beiden!«

Zaghaft traten die zwei näher. Jüngere Kadetten wurden von den älteren selten angesprochen, und wenn, war meistens eine Tracht Prügel fällig.

Neun hob die Stirn. »Was hast du vor?«

»Warte es ab, Kleiner!« Sieben zwinkerte ihm zu und wandte sich an die beiden Jungs. »Wir sind fertig, ihr könnt euch hierher setzen, wenn ihr wollt.«

Er stand auf und zog Neun mit sich. »Komm, Kumpel, und nimm deinen Fraß mit.«

Die Jungs untersuchten misstrauisch die Stühle, bevor sie sich setzten. Sieben zog Neun zu dem Tisch, an dem Aica mit einem anderen Mädchen saß.

»Entschuldigung«, sagte er. »Dürfen wir uns zu euch Schönheiten setzen? Mein Freund und ich finden keinen Platz mehr in dieser Herberge.«

Neun spürte das Blut in seinen Kopf schießen. Es waren schließlich noch vereinzelt Stühle frei und außerdem konnten sie die beiden schon sitzen gesehen haben.

Aica lächelte. »Sicher, setzt euch!«

Ihre Freundin kicherte gackernd.

»Die Henne kannst du haben!«, raunte Sieben leise in sein Ohr, als sie Platz nahmen. Neun warf ihm einen vielsagenden Blick zu.

»Mein Name ist Aica und das ist Vierundvierzig«, stellte Aica vor. »Ihr seid Siebenundsiebzig und Neunundachtzig, oder?«

»Sieben und Neun, stets zu Diensten!« Sieben deutete eine Verbeugung an und Vier kicherte erneut. Aica lächelte und richtete sich an ihre Freundin. »Die beiden sind neu in meiner Gruppe, sie kommen aus Station D.«

»Habt ihr euch gut eingelebt?«, fragte Vier.

Neun fuhr sich mit der Hand über den Nacken. »Nun, noch nicht wirklich«, druckste er etwas beschämt und dachte an den gestrigen Abend. Die Prellung an den Rippen machte sich erneut bemerkbar.

»Was war denn bei euch anders?«, fragte Aica.

»Im Grunde nichts«, sagte Sieben. »Aber es ist immer schwierig, in eine neue Umgebung mit fremden Gesichtern zu kommen. Immerhin kamen einige Ausbilder mit.«

Neun war wieder einmal erstaunt, wie gelassen Sieben blieb. Ihm selbst brannten die Wangen und er hätte vor den Mädchen keinen vernünftigen Satz zustande gebracht.

Aica presste die Lippen zusammen. »Ich hoffe, nicht zu strenge. Noch einen Typen wie Sanders brauchen wir hier nicht.«

»So streng wie der war keiner bei uns«, sagte Sieben und sah Aica forschend an. »Was hat der Kerl denn alles gemacht?«

»Das ist einfach ein widerlicher Sadist. Er zieht jeden runter und schlägt nach Laune zu. Du hast heute einen guten Tag erwischt, Sanders hat schon Kadetten für weniger verprügelt.«

Neun öffnete erstaunt den Mund. »Ihr habt hier Prügelstrafe?« Schikaniert worden waren sie schon öfter von Offizieren, aber seit dem Kindesalter nicht mehr körperlich bestraft.

»Es ist nicht verboten, aber außer Sanders praktiziert es niemand.«

»Dafür der Arsch umso mehr«, sagte Vier leise und biss sich auf die Unterlippe, während ihre Augen ängstlich umherwanderten, als wolle sie sich vergewissern, dass niemand anderes zuhörte. Wenn es um diesen Leutnant ging, schien jeder Kadett eingeschüchtert.

»Und keiner legt Beschwerde ein?«, fragte Neun.

»Beschwerde?« Aica lachte trocken auf. »Es ist nicht verboten und selbst wenn, Sanders würde einem das Leben hier zur Hölle machen. Das willst du nicht riskieren, echt nicht. Da duckt man sich besser und hofft, er bemerkt einen nicht.«

Neuns Mund blieb geöffnet. Sieben legte ihm aufbauend den Arm auf die Schulter. »Mach dir nicht ins Hemd, das überleben wir auch noch.«

Neun warf seinem Freund einen giftigen Blick zu, dass er ihn vor den Mädchen als Memme hingestellt hatte. Sieben ignorierte das und fing an, über allgemeine Dinge zu reden. Aica selbst sagte nicht mehr viel, hing aber aufmerksam an seinen Lippen. Auch Neun schwieg. Er betrachtete seine Hände vor sich auf der Tischplatte, während sein Freund erzählte. Ihm passte es nicht, wie Aica Gefallen an Sieben zu finden schien und er selbst war zu feige, beim Gespräch mitzumischen. Auch Vier wirkte fasziniert von dem blonden Jungen, doch Sieben beachtete sie kaum.

Der Gong ertönte und alle erhoben sich. Auf dem Hof würden nun die Aufgaben für den folgenden Monat verteilt.

»Was machst du nach dem Unterricht?«, fragte Sieben Aica, als sie ihre Tabletts wegstellten. »Wir könnten …«

Aica schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Heute Nachmittag habe ich ein Spiel.«

»Schade.« Sieben setzte seinen leidenden Hundeblick auf. Neun überlegte, ihn daran zu erinnern, dass er noch einen ausführlichen Aufsatz über Satelliten zu schreiben hatte.

»Immerhin keine Sportstunde für mich«, sagte Aica. »Ihr könnt ja danach vorbeikommen und die zweite Halbzeit sehen!«

»Klar kommen wir. Das lassen wir uns nicht entgehen, was Kumpel?«

Neun presste die Lippen zusammen. Vielleicht sollte er Sieben besser alleine dort hingehen lassen. Er wollte sich nicht als fünftes Rad am Wagen fühlen.

 

Sie marschierten in den betonierten Innenhof. Innerhalb der auf den Boden gemalten Rechtecke musste jede Gruppe formiert antreten. Starr wie Statuen standen sie da, bis General Petrow mit zwei Offizieren erschien und in die Mitte des Platzes schritt. Er war ein leicht untersetzter Mann in den Fünfzigern, dessen Oberkörper vor einigen Jahrzehnten sicher Muskeln besessen hatte, heute aber eingefallen wirkte. Auch die Kopfbehaarung verließ ihn fast vollständig. Dafür zierte ein voluminöser grauer Schnauzer seine Oberlippe. Er trug keine Kopfbedeckung, aber eine verspiegelte Sonnenbrille.

»Kadetten!« Die Stimme tönte laut und energisch aus dem breiten Brustkorb. »Ich werde Ihnen in Kürze den Lehrplan für März mitteilen. Doch zuvor lese ich vor, wer sich an diesem Tag strafbar gemacht hat. Die Genannten melden sich anschließend sofort in meinem Büro. Das ist heute wegen der Neuankömmlinge so. Zukünftig werden die Nummern der Straftäter am Bildschirm in der Halle aufgezeigt. Ich rate Ihnen, diesen regelmäßig zu kontrollieren. Wer sich nicht bis zum Abend bei mir gemeldet hat, dem droht eine Verschärfung der Strafe.« Es folgte eine Aufzählung der Bezeichnungen derer, die auf irgendeine Weise heute unangenehm aufgefallen waren. Neun verbiss es sich vorzustellen, was mit ihnen geschah. In ihrer alten Station wurde man für das Zuspätkommen schon mit drei Arbeitsstunden belegt, bei anderen Vergehen konnte man auch in Einzelhaft kommen. Dementsprechend erstaunt war er, als der Direktor plötzlich seinen und Siebens Namen verlas.

»Die Kadetten 877, 889 und 612 erhalten eine Verwarnung wegen Nichteinhaltens der Vorbereitungszeit vor Unterrichtsbeginn. Falls dies noch einmal geschehen sollte, bekommen auch sie eine Ordnungsstrafe.«

Neun stockte das Blut in den Adern und auch Sieben warf ihm einen erschrockenen Blick zu.

Daraufhin verlas der Direktor die einzelnen Aufgaben der jeweiligen Gruppen. Es dauerte eine Weile, bis die ihre an die Reihe kam.

»… Gruppe S hat dieses Semester sportliche Unterweisung bei Leutnant Jean Sanders, Gruppe T …«

Neun wurde blass. Den Typen in Sport würde er nicht überleben, war das doch alles andere als sein Lieblingsfach. Er sah heimlich hinüber zu Sieben, der ebenfalls wieder zu ihm schaute. Neun wagte aus dem Augenwinkel einen Blick zu Aica, die jedoch starr nach vorne starrte.

Als der Direktor fertig war, trat Sanders vor sie und musterte die ihm zugeteilte Gruppe. Er lief die Reihe ab, während er mit der Reitgerte auf seine Handfläche klatschte. Neun erinnerte sich an Aicas Erzählung und hatte das Gefühl, bei jedem Schlag den Kopf einziehen zu müssen. Die Laute hallten in seinem Ohr wider wie Hunderte von Dezibel.

»Also mit so etwas kann ich mich die nächsten Monate herumplagen. Da habe ich mir ein paar Schwächlinge aufhalsen lassen. Alle diejenigen, die kein Spiel heute haben, holen ihre Trainingssachen und dann Marsch zu Halle Fünf!« Er schwang die Gerte in die Luft. »Und zwar gestern noch! Bewegung!« Die Kadetten ergriffen ihre Taschen und Sanders scheuchte sie zur Verteidigungshalle, während er mit dem Elektrowagen nebenherfuhr.

»Na los, nicht so lahm, ihr Nieten!«, brüllte er. »Wer zuletzt in der Halle ist, bekommt eine Extrarunde mit mir!«

Sie stürmten zur Sporthalle am anderen Ende des Lehrtraktes. Neunzig stolperte auf mittlerer Strecke. Sieben, der einer der Vorderen war, bemerkte den Schrei und stoppte. Er wartete, bis sie als letzte vorbeilief, und blieb hinter ihr, bis alle in der Halle wieder antraten.

Sanders verschränkte die Arme auf dem Rücken und schritt die Reihe ab. Die Kadetten standen starr vor ihm und versuchten sichtlich, nicht zu heftig zu atmen. Niemand wollte auffallen. Neunzigs Knie war aufgesprungen und das Blut sickerte ihr Bein hinunter, doch sie bemühte sich sichtlich, Haltung zu wahren.

Schließlich blieb der Ausbilder vor Sieben stehen, der sich als Letzter nach dem Mädchen eingeordnet hatte. Der Leutnant musterte ihn von oben bis unten. »So, da haben wir wohl einen Kavalier hier in der Gruppe.« Er grinste wie eine Schlange. »Wollen wir doch mal sehen, ob du dich immer noch als Held fühlst, wenn ich nachher mit dir fertig bin.«

Sieben blickte nur starr nach vorne, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Bezeichnung!«, befahl Sanders energisch.

»Sir, 877, Sir«, rief er fest.

---ENDE DER LESEPROBE---