AERA - Die schwärzeste Nacht - Markus Heitz - E-Book

AERA - Die schwärzeste Nacht E-Book

Markus Heitz

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Bestseller-Autor Markus Heitz schickt Hard-boiled-Ermittler Malleus Borreau zum 2. Mal mitten zwischen die Fronten von Göttern und Menschen. Reale Gottheiten, alte Gottheiten mit einst vergessenen Namen, und das auf sämtlichen Kontinenten – Normalität seit dem Jahr 2012. Nur Christen, Moslems und Juden warten immer noch auf den Einen. Die einst mächtigsten Religionen der Welt wurden so zu bedeutungslosen Sekten, während Göttinnen und Götter die Weltordnung umkrempelten. Und eigene Pläne mit den Sterblichen schmieden. Nur Interpol-Ermittler Malleus Bourreau ist Atheist geblieben und geht Verbrechen nach, in die Entitäten verwickelt sind. Weil er sie für Trug hält, und er ist gut in seinem Job, denn er hat keinen Respekt. Aber wieso ausgerechnet ein Atheist von den Göttern verschon wird, ist vielen ein großes Rätsel. Der neuste Fall beginnt harmlos: Ein Mann wurde von einer Gott-Statue erschlagen – Unfall oder Mord durch göttliche Hand? Aber schon bald stecken Malleus und seine Kollegin Lagrande tiefer in den Intrigen der Entitäten, als ihnen lieb sein kann. »AERA – Die schwärzeste Nacht« ist die Fortsetzung des Fantasy-Thrillers »AERA – Die Rückkehr der Götter« aus der Feder des Bestseller-Autors Markus Heitz.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 667

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Markus Heitz

AERA2Die schwärzeste Nacht

Roman

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Widmung

Dramatis Personae

Dramatis Divi

Intro

Prolog

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Epilog

Nachwort

Leseprobe »Das Herz der Zwerge 1«

Den Menschen, die Gutes tun. Einfach nur so.

Dramatis Personae

Malleus Bourreau, Sonderermittler bei Interpol für divine Verbrechen

Marianne »Rianne« Lagrande, Sonderermittlerin bei Interpol für divine Verbrechen

Ilja Lautrec, Bourreaus und Lagrandes Vorgesetzter bei Interpol

der Kommentator, Malleus’ seltsamster Fan

Oona Milord, Agentin von D.E.M. (Deus Ex Machina)

 

Alec, Ian, Kelly und Machine, Anhänger des Donn-Kultes

Merina Arcando, Vatikanpolizistin

Leila Azimi, Nav Sarvan (Kapitänleutnant) der persischen Marine-Spezialkräfte

Gustav Bergener, Schweizergardist

Bob und Leo, Ranger im Nationalpark von Samar

Nicolas Byrne, Donn-Druide von Clifden

Professor Emilian Cluezel, Arzt am Sirona-Krankenhaus

Cooper, Himsby und Steveny, Streifenpolizisten in Sydney

Herr Emberá, wissenschaftlicher Leiter bei Tobako

Schwester Eva, Katholikin

Professor Jucheng Fang, Archäologe und Beauftragter für die Grabanlage von Kaiser Qin Shi Huang Di

Franc, Dimi und Witha, Mitglieder von Sovereign

Sidney »Cid« Hernando, Detective bei der Mordkommission Sydney

Imee, Joels Schwester

Joel, Prophet des Einen Gottes

Miles Karak, Herrenschneider und -ausstatter von Karak et Frères

Philipp Kerber, Außenermittler von MaxiRisk

Koen, Anangu-Ranger

Tamera Li, Mitglied von Sovereign

Ernest Malloy, Mitglied von Sovereign

Marduki, Sicherheitsbeauftragte von S&G Limited

Ireen Monaghan, Sean Rathebys Lebensgefährtin

Dr. Sabine Noack, Geschäftsführerin von Heylig Rouch

Noth, Handlanger

Sean Ratheby, Besitzer von Black Alder Hall

Renner und Vogler, Streifenpolizisten in Lipsk

Ardaschir Rostami, Gouverneur von Yazd

Kardinal Severinus, päpstlicher Gesandter

Tanam, Mr Jiang, Merx und Ethnen, Nachbarn von Tina Wentworth

Keno Tipota, Geschäftsmann

Kardinal Varese, persönlicher Sekretär des Papstes

Thierry Waldmann, Angestellter bei Karak et Frères

Tina Wentworth, Mordopfer

Dramatis Divi

Aeracura: antike keltisch-germanische Totengöttin

Ahriman: repräsentiert in der zoroastrischen Theologie die Zerstörung bzw. das Zerstörerische

Belenos: keltische Heilgottheit und Quellgott

Cromm Cruach: keltischer Gott der Unterwelt und des Todes

Dike: eine der griechischen Horen (Göttin) und Personifikation der Gerechtigkeit

Dis Pater: römischer Gott der Unterwelt

Donn: Sagengestalt der keltischen Mythologie, wohnt als Totengott auf dem Cnoc Fírinne

Enki: sumerischer Weisheitsgott, Gott der Handwerker, der Künstler und der Magier

Enlil: Hauptgott des sumerischen und akkadischen Pantheons

Fann: Sagengestalt der keltischen Mythologie; Meeresgöttin, auch Königin der Elfen

Ganesha: hinduistischer »Herr der Hindernisse« und »der Wohltaten Schenkende«

Grannos: keltischer Heilgott, Partner von Sirona

Kali: hinduistische Göttin des Todes, der Zerstörung und Erneuerung

Lakampati: philippinische Gottheit der Fruchtbarkeit

Loki: Schelmengestalt der nordischen Mythologie

Lug mac Ethnenn: göttlicher König der keltischen Mythologie

Manat: arabische Göttin des Mondes, des Abendsterns und des Schicksals

Mars: antiker römischer Kriegsgott

Mercurius: römischer Gott der Händler und Diebe, Götterbote

Mextli: aztekischer Kriegsgott

Namtarú: sumerischer und akkadischer Unterweltsgott, sein Name bedeutet »Schicksal«

Odin: Hauptgott der nordischen und germanischen Mythologie, Göttervater

Perun: oberster Gott der slawischen Mythologie, Gott des Gewitters, des Donners und der Blitze

Phoibos Apollon: Gott des Lichts, der Heilung, der Weissagung und der Künste in der griechischen und römischen Mythologie

Segomo: keltischer Kriegsgott

Sirona: keltische Göttin der Heilung, Partnerin von Grannos

Susanoo: Gott des Windes und des Meeres aus der Shintō-Mythologie

Thor: nordischer Gewitter- und Wettergott für die Seefahrer, für andere auch Vegetationsgott

Vesunna: keltische Göttin für Wohlstand, Überfluss und Glück, Quellgöttin

Yama: hinduistischer Gott des Todes und Herr der Rechtschaffenheit

Yang Jian: chinesischer Jagdgott

Zhenwu (Der Dunkle Krieger): eine der mächtigsten Gottheiten des Daoismus

Intro

Es geschah 2012.

Von einem Tag auf den nächsten waren sie wieder da: Gottheiten.

 

Und zwar die alten Gottheiten.

Jene, welche die Bibel mit Du sollst keine anderen Götter haben neben mir meinte – und deren Existenz die Heilige Schrift der Christen niemals leugnete. Oder in Abrede stellte.

Im 21. Jahrhundert rechnete jedoch niemand damit, dass die Gottheiten zurückkehren würden. Mitten hinein in das, was man Realität nannte.

 

Sie ritten aus den Himmeln.

Sie stiegen aus Pyramiden und Tempeln, Schreinen und Heiligtümern, aus Wäldern, Sümpfen und Nebeln.

Sie sprachen zu den Ihren – überall.

Die Meldungen über Sichtungen und über die Wunder, die sie vollbrachten, häuften sich.

Egal ob Manitu oder Mictlancihuatl oder Anubis, ob Odin und Thor, ob namenlose Naturgottheiten oder Legenden wie Mars und Hephaistos, ob Olorun, ob Erdmutter und Loa, ob Shiva oder Kami oder Manifestationen Buddhas oder Cai Shen – sie existierten.

 

Manche Gottheiten traten vor Kameras, gaben Interviews und machten damit denen Mut, die immer an sie geglaubt hatten und deswegen verspottet worden waren.

Manche Gottheiten eroberten sich ihre alten Kultstätten zurück, auf die vor allem die Christen ihre Kirchen gestellt hatten. Prächtige Bauten wurden dem Erdboden gleichgemacht und durch einstige Gebäude ersetzt.

Manche Gottheiten lebten unter den Sterblichen, in alten Tempeln oder in neu errichteten Anlagen, in Hochhäusern, in unterirdischen Bunkern oder kilometerhohen Türmen.

Manche von ihnen gründeten Firmen, um ihren Einfluss in der Welt der Sterblichen auszuweiten; sie mischten sich in den Wertpapierhandel ein und betätigten sich in der Wirtschaft. Die Konzerne hatten ein enormes Interesse daran, mit den Entitäten ins Geschäft zu kommen.

Manche Gottheiten nahmen Ausgewählte mit auf andere Planeten. Von dort brachten sie Andenken mit, und gerüchteweise errichteten sie vor Ort Gebäude, um dort zu verweilen.

 

Und siehe, eine neue Ära begann: Aus Glaube wurde Wissen.

 

Nur die Christen, die Moslems und die Juden warteten vergebens.

Kein Gott, kein Allah und kein Jahwe.

Keine Engel, keine Dämonen.

Nicht einmal der Teufel erschien.

Die einst mächtigsten Religionen der Historie schrumpften zu Sekten ohne Gott. Ihre Anhänger wurden verlacht und verspottet. Es folgten Massenkonvertierungen und Kriege, bis sich das Gefüge neu eingepasst hatte.

So änderte sich die Welt.

 

Doch Interpol-Ermittler Malleus Bourreau ist Atheist geblieben – in einer Welt, in der es vor Gottheiten nur so wimmelt.

Er ist gut in seinem Job, denn er hat keinen Respekt.

Nicht vor Menschen und nicht vor Göttern …

Prolog

Germanien, Freistaat Sachsen (germanischer Teil), Lipsk (Leipzig), Dezember 2019

Miles Karak vermaß den neuen Kunden in seinem Schneideratelier akribisch mit einem abgenutzten Maßband, das zwischen seinen Fingern millimetergenau hin und her glitt; dabei plauderte er entspannt über dieses und jenes wie ein Barkeeper mit einem Thekengast, der zum ersten Mal in seinem Leben einen Cocktail bestellen wollte.

Gewiss konnte man Menschen auch in Kabinen stellen und sie binnen Sekunden von Lasern abscannen lassen, während Nähroboter innerhalb einer Stunde die gewünschte Kleidung zusammenschnitten, doch das war nicht die Art Kundschaft, die Miles schätzte oder in seinem Laden willkommen hieß. Seines Erachtens bestand ein menschliches Wesen nicht nur aus Zahlenkolonnen, Körperregionen und Maßeinheiten, sondern hatte individuelle Besonderheiten, die ein Schneidermeister wie er erkannte, sobald er Leute beim Gehen, in der Bewegung, im Gespräch beobachtete. Solche Dinge spielten bei der Anfertigung eines Anzugs, eines Kleides, eines neuen Kleidungsstücks eine Rolle, damit der Stoff am Ende perfekt saß. Miles selbst war gekleidet in eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und ein dunkelgrünes Gilet.

»Wir sind gleich so weit, geschätzter Herr Tipota«, sagte er mit seiner stets heiser klingenden Stimme und prüfte, was er sich notiert hatte. Er kniete neben dem Mann und wirbelte das Maßband. Am Boden lagen Notizblöckchen und Bleistift. Das Nadelkissen saß an seinem Oberarm, denn am Handgelenk wäre es ihm im Weg. »Ich hoffe sehr, es ist nicht zu anstrengend für Sie?«

»Überhaupt nicht«, erwiderte der breit gebaute Keno Tipota, der die Prozedur stoisch über sich ergehen ließ. Der langhaarige, blonde Mann war um die dreißig und hielt seinen Körper vorbildlich in Form. »Hatte es mir nerviger vorgestellt.«

Auch wenn der Name ungewöhnlich klang, vernahm Miles keinen ausländischen Akzent. Er korrigierte seine Aufzeichnungen bezüglich des Hosensaums um einen halben Zentimeter. Dass sein Neukunde einen recht günstigen Anzug von der Stange und billige Schuhe trug, übersah er höflich. Jeder kam irgendwann das erste Mal zu ihm.

»Das freut mich«, sagte er.

»Ist das Tabak und Leder?«

»Bitte?«

»Ihr Duftwasser. Es riecht sehr … ungewöhnlich. So was suche ich schon seit Jahren.«

»Der Hauch von Oudh rundet es ab, mein Herr.« Miles lächelte und nahm das Blöckchen samt Stift zur Hand, richtete sich auf und strich seine braunen Haare glatt. Er war mit seiner schlanken Erscheinung das perfekte Abbild eines Schneiders. »Ich nenne es Œuvre Noir. Bei der Suche nach Ungewöhnlichkeiten sind Sie bei Karak et Frères genau richtig. Darf ich Ihnen eine Probe davon abfüllen?«

»Oh, das wäre mega.«

Miles drehte sich etwas zur Seite, damit Tipota sein Grinsen nicht sah. Das Wort mega fiel nicht oft in seinem Geschäft, das in einem Durchgang von Barthels Hof lag. Die Fassade im Stil der Goldenen Zwanziger und die verschnörkelte Schrift über dem Laden lockten Neugierige durch die Tür in den Verkaufsraum, dessen Interieur einem Gentlemen’s Club ähnelte. Miles legte Wert auf eine familiäre Atmosphäre.

Das Geschäft selbst bestand aus dem abgetrennten Atelierbereich und einem Verkaufsraum. Zwei Durchbrüche in die Etagen darüber schufen eine großzügige Höhe, schlanke Holztreppen und ein Lift führten zu den Galerieebenen. Sessel und Couches aus Leder mit Metallelementen dominierten die Einrichtung, die zum Verweilen einlud. Meterhohe Schränke und Humidore beschützten Spirituosenflaschen und Tabakwaren jeglicher Provenienz, die auf ihren Glasregalen verführerisch ausgeleuchtet wurden. In den Regalen voller Hutmodelle, Gehstöcke, Handschuhe, Schals, Krawatten und mehr fanden auch die Anspruchsvollsten etwas, was ihr Leben bereicherte und verschönerte. All dies zeichnete Karak et Frères aus.

»Sie treiben viel Sport, geschätzter Herr Tipota?« Miles sah auf die Notizen. Der Bizeps mochte manch einen mittelmäßigen Bodybuilder neidisch machen. Der Schneidermeister selbst fiel eher in die Kategorie: halbes Hemd.

»Ich weiß, Sie brauchen für meine Statur mehr Stoff für den Anzug, als Sie normalerweise veranschlagen.« Tipota lachte entschuldigend. »Wie gut, dass ich auf Malleus gehört habe.«

Miles horchte auf. »Ah, Sie sind ein Freund von Herrn Bourreau?«

»Ja. Bin geschäftlich in Lipsk und hab bei seiner Wohnung vorbeigeschaut. Sollte eine Überraschung sein. Aber er ist wohl unterwegs.« Tipota blickte auf die Uhr, eine gut gemachte Luxusattrappe. Der Mann hatte einen Hang zum Schein, den er wohl mit einem Maßanzug zum Sein wandeln wollte. »Zu seinem Termin wird er nicht zu spät kommen. War nicht heute eine neue Abmessung vereinbart? Er erwähnte so etwas.«

Miles beherrschte sich, nicht bestätigend zu nicken. Diskretion gehörte zu seinen Stärken, sowohl was Namen als auch Körpermaße, Bestellungen und Vorlieben seiner Kundschaft anging. »Wenn er Ihnen das sagte, wird es so sein«, erwiderte er.

»Hat ja immer viel zu tun, der Herr Interpol-Inspektor für Divines.« Tipota seufzte und sah sich um. »Malleus, der alte Bro. Was haben wir nicht alles erlebt!«

»Ich möchte es gar nicht erfahren, mein werter Herr Tipota.« Miles nahm das schwarze Sakko des Mannes vom Bügel und half ihm hinein. Auch das Wort Bro erklang selten in seinem Laden. Er tippte bei Tipota auf einen Neureichen; jemanden, der überraschend an viel Geld gekommen war. »Ich werde mich bei Herrn Bourreau bedanken, dass er Sie auf mich aufmerksam machte.«

»Sollten Sie unbedingt! Ich plane, sehr viel Geld bei Ihnen auszugeben.« Der muskelbepackte Tipota deutete auf den Durchgang zum Verkaufsraum, vor dem ein schwerer Vorgang hing, der jegliche Geräusche absorbierte. »Er schwärmte mir übrigens von den Culebras vor, die Sie für ihn anfertigen lassen. Diese schiefen Zigarren.«

Innerlich verdrehte Miles die Augen. Culebras waren nicht schief, sondern krumm bis gezackt. Schief ist der Turm von Pisa, dachte er. Laut sagte er: »Vielen Dank.«

»Wissen Sie, ich bin ein Fan von guten Ziggys. Welche Banderole würden Sie mir empfehlen, Herr Karak?« Tipota zog das Sakko zurecht, das Gewebe gab ein leidendes Knirschen von sich. »Ich kaufe ein Kistchen. Nur keine bernsteinfarbenen. Die bekommen mir nicht. Malleus überließ mir mal eine zum Geburtstag.«

Ziggys? Ihr Götter! Wer spricht denn so? Miles zweifelte nicht daran, dass sein Kunde von den Culebras wusste, deren Banderolen verschiedene Farben hatten: blau, grün, sepia, schwarz und viele weitere – je nach Inhaltsstoff des Tabaks. Aber er bezweifelte, dass Tipota der Genuss der außergewöhnlichen Rauchware bekommen würde. Doch Miles blieb souverän und höflich.

»Leider sind sie gerade restlos veräußert.«

»Ah, shit.« Tipota ging auf den Durchgang zu, der hinaus in den Verkaufsraum führte. »Woher bekommen Sie die Dinger denn?«

Nach mega, Bro, Ziggys und shit kam jetzt noch Dinger dazu. Mäßig beleidigt hob Miles den Zeigefinger. »Mein lieber Herr Tipota! Sie werden doch nicht etwa versuchen, einen armen Kaufmann um seine Marge zu bringen, indem Sie unmittelbar zur Quelle gingen und dort einkauften?«

»Vergeben Sie mir die Neugier.« Tipota machte ein übertrieben ertapptes Gesicht und legte die prankenhafte Rechte auf die Brust. Am Mittelfinger blitzte ein gewaltiger hell-metallischer Ring, auf dem ein N oder Z eingraviert war, um das sich ein mehrfach durchbrochener Kreis zog. »Nichts als schiere Neugier und Verzweiflung.«

Miles eilte an dem Hünen vorbei und schob den schweren Vorhang zur Seite. »Bleiben Sie tapfer, mein lieber Herr Tipota.« Er ließ ihn passieren und lotste ihn zur kleinen Parfumabteilung, um ihm die verschiedenen Düfte zu zeigen, von denen einer betörender war als der andere.

Währenddessen kümmerte sich sein Angestellter Thierry um die übrige Kundschaft, die im Geschäft umherschlenderte und stöberte. Ein gut gekleidetes Pärchen im mittleren Alter ließ sich von ihm die Unterschiede zwischen drei Rumsorten erklären, von denen jede Flasche mindestens dreihundert Euro kostete. Ein etwa Fünfundzwanzigjähriger stand unterdessen vor dem Regal mit den Anschauungsexemplaren der exklusiven Spazierstöcke und schwang einen davon mit dem Griff nach unten, als hielte er einen Golfschläger.

Bei den Göttern! Was tut dieser Mensch? Miles’ Schneidermeisteraugen hatten die Kleidung der Kunden umgehend analysiert. Ähnlich wie Tipota gaben sie vor, vermögend zu sein, doch die Qualität der Schnitte, Nähte und Stoffe gehörte zur Massenware. Befremdlich.

Tipota ließ sich verschiedene Parfums vorführen, war jedoch nicht recht bei der Sache. Sein Interesse am bemerkenswerten Oudh-Geruch war erloschen. Erneut sah er auf die glänzende Uhr. »Machen Sie sich gar keine Sorgen?«

»Weswegen?«

»Malleus. Er hätte vor fünfzehn Minuten hier sein sollen. Unpünktlichkeit steht meinem Bro nicht.«

Sorge bereitete Miles eher die ungewöhnliche Restkundschaft, die er sich nicht erklären konnte. Es wurde Zeit, Keno Tipota fürs Erste zu verabschieden. »Herr Bourreau kann sehr gut auf sich aufpassen. Manchmal ist in der Stadt ziemlicher Verkehr …«

»Seine Wohnung ist keine zehn Minuten zu Fuß entfernt.« Tipota spielte mit der Parfumflasche herum, deren Wert den seiner gesamten Kleidung überstieg, als wäre sie unzerbrechlich.

»Sagten Sie nicht, er sei nicht zu Hause gewesen?« Miles lächelte beruhigend. Der Mann spielte merklich auf Zeit, ohne Kaufinteresse am Parfum zu haben. »Ich ahne, was Sie vorhaben.«

»So?« Tipota staunte. »Dabei dachte ich, Sie kämen nie drauf.«

Miles legte das Maßband doppelt, um es mit einem kleinen Ruck knallen zu lassen. »Sie wollen Herrn Bourreau dazu bringen, dass ich Ihnen Culebras verkaufe. Weil Sie mir nicht glauben.«

Tipota schüttelte die lange blonde Mähne und lachte erleichtert auf. »Nein, das habe ich nicht vor.« Er hob die Hand mit dem auffälligen Ring, als gäbe er damit ein Signal. »Ich dachte schon, ich hätte mir selbst die Überraschung verdorben.«

Auf sein Zeichen hin versetzte die Pärchenfrau dem ahnungslosen Thierry einen blitzschnellen, harten Ellbogenschlag mitten ins Gesicht, der ihn ohnmächtig vor dem Regal mit den Spirituosen zusammenbrechen ließ. Drei teure Rumflaschen zerschellten auf dem Boden, der Inhalt mischte sich mit dem Blut, das Thierry aus dem Mund lief.

Der jüngere Mann verkeilte daraufhin den Eingang des Ladens mit dem Spazierstock und schob das Rollo herab, steckte die Hände in die Taschen und wandte sich mit einem bösen Grinsen um.

Das hatte Miles tatsächlich nicht kommen sehen. Mein Gespür lässt mich im Stich. In den nächsten Sekunden musste er das Beste aus der Situation machen. »Sie sind kein Freund von Herrn Bourreau, nehme ich an?«

»Ich kenne ihn nicht einmal. Noch nicht.« Tipota stellte den Flakon zurück. »Wir haben geschummelt.«

Hinter dem Besuch des Quartetts steckte also etwas anderes. Miles vermutete, dass es um Interpol-Ermittlungen in einem divinen Fall ging und er an diesem Tag zwischen die Fronten geriet. »Also sind Sie gekommen, um Herrn Bourreau bei der Anprobe abzufangen?«

»Oh, der Termin? Nein. Den gibt es nicht. Wir wollten Sie mit einer falschen Mail aufs Glatteis führen und im Gespräch ein bisschen aushorchen, indem ich so tue, als wären Bourreau und ich Homies. Aber Sie sind ein echt scheißharter Hund.« Tipota nickte zum niedergeschlagenen Thierry, der schwach atmete und sich nicht regte. »Ich kann ein bisschen drohen und ihn foltern, ihn umbringen, danach Sie foltern und zwischendurch teure Sachen im Laden zerschlagen, eine Sauerei veranstalten und so weiter. Doch zuvor versuche ich es mit einem Appell an Ihre Vernunft, Herr Karak: Woher stammen die Culebras für den Inspektor? Wo haben Sie die nächste Lieferung gelagert?«

»Ich besitze derzeit keine.« Miles sah ihn verächtlich an. Es fiel ihm schwer, sich zu beherrschen, und er hatte gemerkt, wie seine Augen bei den Fragen verräterisch gezuckt hatten. Habe ich ihm einen Hinweis gegeben?

Tipota deutete hinauf zum oberen Teil des klimatisierten Humidors. »Noth, sieh dort nach. Wenn ich den Blick vom Schneiderlein richtig deute, sind die Culebras da oben.«

Insgeheim verfluchte Miles seinen Reflex. »Was wollen Sie damit?«

»Wir nehmen ein paar Proben mit. Ihren Vorrat verbrennen wir danach«, eröffnete ihm der Hüne. »Es gibt Leute, die sehr interessiert an den Zusatzstoffen sind.« Er nahm den Flakon mit Pure Sense, entfernte die Kappe und hielt die Sprühöffnung in Miles’ Richtung. »Außerdem soll ich Sie dazu bringen, mir zu sagen, woher Sie die Ziggys beziehen.«

Miles blinzelte zweimal überbetont. Contenance. »Bedrohen Sie mich gerade mit meinem eigenen Duft?«

»Ach, so schlecht riecht der nicht. Aber Sie werden das Fläschchen nicht austrinken wollen, schätze ich. Und die übrigen auch nicht.« Tipota schlug das gläserne Oberteil gegen die Tresenkante, sodass der Spender abbrach. »Doch genau das werden Sie tun, wenn Sie nicht antworten.«

»Ich wusste gleich, dass Sie ein Kretin sind! Wer solche Sachen trägt und derartige Worte benutzt, kann nichts Gutes bringen«, entgegnete Miles mit Verachtung.

»Nein, ich bin kein Christ.« Tipota hob den hell-metallenen Siegelring und ließ den kreisumrandeten Buchstaben aufblitzen. »Das ist mein Gott.« Als er Miles entgleisende Züge sah, lachte er schallend. »Ein Scherz. Ich weiß, was ein Kretin ist, Karak. Aber Sie haben recht, ich treib mich normalerweise nicht in solchen Edelboutiquen herum.«

Noth hatte einen zweiten Spazierstock aus der Halterung genommen, die Leiter erklommen und das obere Glasfenster im großen Humidor geöffnet. »Das sind sie«, meldete er und fegte die Kistchen nacheinander achtlos auf den Boden. »Der scheiß Schneider hat uns belogen.«

Die kostbaren, letztlich unbezahlbaren Culebras flogen durch den Raum. Sie rollten umher, verloren die Banderolen und wurden von den nachfolgenden Behältern, die Noth mit dem Stock aus dem Regal holte, zerquetscht, zerbrochen, zerstört.

»Wundert mich nicht.« Tipotas kräftige Hand hielt Miles davon ab, wenigstens eines der Kistchen zu fangen und zu retten. »Reden wir über den Herkunftsort der Ziggys, Karak? Oder erst einen kleinen Schluck«, er sah auf das Etikett, »von Pure Sense? Riechen tut’s lecker.«

»Zur Unterwelt mit Ihnen!«, giftete Miles und streifte sein gespicktes Nadelkissen vom Oberarm ans Handgelenk, als wäre es die gefährlichste Waffe der Welt.

»Es gibt keine Unterwelten, keine Höllen. Und kein Jenseits.« Tipota packte Miles’ Kehle, Daumen und Zeigefinger drückten schmerzhaft in die Kiefergelenke und zwangen den Mund auf. »Ein Probeschluck, Karak. Um die Zunge zu lösen.«

Damit gelangte diese unangenehme Angelegenheit an einen Punkt, an dem sich Miles nicht länger zurückhalten konnte. Leise knisternd entstanden Sprünge auf seiner Haut, die aufbrach und abplatzte wie die bemalte obere Schicht eines Gefäßes, das aus gänzlich anderem Material bestand. Die schwarze Hose, das weiße Hemd und das dunkelgrüne Gilet lösten sich in winzige bunte Partikel auf, die schwerkraftlos aufwärtswaberten und vergingen. Das abgenutzte, gelbe Maßband um Miles’ Nacken verwandelte sich in eine flammende Peitsche und das volle Nadelkissen am Handgelenk zu einem Schild mit langen Stacheln.

»Ihr wolltet es so«, grollte Miles und packte Tipota mit der freien Hand ebenfalls an der Kehle.

Aber der Mann lachte lediglich, während der Buchstabe auf seinem Ring grell aufleuchtete.

Das war nicht die Reaktion, die Miles erwartet hatte.

* * *

»Ich fühle mich nicht zu dem Glauben verpflichtet, dass derselbe Gott, der uns mit Sinnen, Vernunft und Verstand ausgestattet hat, von uns verlangt, dieselben nicht zu benutzen.«

 

Galileo Galilei (1564–1642), italienischer Naturforscher und Astronom

Kapitel I

Germanien, Freistaat Sachsen (germanischer Teil), Lipsk (Leipzig), Dezember 2019

Voll böser Vorahnungen schritt Malleus Bourreau vom Marktplatz durch die Einfahrt von Barthels Hof und stoppte nach wenigen Schritten vor dem rot-weißen Flatterband. Er hatte die auffällige Polizeiabsperrung schon von Weitem erkannt. Dahinter hielten zwei gepanzerte Streifenbeamte Wache und unterhielten sich leise, die Taserschlagstöcke am Gürtel befestigt.

Schneeflocken tanzten in den unsteten Böen umher und legten sich auf Gehwegplatten und Kopfsteinpflaster, als wäre niemals etwas Schlimmes in der Nähe geschehen. Der Wind war schneidend, als wollte er die Menschen in die Gebäude und Behausungen zwingen.

Malleus grüßte die Gesetzeshüter, die sich ihm daraufhin zuwandten. Aus der linken Innentasche seines Militärmantels mit dem hohen Kragen zog er seinen Interpol-Dienstausweis heraus. Mantel, schwarzer Hut und auberginefarbene Handschuhe schützten ihn vor der empfindlichen Kälte, die in der Stadt herrschte.

»Was ist denn hier passiert?« Malleus fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über den Fu-Manchu-Bart und sah sich um. An den hinteren Hofwänden hafteten Rußspuren, eine Detonation hatte den Putz weggeblasen und die Scheiben sämtlicher Fenster zerstört. Vereinzelt waren bereits Planen gegen die eindringende Kälte vorgespannt worden.

»Oh, Sie sind aber schnell gekommen, Inspektor Bourreau«, sagte der jüngere Polizist und salutierte. Die Begeisterung über das Zusammentreffen mit einer Legende stand ihm ins Gesicht geschrieben. Auf seinem Namensschild stand Renner. »Oberkommissar Lamms sprach erst vor einer Stunde davon, sicherheitshalber einen Experten für Entitäten an Bord zu holen. Ist doch eine ganz schöne Strecke von Lutetia bis zu uns. Wie haben Sie das angestellt?«

»Ich kam privat nach Lipsk«, antwortete Malleus.

Seine kontaktlinsenblauen Augen erfassten jede Einzelheit der Verwüstung. Ein langer Riss verlief über dem Eingang zur rückwärtigen Passage, in der Karaks Geschäft lag, er reichte senkrecht nach oben bis ins letzte Stockwerk. Massive Abstützungen waren angebracht worden, um einen Einsturz der Etagen zu verhindern. Die Quelle der Explosion konnte im Geschäft des Herrenausstatters gewesen sein.

Der Polizist namens Vogler hob das Flatterband an, damit Malleus bequem darunter hindurchgehen konnte. »Ich sage der Zentrale Bescheid, dass Sie da sind, Inspektor Bourreau.«

»Lassen Sie mich erst sehen, ob es überhaupt ein Fall sein könnte, der eine Verbindung mit einer Entität aufweist.« Malleus ging durch den Hof auf die abgesicherte Passage zu. »Erklärt mir einer der Herren, was sich zugetragen hat?«

»Das wissen wir nicht genau.« Renner begleitete ihn, sein Kollege hielt die Stellung. »Heute gegen zwölf Uhr ereignete sich eine schwere Detonation im Geschäft von Karak et Frères, wie Sie dort sehen können. Zeugen schilderten ein lautes Brüllen und eine Schlägerei inmitten von Feuer und Rauch. Genaue Angaben konnten sie nicht machen.«

»Verletzte? Festnahmen?«

»Es fand sich im Ladenlokal eine verbrannte Leiche, die als Thierry Waldmann identifiziert wurde. Ein Angestellter. Im Gebäude selbst gab es etliche Verletzte durch Scherben und herunterfallende Mauerteile. Herr Karak, der sich zum Zeitpunkt des Geschehens laut Zeugenaussagen im Laden aufhielt, ist bislang verschollen.« Renner pochte auf den Stützstempel. »Die Statiker meinten, eine akute Einsturzgefahr sei durch die eingesetzten Träger abgewendet, aber sobald die Leute ihre Habseligkeiten gepackt haben, wird der Komplex geräumt. Zur Instandsetzung.« Er blieb am Rahmen der zerstörten Fensterfront stehen. »Die Spurensicherung ist bereits durch. Sie können sich umschauen, Herr Inspektor.«

Malleus fehlte in der Wiedergabe der Ereignisse das Entscheidende. »Wie kam Ihr Vorgesetzter darauf, dass eine Entität in den Vorfall verwickelt sein könnte?«

»Der Kampf inmitten von Rauch und Feuer muss recht spektakulär gewesen sein. Ein Zeuge hat ein Video mit seinem Smartphone gemacht. Sie finden es auf diversen Social-Media-Plattformen. Es wurde hochgeladen, bevor die Kollegen das Gerät sichern konnten.«

Malleus betrat die traurigen Überreste des Ladens, in dem er oft und gerne Zeit verbracht hatte. Anproben. Culebrapräsentationen. Gute Gespräche mit Miles Karak, der das Außergewöhnliche zelebriert hatte. Nun knirschten Scherben und Putzreste unter seinen Sohlen. Es roch nach Feuchtigkeit und Verschmortem, nach Rauch und verschüttetem Alkohol und einem Parfumdurcheinander. Die Löscharbeiten hatten vernichtet, was vielleicht noch zu retten gewesen wäre.

»Passen Sie auf, Herr Inspektor«, rief ihm Renner beflissen zu. »Aus den oberen Galerien kann gelegentlich was runterfallen.«

»Danke. Ich gebe acht.« Malleus richtete den Hut auf den kurzen schwarzen Haaren und streifte suchend durch den Laden.

Er war eigentlich nach Lipsk gekommen, um Karak einen Blick auf die Tentakelpeitsche werfen zu lassen, die er von ihm erhalten hatte. Nach dem Einsatz der ungewöhnlichen Waffe im letzten Monat hatten sich Schäden am Material gezeigt, die vor einem neuerlichen Einsatz ausgebessert werden mussten. Dass Malleus stattdessen in den Trümmern des beliebten Ladens stand, bekümmerte ihn. Auf die Schnelle fand er keine Erklärung für das Ereignis inmitten der Innenstadt, doch bisweilen brauchten divine Kräfte keine nachvollziehbaren Gründe.

Eine Entität, die sich schlecht beraten gefühlt hatte?

Zwei Entitäten zur selben Zeit im Laden, die einander nicht mochten?

Der Launenhaftigkeit von Gottheiten waren bereits einige Orte zum Opfer gefallen.

Möglicherweise wissen Miles’ Brüder mehr, dachte Malleus und zückte seinen besonderen, von einem Freund umgebauten PDA. Doch rasche Anrufe bei den Niederlassungen von Karak et Frères in London, Paris und Mailand ergaben nichts. Niemand nahm das Gespräch entgegen. Alle geschlossen? Weswegen?

Das Internet verriet ihm, dass diese Geschäfte ebenso in Rauch aufgegangen waren, wenn auch wesentlich unspektakulärer. Malleus runzelte die Stirn. Das wiederum sprach gegen eine zufällige Eskalation in Lipsk, sondern für einen gezielten Angriff, um die Karaks vom Markt zu nehmen. Die Gebrüder besorgten die besten Rauchwaren und Alkoholika, die für Geld zu haben waren, darunter auch die wundersamen Culebras, auf die Malleus nicht verzichten konnte. Irgendjemand anders kann es offenbar. Aber ist dieser Jemand eine Entität?

Bevor er sich an weitere Nachforschungen machte, setzte Malleus seinen Interpol-Vorgesetzten in Lutetia via Mail darüber in Kenntnis, in einen divinen Fall geraten zu sein, dessen er sich annehmen würde. Erklärungen würde er zu einem späteren Zeitpunkt nachreichen.

Nachdem die Nachricht verschickt war, suchte er auf verschiedenen Plattformen nach dem Filmchen des Augenzeugen, von dem Renner gesprochen hatte. Es kostete ihn nur wenige Klicks. Da war es. Malleus staunte nicht schlecht, als inmitten von Staubwolken, zuckenden Flammen und Rauch zwei Schemen miteinander kämpften. Einer davon nutzte eine flammende Leine, ein Lasso oder eine Peitsche; gelegentlich wurde ein stachelbewehrter Schild sichtbar.

Der Gegner schien mit silbern leuchtender Faust zuzuschlagen – bis das Schimmern abrupt endete. Schreien und Brüllen schallten durch den Innenhof und waren trotz anhaltender Explosionen im Laden gut zu vernehmen.

Malleus beschloss, eine exakte Audioauswertung über einen Interpol-Computer mit besonderer Software vorzunehmen, falls eine göttliche Sprache hörbar gemacht werden konnte. Die Störungen durch Rauch, Staub und Wackler konnten unter Umständen ausgefiltert werden.

»Miles, was war hier drinnen los?«, murmelte Malleus und richtete den Blick zu Boden, während er weiter umherging.

Auch wenn offenkundig Artefakte bei dem Kampf zum Einsatz gekommen waren, waren die Aufzeichnungen keinerlei Beweis für die Anwesenheit von Entitäten. Es konnte sich um divine Artefakte oder Gegenstände von Fremdplaneten handeln, die in die Hände von Menschen geraten waren.

Nach einigen Schritten entdeckte Malleus die zertrümmerten Überreste von etwas, was er sehr gut kannte: Kistchen mit integriertem Humidor, der Luftfeuchte und Temperatur hielt; kleine Einschübe trennten Fächer voneinander ab, damit der Inhalt nicht durcheinandergeriet. Um sie herum lagen zerstampfte und durchnässte, aufgequollene Culebras, die bunten Banderolen schwammen in Lachen oder klebten auf dem Untergrund.

Das ist seltsam. Malleus sah zum Schrank – dem üblichen Lagerort der kostbaren Zigarren, gute vier Schritte entfernt. Er hob die schmale Leiter vom Boden auf und stellte sie vor dem Fach an die Wand, erklomm die Sprossen und inspizierte das zugehörige Fach. Leer. Die übrigen Humidorregale mit Rauchwaren aus aller Welt schienen unangetastet. Jemand hat nur die Culebras mit Schwung herausbefördert, auf den Boden geworfen und zerstört. Oder ist dies das zufällige Werk der Feuerwehr bei ihren Löscharbeiten? Malleus beunruhigte, dass sein privater Zigarrenvorrat nicht mehr lange vorhielt, was ein weiterer Grund für seinen Abstecher nach Lipsk gewesen war: die Aufstockung seines Culebra-Reservoirs.

Jemand hatte sie vereitelt.

Malleus wusste, dass er nicht der einzige Fan der gezackten, krummen Zigarren war. Und doch wurden bestimmte Sorten exklusiv für ihn angefertigt, wie ihm Karak versichert hatte. Zu gerne hätte er sich jetzt eine Culebra angezündet, eine mit grüner Banderole, die ihm so ausgezeichnet beim Denken halfen. Doch er verkniff sich den Genuss. Haushalten mit den knappen Ressourcen, lautete die Maßgabe.

Womöglich war es doch nichts weiter als Erpressung durch Leute mit Zugang zu Artefakten? Es ärgerte ihn, im Gebiet von Spekulationen und Annahmen agieren zu müssen. Ohne den genauen Bericht der Spurensicherung käme er kaum voran, denn bei seiner Inspizierung hatte sich nichts ergeben.

Streifenpolizist Renner wartete vor dem Laden und tippte auf seinem Smartphone herum. Vermutlich informierte er all seine Freunde und Bekannte, dass er einer Legende begegnet war. Das brachte Malleus ein wenig zum Grinsen.

»Ich bin fertig«, sagte er.

Beim Hinausgehen hob er die abgerissene Ladenklingel auf. Er mochte das Glöckchen über der Tür, dessen heller Ton melodisch, aber nicht aufdringlich war. Sobald Karak auftauchte, würde es sich als Geschenk gut machen. Ein Andenken, und ein Appell für den Wiederaufbau dieses herrlichen Geschäftes.

Das Glöckchen bimmelte leise, als wäre es dankbar, gefunden und gerettet worden zu sein. Heraus fiel ein silbermetallisches Fragment, das sich bei näherem Betrachten als halber, zersprungener Ring entpuppte.

Was haben wir denn da? Malleus ging in die Hocke und hob seinen Fund mit behandschuhten Fingern auf, hielt ihn gegen das Licht.

»Was gefunden, das zum Fall gehört, Herr Inspektor?«

»Kann ich noch nicht sagen.« Um welches Material es sich dabei handelte, vermochte Malleus nicht einzuschätzen, auf der Innenseite fand sich kein Stempel. Die Siegelplatte war nur noch zur Hälfte erhalten: der Rest eines Buchstabens oder Zeichens, umgeben von einem sich auflösenden Kreis. »Könnte auch aus der Kollektion stammen, die Herr Karak anbot.« Er steckte den zersprungenen Ring ein. Er hatte so eine Ahnung, dass das silbrige Leuchten an der Hand eines der kämpfenden Schemen der Ring in seinem unbeschädigten Zustand gewesen sein konnte. Das würde das Interpol-Labor in Lutetia herausfinden, mit Materialanalyse und Videoauswertung.

»Verstehe. Soll ich vermerken, dass Sie Beweismaterial sicherten?«

»Tun Sie das. Ist immerhin Ihr Job.« Malleus erhob sich und richtete den Mantel, streifte Schmutz vom Saum. »Dann wünsche ich Ihnen noch einen angenehmen Abend. Trotz der Kälte.«

»Ihnen auch, Herr Inspektor. Das Wetter macht mir nichts. Ich bin gut eingepackt.« Erneut salutierte Renner. »Es war mir eine Ehre.«

Malleus nickte ihm zu und klopfte ihm einmal auf die Schulter. Es kam nicht oft vor, dass man ihm dermaßen freundlich begegnete. Ein Atheist, ein Gottheitenleugner bekam in diesen Zeiten keinen Beifall. Falls doch, dann meistens von den falschen Leuten.

Sein Weg führte Malleus zu seiner Zweitwohnung, die er vor Jahren geerbt hatte. Schöner Altbau, hohe Stuckdecken und eine generöse Raumaufteilung, wie man sie in Großstädten selten fand. Mehrmals im Jahr reiste er nach Lipsk, um sich eine Auszeit zu nehmen und Karak zu besuchen. Dort erstand er Culebras und neue Kleidung aus robustem Spinnenstoff, der sowohl schuss- als auch schnittfest war. In seinem Beruf waren derlei Schutzmaßnahmen unabdingbar.

Als Malleus nach zehn Minuten vor seiner halb offenen Wohnungstür stand, wusste er: Auch das war kein Zufall.

* Α Ω *

Lipsk.

Leipzig.

War ich hier schon mal?

Scheiße, ich kann mich nicht erinnern. Seit die beiden Spaßvogelgötter mich in Kopenhagen wiederbelebt … oder wie sie sagen »im Rennen gehalten« haben, ist nicht mehr alles, wie es mal war. Mein Gedächtnis ist durchlässiger als … na, hier, Dings. Der Kram mit Löchern. Nicht der Käse. Das Ding zum Abtropfen von Nudeln und Dosenobst. Wie heißt denn … egal. Wird mir schon wieder einfallen.

Schere, Stein, Papier – Mittelfinger, diese Penner! Echt, niemals mehr spiele ich mit Loki und Susanoo um irgendwas.

Ja, schön, von mir aus, sie haben verhindert, dass ich abkratze, aber zu welchem Preis? Davor war ich ein korpulent-kräftiger Typ jenseits der fünfzig. Nicht der Hingucker, mehr so der unauffällige Typ mit Standardfresse.

Und jetzt? UND JETZT?

Ehrlich, ich sehe aus wie eine Mischung aus einer Frau und einer Vogelscheuche, nur dass mir kein Stroh aus dem Hintern hängt. Hatte meine Mutter doch recht, als sie damals sagte, aus mir wäre nicht mal eine hübsche Frau geworden.

Ist jetzt erst mal schnurz. Ich bin unterwegs und folge ihm. Ihm, dem Auserwählten. Dem einzigartigen Malleus Bourreau.

… okay, vielleicht bin ich der Einzige, der ihn auserwählt hat, aber: drauf geschissen. Ich bin gern in seiner Nähe. Und schön, dass er denkt, er hätte mich in Kopenhagen erschossen. Hahaha, brillanter Vorteil.

Tja. Und dass ich dank Loki und Susanoo in einem Frauenkörper stecke. Wie unfassbar ungewohnt das ist. Im Stehen pinkeln ist erst mal nicht, das muss ich üben. Sobald ich rausgefunden habe, wie ich das ändern kann, mache ich es.

Da vorne geht er: Malleus Bourreau.

Der Spötter der Gottheiten, der unerschrockene Atheist, der fleischgewordene Widerspruch zu den Realitäten in unserer Zeit. Niemand wird ihm etwas antun, solange ich lebe. Denn nur ich beende sein Leben, sonst keiner!

Verdammt, diese Absätze. Wie können Frauen in so was laufen oder gar rennen? Und warum trage ich so was? Im Winter?

Ach ja, richtig, weil ich in dem Look aufgewacht bin und bisher keine Gelegenheit hatte, mir andere Klamotten zu kaufen.

So, abbiegen in Barthels Hof … nein, da komme ich nicht rein, ohne dass er oder die beiden Bullen mich sehen. Bin zwar jetzt eine hässliche Frau, aber meine Tarnung muss bestehen bleiben. Also könnte ich … Ach, ich gehe einfach außen herum.

Was da wohl abging? Ich weiß, dass Bourreau aus dem Laden seine Culebras bezieht. Mal sehen, was das Internet so weiß.

Ein bisschen mit dem Smartphone suchen, uuund da ist das Filmchen. Hoooly shit …! Das ist mal eine Show! Was geht denn …

»Hey! Können Sie nicht aufpassen, wo Sie langgehen?«

Irgendwas rappelt über den Boden. Mist, einen jungen Hipstertypen mit Spazierstock angerempelt, und er hat sein Smartphone verloren. »Entschuldigen Sie vielmals.« Habe ich eben geflötet? Wieso klinge ich wie eine Pornodarstellerin? »Das war keine Absicht.« Heb ich den Kack noch für ihn auf. Meine Mama wär stolz auf meine Manieren. »Hier, bitte sehr.« Was … was ist denn das? Das ist doch ein Bild von Bourreau in der Nachricht, die der Kerl bekommen hat! Und eine Adresse. Ist das nicht die Wohnung, die er in Lipsk hat?

»Danke.« Der hat mich eben abgecheckt, ob ich fuckable bin, und dabei sein Stöckchen gewirbelt wie ein Tambourmajor. Scheiß Sexist!

Nun gut, ihm nach. Der bereitet doch was für meinen Auserwählten vor. Na, die Party schaue ich mir an.

… sooo, keine zehn Minuten gestöckelt, zweimal fast auf die Fresse gelegt, und schon sind wir da. Tatsächlich. Das ist Bourreaus Adresse. Und zwei Freunde in Pseudoedelklamotten hat der Sexist auch noch mitgebracht, die eben aus einem hellgrauen Transporter steigen.

Nix wie hinterher, durch die Tür ins Gebäude mogeln, Schuhe aus, Treppenhaus hoch, vierter Stock. Zum ersten Mal keuche ich mir nicht die Seele aus dem Hals. Wenigstens den Vorteil hat die Chick, die ich geworden bin.

Vorsichtig um die Ecke spähen … Jepp, sie knacken gerade das Schloss und steigen in seine Bude ein, machen die Tür wieder zu.

Dann lassen wir die Spiele beginnen.

Schuhe wieder an, und ich klingele mal bei Bourreau. Den Gag muss ich einfach bringen.

Und wieder.

Und wieder.

Und jetzt mal gaaanz lange den Finger auf der… Simsalabums: Die Tür wird aufgerissen.

»Ja?«, knurrt mich der riesige Bodybuildertyp an, der fast die gleiche Frisur hat wie ich – und schon macht er große Augen, als er mich sieht. Als wäre seine Hackfleischfratze in dem Polyesteranzug schicker.

»Ich bin die neue Nachbarin und wollte mich vorstellen.« Da! Ich habe schon wieder geflötet. Ich hau Loki beim nächsten Mal so was von auf die Fresse. »Circe ist mein Name. Circe Encanta.«

»Schön, Sie kennenzulernen, aber das ist gerade schlecht …«

»Sie sind bestimmt der Lebensgefährte von Herrn Bourreau?« Hähähä. Na, homophob?

»Äh … ja, aber ich plane eine Überraschung für ihn. Kommen Sie doch gegen neunzehn Uhr wieder, Frau …«

»Señora.« Chchch, wenn, dann richtig.

»Señora Encanta. Ginge das?«

»Aber klar.« Ich lächle – und trete ihm mit dem Stöckelabsatz voll in den Schritt. Wooo, das tut schon beim Zuschauen weh. Da helfen dir deine hundert Kilo Muskeln auch nichts. Aufstöhnend geht er zu Boden und bekommt noch einen Kick gegen den Kopf, damit er die Schnauze hält. Ein kleiner Schritt über ihn hinweg, Schuhe aus und keine Zeit mehr, den Spack nach Waffen abzutasten … da sind die anderen schon.

»Hey, wer sind Sie? Und wo ist Keno?«, will die zweite Polyesterhose wissen.

Du meine Fresse! Wer hat ihm DEN Namen gegeben? Ist sein Vater ein Glücksspieler?

»Die kenn ich! Die hat mich vorhin beinahe umgerannt!«

Der Sexist mit dem Stöckchen und sein Freund greifen unter die Jacken. Na schön. Sie haben bestimmt keine gratis Blumen darunter. Jetzt muss ich schnell sein. Gut, dass ich die Schuhe noch in der Hand habe: Mit den langen Absätzen gibt’s Dresche, ihr Kackfratzen!

Zack, in den Kopf, zack, ins Auge, ein paar Schläge und Tritte – aus. Alles ruhig? Ja, alles ruhig. Na, das lief doch mal gut. Und keinen Absatz abgebrochen, yeah!

Trio absuchen und checken, was sie dabeihaben. Bin gespannt, was für Früchtchen ihr seid.

Hm. Keine Ausweise, nichts Persönliches, nur ein paar Geldscheine. Okay, die Herrschaften haben was zu verbergen. Und zwar gehörig.

Ah, eine Tätowierung. Ist das ein … N? Ein N mit einem sich auflösenden Kreis? Oder ein Z, das schief liegt?

Seine eigene Initiale wird es nicht sein. Die seiner Freundin auch nicht.

Nehmen wir mal an, dass diese Typen einer Entität folgen und in deren Namen Stress machen: Wie viele Gottheiten gibt es mit N oder Z? Na, super. Das kann ewig dauern, bis ich daraus schlau werde.

Was mache ich mit den drei Kaspern? Rumliegen lassen will ich sie nicht, sonst versteht er, dem ich folge, sofort, dass ihm jemand wieder die Aufräumarbeit im Hintergrund abnimmt. Brauche kein zusätzliches Misstrauen von ihm.

Da fällt mir was ein … Hahaha, wieso eigentlich nicht?

* Α Ω *

Malleus zog seinen modifizierten Cobray Pepperbox, einen mittelgroßen Deringer mit längerem Lauf, in dessen fünf Revolverkammern abwechselnd Schrot- und Vollmantelgeschosse lagerten. Große, schwere Waffen waren ihm seit seinen Erlebnissen in den Übergangskriegen zuwider. Aber mit zwei Cobray Deringer und dem Apache Knuckle Duster, der Minipistole, Schlagring und Messer in einem bot, konnte er sich bei seinen Einsätzen stets gut verteidigen. Außerdem ließen sie sich wesentlich leichter verbergen und transportieren.

Vorsichtig drückte Malleus die Tür zu seiner Wohnung auf und lauschte mit angehaltenem Atem. Der Cobray lag entsichert in seinen behandschuhten Fingern.

Der Geruch von kaltem, aromatisiertem Tabakrauch wehte heraus. Im Innern herrschte Stille, sodass die Alltagsgeräusche der übrigen Hausbewohner durch Wände und Decken drangen. Getrampel, gedämpfte Unterhaltungen, leise Musik.

Malleus überlegte. Es konnten Einbrecher oder Attentäter sein, die sich Zugang verschafft hatten. Gegen gedungene Profis sprach der dilettantisch-unverschlossene Eingang. Eine bessere Warnung vor einem Hinterhalt kann es kaum geben. Ein Blick auf das Fischgräten-Parkett im Flur zeigte Abriebspuren, Schmelzwasser und Kratzer im Holz. Und einen kleinen Blutspritzer. Mehr als eine Person.

Unvermittelt öffnete sich die Tür zur Nachbarwohnung.

Auf der Schwelle stand eine attraktive Blondine Anfang zwanzig, die ein hautenges hellgraues Kleid mit einer schwarzen Lederjacke darüber trug. Sie war barfuß, und ihr hübsches Gesicht zeigte einen Hauch von Besorgnis.

»Sie müssen Herr Bourreau sein«, sagte sie mit erotischem Timbre in der Stimme. »Guten Tag. Ich habe gehofft, dass Sie auftauchen. Dann muss ich die Hausverwaltung und die Bullen nicht anrufen.«

Verwundert sah er auf das Klingelschild, aber der Name fehlte. Die gute Frau Schulzki musste irgendwann in den letzten Tagen ausgezogen sein.

»Ja, bin ich.« Er ließ seinen Flur nicht aus den Augen und rechnete mit dem Auftauchen seines ungebetenen Besuchs. Sicherlich hatten die Einbrecher die Stimmen gehört.

»Ich bin die Neue.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Circe heiße ich.«

Wie passend zu ihrer Erscheinung und der Stimme. Malleus nickte ihr zu, ohne die Finger zu ergreifen. »Freut mich. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber –«

»Es waren drei«, plapperte Circe los. Der Deringer in seiner Hand machte ihr offenbar keine Angst. »Kamen mir gleich seltsam vor, die Ficker. Sie trugen zwar Wartungsoveralls, benahmen sich aber nicht wie jemand vom Fertility Management. Facility Management, meine ich.« Circe warf die blonden Haare zurück und pochte gegen ihren Türspion. »Ich hab sie gesehen und Lärm gemacht. Da sind die Arschgeigen abgehauen.«

Malleus steckte den gesicherten Deringer weg. Circe hatte die Gefahr vorerst in die Flucht geschlagen. »Wann war das?«

»Vor etwa … fünf Minuten.« Sie lächelte hinreißend. Jede Model-Agentur würde die junge Frau auf der Stelle unter Vertrag nehmen. Und vermutlich zuerst an ihrer Ausdrucksweise arbeiten. »Habe ich das gut gemacht?«

»Das war schon mal mutig. Aber warum haben Sie nicht die Polizei gerufen?«

»Wollte ich ja eben. Sie kamen mir dazwischen.« Circe schaute betroffen. »Oh, scheiße. War das falsch? Ich hab keine Erfahrung mit Einbrechern und was man dann tut.«

Malleus musste sich das Lachen verbeißen. »Ist schon gut. Die Typen wären so oder so weg gewesen.« Er zückte den PDA und sandte der Lipsker Polizei seine Bitte um ein Einbruchsermittlungsteam. »Können Sie das Trio beschreiben?«

»Kann ich.« Erstaunlich genau begann Circe, ihre Beobachtungen wiederzugeben. »Haben Sie den Aushang der Hausverwaltung unten gesehen? Sind ja wohl öfter scheiß Einbrecher da, die es auf den Keller abgesehen haben. Jetzt gehen die Wichser an die Wohnungen«, flötete sie mit einer Wut, die sie niedlich wie ein tobendes Eichhörnchen wirken ließ.

»Habe ich. Danke, dass Sie achtgegeben haben. Darf ich Ihnen für Ihren Mut eine Kleinigkeit angedeihen lassen?« Sie verneinte großmütig, und Malleus deutete in ihren Flur. »Jetzt gehen Sie bitte wieder rein. Sobald die Kollegen da sind, schicke ich sie zu Ihnen für eine Aussage.«

»Klar, Herr Inspektor.« Circe musterte ihn neugierig und spielte mit einer blonden Locke, legte ihren Kopf leicht schief. »Sie arbeiten bei Interpol und jagen Götter, habe ich gehört. Stimmt das?« Ihre Augen leuchteten, der Mund war leicht geöffnet.

Ein, zwei falsche Dialogzeilen, und dies könnte der Auftakt eines Amateurpornos werden, dachte Malleus. »Ich kläre Verbrechen auf. Und manchmal sind Entitäten verwickelt«, korrigierte er und machte erneut eine auffordernde Bewegung. Er wollte sich in seiner Wohnung umschauen, bevor die Spurensicherung eintraf, ohne dass sie ihn dabei beobachtete. »Bis nachher.«

»Das klingt aufregend!« Circe schlüpfte zurück in ihre Wohnung. »Sagen Sie, wie kann man sich nur mit Göttern anlegen?«

»Jemand muss es tun.«

Sie zwinkerte ihm zu und schenkte ihm ein Lächeln. »Dann machen Sie mal weiter damit, heldenhafter Nachbar. Wir sehen uns!« Dann fiel ihre Tür ins Schloss, und das aufgeregte und überdrehte Lachen der jungen Frau klang durch das Holz.

Bestimmt Schauspielerin. Malleus zog die Schuhe aus und betrat seine Zweitwohnung, machte eine rasche Exkursion durch die Räume, ohne eine sichtliche Veränderung vorzufinden. Alles stand und lag an seinem Platz. Die Einbrecher hatten offenbar keine Zeit gehabt, die Einrichtung zu durchwühlen und Beute zu machen.

Er setzte sich in seinen großen Chesterfield-Sessel und überlegte, zog dabei das Culebra-Etui aus der Manteljacke. Und wenn es doch nichts weiter als Zufall ist, dass am gleichen Tag die Niederlassungen der Gebrüder Karak und meine Wohnung heimgesucht werden? Manchmal blieb ein Einbruch eben ein Einbruch. Aber drei Leute? Das ist sehr auffällig. Andererseits hatten sie Serviceoveralls getragen. Damit fragte kaum einer nach einem Ausweis oder dem Auftrag der Hausverwaltung.

Malleus ließ den Blick durch sein Wohnzimmer schweifen, über die Einrichtung bis hinauf zur Stuckdecke. Sicherheitshalber würde er nach Wanzen und Kameras scannen lassen. Spione konnte er nicht gebrauchen.

Schon gar nicht in seiner Lage.

Er wählte eine gezackte Zigarre mit grüner Banderole und steckte sie in den Mund, entzündete den Holzspan aus dem Etui mit dem Feuerzeug und steckte sich damit die Culebra an. Auf diese Weise wurde der Geschmack des Tabaks nicht beeinträchtigt.

Oder hat der rätselhafte Einbruchsversuch mit ihr zu tun? Gedanklich schwenkte er zu Oona Milord, die zur Fahndung ausgeschrieben worden war. Von Interpol.

Sie und Malleus kannten sich, hatten in kniffligen Fällen auf geheime Weise zusammengearbeitet. Und eigentlich hielt er sie für eine von den Guten, weswegen er sich erlaubt hatte, sich ein kleines bisschen in sie zu verlieben. Zum ersten Mal seit dem lange zurückliegenden Tod seiner Frau und seiner Tochter.

Gerade als Malleus mit Marianne Lagrande beim Essen gesessen hatte und sie gemeinsam ihren Aufstieg zur gleichberechtigten Ermittlungspartnerin hatten feiern wollen, war der Suchaufruf der Zentrale eingetroffen. Es hatte Malleus sehr viel Contenance gekostet, sich nichts anmerken zu lassen.

Oona, mit langem O. Malleus seufzte und sah sich erneut den Haftbefehl auf seinem PDA an. Ihre Wege hatten sich gekreuzt, weil Milord für die Geheimorganisation Deus Ex Machina, kurz D.E.M., arbeitete, die sich zur Aufgabe gemacht hatte, das Auftauchen von Fremdgottheiten zu verhindern. Niemand sollte erfahren, dass sich weitere Göttlichkeit im Kosmos herumtrieb, die versuchen könnte, auf der Erde Wurzeln zu schlagen. Die heimischen Entitäten reichten der Welt vollkommen aus. D.E.M. sondierte, sicherte und erstickte jegliche Ansätze im Keim, wann immer es möglich war; die Organisation hob Anhänger von nicht anerkannten Fremdgottheiten aus, die ihren externen kosmischen Entitäten ein Leuchtfeuer zur Erde bieten wollten.

Malleus las paffend den Interpol-Bericht, obwohl er die Zeilen und Bilder auswendig kannte. Der Rauch krümmte sich und kräuselte in der Luft, als bildete er sein verwirrendes Gefühlsleben ab.

Oona Milord wurde wegen mehrfachen Mordes in Oxford, Moskau und Bononia-Bologna gesucht. Die Opfer waren durch die Bank angesehene, mitunter berühmte Leute in hohen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Positionen. Aufgrund intensiver Ermittlungen war Interpol auf Spuren von D.E.M. gestoßen, die mangels besseren Wissens fortan von Malleus’ Vorgesetztem Ilja Lautrec und der Zentrale als Terrororganisation geführt wurde. Leider konnte Malleus seine Stimme nicht zu Milords Gunsten erheben und erklären, was sich wirklich hinter D.E.M. verbarg und was er über deren wahren Ziele wusste. Das hätte ihn weder bei seinem Vorgesetzten noch bei den übergeordneten Stellen gut dastehen lassen.

Seit dem Fahndungsaufruf hatte er keinen Kontakt mehr zur brünetten Frau mit der auffällig dunkelroten Strähne am linken Stirnansatz. Absolutes Schweigen auf sämtlichen Kanälen. Das bereitete Malleus ernsthaft Sorgen, und er spürte in sich das stetig stärker werdende Gefühl, Oona Milord helfen zu wollen. Sie steckt in riesigen Schwierigkeiten und ist gleichzeitig einer ziemlich großen Sache auf der Spur. Das wusste er.

Es klopfte laut im Flur.

»Inspektor Bourreau?«, rief eine juvenile Männerstimme. »Polizeimeister Renner und die Spurensicherung.«

»Sehr gut.« Er rollte die Asche zusammen mit der Glut im bereitstehenden Aschenbecher ab und stemmte sich aus dem dunkelroten Ledersessel. Die Zigarre musste nun länger halten als für einen raschen Denkerschmauch zwischendurch. »Ich komme. Fangen Sie mit der Befragung bei Frau …« Malleus erinnerte sich nicht, den Nachnamen seiner neuen Nachbarin gehört zu haben. »Die Tür rechts von Ihnen aus. Meine Nachbarin hat die Einbrecher gesehen und kann sie gut beschreiben.« Er trat in den Flur und sah Renner sowie eine Dame im weißen Schutzanzug, die bereits das Schloss zur Abnahme von Fingerabdrücken präparierte. »Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.«

Der junge Schutzpolizist tippte sich an den Helm. »Klar, Inspektor. Wie hätte ich diese Meldung an mir vorbeigehen lassen können?« Dann klingelte er bei Circe. »Meine erste Einbruchsbefragung.«

Die Tür öffnete sich nicht.

Die junge Frau hatte offenbar nicht gewartet, was Malleus ärgerlich fand.

Sein PDA brummte. Eine neue Dienstmail traf ein. Ein Blick auf das Display genügte: Lautrec brauchte ihn dringend in Lutetia. Ein neuer Fall erwartete Malleus, und das zu einer denkbar ungünstigen Zeit.

* * *
Celtica, Paris-Lutetia, Dezember 2019

Marianne Lagrande sah von ihrem Computermonitor gewohnheitsmäßig zur Bürouhr, die kurz nach drei Uhr nachmittags anzeigte. Natürlich könnte sie die Zeit ebenso vom Display ablesen, aber der Blick nach oben gehörte für sie dazu. Zeit für einen Kaffee und eine kleine Süßigkeit.

Von einer Rechercheassistentin zur gleichwertigen Ermittlungspartnerin von Malleus Bourreau aufgestiegen zu sein, machte die Mittdreißigerin unfassbar stolz. Ilja Lautrec und Interpol bezahlten sie zwar noch immer zu gering für ihre neue Stellung, doch das änderte sich gewiss bald.

Und wenn es keine Gehaltserhöhung gibt, mache ich mich selbstständig. Als Freie Ermittlerin, bei Belenos! Seit ihrer Rückkehr aus Kopenhagen nannte sie sich »Rianne«, weil sie ihren Vornamen zu spießig und nicht passend für ihre neue Stellung fand. »Mariannes« blieben ein Leben lang Sekretärin.

An diesem Tag trug sie ein dunkelgrünes Businesskostüm mit auffälligen Applikationen und breiten Schulterpolstern mit gelbgoldenen Kordeln – ein militärisch angehauchter Look im Stile der Achtziger. Morgen wieder Jeans, Bikerboots, Shirt und Karohemd. In der Monitorreflexion prüfte sie den Sitz der hochgesteckten hellen Haare sowie den Kajalstrich um die blaugrünen Augen. Parfait.

Ihr Blick richtete sich auf das fenstergroße Smartboard an der Wand, wo die Informationen zum Todesfall in An Clochán aufflackerten, den sie und Bourreau untersuchen sollten. Für Nicht-Iren hieß der Ort Clifden, und er war die inoffizielle Hauptstadt von Connemara in der Grafschaft Galway auf der grünen Insel Irland, die offiziell Éire hieß. Bilder, Obduktionsberichte, Zeugenaussagen, Straßenkarten und sogar ein Satellitenbild ließen sich mit einem Klick aufrufen.

Mein erster Fall als offizielle Ermittlerin. Glücklich seufzend erhob sich Rianne von ihrem Schreibtischstuhl und ging zur Kaffeemaschine, ließ einen Milchkaffee in die tiefe Bol plätschern und nahm sich ein abgepacktes Mini-Schokohörnchen aus dem Korb mit den Süßigkeiten. Die langen, schwarz lackierten Fingernägel machten mit der widerspenstigen Folie kurzen Prozess. Bon. Was haben wir Neues? Sie trank und sah über den Rand der Bol zu den Informationen am Wanddisplay.

Noch bevor sich Rianne in den Fall hineindenken konnte, öffnete sich die Tür.

Bourreau trat ein, den abgetragenen Militärmantel über dem Arm und den schwarzen Hut in der Hand. Das kurtaähnliche Obergewand in Dunkelgrün passte perfekt zur schwarzen Stoffhose. »Bonjour, Madame Lagrande«, grüßte er halbherzig. »Das duftet sehr gut.«

»Die beste Kaffeemaschine im ganzen Gebäude, Monsieur L’Inspecteur.« Rianne prostete ihm angedeutet mit der Kaffeeschale zu. »Auch einen?« Sie sah, wie fahrig und aufgewühlt er war. Er hatte die längeren dunklen Haare nach dem Abnehmen des Huts nicht gebändigt, einzelne Strähnen hingen unordentlich herab. Zudem brannte keine Culebra in seinem Mundwinkel. »Mon dieu! Sie gewöhnen sich doch nicht etwa das Rauchen ab?«, entfuhr es ihr.

»So in etwa«, murmelte er und trat vor das Smartboard, fuhr sich über den ausrasierten Bart und betrachtete das Datensammelsurium. »Was sehe ich da, Madame?«

Das ist kein gutes Zeichen. Rianne wunderte sich, riss sich aber schnell zusammen. »Der Name des Opfers ist Sean Ratheby. Er befand sich laut Aussage seiner Lebensgefährtin Ireen Monaghan alleine in seinem Erlenhain, um zu Cromm Cruach zu beten.« Sie biss vom Hörnchen ab und stellte die Bol zur Seite, nahm die Fernbedienung, um die entsprechenden Bilder damit nacheinander nach vorne zu holen und zu vergrößern. »Eine Statue von Cromm Cruach, einem keltischen Toten- und Unterweltsgott, befindet sich seit Jahrhunderten an diesem Ort. Das und der letzte alte Erlenhain in Irland sollen die Gründe für Ratheby gewesen sein, das Land überhaupt zu kaufen. Danach hat er den Zugang für die Öffentlichkeit gesperrt.«

»Wann war das?«

»Vor sieben Jahren. Exakt zum Erscheinen der Entitäten.« Rianne vergrößerte die Tatortaufnahmen. »Gestern wurde Sean Ratheby vor der Statue erschlagen. Oder besser gesagt: davon. Die Experten der Spurensicherung und ein Gesteinskundler haben übereinstimmend ausgesagt, dass die Statue weder marode war noch Beschädigungen aufwies, die zum Umfallen führen mussten. Der Marmor befand sich in einem tadellosen Zustand.«

Bourreau setzte sich auf die Kante ihres Schreibtischs. »Ein Unwetter?«

»Nicht mal starker Wind.«

Bourreaus Kopf fuhr herum, der Ausdruck in seinen Augen lag zwischen genervt und wütend. »Die Polizei in Clifden glaubt, dass ein Gott erschienen ist und die Statue auf Ratheby geschubst hat? Verstehe ich das richtig?«

»Sind Sie jetzt sauer auf mich?«, gab sie zurück.

Er schloss für zwei, drei Sekunden die Lider, seine Miene entspannte sich. »Verzeihung. Sie können nichts dafür, Lagrande.«

»Wofür denn?« Bourreau winkte ab. Rianne kaute den letzten Bissen Schokohörnchen, den sie mit einem Schluck Kaffee hinabschwemmte. »Bon, dann nicht.« Irgendetwas macht ihm sehr, sehr schwer zu schaffen. »Alors, es gab Drohungen gegen Ratheby.«

»Von wem?«

»Aus Clifden. Dort gibt es einen konkurrierenden Donn-Kult, dem der Hain und die Statue ein Dorn im Fleisch sind. Donn ist ebenfalls ein Totengott.« Rianne ließ die dazu passenden Bilder nach vorne zoomen. Sie hatte ihre Hausaufgaben sorgfältig gemacht. »Laut der Lebensgefährtin sei Ratheby prophezeit worden, dass Donn höchstselbst das Mal der Schande auf ihn stürzen werde.«

Bourreau schwieg und starrte auf das Smartboard, ohne zu blinzeln. Eine halbe Minute verging.

Rianne machte sich zunehmend Sorgen. Was beschäftigt dich wirklich, Bourreau? Die nette Miss Milord?

Nach dem dramatischen Abschluss ihres ersten aufreibenden Falls hatte er Rianne in Kopenhagen zum Essen eingeladen, sie zu seiner Ermittlungspartnerin ernannt und ihr zur Bekräftigung einen Kuss gegeben, dem sie immer noch nachspüren konnte. Was für ihn eine Geste zur Bekräftigung seiner Dankbarkeit gewesen war, brachte ihre eigene Gefühlswelt gehörig durcheinander.

Ich sollte nicht anfangen zu grübeln. Rianne räusperte sich. »Inspecteur?«

Bourreau zuckte ertappt zusammen. »Ja, ich … überlege noch.« Er löste sich vom Schreibtisch und vergrößerte das Tatortbild auf dem Wanddisplay weiter und weiter. »Sehen Sie das, Lagrande?«

Rianne betrachtete die Bruchkante der Statue, die der Inspektor bis zur Pixelbrechung herangezoomt hatte. »Der Marmor scheint an der Oberfläche heller.«

»Genau.« Er suchte im Bericht der Spurensicherung und des Gesteinskundlers. »Hier steht nicht, welcher Künstler oder welche Künstlerin die Cromm-Cruach-Statue erschuf. Haben wir etwas darüber?«

»Nein.« Rianne war verblüfft. Daran hätte ich selbst denken müssen. Lagrande, du wirst schlampig. »Das dürfte einige Jahrhunderte her sein. Kann ich herausfinden.«

»Tun Sie das, bitte.« Bourreau zog die Tatortfotos nach vorne und betrachtete sie in schnellem Wechsel. »Ratheby wollte beten, sagte die Lebensgefährtin«, sprach er dabei langsam vor sich hin. »Warum sehe ich weder Opfergaben noch Weihrauch oder irgendetwas, das auf Anbetung hinweist?«

Rianne atmete tief ein. Verflucht. So was von schlampig. »Ein spontanes Gebet?«

»Möglich.« Er tastete an seinem Oberteil nach dem Etui, in dem er seine Culebras aufbewahrte, hielt inne und steckte die Hände in die Hosentaschen. Auch das hatte Rianne noch nie erlebt. Langsam senkte sich Bourreaus Kinn. »Mister Ratheby wurde von Cromm Cruach vielleicht erschlagen, weil er nichts mitgebracht hat. Der Zorn eines ungerechten Gottes, der sich das Leben des Mannes als Gabe nahm.« Unvermittelt schob er den Oberkörper nach vorne. »Marmor, ja?«

»Ja.« Rianne versuchte zu ergründen, was er entdeckt hatte und ihr entgangen war. »Sie denken demnach, eine Gottheit hatte ihre Finger im Spiel?«

»Es gibt keine Götter. Eines Tages werden Sie das auch erkennen, Lagrande. Alles nur Trug und Täuschung.« Bourreau zog die Hände aus den Taschen und legte die Finger zusammen. »Aber ich gestehe Ihnen etwas.«

»So?«

»Ich weiß nicht, was genau an diesem Tod nicht stimmt. Nur, dass es so ist.«

»Denken Sie, eine Culebra würde helfen?« Rianne hatte aufgepasst, welche Farbe er in welcher Situation bevorzugte. »Eine mit grüner Banderole?«

»Oh, Sie haben keine Ahnung, wie gerne! Doch mein Lieferant ist … abgebrannt. Buchstäblich.« Bourreau tippte sich mit dem Zeigefinger gegen seine Nasenspitze. »Mein Spürsinn und mein Bauchgefühl versagen hier. Daher bleibt uns nur eins.«

Rianne lächelte. »Wir packen die Koffer?«

»Wir packen die Koffer.«

»Connemara soll sehr schön sein.« Rianne stellte die Bol unter die Kaffeemaschine. »Noch eine davon, und es kann losgehen.« Sie freute sich auf den Abstecher nach Clifden, und sie freute sich auf mehr Zeit mit dem Inspektor.

* * *

»Als ich klein war, glaubte ich, Geld sei das Wichtigste im Leben. Heute, da ich alt bin, weiß ich: Es stimmt.«

 

Oscar Wilde (1854–1900), irischer Schriftsteller

Kapitel II

Éire, Connemara, Clifden, Dezember 2019

Malleus hatte die moorige Wiese hinter dem stattlichen Herrenhaus namens Black Alder Hall passiert, das an der Lower Sky Road lag, und ging nun durch den sich anschließenden Schwarzerlenhain. Die kahlen Äste der dunkelrindigen Laubbäume rauschten leise im frischen Winterwind; die Meeresbrise brachte das Geschrei der Möwen mit sich. Leise rumpelte die Brandung gegen das nahe Kliff.

Tief atmete er die saubere, salzige Luft ein und aus. Ein und aus. Dabei zwang er sich, seine Schritte langsam auf die feucht-federnde Erde zu setzen, um sich und seine Gedanken zu beruhigen. Neben ihm lief Lagrande, ihren Militärrucksack mit Untersuchungsutensilien auf dem Rücken. Sie hatte sich für bequeme Retro-Optik-Outdoorkleidung entschieden und setzte damit einen Kontrast zu seinem auffälligen Militärmantel, zu Hut und Handschuhen.

Nur eine halbe Culebra hatte Malleus sich in den letzten Stunden gegönnt, blaue Banderole. Angesichts seines überschaubaren Vorrats durfte er nicht verschwenderisch sein, solange Karak verschwunden blieb. Nur der Schneidermeister vermochte Nachschub zu organisieren.

Das BKA in Germanien bearbeitete den Fall. In Absprache mit Ermittlern aus London, Paris und Mailand hatte man sich darauf geeinigt, dass gezielte Bombenanschläge zeitgleich auf die Firma Karak et Frères stattgefunden hatten. Das Handyfilmchen vom Kampf zwischen überirdischen Wesen, das sich im Internet verbreitete, war nicht als evidenter Beweis für eine divine Einmischung anerkannt worden, denn vergleichbare Aufnahmen gab es von den anderen Standorten nicht. Daher gingen die Behörden von irdischen Motiven aus: Schutzgeld, Konkurrenz oder persönliche Animositäten.

Wie gerne würde ich mir eine Culebra anstecken! Seine Abhängigkeit von den Zigarren bereitete Malleus Sorgen.

Noch mehr, dass er keine neuen bestellen konnte.

Die normalen Zigarillos, die er sich am Flughafen gekauft hatte, halfen so gut wie gar nicht gegen die Unruhe, die Hitzewallungen, die Kopfschmerzen und weitere Entzugserscheinungen, die sich jede Stunde vermehrten. Die Rauchware hinterließ lediglich einen schalen Geschmack im Mund und das Nikotin kaum einen Kick.

In einer ähnlichen Lage hatte er sich vor nicht allzu langer Zeit schon einmal befunden. In einem Flugzeug. Doch dort hatte Malleus gewusst, dass er bald wieder an eine Culebra kommen würde. Der Gedanke, auf unbestimmte Zeit von Nachschub abgeschnitten zu sein, sorgte für einen plötzlichen Anflug von Panik, den er laut und tief wegzuatmen versuchte.

Ein und aus, Meeresbrise, ein und aus.

»Geht es, Inspecteur?«

Lagrande konnte sich wahrscheinlich denken, was ihm zu schaffen machte. Dass ein leichtes Zittern in seinen Fingern aufkam, verbesserte seine Stimmung keinen Deut. »Keine Sorge. Nur ein kleines Kreislaufproblem. Die viele frische Luft.« Er deutete nach rechts. »Da vorne müsste es sein.«

Sie folgten dem Trampelpfad auf eine künstliche, akkurat freigeschnittene Lichtung, die von Schwarzerlen umsäumt wurde. Prächtige Rhododendren zwischen den dunklen Bäumen wiesen auf den Mooranteil in der Erde hin.

Die anthropomorphe Cromm-Cruach-Statue lag an der Stelle, an der sie Sean Ratheby erschlagen hatte. Dem Bericht nach war sie lediglich von der Spurensicherung angehoben worden, um die Leiche zu bergen. Der humanoide Körper zeigte animalische Komponenten, am Marmor hafteten Reste der silbernen und goldenen Bemalung.

Das blau-weiße Flatterband der Polizei war teils von der Witterung, teils von Tieren abgerissen worden.

»Dann wollen wir mal«, murmelte Malleus und sehnte sich noch ein bisschen mehr nach einer Zigarre. »Fangen Sie mit der Abbruchstelle an, Lagrande. Ich sehe mich im Dickicht um, ob die Spurensicherung etwas für uns liegen ließ.«

»Wird gemacht.« Sie schritt auf das zerstörte Standbild zu und nahm den Rucksack von der Schulter, ging auf ein Knie herab und begann mit der Untersuchung.

»Achten Sie auf die Verfärbungen. Sollten Sie den Eindruck haben, der Sockel sei angeschlagen oder irgendwie manipuliert worden, rufen Sie mich sofort.« Malleus tauchte ins Unterholz ein und bewegte sich kreisförmig um die Kultusstätte; unterwegs drehte er schier jedes Blatt und jeden Stein um, wurde jedoch nicht fündig.

Stattdessen nahm das Beben seiner Fingerkuppen zu und wanderte aufwärts. Aus der Unruhe entwickelte sich eine stärker werdende Angst, die sich in seinem Kopf festsetzte und das logische Denken zu blockieren drohte. Sein Bauchgefühl und sein Gespür für Situationen wurden beeinflusst. Malleus schloss die Lider und lehnte sich mit dem Rücken an eine Schwarzerle. Ich fühle mich wie ein Drogenabhängiger auf Entzug. Feine Nadelstiche breiteten sich über seinen ganzen Körper aus, es stach sogar in seinen Augäpfeln. Das muss aufhören!

Er konzentrierte sich auf den Fall und rief sich in Erinnerung, was der Hain bedeutete und welche Besonderheiten von Belang sein mochten.

Die meisten größeren Bäume in Éire waren längst gefällt worden, die Aufforstung hatte erst vor einigen Jahren begonnen. Dieses Wäldchen hier fiel aus dem Rahmen: Die Schwarzerlen wuchsen seit Dekaden unangetastet an dem moorigen Platz über den Klippen. Und sie beherbergten das alte Heiligtum eines Totengottes.