Adriana die Fuhrfrau und der Tod in purpur - Elvy Jansen - E-Book

Adriana die Fuhrfrau und der Tod in purpur E-Book

Elvy Jansen

0,0

Beschreibung

Adriana zieht mit ihrem Ochsenkarren quer durch das fränkische Reich zur Zeit Karls des Großen. Sie handelt mit Waren, die sie einkauft, und mit Gewinn wieder verkauft. Sie trifft sich mit ihrem Vater in einer Herberge in Thionville. Auf dem Weg nach Hause finden sie die grausam entstellte Leiche eines guten Freundes, der ebenfalls ein Fuhrmann war, mit dem sie den Abend zuvor noch gemeinsam verbracht hatten. Das Opfer ist fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, und in seinem Mund steckt ein edles, feines, purpurfarbenes Tuch. Dieser Mord ist absolut rätselhaft, weil von seinen teuren Gütern, die er transportierte, nicht das geringste gestohlen wurde. Aber es bleibt nicht bei diesem Mord! Adrianas Vater schickt sie wieder auf eine weite Tour, bevor sie nach Hause fahren kann. Dieses mal aber in Begleitung eines neuen Gehilfen. In einer alten Burg, mindestens zwölf Tagesreisen von ihrem Zuhause in Tholey entfernt, wird eine junge Frau ermordet. Auch dieses Opfer wurde mit einem zarten purpurfarbenen Tuch bedeckt. Adriana gerät in ein fürchterliches Komplott aus Lügen und Verrat, das sich bis in die höchsten Kreise des Kaisers zieht, und sie weiß nicht mehr, wem sie noch trauen kann...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 739

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Widmung

Dieses Buch ist allen Fuhrmännern und Fuhrfrauen gewidmet, die seit tausenden von Jahren, seit der Erfindung des Rades, unterwegs sind, um die Menschheit bis zum heutigen Tag mit allem zu versorgen, was man zum täglichen Leben braucht.

Heute nennt man sie Trucker oder Truckerin.

Inhaltsverzeichnis

Irgendwo im fernen maurischen Spanien...

Irgendwo im fränkischen Reich, Monate später

Irgendwo im fränkischen Reich, fast zwanzig Jahre später

Irgendwo im fränkischen Reich, circa ein Jahr später

Irgendwo in einer Burg des Abendlandes...

Irgendwo im fernen maurischen Spanien...

Zarte Vorhänge an den spitz zulaufenden Fensteröffnungen des Palastes, bewegten sich zu einer sanften Brise, und gaben den Blick in das Palastinnere frei. Bunte Kacheln mit herrlichen Ornamenten bedeckten Boden und Wände. Wunderschöne edle Teppiche lagen auf dem Boden. An den Wänden waren gemauerte Bänke, die mit einer Vielzahl von Decken und Kissen belegt waren. Die gnadenlose Hitze des Tages verschwand allmählich, die Palmen und der große Feigenbaum im überschwänglich angelegten Garten, wiegten sich im leichten Wind. Die Blumen, dieses phantastisch angepflanzten Gartens, verbreiteten einen betörenden und zugleich hypnotischen Duft, der sich bis in alle Zimmer des Palastes zog. Fackeln brannten an den Wänden, und zeigten so den Weg zu den unzähligen Zimmern. Wenn man den Palast verließ, wurde man im Garten von einem wunderschönen Brunnen empfangen. Er war kreisrund, mehrere steinerne Löwen spien Wasser, und schienen ihn zu bewachen. Ein Vogel der Nacht stimmte eine Serenade an, die nur seinesgleichen verstehen konnten. Der Sternenhimmel über dem Palast leuchtete, und die Milchstraße schien zum Greifen nah. Nur noch aus dem Harem, einem etwas abgelegeneren Palastteil, waren noch Stimmen von vereinzelten Bewohnerinnen zu vernehmen. Aber nach einiger Zeit verstummten auch sie, und eine tiefe Stille senkte sich über den Palast. Nach und nach wurden auch die letzten Öllampen gelöscht, und der Palast schien in einen friedlichen Dämmerzustand zu verfallen. An den Eingängen des Harems standen Wächter mit schläfrigen Augen. In einem einsamen Teil des Palastes befand sich ein Flügel, der selten von den Bewohnern aufgesucht wurde. Aber die Zimmer darin waren sehr elegant und luxuriös eingerichtet. Der jungen Frau, die sie zur Zeit bewohnte, mangelte es an nichts, außer an menschlicher Gesellschaft. Hin und wieder kam eine Sklavin herein, um für ihr Wohlergehen zu sorgen. Ansonsten war sie den ganzen Tag alleine.

In diesem Land, von dem sie so gut wie nichts zu sehen bekam, war und blieb sie eine Fremde. Auch in ihrer Heimat, fernab über dem großen Meer, hatte sie abgeschieden von der Welt gelebt. Nur einen Lehrer hatte sie zu Gesicht bekommen, der ihr schreiben und lesen, und die wunderbare Literatur der alten Dichter beibrachte. Er war ein gebildeter Eunuch, zumindest behauptete das eine Sklavin, die ihr zeigte, wie man im höfischen Stil, kluge und geistreiche Konversation führen sollte. Auch war sie in der Lage, verschiedene Musikinstrumente zu spielen. Aber niemand war da, um ihrem Klang zu lauschen, auch der Lehrer gab sich immer unpersönlich und unnahbar. Diesen Unterricht liebte sie aber trotzdem über alle Maßen, weil es ihr Fenster zur Welt war. Sie freundete sich mit der Sklavin an, die ihr mitgeteilt hatte, dass ihr Lehrer ein Eunuch sei. Sie freute sich jedes Mal darauf, wenn die junge Sklavin auftauchte, die im gleichen Alter wie sie zu sein schien, damit sie sich mit ihr unterhalten konnte. Es entstand mit der Zeit ein zartes Band der Freundschaft, und die junge Sklavin schaffte es sogar, sie ab und zu zum lachen zu bringen. Aber sie sorgten stets dafür, dass der Lehrer davon nichts erfuhr, und wenn er in der Nähe war, herrschte zwischen ihnen Stillschweigen. Eines Morgens erschrak die junge Frau, weil in ihrer Ruhestätte Spuren von Blut zu sehen waren. Beim täglichen baden stellte sie fest, dass das Blut aus ihrem Körper zwischen den Beinen austrat, und sie fürchtete sich sehr. Aber sie wagte es nicht dem Lehrer etwas davon zu erzählen und wartete, bis die Sklavin wieder erschien.

Die Sklavin tröstete die junge Frau und sagte zu ihr, dass jede Frau einmal im Monat ihren Körper reinigt, und sie nun eine richtige Frau sei, die Kinder bekommen könnte.

„Ich will aber keine Kinder!“ meinte die junge Frau erschrocken. „Wie sollte es denn in meiner schrecklichen, einsamen Welt groß werden? Wie kann ich das verhindern? Hilft es, wenn ich nicht an Kinder denke, oder ist der Prozess nicht aufzuhalten?“

Die Sklavin lächelte hintergründig.

„Du trägst soviel Weisheit in dir, und kennst alle unsere berühmten Dichter. Wie ist dein Name? Wie ruft man dich?“

„Das verstehe ich nicht. Niemand ruft nach mir, denn ich habe keinen Namen.“

„Ich habe nicht das Recht dazu, aber ich werde dich Jamilad Warda nennen. Schöne Rose, das passt wunderbar zu dir. Das bleibt aber unser beider Geheimnis, Warda!“

„Das bleibt unser Geheimnis!“ Die junge Frau sah verträumt hinaus in den Garten und wiederholte immer wieder dieses seltsame Wort.

Die Sklavin war erstaunt und entsetzt zugleich, warum man dieser blutjungen Frau keine Identität gegeben hatte.

„Du kannst Gedichte über die Liebe wunderschön in mehr als hundert Versen deklamieren. Die Liebe zu den Sternen und zu dem wunderschönen Land, welches du selbst noch nie gesehen hast, aber ausgerechnet das Wichtigste im Leben, hat man dir nicht beigebracht.“

Warda legte den Kopf schief und sah die Sklavin fragend an.

„Vielleicht ist man der Meinung, dass ich das nicht wissen muss, weil ich so einsam bin. Aber so hilf mir doch, wenn mein Lehrer mir schon nicht hilft!“

Die Sklavin streichelte der jungen Frau zart über ihre Wange.

„Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Warda. So ganz ohne einen richtigen Mann, wird das mit den Kindern wohl nicht funktionieren! Das geschieht durch die wahre Liebe. Die tiefe, alles verbindende Liebe zwischen einem Mann und einer Frau. Es ist das schönste Gefühl auf der ganzen Welt, und es muss noch mehr Dichter geben, die in der Lage sein werden, dieses Gefühl aufschreiben zu können.“

Dann erklärte die Sklavin sanft und ausführlich den Unterschied zwischen einem Eunuchen und einem richtigen Mann, und, was Mann und Frau tun müssen, damit ein Kindlein geboren werden konnte.

Der jungen Frau fielen vor Staunen, Scham, und teilweisem Entsetzen, fast die Augen aus dem Kopf, denn sie war erleichtert, dass ihr Lehrer von dieser „Last“ befreit war.

„Woher weißt du solche Dinge?“

„Wenn man hübsch ist, ist es nicht immer leicht, und wenn dir der Sultan sogar sagt, dass du hübsch bist, solltest du dich schon damit auskennen, wie es zwischen Mann und Frau funktioniert.“

„Aber du bist doch noch so jung? Wir beide dürften ungefähr im gleichen Alter sein, wobei ich sagen muss, ich habe keine Ahnung, wie viele Jahre ich schon auf der Erde bin. Ich kann erst zählen, seit ich schreiben und lesen kann, also ungefähr zehn, davor ist alles im ungewissen und verschwindet in der Dunkelheit.“

Die Sklavin sah sie an und lächelte.

„Wenn ich dich so ansehe, dann könntest du fünfzehn Jahre alt sein, also ungefähr im gleichen Alter wie ich es bin. Und es wird allmählich Zeit, dass du weißt was auf dich zukommt.“

„Und was mache ich mit diesem Wissen? Ich habe doch noch nie einen richtigen Mann gesehen. Wie erkenne ich überhaupt einen richtigen Mann?“

„Wenn du ihn siehst, wirst du ihn erkennen! Aber was rede ich da für dummes Zeug. Lass uns über andere Dinge reden.“

Aber die junge Frau ließ nicht nach, und so erfuhr sie auf diese Weise, dass die Sklavinnen sich untereinander austauschten, damit sie sich im „Bett“ des Sultans oder anderer Würdenträger behaupten können, und so ihren Lebensstandard verbesserten.

„Und das nennt man Liebe?“

Die junge Frau war erleichtert, dass sie mit Problemen dieser Art nichts zu tun hatte.

„Nein! Das hat mit Liebe nichts zu tun. Aber wenn dir der Mann gefällt, der dich für kurze Zeit erwählt, bis er wieder eine neue Favoritin hat, kannst du mit ihm Gefühle erleben, die ich nicht imstande bin, sie dir zu schildern! Jetzt stell dir doch einmal vor, wie es wäre, Liebe mit einem Mann zu machen, den man liebt? Das muss unvergleichlich sein!“

Die junge Frau wechselte an diesem Tag das Thema, weil ihr allerlei Gedanken durch den Kopf schossen, und sie keine Antwort darauf wusste. Sie vermied es, die nächste Zeit über solche unbekannten Dinge zu sprechen, und zog es vor, mit der Sklavin lieber über alberne, unbeschwerte Dinge zu reden.

Die Sklavin besaß eine Eigenschaft, von der die junge Frau nicht genug bekommen konnte. Sie war in der Lage, unnachahmlich den Lehrer zu imitieren, und andere Personen des Palastes, die sie noch nie in ihrem Leben zu sehen bekam. Die junge Frau hielt sich den Bauch vor lachen, als die Sklavin, steif wie ein Stock, mit völlig übertriebener lauter Stimme, im Zimmer hin und her lief, und mit erhobenem Zeigefinger ein Gedicht rezitierte. Aber eines Tages kam der Lehrer früher als sonst zu ihr, um mit seiner Unterrichtsstunde zu beginnen. Es konnte aber auch genauso gut sein, dass sie vom vielen herumalbern unvorsichtig geworden waren, und einfach nur die Zeit vergessen hatten. Der Lehrer muss schon eine Zeit lang in der Tür gestanden und alles mitangehört haben. Er bedachte die Sklavin mit einem hasserfüllten bösen Blick, und ließ sie von den Haremswächtern abführen. Obwohl die junge Frau immer wieder beteuerte, dass die Schuld alleine bei ihr läge, die Sklavin sich nur auf ihr Geheiß hin so aufgeführt hätte, und man die Sklavin bitte nicht bestrafen sollte, führten die Wächter sie mit brutalem Griff fort. Auch die heißen Tränen der jungen Frau, konnten den Lehrer nicht umstimmen.

Sie sah die Sklavin nie wieder. Dem Lehrer war, trotz ihres bitterlichen Flehens, keine Antwort zu entlocken, was mit der Sklavin geschehen war, oder ob sie womöglich vom Leben zum Tod befördert wurde. Von diesem Tage an kam immer nur noch eine alte Frau zu ihr, die der Sprache nicht mächtig war, und sie war einsamer, als je zuvor. Nie kam sie mit den anderen Mädchen des Palastes zusammen, sondern hörte immer nur, wie sie sich im Garten amüsierten und gegenseitig neckten. Einmal verirrte sich eines der Mädchen in den einsamen Teil des Palastgartens, um einen Ball aufzuheben. Als es die junge Frau am Fenster sah, erschrak es heftig, ließ den Ball fallen, und lief davon. Als die junge Frau am nächsten Tag den Lehrer fragte, warum das Mädchen so schreckliche Angst vor ihr hatte, meinte er nur: „Sie glaubte, den Geist einer vor vielen Jahren verstorbenen Frau gesehen zu haben, und niemand hat ihr widersprochen!“

„Einen Geist? einen Geist, einer schon lange verstorbenen Frau? Ich verstehe das nicht?“

Für einen Moment verlor der Lehrer kurz die Fassung.„Völlig unwichtig. Das geht dich nichts an!“

Manchmal glaubte die junge Frau schon selbst, dass sie ein Geist war, und fern von dieser Welt.

Die junge Frau schaute verträumt in den nächtlichen Garten. Die Palmen schienen in dem endlosen Sternenhimmel zu enden. Mit Wehmut erinnerte sich die junge Frau an eine kurze Zeit in ihrem Heimatland, in der sie unglaublich glücklich war. Sie erinnerte sich, dass eines Morgens ein Gelehrter in ihr Zimmer trat. Er stellte sich als Medikus vor, der ihren körperlichen Zustand zu untersuchen wünschte. Sie schämte sich über alle Maßen, aber der Medikus war unerbittlich, und unterzog ihren Körper einer genauen Untersuchung, dann verließ er wortlos das Zimmer. Wenig später kamen mehrere Sklavinnen in ihr Zimmer. Sie sprachen mit ihr kein Wort, aber geleiteten sie ins Bad, wuschen und pflegten sie sehr gründlich, rieben sie mit duftenden Parfümölen ein, und steckten sie in sündhaft teure Gewänder. In ihrem Haar befestigte man Blüten aus Jasmin, und der Duft, den die Blüten verströmten, war atemberaubend. Als sie in den polierten Bronzespiegel schaute, sah ihr eine aufregend schöne, aber fremde Frau, mit großen, schwarzen, ratlos wirkenden Augen, entgegen. Die Sklavinnen führten sie in einen Raum, der mit allerfeinsten Teppichen und wunderschönen Wandbildern ausgestattet war. Große Schalen mit Obst, Nüssen und vielerlei Leckereien standen bereit. Im Fokus des großen Raumes stand ein breites, einladendes Bett mit bunten, seidigen Kissen, und einem durchsichtigen zarten Vorhang, der die seltsame Farbe von Purpur hatte. Ein fremder Mann, den sie nie zuvor gesehen hatte, mit einem Vollbart, der bereits mit grauen Strähnen durchzogen war, saß auf vielen bunten Kissen, auf einem üppigen Diwan, und musterte sie eingehend. Sie fühlte sich unter seinen Blicken nicht wohl. Irgendwie kam ihr der Mann bekannt vor. Hatte sie ihn vielleicht doch schon einmal gesehen? Sie verwarf den Gedanken wieder, und blieb unschlüssig im Raum stehen. Dann erinnerte sie sich.

Als sie durch die Gänge dieses riesigen Serail geführt wurde hing am Eingang ein Bild, auf dem ein Mann in edlen Gewändern zu sehen war, und der seine Gesichtszüge trug.

„Komm zu mir, meine Tochter,“ sage der fremde Mann in einem tiefen Bariton.

Meine Tochter? War dieser fremde Mann, mit dem edlen, bunten Gewand und dem unübersehbaren Bauchansatz, gar ihr Vater? Bis dato hatte sie nicht gewusst, dass ein Vater existierte. Zögerlich ging sie auf ihn zu und hielt den Blick gesenkt.

„Heute ist dein großer Tag, meine Tochter. Gleich kommt zu dir ein junger Mann, mit dem wirst du vermählt, danach darfst du so viel Zeit mit ihm verbringen, wie du möchtest. Die Zeit der Einsamkeit ist für dich vorbei!“

Ihr schwindelte und sie musste sich setzen.

„Ich soll heiraten?“

„Was ist das denn für eine Frage? Jede junge Frau muss heiraten, damit sie ihrem Gebieter möglichst viele Kinder schenken kann. Das ist deine Aufgabe ….. dafür wurdest du ausgebildet, denn dein Mann muss sich mit dir unterhalten können, bevor er dich in die Kissen drückt. Alle bekannten Königshäuser dieser Welt werden auf dich blicken! Deine Nachkommenschaft wird etwas ganz besonderes sein, denn du wurdest erwählt, und nur dafür bist du in der Welt.“

Er verließ das Zimmer, und ein muslimischer Geistlicher, ein Mullah, betrat den Raum. Es war das einzige Mal, dass sie ihren Vater je zu Gesicht bekam, danach sollte sie ihn nie wieder sehen. Dem Mullah folgte ein junger Mann, der von weiteren Männern eskortiert wurde. An den Gesichtszügen war zu erkennen, dass sie alle aus einem Familiengeschlecht stammen mussten, denn die Ähnlichkeit war unübersehbar. Das Herz der jungen Frau schlug vor Angst bis zum zerbersten. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so viele Männer gesehen, und sie machten ihr Angst. Eigentlich hatte sie noch nie einen „richtigen“ Mann gesehen.

Einer der Männer bemerkte leise, „also wenn meine Braut auch so hübsch ist wie diese, werde ich mich auf die Hochzeitsnacht freuen, und über eine zahlreiche Nachkommenschaft brauchen wir uns keine Sorgen zu machen!“

Aber der Mullah hatte es gehört, und drehte sich unwillig zu dem vorlauten jungen Mann um.

„Dir steht kein Urteil zu! Dir steht es nur zu, deine Aufgabe zu erfüllen und sonst nichts!“

Die Zeremonie dauerte nur wenige Minuten, danach verließ der Mullah mit den anderen Männern das Zimmer, und sie war mit ihrem angetrauten „Ehemann“, dessen Namen sie noch nicht einmal kannte, alleine.

Die junge Frau wünschte sie wäre in der Einsamkeit ihrer Gemächer, und zog sich in die hinterste Ecke des Zimmers zurück. Ihm schien es nicht anders zu gehen, denn sie saßen bis die Sonne über den Horizont gewandert war, jeder in einer Ecke des Zimmers. Gegen Abend betrat ein Gelehrter das Zimmer. Die junge Frau erkannte den Medikus, der sie so eingehend untersucht hatte. Er war ein sehr geschickter Medikus, der auch große Erfahrungen in der Kräuterheilkunde hatte. Wortlos überreichte er den beiden einen Trank, den er in silbernen, kostbaren Kelchen servierte. Ratlos hielt sie den Kelch in der Hand.

„Was ist das?“

Der Medikus hielt überrascht inne.

„Es ist ein Heiltrank, der euch beiden wohl tut.“

„Wozu brauchen wir einen Heiltrank? Du hast meine Gesundheit bestens überprüft. Ich verstehe das nicht!“

Der Medikus schlug unwillig die Augen nieder.

„Warum so misstrauisch, Prinzessin? Du und dein Mann stehen am Anfang eines großen Lebens, und dieser Trank wird immer nach einer Hochzeit verabreicht.... er wird euch große Freude bereiten. Vertraut mir!“

Der Medikus brachte sogar etwas wie ein Lächeln zu Tage und forderte sie auf, endlich den Trank zu sich zu nehmen. Da die junge Frau wollte, dass der Medikus das Zimmer verlässt, hob sie den Kelch und nickte ihrem „Ehemann“ zu. Nachdem beide den Trank geleert hatten, verließ der Medikus das Zimmer. In ihrem Kopf begannen sich langsam Gedanken einzunisten, die sie nie zuvor gekannt hatte.

Sie erinnerte sich daran, was die Sklavin ihr erzählt hatte, wie es ist, wenn Mann und Frau einander treffen, und alleine und ungestört sind. Verstohlen sah sie den jungen Mann an und stellte fest, dass ihr seine angenehme Erscheinung gefiel. Er hatte lockige, kastanienbraune Haare, die sanft bis auf die Schultern fielen. Seine Bewegungen waren leicht und anmutig, und sie sah, dass er schöne Hände hatte. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wenn der junge Mann sie mit diesen Händen berühren würde. Auch wurde ihr warm, und sie hatte das Bedürfnis den langen Schleier abzulegen. Dem jungen Mann schien es nicht anders zu gehen, denn er entledigte sich auch seines Übergewandes, und starrte sie an.

Er hatte faszinierende grüne Augen. In ihrem Leben war ihr bis jetzt noch niemand mit grünen Augen begegnet.

„Ich habe noch nie so eine schöne Frau gesehen!“

Seine faszinierenden Augen ließen keinen Blick von ihr. Seine Ausdrucksweise klang hart, als wäre ihm die Sprache nicht von Anfang an vertraut. Ihr fiel auf, dass seine Haut bemerkenswert hell war.

„Ich habe in meinem Leben noch nicht viele Frauen gesehen. All meine Zeit habe ich mit meinen Brüdern damit verbracht, zu lernen.“

„Mir ging es ebenso. Allerdings weiß ich im Gegensatz zu dir nicht, ob oder wie viele Geschwister ich habe. Bis vor wenigen Tagen wusste ich nicht einmal, dass ich einen Vater habe. Ich kenne außer meinem Lehrer und dem Medikus niemand sonst. Alle anderen Menschen hält man von mir fern.“

„Einsamkeit ist der Tod des Lebens. Aber ich hatte wenigstens noch meine Brüder.“

„Ich kenne nichts anderes.“

„Hast du noch eine Mutter?“

„Ich weiß es nicht. Niemand hat mit mir darüber gesprochen, ob ich Mutter und Vater habe. Man gab mir immer das Gefühl, dass ich ganz alleine auf der Welt bin. Man hat mir nicht einmal einen Namen gegeben. Aber wenn du willst, darfst du mich Warda nennen, es darf nur niemand erfahren.“

„Warda...“ wiederholte der junge Mann.

„Dieser Name wird für immer in meinem Herzen sein.“

„In meiner Phantasie habe ich mir immer ausgemalt, ein Kind der Wüste, so ein wilder freier Dschinn zu sein! Denn ein Dschinn ist niemals gefangen.“

„Das gefällt mir. Erzähl mir davon wie es ist, ein freier Dschinn zu sein.“

Der junge Herr mit den faszinierenden Augen ging auf sie zu, und sie nahmen gemeinsam auf dem Diwan Platz, auf dem ihr Vater zuvor gesessen hatte.

Sie begann zu erzählen von der Wildheit eines Wüstengeistes, der sich niemals gefangen nehmen lässt weil er mit den Winden reist und mit den Karawanen, die durch die Wüste ziehen ... mit Tieren und Menschen seinen Schabernack treibt, und ihnen Streiche spielt.

Die Droge des Medikus bewirkte, dass ihre Befangenheit immer weiter abnahm, und man sich näher kam. Schließlich sank sie auf dem großen Bett in seine Arme. Sie war von diesen nie gekannten Gefühlen, die sie zusammen mit ihrem Ehemann erleben durfte, überwältigt. Gerne hätte sie mit der lebenslustigen Sklavin darüber gesprochen, aber alle Versuche, etwas über sie herauszufinden, wurden abgeblockt. Für mehrere Wochen lebten sie unbeschwert zusammen, und sie entdeckte mit ihrem Mann die Fähigkeit, gemeinsam zu staunen und zu lachen. Niemand störte sie, und der Trank des Medikus wurde zu einem festen Bestandteil.

Eines Tages stellte sie fest, dass ihre Monatsblutung ausblieb. Sie machte sich große Sorgen, und unterhielt sich mit ihrem Gemahl nicht nur darüber, sondern auch über den Namen, für das ungeborene Kind.

Nach eingehender Untersuchung stellte er hocherfreut eine Schwangerschaft fest, und überbrachte diese wichtige Nachricht sofort ihrem Vater. Eines Abends beschlossen sie, den Trank des Medikus stehen zu lassen, und schütteten ihn in die zahlreich vorhandenen Pflanzen. Das warme Gefühl wollte sich nicht mehr einstellen, und sie sahen sich in ihrem Leben zum ersten Mal ohne die Droge. Aber weil sie Gefallen aneinander gefunden hatten, beschlossen sie, den Trank nie mehr zu sich zu nehmen.

Mit zunehmender Schwangerschaft wurde ihnen klar, dass sie ein seltsames und absonderliches Leben in Gefangenschaft und Einsamkeit führten, und zum ersten Mal kam ihnen der Gedanke, diesen Palast und dieses Land zu verlassen. Als seine junge Frau etwas sagen wollte, küsste der junge Mann sie sanft auf den Mund. Der junge Herr nahm seine Frau an der Hand, und sie gingen in den wunderschönen Garten.

„Was ist denn los mit dir?“

„Wir dürfen uns in unseren Zimmern nur noch über das Wetter, oder das Essen unterhalten.“

„Aber mein geliebter Gemahl, wozu denn? Wir sind doch immer alleine?“

„Das sind wir eben nicht, denn wir werden beobachtet. Unsere Wände haben regelrecht Ohren.“

„Wie kommst du darauf?“

„Du hast mir gesagt, dass du wahrscheinlich schwanger bist und wir ein Kindchen bekommen, und du hast gesagt, welchen Namen du ihm geben willst. Wir haben mit niemandem darüber gesprochen, wie auch. Außer, dass wir den Anblick von uns beiden gegenseitig genießen können, bekommen wir niemanden zu Gesicht, wenn man von der stummen alten Sklavin absieht, die das Essen aufträgt. Und noch am selben Tag, war der Medikus da, und hat dich eingehend untersucht, und dein ungeborenes Kind mit dem Namen bedacht, den du ihm geben wolltest.“

Die junge Frau musste sich eingestehen, dass ihr Mann die Wahrheit heraus gefunden hatte.

„Aber wo sollen wir denn hingehen? Ich kenne nur diese Räumlichkeiten. Ich weiß noch nicht einmal wo in diesem Palast der Ausgang ist.“

„Ich werde darüber nachdenken und eine Lösung finden.“

„Was ist mit deiner Heimat, in der es diesen glitzernden, weißen Schnee gibt?“

„Uns Brüdern wurde das Gleiche angetan wie dir. Ich weiß nicht, ob wir da willkommen sind.“

Ihr Mann ließ sich Bücher über die Länder dieser Welt bringen.

In den kommenden Wochen schmiedeten sie Pläne, bis sie sich entschlossen, diese in der folgenden Nacht umzusetzen.

Ihr Mann erzählte etwas von „Seidenstraße“ und „Karawanen“, denen sie sich anschließen würden.

„Vielleicht lernen wir endlich einen echten Dschinn kennen.“

Von einem Schiff aus, welches sie über ein großes Wasser führte, würden sie, wenn alles gut ginge, in Al Andaluz ankommen, und in Cordoba mit einem neuen Leben beginnen. Ihre Flucht war gut vorbereitet. Den Trank der letzten fünf Tage gaben sie den Eunuchen, die ständig vor ihrer Tür Wache hielten. Als sie in der Nacht, zum ersten Mal in ihrem Leben, den seidig schwarzen Himmel, mit den unglaublichen Sternen sieht, ist sie trotz der bestehenden Gefahr wahnsinnig glücklich. Ihre Flucht war gefährlich und entbehrungsreich, denn die erste Zeit waren sie nur des nachts unterwegs, und verbargen sich über Tag, damit niemand sie zu Angesicht bekam.

Die Häscher ihres Vaters waren bereits unterwegs, und suchten mit schnellen Pferden nach ihnen. Sie stahlen Brot zum Essen, und Früchte von den Bäumen. Die Hände der jungen Frau wurden spröde und rau. Als Frauen an einem Fluss die Wäsche zum trocknen auslegten, „besorgten“ sie sich andere Gewänder, denn in ihren edlen teuren Stoffen konnten sie sich auf der Straße nicht sehen lassen. Ihr Mann verdingte sich bei einem Karawanenbetreiber. Er kümmerte sich um die Kamele, und behandelte sie gut. Seine Frau staunte über die Tiere, mit den wunderschönen braunen Augen, die in der Wüste unglaubliches leisten konnten, und scheinbar ohne Mühe in der Lage waren, schwere Lasten zu transportierten. Auf diese Weise kamen sie sicher durch die Wüste, und erreichten das Meer. Aber am Meer gab es Probleme.

Die Häscher ihres Vaters standen an allen Schiffen, die zum Ablegen bereit standen, und überprüften jeden, der die Schiffe betreten wollte. Sie wussten nicht mehr, wie es weitergehen sollte, und es schien, als ob ihre abenteuerliche Flucht hier zu Ende war. Die junge Frau suchte Zuflucht bei den Kamelen, die sie kennen und lieben gelernt hatte. Als sie in der Halsbeuge ihres sitzenden Lieblingskamels Schutz suchte, glaubte sie, für einen winzigen Augenblick die Sklavin am Kai gesehen zu haben, mit der sie eine kurze Zeit der Unbeschwertheit verbrachte, und die ihr so einfühlsam die Liebe zwischen Mann und Frau erklärt hatte.

Die junge Frau sah, dass die Sklavin ihr ein verstohlenes Lächeln zuwarf und ihr zaghaft zuwinkte. Durch die Rufe der Häscher zuckte sie zusammen und versteckte ihren Kopf noch tiefer in der Halsbeuge des Kamels. Aber als sie zum zweiten Mal zum Kai blickte, war niemand mehr da und sie schallt sich eine Närrin, die schon Bilder sah, die nicht der Wirklichkeit entsprachen. Ihr Vater hatte mit Sicherheit dafür gesorgt, dass die Sklavin keinen „Schaden“ mehr anrichtete, oder schlimmeres noch, sie nicht mehr am Leben war. Wehmütig dachte sie an die mutige junge Frau zurück, die ihr so viel Freude bereitet hatte, und die Tränen der Trauer rannen ihr über die Wangen. Aber da geschah ein kleines Wunder.

Das Kindchen in ihrem Bauch machte sich zum ersten Mal bemerkbar, als wollte es in dieser hoffnungslosen Lage seiner Mutter Trost spenden, und sie hatte das Gefühl, dass die winzige Hand des Kindchens sie streichelte. Trotz der hoffnungslosen Lage war sie sehr glücklich, und lief umgehend zu ihrem Mann, um ihm dieses unfassbar schöne Erlebnis zu erzählen, und ihn daran teilhaben zu lassen.

Der Karawanenbetreiber war gerade dabei, ihrem Mann den Lohn auszuhändigen, als die Häscher ihres Vaters auf den großen Marktplatz geritten kamen. Der Karawanenbetreiber hieß die junge Frau und ihren Mann an, sofort in sein Haus zu gehen und keine Fragen zu stellen. Angesichts der vielen Reiter blieb ihnen keine andere Möglichkeit, als sein Angebot anzunehmen.

Vor Angst zitternd saßen sie im Haus unter einem Tisch, der mit einer Decke verhangen war, und fühlten das Ende nahen. Die Reiter sprangen von ihren Pferden ab, und verkündeten laut über den Marktplatz, dass jeder, der diesen Menschen helfen oder Unterschlupf gewähren würde, nicht auf Gnade hoffen dürfe und des Todes sei. Einer der Männer, der sich mit dem Karawanenbetreiber unterhielt, warf auch einen Blick in das Zimmer, und der jungen Frau drohte vor Angst das Herz stehen zu bleiben.

„Was ist denn mit diesen Leuten? Warum werden sie gesucht? Haben sie gestohlen, oder andere schlimme Dinge getan?“

„Das wissen wir nicht. Wir sollen sie nur finden und in den Palast zurück bringen.“

Aber nach erfolgloser Suche, stiegen die Reiter wieder auf, und ritten weiter. Sie ließen lediglich einen Mann zurück, der weiterhin die Abfahrt der Schiffe überwachen sollte.

Der Karawanenbetreiber kam erleichtert zurück in die Kammer.

„Bleibt hier, bis die Dunkelheit hereinbricht. Ich werde euch eine Passage auf einem Schiff besorgen.“

„Allgütiger Herr, warum willst du das tun? Du siehst doch, was dich für Schwierigkeiten erwarten, wenn du uns hilfst. Willst du uns nicht mitteilen, was dich dazu bewogen hat?“

Der Karawanenbetreiber sah in die samtig schwarzen Augen der jungen Frau.

„Ihr kämpft um euer Überleben. Ich weiß nicht, was man euch im Palast angetan hat, aber ihr seid ehrliche und gute Menschen.“

Dann ließ er seinen Blick lange auf der jungen Frau ruhen.

„Du erinnerst mich an eine Frau, die vor langer Zeit in den Gärten des Sultans wandelte. Sie war eine kluge Dichterin, eine begabte Sängerin, mit einer wunderschönen Stimme, und kam von jenseits des großen Gebirges. Wenn sie mit ihrer schönen Stimme ihre Verse vortrug, war jeder, egal ob Mann oder Frau, von ihr fasziniert und begeistert. Ihre Schönheit war über alle Maßen berühmt, und der Sultan begehrte sie sehr. Man spricht davon, dass diese wundervolle, einzigartige Frau von Bilgis abstammte, der berühmten Königin von Saba. Aber sie erwiderte seine Liebe nicht, angeblich deshalb, weil sie, gegen ihren Willen, in dem Palast gefangen gehalten wurde, wie ein Tier... Sie verschwand von heute auf morgen, und ward nie mehr gesehen. Es gibt sehr hässliche Gerüchte darüber, wie er mit ihr verfahren ist, aber wenn ich dich so sehe...“

„Das ist sehr traurig! Du glaubst, dass diese Frau meine Mutter ist?“ antwortete die junge Frau betrübt.

„Ich habe viel zu viel gesagt! Es sind nur hässliche Gerüchte! Ich sollte den unbedachten Strom meiner Worte nicht mehr fließen lassen. Ihr habe genug Sorgen, und wir müssen sehen, wie ihr auf einem Schiff das Land verlassen könnt.“

„Wie sollte das gehen? Die Schiffe werden weiterhin überwacht.“

„Ihr werdet zusammen auf dem Schiff sein. Das verspreche ich euch!“

In der Nacht kam er zurück, und hatte einen Sack mit Vorräten dabei. Von dem Häscher, der das Ablegen des Schiffes überwachen sollte, war nichts zu sehen.

Tief verschleiert fanden sie einen Platz auf einem Handelsschiff, und sobald sie Platz genommen hatten, legte das Schiff auch schon ab. Im letzten Moment sprang ein junger Mann an Bord, und nur um Haaresbreite landete er nicht im Wasser. Die junge Frau konnte es nicht fassen, dass sie den Häschern ihres Vaters wirklich entkommen waren. Ihr Mann nahm sie in den Arm, und sie erfreuten sich an den wundersamen, glitzernden Sternen. Die Bewegung des Wassers unter den Planken des Schiffes zu spüren, war faszinierend, aber nicht so ganz unproblematisch. Öfter, als ihr lieb war, hing sie über der Reling, und ihr Magen gab alles preis, was sich in ihm die letzte Zeit so angesammelt hatte, wobei sie das Gefühl hatte, dem Sterben näher, als dem Leben zu sein. Als sie absolut am Ende ihrer Kräfte war, fühlte sie auf einmal eine sanfte, kühle Hand auf ihrer Stirn.

Die andere Hand hielt ein sauberes Tuch, mit dem sie der jungen Frau vorsichtig, und sanft über das Gesicht wischte.

„Alles wird gut, Warda,“ hörte sie eine weibliche Stimme, die ihr seltsam vertraut vorkam. Als sie aufblickte, schaute sie in das Antlitz einer wunderschönen jungen Frau, von der sie angenommen hatte, dass sie schon lange tot war.

„A...aber wie ist das nur möglich?,“ stammelte sie.

Vor ihr stand die junge Sklavin, mit der sie im Palast so viele unbeschwerte Tage verlebt hatte. Sie trug die Gewänder eines Mannes, und die junge Frau erkannte, dass es der „junge Mann“ war, dem im allerletzten Moment der Sprung auf das Schiff gelungen war. Im Umgang mit den Seeleuten zeigte sich, dass die ehemalige Sklavin mit ihnen vertraut war.

„Wie ist es dir gelungen, aus dem Palast zu entkommen? Ich dachte, dass du tot bist, oder mein Vater dich umgebracht hat!“

„Ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen kann.“

„Warum nicht?“

„Später vielleicht. Ich verfüge über gewisse Fähigkeiten, denen ich mein Leben zu verdanken habe.“

„Kannst du mir diese Fähigkeiten auch beibringen?“

„Ich hoffe, dass du niemals in deinem Leben zu solchen Mitteln greifen musst. Es ... war nicht immer einfach, aber ich habe es geschafft und jetzt bin ich hier.“

„Und du bist keine Sklavin mehr!“

„Nein.“

Die junge Frau drückte und herzte sie.

„Ab heute bist du meine Schwester.“

„Ich war nie etwas anderes!“

Irgendwann hörte die Übelkeit auf, und es stellte sich, so unvorstellbar es für das junge Paar auch war, so etwas wie Unbeschwertheit ein. Der ehemaligen Sklavin gelang es, die traurigen Gedanken des Paares mit Liedern und allerlei Geschichten zu vertreiben, und sie konnten endlich die Fahrt in vollen Zügen genießen.

Nach mehreren Wochen erreichten sie die fremde Küste. Hier war alles anders und freier, als in den anderen arabischen Ländern. Die Gelehrten suchten die Nähe dieser außergewöhnlichen seltsamen Menschen, und man lud sie sogar in die Universität von Cordoba ein. Die interessanten Gespräche zogen sich bis tief in die Nacht, und wenn sich der Sternenhimmel in seiner ganzen Pracht offenbarte, kamen die Astronomen. Bis in die frühen Morgenstunden hörten ihnen die beiden jungen Frauen, und der Mann, zu. Sie konnten nicht genug davon bekommen, wie in den Büchern von Philosophen, berühmten Mathematikern, Dichtern und Ärzte, die Welt erklärt wurde. Sie wurden nicht müde, sich darüber auszutauschen und zu debattieren. Aber im Reich des Sultans drang der Ruf der fremden, jungen Leute durch die Lande, und der Sultan sagte, dass sie sich der Öffentlichkeit entziehen müssen, weil Gefahr aus dem Reich drohte, aus dem die junge Frau stammte. Ihr Mann wurde umgehend, mit seinen Brüdern, zurück in seine Heimat geschickt, weil es dem Sultan zu gefährlich wurde.

Ihre heißen Tränen und die Appelle ihrer „Schwester“ konnten das Herz des Sultans nicht erweichen, und somit war ihr Schicksal besiegelt. Wenn die Wogen sich geglättet hätten, würde er seine Frau, und ihre „Schwester“ in das Abendland nachreisen lassen. Sie und ihr Mann weinten gemeinsam, weil er sein Kindchen nicht in den Arm nehmen konnte, wenn es auf die Welt kam, und ihre Zukunft wieder einmal mehr als ungewiss war. Fortan lebte sie einsam in einem Palast, wie Zuhause im Abbasidenreich, fern von allen Menschen. Aber sie war dankbar, dass wenigstens ihre „Schwester“ bei ihr verweilen durfte, und ihr über die schwere Zeit ohne ihren Mann hinweg half. Ab und zu durfte sie in ihren Räumen die wenigen Eingeweihten empfangen, und manchmal schaute sogar der Sultan vorbei, und unterhielt sich mit ihr über Prosa und Kunst. Es war ihr verboten, Nachrichten von ihrem Mann zu empfangen, und so hatte sie nicht die geringste Ahnung, wie es ihrem Mann erging, und ob er gut in seinem Heimatland im Norden angekommen war. Durch die dramatischen Umstände setzten bei der jungen Frau die Wehen früher als geplant ein. Über zwei Tage hatte sie sehr starke Schmerzen, und mit jeder Wehe hatte sie das Gefühl, innerlich zu zerreißen, wobei sie sehr viel Blut verlor. Der Sultan hatte mehrere fachkundige Frauen und einen guten Arzt, die der jungen Frau in ihren schwersten Stunden beistanden. Ihre „Schwester“ war die Einzige, die Tag und Nacht bei ihr blieb, aber die junge Frau verließ allmählich der Mut und die Kraft, und sie war blass, wie der leibhaftige Tod. Sie rieb mit einem kühlen Tuch der jungen Frau über die Stirn, und wischte eine Strähne des nassen und verschwitzten Haares zurück.

„Denk an dein Kind, auch wenn es sehr schwer fällt!“ meinte die „Schwester“.

Die Augen der jungen Frau lagen tief in den Höhlen, und sie wirkte völlig ausgelaugt, und die „Schwester“ wusste nicht, ob sie die junge Frau überhaupt noch erreichte.

„Das Kindchen kann doch nichts dafür, es will leben, schließlich will es seinen Vater kennenlernen, und hat es deshalb so eilig auf die Welt zu kommen.“

Für kurze Zeit lag die junge Frau da wie tot, aber nach einiger Zeit öffnete sie die Augen, und darin lag ein kämpferischer, fiebriger Glanz. Sie sammelte alle ihre Kraft, und spät in der Nacht gebar sie ein wunderschönes kleines Kind, das seinem Vater so sehr ähnelte.

Überglücklich legte die „Schwester“ der jungen Frau das Kind an die Brust, und es wusste sogleich was es tun musste, es begann zu trinken.

Es machten Gerüchte die Runde, dass abbasidische Spione in das Kalifat Cordoba eingedrungen waren. Die junge Frau und ihre „Schwester“ bangten um das Leben ihres Kindes. Menschen in ihrer direkten Umgebung wurden Opfer von hinterhältigen und hinterlistigen Meuchelmördern. „Warda“ versuchte trotzdem, soweit es möglich war, ihrem Kindchen eine schöne Welt ohne Angst zu zeigen. Aber das wurde immer schwieriger und gefährlicher. Am frühen Morgen stand „Warda“, mit ihrem Kindchen im Arm, am Eingang ihres großzügigen Zimmers, und erzählte ihm, was für wunderschöne Blumen im Garten wuchsen. Sie erzählte dem Kindchen, welch herrliche Farben die Blumen hatten und, dass sie sich schon darauf freute, mit ihm diese ganze Pracht zu entdecken. Leichtsinnig trat sie hinaus in diesen herrlichen Garten, und hinter einer Hecke aus duftendem Jasmin, riss ihr ein unbekannter Mann den Säugling aus den Armen. „Warda“ schrie verzweifelt auf und ihre „Schwester“ war sofort zur Stelle.

Spät in der Nacht kam ihre „Schwester“ mit dem schreienden Säugling im Arm wieder zurück.

„Wo hast du das Kind wieder gefunden? Wie ist dir bloß dieses Wunder gelungen?“

„Ich bin keine Sklavin mehr, sondern eine Kämpferin. Es war ein Leichtes, seine Spur zu verfolgen. Dieser Mann wollte erst in der Nacht den Palast verlassen. Hier, in diesem Garten, hat er sich einen geheimen Unterschlupf gebaut. Aber das wütende Schreien des Kindes hat mich zu ihm geführt.“

„Mein Kind soll Hafzah heißen.“

„Dann soll es so sein!“

Er muss schon seit Tagen hier gewesen sein. In dem Unterschlupf lag, außer einer Decke, auch noch eine kleine Amphore mit Tinte.“

„Aber was wollte der Mann mit Tinte?“

Ihre „Schwester“ zuckte nur hilflos mit den Schultern.

„Vielleicht eine Nachricht schreiben, ich habe keine Ahnung. Wir müssen in Zukunft noch besser aufpassen!“

Als „Warda“ das Kind frisch wickeln wollte, meinte die „Schwester“ dass sie das gerade erledigt hätte, und sie sich nicht darum zu kümmern brauche.

In dem wundervollen Garten wurde die Leiche eines Mannes entdeckt, der immer noch ein kleines Hemd des Kindchens in der Hand hatte. Der Sultan gab ihr vertrauensvoll den Rat, das Kindchen ihrer „Schwester“ anzuvertrauen, und fortan bekam sie das Kindchen nur noch zu sehen, wenn es gestillt wurde. Danach nahm die „Schwester“ das Kindchen mit in ihre Gemächer, und so wähnten sie sich halbwegs in trügerischer Sicherheit. Selbst der Sultan stellte seine Besuche bei der jungen Frau ein, weil er sich um das Wohl der Menschen seines Landes sorgte, und ließ niemanden mehr, außer ihrer „Schwester“ zu der jungen Frau. Sein Wesir ließ Gerüchte verbreiten, wonach die Frau bei der Geburt gestorben sei.

So hoffte der Sultan, dass langsam wieder Ruhe in sein Reich einkehrte.

„Warda“ war sehr traurig darüber und weinte sehr. Sie war immer noch von der schweren Geburt gezeichnet, und sie vermisste ihr Kindchen. Als sie in der Nacht endlich einschlief, tanzten wilde unheilbringende Dämonen in ihren Träumen, sie wälzte sich in ihrem Bett hin und her, bis sie schließlich erwachte. An den Fenstern glaubte sie eine Bewegung ausgemacht zu haben, und stieg entsetzt aus dem Bett. Aber gleich darauf schallt sie sich selbst, eine angstvolle Gans zu sein, weil sie sah, dass es nur die Gardinen waren, die sich sachte im Rhythmus des leichten Windes bewegten.

„Was soll auch schon groß passieren? Alle Eingänge sind noch stärker bewacht als sonst. Nicht einmal die Ungläubigen aus dem Norden kämen noch unbemerkt hier in den Palast.“

Sie legte sich wieder in das komfortable Bett, dachte an ihr Kind, welches in wenigen Stunden wieder zu ihr gebracht wurde, und nach einer Weile schlief sie endlich ein...

Hinter dem Feigenbaum lag eine reglose Gestalt. Es war der Wächter, den man eigentlich erst bei der Wachablösung vermissen sollte. Aber der Eunuch, an der Tür zu „Warda's“ Gemächern, war erstaunt, dass der Wächter nicht wieder hinter dem Feigenbaum auftauchte.

„Bassam!“ flüsterte er, weil er die junge Frau nicht stören wollte.

„Was ist mit dir?“ aber es kam keine Antwort. Der Eunuch hielt sein Krummschwert kampfbereit hoch und blickte sich ängstlich um.

„Du solltest doch schon bei der zweiten Runde sein. Hast du daran gedacht, was der Sultan mit dir macht, wenn du weiterhin so nachlässig bist?“

Ein Kribbeln zog durch den Körper des wachsamen Eunuchs. Er spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Es war ihm verboten seinen Posten zu verlassen, aber er sah keine andere Möglichkeit, als nachzusehen. Er zögerte. „Bassam!“ rief er zaghaft in die Dunkelheit hinein, aber er erhielt weiterhin keine Antwort. Plötzlich regte sich etwas bei dem Feigenbaum.

„Na endlich!,“ raunte der Eunuch erleichtert in die Nacht.

„Es wird allerhöchste Zeit, mein Freund. Solltest du wieder heimlich von dem köstlichen Wein des Sultans probiert haben?“

Bei dem Feigenbaum wurden Äste zur Seite gedrängt, aber statt Bassam kam ihm ein anderer Mann entgegen.

„Diese junge Frau muss wirklich wichtig sein, dass man Bassam durch dich ersetzt hat.“

„Es war bloß kein anderer da, und deshalb muss ich die Lücke füllen. Du kannst dein Schwert wieder einstecken, für heute Nacht besteht keine Gefahr!“ - der Mann zeigte ein Lächeln und offenbarte schneeweiße Zähne - „hoffe ich zumindest.“

„Natürlich.“

Der Eunuch senkte das Schwert, hielt aber plötzlich inne.

„Welchen Dienst hat man denn Bassam jetzt so unverhofft aufs Auge gedrückt?“

„Er wird dringend vor dem Harem gebraucht. Es sind neue, junge Prinzessinnen aus Afrika angekommen, und der Sultan ist hingerissen von ihnen. Ihre Haut soll schwarz wie Ebenholz, und zart wie die Flügel eines Schmetterlings sein, aber sie scheinen ziemliche Wildkatzen zu sein!“

„Und du glaubst, dass ausgerechnet Bassam eine große Hilfe wäre?“

„Er ist nicht der Einzige, der abkommandiert wurde. Hast du den Lärm nicht gehört?“

Der Eunuch schüttelte den Kopf.

„Nein! In dieser verlassenen Ecke des Palastes bekommt man leider nichts mit, wenn es mal interessant ist. Was war das denn für ein Lärm?“

„Diese schwarzen Wildkatzen zertrümmerten die teuren Möbel des Sultans, und zerschnitten die Teppiche. Kannst du dir das vorstellen?“

„Ich kann mir sehr viel vorstellen, auch wenn ich meiner Manneskraft beraubt wurde. Da wäre ich jetzt auch lieber, als hier in diesem einsamen Teil zu versauern, das kannst du mir glauben.“

Der Eunuch grinste über das ganz Gesicht. Eine Wolke verzog sich, und der Mond strahlte über den einsamen Palastgarten. Unter dem Feigenbaum glitzerte etwas, was die Aufmerksamkeit des Eunuchen auf sich zog.

„Da liegt der Helm von Bassam! Also, wenn Möbel durch die Gegend geworfen werden, wäre es doch vonnöten gewesen, den Helm...“

Der Eunuch bekam plötzlich keine Luft mehr. Für einen Moment konnte er in das völlig ausdruckslose Gesicht des Mannes sehen. Er spürte das Knacken und Brechen seines eigenen Genickes. Aber als er auf dem Boden aufschlug, weilte er schon nicht mehr unter den Lebenden.

Einem dunklen Schatten gleich, schlich sich der Mann völlig lautlos in das Zimmer der jungen Frau, und sah sie fasziniert an.

„Wie schön sie ist,“ flüsterte er leise. Daraufhin wachte sie auf, und sah ihn mit großen, schwarzen Augen an, und er wusste, dass er diese Augen nie wieder vergessen würde.

„Wo ist das Kind?“ flüsterte er. „Es gehört dir nicht! Hier ist es in großer Gefahr, und das weißt du nur allzu gut! Ich will es in Sicherheit bringen. Es soll leben!“

In seinen Augen konnte Warda nur Kälte aber kein Mitleid entdecken und sie sagte: „für dich unerreichbar!“

Er wusste, dass sie die Wahrheit sagte, aber er vergaß nicht einen Moment, warum er hier war. Er zog seinen edlen, glänzenden Damaszenerdolch und schnitt ihr in einer einzigen geschmeidigen Bewegung die Kehle durch. Danach griff er in seine Tasche und entnahm ihm ein teures Tuch. Es war zart und fast durchsichtig. Und es war in den Farben Purpur und Blau gehalten. Er wartete noch eine Weile bis das Blut aufhörte pulsierend aus ihrem Hals zu strömen, und zum Stillstand gekommen war.

„Nur wenige betrauern deinen Tod, und den von...“

Ein Geräusch ließ ihn schlagartig inne halten. Eine leichte Böe bewegte ein Windspiel mit zarten Tönen, und es hörte sich an, als würde es den Tod der jungen Frau beklagen.

Dann drapierte er das zarte Tuch über die Leiche, deren schwarze Augen ihn immer noch anzustarren pflegten.

*

Irgendwo im fränkischen Reich, Monate später

Mitten im Wald auf einer Lichtung blieb der erste Reiter einer fünfzehn Mann starken, bis an die Zähne bewaffneten, militärischen Horde stehen, und inspizierte das Gelände. Seine scharfen Augen sahen auf der Lichtung nur den frisch gefallenen Schnee. Sonst waren keine Spuren auszumachen. Außerdem war die Lichtung,

bis auf den kleinen Waldweg, mit trockenen Brombeerhecken umrandet. Die weiße Wintersonne strahlte auf die weite weiße Fläche, und spiegelte sich im Silberschmuck am Halfter seines Pferdes.

„Hier werden wir unser Lager aufschlagen. Wir müssen nur den Waldweg absichern. Durch die dichten Brombeerhecken um diese Lichtung, kann sich unmöglich jemand anschleichen. Hier können wir die Pferde vorerst stehen lassen. Sie sind rechtschaffen müde.“

„Es wird auch Zeit. Ich bin auch rechtschaffen müde,“ rief einer der Männer.

Er wirkte noch recht jung, aber sein Körper war schon lange erwachsen, in seinem Gesicht spross ein ungepflegter Bart, und sein Haar stand wirr nach allen Seiten ab. Sein einfaches Gewand mit dem gefütterten Wams war grob geflickt, aber an vielen Stellen schon wieder eingerissen.

„Bis dahin dauert es aber noch ein Weilchen, mein Freund. Zuerst darfst du dir einen Reisigbesen bauen, und die komplette Lichtung fegen!“ brüllte der Anführer den Mann an.

„Das sind mindestens fünfzig Fuß! Da bin ich bis spät in die Nacht damit beschäftigt. Und was machen die anderen?“ entgegnete der Mann trotzig.

„Die machen was sinnvolles! Zelte bauen zum Beispiel, Feuer anmachen, damit es für die Herrschaften und uns was zu Fressen gibt, und solche Sachen.“

„Kommen die Zelte auf die Lichtung?“

Der Anführer riss sich wütend den Helm vom Kopf.

„Nein! Die Zelte kommen nicht auf die Lichtung! Das wäre ja noch schöner. Jeder Bogenschütze könnte uns aus Entfernung aufs Korn nehmen. Hast du denn in den vergangenen Jahren nichts dazugelernt? Dein Gehirn besteht wirklich nur aus Grütze!“

„Ich mag Grütze.“

„Wo gehst du hin?“

„In den Wald.“

„Warum?“

„Reisig sammeln, für den Besen.“

Ein ebenfalls bewaffneter Mann gesellte sich zu dem Anführer.

„Lass ihn doch in Ruhe. Du kannst aus Hans keinen wehrfähigen Soldaten mehr machen. Er ist eben zu einfältig. Aber dafür kann er doch nichts.“

„Das weiß ich nur zu genau,“ antwortete der Anführer. „Aber alleine in den Wald kann ich ihn auch nicht lassen.“

„Was soll denn schon groß passieren? Lass ihn hier im Umkreis etwas Reisig suchen. Vielleicht kann man es zum Feuer machen benutzen. Oder willst du ihn ernsthaft die Lichtung fegen lassen?“

Der Anführer fasste sich ans Kinn.

„Wenn er die Lichtung fegt, kann er wenigstens keinen Schaden mehr anrichten, und ich habe ihn im Auge.“

„Aber wenn er die Pferde striegelt, die er über alles liebt, auch nicht. So, und jetzt denke an den schönen Ziegenbalg mit Wein, der später auf uns wartet.“

Der Anführer nickte, und als er Hans den neuen Befehl erteilen wollte, war er nirgendwo mehr aufzufinden.

Hans liebte den Wald über alles. Auch jetzt im Winter. Er fand immer irgendwelche Dinge, die ihn faszinierten. Mitten im Schnee lag ein frisch gefallener Tannenzapfen. Ein wunderschöner Tannenzapfen. Er bestaunte die Regelmäßigkeit der Schuppen, und die schöne, braune Farbe, die ihn irgendwie an Linsen erinnerte. Bei dem Gedanken an gekochte Linsen, begann sein Magen erneut zu knurren, und er entschloss sich, den schönen Zapfen zu behalten. Sein Korb war erst halbvoll mit Reisig, und er marschierte noch ein wenig tiefer in den Wald. Er hatte keine Angst, dass er sich verlaufen könnte. Der Himmel war klar, und seine eigenen Spuren würden ihm den Heimweg zeigen. Rehe kreuzten seinen Weg. Er versteckte sich im Dickicht, um die Tiere zu beobachten. Sie scharrten mit den Hufen die Erde auf, und ästen eine Zeit lang, ohne von Hans Notiz zu nehmen. Eine Kaninchenfamilie saß unweit der Rehe, und Hans erfreute sich am Anblick der kleinen, niedlichen Kaninchen, mit den kleinen Ohren, und den sanften Augen. Fast hätte er sein Reisig vergessen, und er lief noch tiefer in den Wald hinein, um den Korb zu füllen. An einem verrotteten Baumstamm entdeckte Hans ein seltsames Gebilde. Es war halbrund, fest mit dem Stamm verwachsen, und schimmerte in mehreren Braun- und Grautönen. Neugierig fasste er es an. Das Ding war zäh wie Leder und zugleich zart wie Samt. Hans arbeitete mit beiden Händen, um das seltsame Ding vom Stamm zu befreien, um es dann mitzunehmen. Er wunderte sich, dass weniger Tageslicht in den Wald fiel, und als er seinen Blick in den Himmel richtete, ließ er beinahe entsetzt den Korb fallen. Die Sonne stand schon bedenklich tief am westlichen Teil des Himmels, und begann ihn langsam rosa einzufärben.

Hans schaute in seinen Korb. Er war bis oben hin gut gefüllt, er hatte jede Menge Tannenzapfen, und dieses seltsame Ding dabei. Er musste nicht lange überlegen, was er damit anstellen wollte. Es waren wunderbare Geschenke für seine Freunde. Schleunigst machte er sich auf den Weg, aber er hatte die Befürchtung, dass es mit dem Fegen der Lichtung, von der Zeit her, nicht mehr so ganz funktionierte. Hans beschloss, dem Anführer zwei Tannenzapfen zu schenken, und dann war, so hoffte er, alles wieder gut.

Von Ferne hörte er die üblichen Geräusche, die immer da waren, wenn ein Nachtlager aufgeschlagen wurde; seine heißgeliebten Pferde, die laut wiehernd um ihr Abendessen bettelten; oder die lauten Befehle des Anführers, wenn es ihm nicht schnell genug mit dem Aufbau der Zelte ging. Manchmal hörte man auch den Koch fluchen, weil er keine vernünftige Mahlzeit mehr zubereiten konnte.

Aber halt...

Irgendetwas stimmte mit diesen Geräuschen nicht. Er wusste zuerst nicht was ihn störte. Hans stellte seinen Korb ab, und konzentrierte sich. Das fiel ihm manchmal sehr schwer, aber er gab sich alle Mühe. Wenn ein Lager für so viele Menschen aufgeschlagen wurde, konnte man hören wie Holzpflöcke in den Boden getrieben wurden. Das zufriedene Schnauben der Pferde, wenn sie von ihrer Last befreit wurden, das Klappern von Geschirr, und im Winter wurde öfter geflucht, wenn der Zunder nass geworden war, und es sehr schwierig war, ein Feuer zu entfachen. Nichts davon war zu vernehmen. Statt dessen war Waffengeklirr und entsetzliche Schreie zu hören. Die Pferde wieherten sehr laut, und weil Hans die Pferde über alles liebte, verstand er auch, dass es nicht der Hunger war, der sie so unruhig und laut werden ließ, sondern weil sie sich vor irgend etwas fürchteten, und sie in Panik verfallen ließ. Vor Angst wollte Hans tiefer in den Wald hinein laufen, aber die Schreie, der Menschen und der Tiere, ließen ihn innehalten. Hans ließ den Korb mit Reisig stehen, und schlich sich langsam heran. Plötzlich wurden Rufe laut.

„Wir können verschwinden. Sie sind alle tot!“

„Bist du sicher?“ tönte eine männliche Stimme über den Platz. Diese Stimme würde Hans nie mehr vergessen. Hans saß geschützt im Dickicht. Er zählte die Männer, die nacheinander mit gezückten Schwertern über den Platz liefen. Es waren mehr Männer als seine Hände Finger hatten. Und einer davon saß hoch zu Ross.

„Keiner darf überleben! Diese Hatz über tausende von Meilen darf nicht umsonst gewesen sein!“

Die Stimme dieses Mannes gehörte zu einem Reiter in einer auffallend edlen Brünne. Sie glänzte in der untergehenden Sonne, und Hans hatte solche teuren Brustharnische bis jetzt nur bei Menschen höherer Herkunft, wie seinen Herrschaften, gesehen. Seine Haare waren blond, und fielen ihm bis auf die Schultern . Er saß auf einem schwarzen großen Pferd, wie sie eigentlich nur in einer Schlacht benötigt werden. In seiner rechten Hand befand sich ein Schwert, von dem das Blut nur so tropfte.

„Du kannst ganz beruhigt sein. Sie sind alle tot!“ antwortet einer der Männer, der mit vor Blut triefendem Schwert auf die Leichen zeigte.

Der Mann auf dem Pferd nickte.

„Nehmt die jungen Edelmänner, oder das, was noch von ihnen übrig ist, und hievt sie auf ihre Pferde. Wir wollen doch, dass die Söhnchen gut nach Hause kommen!“

„Wie stellst du dir das vor? Die Burg ist noch mindestens eine Tagesreise entfernt.“

„Die Pferde des Begleittrupps sind von hier, und kennen den Weg zurück.“

„Du hast offensichtlich an alles gedacht.“

Mit Entsetzen stellte Hans fest, dass es sich bei diesen Toten, um seine Leute handelte.

Alle seine Freunde und die Soldaten … wie war das nur möglich? Hans setzte sich auf den Boden und weinte lautlos.

Auf dem Boden lag ein Mann, der laut stöhnte. Hans sah, dass es sein Offizier war, der ihm den Auftrag gegeben hatte, die Lichtung zu fegen. Er betete, dass der Reiter ihn nicht hören konnte, aber sein Stoßgebet war umsonst.

Langsam ritt er, mit seinem großen schwarzen Pferd, auf den schwerverletzten Mann am Boden zu.

„Tja...so sieht man sich wieder! Weißt du, dass ich um die halbe Welt reisen musste, um das hier zu erledigen?“

Dabei zeigte er mit seinem Schwert auf die vielen Toten.

„Eigentlich ist es schade um dich, du, mit deinen Fähigkeiten. Aber so ist es nun einmal, du stehst auf der falschen Seite. Zumindest auf der, die nicht so gut bezahlt.“

Er stieg gemächlich vom Pferd ab. Der Mann am Boden blutete aus mehreren Wunden. Ganz ruhig und gelassen schaute er dem Reiter in die Augen.

„In der Hölle sehen wir uns wieder!“

„Das befürchte ich auch!“

Der Ritter holte zum Schlag aus.

„Du weißt, dass ich meinen Auftrag erfüllt habe. Das kannst du mit in die Hölle nehmen!“

„Es ist noch nicht zu Ende. Das war nur der Anfang!“

„Du hast sie doch im Stich gelassen!“

Verwundert starrte der Reiter auf den am Boden liegenden Mann, dann rammte er ihm das Schwert in die Brust.

„Ich spiele nicht gerne mit Verlierern. Man geht immer mit dem Stärksten!“

*

„Ich habe Pferde ankommen sehen. Jede Menge Pferde, Meister Halbrandt! Und wenn ich richtig gesehen habe, glänzt das Zaumzeug von sechs Pferden in reinstem Silber! Ich habe so etwas noch nie gesehen. Wir bekommen Besuch, hohen Besuch!“

Ein ungefähr zehnjähriger Junge hüpfte immer wieder die Zinnen hoch, um freie Sicht auf die prächtigen Pferde zu haben.

Meister Halbrandt war gerade dabei, wie jeden Tag, die Waffen zu inspizieren. Er prüfte die Axt in seiner Hand und schaute nach, ob sie Roststellen aufwies, oder neu geschärft werden musste. Er war mit dem Ergebnis zufrieden,, und hing sie zurück an die Wand. Er nahm die nächste Waffe in Augenschein.

„Ich habe sie auch gehört und sie werden in Kürze in die Burg einreiten, Filus! Schau, dass du in den Hof kommst. Es wird jede helfende Hand gebraucht. Du kannst ihnen ausrichten, dass ich auch gleich zur Begrüßung komme.“

Missmutig schaute er das Schwert an, welches er in den Händen hielt. „Wer wagt es, so eine schartige Waffe hier hinzuhängen? Im Verteidigungsfall kann man noch nicht einmal den Feind damit erschlagen. Dieses Schwert kann nicht mehr geschärft werden, und muss umgehend zum Schmied! Was das wieder Kosten verursachen wird.“

„Welche Herrschaften, auf so edlen Pferden, kommen denn da an?“

„Du stellst Fragen über Fragen. Das hat dich nicht zu interessieren.“

Filus war aber nicht entgangen, dass Halbrandts Hand zitterte, als er das schartige Schwert wieder an seinen Platz hing.

„Aber ich spüre doch, wie aufgeregt du bist. Willst du mir den Grund dafür nennen?“

Halbrand ärgerte sich, dass er sich nicht besser unter Kontrolle hatte.

„Nein! Und jetzt troll dich, bevor ich richtig böse werde!“

„Ich habe gehört, man wartet hier auf edle junge Herren.“

Wütend fuhr Halbrandt herum und packte den Jungen am Kragen.

„Wer erzählt so etwas?“

Filus wurde wegen des festen Griffes rot im Gesicht.

„I...ich sitze sehr viel in der Küche, und höre eigentlich nur zu, was da so gesprochen wird.“

„Und was wird da so gesprochen?“

Der Griff um den Hals des Jungen lockerte sich ein wenig, und Filus schnappte erleichtert nach Luft.

„Na ja..., dass junge Edelmänner und Ritter sich eine Zeitlang einquartieren würden, und niemand dürfte davon erfahren.“

„Meine Güte! was sonst noch?“

„D...das war alles. Du sorgst doch dafür, dass ich nicht mehr Zeit in der Küche verbringe, als nötig.“

„Wenn du mit irgend jemandem darüber sprichst, bekommst du ernsthafte Schwierigkeiten.“

„Ich verstehe das nicht. Man spricht heimlich von ihnen, aber jeder tut so, als ob es sie nicht gibt, aber dabei sieht es so aus, als ob sie schon erwartet worden wären!“

Der alte Waffenmeister sah sich verstohlen um. „Wirst du wohl still sein! Du bist und bleibst ein Tölpel! Und du weißt auch jetzt nicht, dass es sie gibt! Hast du das verstanden?“

„Wenn ich ganz ehrlich sein soll...nein! Jeder weiß, dass sie zurückkommen, aber alle tun so, als wäre es ein ganz normaler Tag.“

„Woher willst du das wissen?“

„Wie gesagt, ich sitze viel in der Küche.“

„Ich kann dir nur nahe legen Stillschweigen zu bewahren, sonst sorge ich persönlich dafür, dass du für immer schweigst!“

Der Junge riss entsetzt die Augen auf.

„Aber du würdest mir doch nie etwas antun!“

„Da wäre ich mir nicht so sicher, dein ständiger Ungehorsam und deine vorlaute Schnauze gehen mir schon lange gegen den Strich!“

„Aber warum haben sie sich nicht durch einen Kurierreiter angekündigt. Das macht man doch so! Oder haben sie sich doch angekündigt? Weil ich glaube, dass ich einige der Pferde aus unserem Stall erkannt habe.“

„Du stellst zu viele Fragen! Unser Burgherr will auch endlich sehen, wer in seine Burg einreitet, und hat ihnen deshalb einen kleinen Trupp von Reitern entgegengeschickt. Aber ich wundere mich, dass es so spät geworden ist. Und jetzt will ich kein Wort mehr hören!“

Filus stürmte die Treppen hinunter, damit er zur Stelle war, wenn er helfen sollte. Aber es waren keine begeisterten Rufe zu hören.

Das einzige was er vernahm, war das Wehklagen und Weinen der Frauen und Kinder.

Jetzt erst nahm sein Auge das realistische Bild wahr, und er erkannte den ungepflegten bärtigen Mann der abseits stand, weinte, und eines der Pferde am Halfter hielt. Er wirkte wie ein großes Kind. Die Pferde waren wunderschön, und bei sechs davon war das Zaumzeug mit reinstem Silber überzogen, und es waren Münzen daran befestigt, wie er es noch nie gesehen hatte.

Auf jedem einzelnen Rücken dieser sechs Pferde lag ein junger Mann in edler Garderobe, die mit Blut durchtränkt war, denn sie waren tot. Grausam hingemetzelt ... und an jedem Pferd hing ein edles, feines, purpurfarbenes Tuch mit blauen Streifen.

Hans, der als einziger dieses grausame Massaker überlebt hatte, und mit ansehen musste wie seine Freunde abgeschlachtet wurden, sprach von diesem Tag an nie mehr ein Wort.

*

Irgendwo im fränkischen Reich, fast zwanzig Jahre später

Es war nicht abzusehen, wann der Regen aufhören würde. Die Wiesen und Äcker waren aufgeweicht, und die Straßen unpassierbar.

Für die Bauern war es unmöglich ins Feld zu gehen, um mit dem Pflügen zu beginnen.

„Wenn die Bauern nicht aussäen können, wird es sehr schwierig werden, eine vernünftige Ernte einzufahren.“

„Das macht mir auch Sorgen, und ich frage mich, warum wir aus den sonnigen Gefilden, in dieses völlig verregnete Land, in dem die Sonne jeden Morgen zu verschlafen scheint, gekommen sind .“

„Weil wir nichts mehr zu tun hatten? Was blieb uns denn anderes übrig?“

„Du weißt, dass das nur die halbe Wahrheit ist.“

„Was sollte ich denn machen? Hatte ich eine andere Wahl?“

„Eigentlich nicht! Ausserdem wird es Zeit, dass du für ein Unterkommen sorgen musst. Schließlich ist sie ein junge, frisch erblühte Frau, die ihresgleichen in diesem fränkischen Reich sucht.“

„Schönheit ist leider nicht alles. Aber ich werde sehen, was ich machen kann.“

„Wenn wir wieder einmal einen kleinen Empfang hätten, und hochrangige Gäste einladen könnten ... das wäre schon was!“

„Gut, dass du mich daran erinnerst, wir bekommen heute Nachmittag Besuch.“

Die Frau sprang entsetzt auf.

„Das sagst du mir erst jetzt! Aber da muss ich doch Vorbereitungen treffen. Was denkst du dir eigentlich?“

Der Mann hockte zerknirscht am Tisch.

„Entschuldigung, der Kurier war heute Morgen da, und ich habe es vor lauter Aufregung total vergessen. Aber wir haben doch noch von deinem guten Brot und dem tollen Schinken, den uns der Bischof geschenkt hat ... und unser Wein ist auch nicht zu verachten.“

„Also wir haben zwar nur ein kleines Gut, aber ich möchte mich schon richtig darstellen und mich von meiner besten Seite zeigen“.

„Wer hat sich denn angemeldet, dass du so völlig von der Rolle bist?“

„Ich kann es kaum glauben ... Besuch aus unserer alten Heimat.“

Mathilde erschrak über alle Maßen.

„Warum macht er den weiten Weg aus den sonnigen Gefilden hier her in dieses verregnete Land? Es ist doch alles in Ordnung?“

„Natürlich kommt er nicht nur wegen uns. Dafür sind wir eine Nummer zu klein und zu unwichtig.“

„Darf unsere bezaubernde Tochter an diesem Empfang teilnehmen?“

„Das hast du sehr schön gesagt, Mathilde.“

„Was meinst du? ich verstehe dich nicht, Dietbert.“

„Du hast 'unsere Tochter' gesagt, das freut mich sehr, und selbstverständlich darf sie an unserem Empfang teilnehmen.

Ich habe es dir im Leben nicht immer einfach gemacht, Mathilde.“

„Und ich konnte dir nie eigene Kinder gebären, aber ich liebe sie wie meine eigene Tochter. Sie ist mein Sonnenschein und unser Kind, ich bin glücklich, dass sie da ist. Ich geh' jetzt nach oben und sage Nadija, dass sie für den Empfang ihr bestes Kleid anzieht. Nadija soll auch Freude haben. Dann kann sie stolz ihre Bildung vortragen, und den Besuch, wer immer es ist, damit beeindrucken ... ähm … kenne ich unseren Besuch?“

„Aber ja. Es ist ein alter Freund aus vergangenen Tagen. Du mochtest ihn allerdings nicht besonders.“

„Ich bin eben sehr kritisch. Aber der Mensch kann sich ja ändern, und sicher gibt es recht viel zu erzählen.“