After Dawn – Der fließende Kristall - Lars Meyer - E-Book

After Dawn – Der fließende Kristall E-Book

Lars Meyer

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Beschreibung

Das spektakuläre Finale der Young Adult-Dystopie: Spannend, packend, mitreißend Seit Monaten wartet Ember sehnsüchtig auf Devans Rückkehr. Er wollte seine Schwester Yalla aus der unterirdischen Welt der Crawler befreien, um dann mit ihr in Dornwall zu leben – das hatte er Ember versprochen. Doch als er nicht zurückkehrt, ist Ember sich sicher, dass ihm etwas zugestoßen sein muss. Gemeinsam mit Ryan macht sie sich auf den gefährlichen Weg durch die Wüste, um Devan zu retten. Sie wähnen sich schon fast am Ziel, als etwas aus dem Himmel stürzt und ihnen eine furchtbare Wahrheit offenbart … »Ich wünschte, sie könnten sehen, was aus ihrer Welt geworden ist, wie jede Generation härter ums Überleben kämpfen muss als die vorherige. Sie haben es sich leicht gemacht. Ich kann es mir nicht leicht machen. Keiner von uns kann das.« - Dieses Jugendbuch ist ein Pageturner! - Lars Meyers Erzählstil ist eindringlich und packend - Embers Kampf ums Überleben entwickelt einen atemlosen Sog - Spannendes Setting: Wandernde Städte, verlorene Wälder, Staubstürme und eine unterirdische Welt - Für Fans von Die Tribute von Panem, Vortex, Maze Runner, The Loop Bände der Trilogie "After Dawn": After Dawn - Die verborgene Welt (Band 1) After Dawn - Die wandernde Stadt (Band 2) After Dawn - Der fließende Kristall (Band 3) Stimmen zu "After Dawn - Die verborgene Welt": »Woah, bin ich geflashed! Dieses Buch liest man wirklich mit Herzklopfen vor lauter Spannung. Und zwar ab der ersten Seite!« Marsha Kömpel, Mutter & Söhnchen-Blog »Lars Meyer überzeugt mit toughen Charakteren, unerwarteten Wendungen und einer dystopischen Welt, die beim Lesen lebendig wird« Kilifü - Almanach der Kinderliteratur 2022/23 »spannend und bildgewaltig« Mandys Bücherecke »After Dawn - Die verborgene Welt war mein Buchhighlight 2022« Lisa, Amazon-Rezension Stimmen zu "After Dawn - Die wandernde Stadt": »Tolle dystopische Elemente und eine starke Protagonistin machen es dem Leser leicht, sich in dieser Geschichte zu verlieren.« Sandra Ljamsin, Hörnchens Büchernest-Blog »insgesamt ein absolut geniales spannendes Buch. Und es wird ein 3. Buch geben ... meine Vorfreude darauf ist schon jetzt enorm.« Claudia, Amazon-Rezension »Die Geschichte hat mich wieder einmal in Atem gehalten und war ein absoluter Pageturner. Das Kopfkino lief permanent und ich finde, die Idee hat absolutes Blockbusterpotential.« Lisa, Amazon-Rezension

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Seitenzahl: 416

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Originalcopyright © 2023 Südpol Verlag GmbH, Grevenbroich

Autor: Lars Meyer

Umschlaggestaltung: Corinna Böckmann

E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim

ISBN: 978-3-96594-246-2

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung,

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Mehr vom Südpol Verlag auf:

www.suedpol-verlag.de

Für meine Mutter

Inhalt

Aufbruch

Rückkehr in die Tiefe

Das verborgene Mädchen

Die Stadt auf dem Wasser

Schatten der Vergangenheit

Das Mädchen, das vom Himmel fiel

Freiheim

Augen am Himmel

Jaina

Beschützer

Der Feind im Nebel

Kaine

Ryan

Verbündete

Kampf um New Dawn

Die letzte Hoffnung

Der Kristall

Das Ende

Der Anfang

Aufbruch

Meine Fingerspitzen fahren sanft über die Papierumschläge auf dem Schreibtisch vor mir. In ihnen befinden sich drei Briefe. Einer für meinen Vater. Einer für die Zwillinge. Einer für Ryan. Ich hoffe, sie werden es mir nicht übel nehmen, dass ich mich auf diese Art von ihnen verabschiede. Anders hätte ich es nicht übers Herz gebracht.

Ich will sie nicht verlassen – aber ich kann nicht länger warten. Ich habe genug gewartet. Tag für Tag. Woche für Woche. Inzwi­schen sind daraus Monate geworden. Der Winter ist gekommen und gegangen und mit ihm schwand auch meine Hoffnung, dass Devan nach Dornwall zurückkehren würde.

Er ist schon zu lange fort.

Der Weg in seine Heimat ist anstrengend und gefährlich. Ich weiß das. Ich bin ihn selbst gegangen. Das ist ja gerade das Pro­­blem. Ich kann nicht aufhören, mir Sorgen um ihn zu machen. Was, wenn ihm etwas zugestoßen ist? Die Skulls, die Verborgenen, Staub­­stürme …Die Liste der Dinge, die ihm auf seiner Reise den Tod bringen könnten, ist nicht kurz. Das weiß ich ebenfalls, denn ich verbringe viel zu viel Zeit damit, mir die verschiedenen Schreckensszenarien aus­zumalen, denen Devan sich möglicherweise stellen musste.

Er hat versprochen wiederzukommen.

Vielleicht ist er auch gar nicht Opfer irgendeiner Gefahr ge­worden, sondern hat sich entschieden, doch in seiner Heimat unter der Erde zu bleiben. Wäre das so ungewöhnlich? Er wollte die Ober­flä­che sehen und das hat er getan. Womöglich ist sein Abenteuer­­durst dadurch gestillt worden. Oder seine Familie hat ihn zum Bleiben überredet. Auch gut möglich, dass die Corporation ihn erneut verhaftet hat und er gegenwärtig in einer Zelle hockt und sich darüber är­­­gert, nicht bei mir geblieben zu sein.

Er hat versprochen wiederzukommen!

Devan ist jemand, der seine Versprechen hält. Deshalb ist er nach Gandea aufgebrochen. Weil er es Yalla versprochen hat. Er wollte seine Schwester holen, die dort auf ihn wartet. Und anschließend wollte er mit ihr nach Dornwall zurückkommen, um hier zu leben. Wenn er nicht auftaucht, wird es dafür einen Grund geben. Ich muss wissen, was mit ihm passiert ist, sonst werde ich nie wieder ruhig schlafen können.

Entschlossen nehme ich meinen Rucksack, werfe ihn mir über die Schulter, verlasse dann mein Zimmer und schließe die Tür hinter mir. Meiner Familie habe ich gesagt, dass ich sammeln gehen würde. Bis zum Abend werden sie mich nicht vermissen. Was wohl geschieht, wenn sie die Briefe finden? Mein Vater wird bestimmt wü­­tend auf mich sein, aber hoffentlich nicht so wütend, dass er mir folgt, um mich zurückzuholen. Ich habe in meinem Brief an ihn versucht zu erklären, warum ich tue, was ich gerade im Begriff bin zu tun. Wird er es verstehen? Er weiß, dass ich kein Kind mehr bin. Er weiß, dass ich auf mich aufpassen kann. Ob das reichen wird? Egal wie alt ich bin, werde ich immer seine Tochter sein und er wird mich immer beschützen wollen.

Ich gehe die Treppe zum Erdgeschoss hinunter und sehe mich dort ein letztes Mal um. Mich überkommt ein Gefühl von Heimweh, obwohl ich noch nicht einmal aufgebrochen bin. Auch ich gebe ein stilles Versprechen, dass ich zurückkehren werde. Ich habe fest vor, dieses Versprechen zu halten – aber wollte Devan das nicht ebenfalls?

Soeben will ich das Haus verlassen, als sich die Tür von außen öffnet. Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Ist es mein Vater? Doch weshalb sollte er so schnell wieder da sein? Es ist kaum eine halbe Stunde her, dass er gegangen ist.

Statt meines Vaters ist es Freila, die Tochter von Ester Freewill, die sich durch die Tür schiebt. Erleichtert atme ich auf.

»Ember …« Freila scheint nicht erwartet zu haben, mich noch hier anzutreffen. »Gehst du sammeln?«, fragt sie mit Blick auf meinen schweren Rucksack.

Ich nicke, obwohl ich es hasse zu lügen. »Und du?«, erkundige ich mich, um von mir selbst abzulenken. »Keine Lust auf Schule?«

Sie errötet, schüttelt aber hastig den Kopf. »Ich hab nur meine Tasche vergessen.« Sie deutet auf einen Stuhl, auf dem tatsächlich ihre lederne Schultasche liegt.

Freila ist vor ein paar Monaten bei uns eingezogen. Nach unserer Rückkehr aus der Wandernden Stadt lebte sie eine Weile bei ihrer Großmutter, deren Gesundheit jedoch angeschlagen war. Auch sie gehörte zu den Entführten, die zu Sklaven gemacht wurden. Die Arbeit, die sie in einer der Fabriken der Wandernden Stadt verrichten musste, war anscheinend zu viel für die alte Frau gewesen. Selbst in der vertrauten Umgebung Dornwalls erholte sie sich nicht von den Strapazen. Der Winter gab ihr den Rest. Er kam spät in diesem Jahr, aber dann mit aller Macht. Über Wochen hinweg tob­­ten Stürme aus Schnee und Eis durch den Verlorenen Wald und ließen die Welt um uns herum erstarren. Freilas Großmutter war nicht die Einzige, die krank wurde, und nicht die Einzige, die starb.

Damit blieb Freila niemand mehr. Innerhalb von weniger als einem Jahr hat sie ihre Mutter, ihre ältere Schwester und schließlich auch ihre Großmutter verloren. Das ist eine Menge Schmerz für ein dreizehnjähriges Mädchen. Das ist eine Menge Schmerz für jeden.

Sie hätte bei Nachbarn unterkommen können, die viele Jahre mit Ester befreundet gewesen waren, doch als ich Freila sah – dünn, hohlwangig und am Ende ihrer Kräfte –, während der Leichnam ihrer Großmutter aus dem Haus getragen wurde, bat ich meinen Vater, sie bei uns aufzunehmen. Ich konnte nicht anders. Ich war dabei, als ihre Mutter starb. Ich war dabei, als ihre Schwester starb. Ihre Familie kann ich ihr nicht zurückgeben, aber ich will wenigstens versuchen, ihr ein Heim zu bieten, in dem sie sich geborgen fühlen kann. Zumindest das bin ich Ester schuldig.

Seit Freila zu uns gezogen ist, hat sich ihr Zustand deutlich verbessert. Blass ist sie nach wie vor, doch immerhin erweckt sie nicht mehr den Eindruck, als würde sie sich bald dem Rest ihrer Familie anschließen. Wir teilen uns mein Zimmer, das nun unser Zimmer ist, und manchmal höre ich sie nachts weinen, wenn sie denkt, dass ich schlafen würde. Tagsüber weint sie nicht mehr; hin und wieder sehe ich sie sogar lächeln.

Freila schnappt sich ihre Tasche vom Stuhl und will sich schon wieder der Tür zuwenden, hält dann aber inne. Ihr Blick wird miss­trauisch. »Du … du gehst nicht sammeln, oder?«

Diesmal bin ich es, die rot wird. Wodurch habe ich mich verraten?

»Wirst du nach Devan suchen?«, bohrt Freila weiter.

Ich seufze. Offenbar bin ich ertappt worden. Das hat nicht lange gedauert. »Du darfst es niemandem sagen –«

»Das ist gefährlich, Ember!«, unterbricht sie mich aufgeregt. Hat sie Angst, wieder jemanden zu verlieren?

»Ich … ich muss es tun«, versuche ich zu erklären, was ich nicht erklären wollte. Nicht so. Nicht jetzt. »Ich muss wissen, was aus ihm geworden ist.«

»Und was ist mit deiner Familie?« Der Vorwurf in Freilas Stim­me ist nicht zu überhören. »Wolltest du dich einfach davonschleichen?«

Das wollte ich – und ich will es immer noch. Ich gehe zu Freila und lege meine Hände auf ihre schmalen Schultern. Ihre Haare sind so pechschwarz wie die ihrer Mutter, wenn auch nicht so lang. Mitunter fällt es mir schwer, sie anzusehen, denn wenn ich das tue, habe ich Ester vor Augen. Jetzt aber lässt mein Blick sie nicht los. »Behältst du es für dich? Wenigstens bis heute Abend?« Ich erzähle ihr von den Briefen, die ich oben zurückgelassen habe, und bitte sie darum, diese an meine Familie zu übergeben, wenn die Zeit gekommen ist. Freila sträubt sich eine Weile, willigt jedoch schließlich ein. Dankbar nehme ich die Hände von ihren Schultern.

Im nächsten Moment drückt sie sich an mich und zieht mich in eine erstaunlich feste Umarmung. »Pass auf dich auf.« Ihre Stimme zittert, in ihren Augen glänzen Tränen.

Weine nicht um mich. Ich lebe noch. Auf einmal muss ich selbst darum kämpfen, nicht zu heulen. Mit einiger Mühe löse ich mich von ihr. »Tust du mir einen Gefallen?«

Sie nickt und wischt sich die Feuchtigkeit von den Wangen.

»Passt du auf die Zwillinge auf? Ich glaube, sie brauchen eine große Schwester.«

Mit diesen Worten bringe ich sie erneut zum Weinen. Wieso rede ich auch von einer großen Schwester?! Ihre große Schwester ist tot. Während ich noch überlege, wie ich den Schaden, den meine unbedachte Bemerkung angerichtet hat, wiedergutmachen kann, fängt sie sich zum Glück.

»Mach ich. Ich verspreche es.«

Ein weiteres Versprechen. Weshalb geben wir andauernd welche, ohne zu wissen, ob wir sie auch halten können?

Gemeinsam verlassen wir das Haus. Freila geht in Richtung Schu­­­le und ich mache mich auf den Weg zu den Stallungen, wo mei­ne neue Tabi auf mich wartet. Die Straßen, die endlich frei von sich auftürmenden Schneemassen sind, sind nicht allzu belebt, worü­­ber ich froh bin, denn ich will vermeiden, anderen Leuten zu begegnen, die versuchen könnten, mich aufzuhalten. Die Mienen derer, die ich passiere, wirken ernst, wofür es mehr als einen Grund gibt. Der Winter war hart für alle.

Normalerweise bereiten wir uns auf die Zeit der eisigen Schnee­stürme vor, indem wir unsere Lebensmittelvorräte aufstocken. Im letzten Jahr war das kaum möglich, da ein Großteil unserer Bevöl­­kerung die meiste Zeit in der Gefangenschaft des Dawn-Imperiums verbrachte. Sammler konnten nicht sammeln. Jäger konnten nicht jagen. Auch die Ernten in den Gewächshäusern fielen deutlich ge­­ringer aus als sonst. Es waren nicht genug Leute übrig, um sich um die Pflanzen zu kümmern, weshalb viele von ihnen eingingen. Dazu kam, dass auch Händler, die uns für gewöhnlich regelmäßig Besuche abstatten, um ihre Waren anzubieten, einen weiten Bogen um Dornwall gemacht haben. Es muss sich herumgesprochen ha­­ben, dass wir angegriffen worden sind. Anscheinend glaubten die Händler, die mühsame Reise zu uns würde sich nicht lohnen, oder sie befürchteten, ebenfalls überfallen und versklavt zu werden.

Was uns rettete, waren die in den Bunkern der Stadt gelagerten Reserven. Einen Teil davon hatten die Angreifer des Dawn-Im­periums gestohlen, doch es blieben genügend übrig, um uns durch den Winter zu bringen und wenigstens vor dem Verhungern zu be­wahren. Jetzt aber gehen auch diese Nahrungsmittel zur Neige. Was machen wir im nächsten Winter?

Leider ist die Lebensmittelknappheit nicht einmal unser größtes Problem. Der Grüne Kristall, den ich mit so viel Mühe aus der Wandernden Stadt gerettet habe, funktioniert nicht richtig – und keiner weiß, warum. Bisher hat er uns immer zuverlässige Dienste geleistet und Dornwall mit Energie versorgt. Bevor ich geboren wurde, bevor meine Mutter und ihre Mutter geboren wurden, war der Kristall schon die Lebensader unserer Stadt gewesen. Genera­tio­nen sind unter seinem Schutz aufgewachsen, seit Dornwall be­­steht, und wir alle gingen davon aus, dass es auch so bleiben wür­­de. Nun allerdings scheint es, als ob wir uns darauf nicht länger ver­­lassen könnten. Immer wieder kommt es zu Energieausfällen, was besonders im Winter schlimm war, wenn plötzlich unsere Heizun­gen streik­­ten und die Wasserrohre einfroren.

Kann Dornwall ohne den Grünen Kristall überleben?

Tomman glaubt das nicht und viele andere sind seiner Meinung. Der Kristall stammt noch aus der Zeit, bevor die Welt starb. Alte Technologie, die niemand von uns – nicht einmal unsere besten Techniker – wirklich versteht. Wir benutzen sie und sind von ihr abhängig, aber jetzt, wo sie uns im Stich lässt, sind wir hilflos.

Bisher ist es den Technikern immer wieder gelungen, den Kris­tall und die Maschine, die ihm seine Energie entzieht und sie für uns nutzbar macht, wieder in Gang zu bringen. Aber wie lange wird das gut gehen? Sie scheitern bereits daran, zu identifizieren, was das eigentliche Problem ist. Wurde der Kristall in der Wandern­­­den Stadt beschädigt? Und wie könnte er wieder repariert werden? Ist das überhaupt möglich? Oder hat er in den Diensten des Dawn-Imperiums einfach so viel seiner Energie verloren, dass nun nicht mehr genug übrig ist? Ich habe darauf keine Antworten – und of­fenbar auch niemand sonst.

Es wird schon wieder davon gesprochen, Dornwall aufzuge­­­ben. Stellt der Kristall seine Arbeit erst endgültig ein, sind wir alle in Gefahr. Nicht nur, weil wir keine Energie mehr hätten, sondern auch, weil das, was unsere Welt getötet hat, uns töten würde. Es wür­­de eine Weile dauern – vielleicht Jahre –, aber irgendwann könn­­­ten wir wie die Verdammten in den Giftsümpfen enden, als be­­dauernswerte Kreaturen, für die der Tod eine Erlösung wäre.

Ob Warana, die Imperatorin der Wandernden Stadt, mir mehr hätte sagen können? Manirium-Kristall – so hat sie den Grünen Kristall genannt. Wusste sie mehr darüber? Woher er kommt und wie seine Energie entsteht? Falls es so war, hat Warana dieses Wis­sen mit ins Grab genommen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das bedauern soll. Auf jeden Fall war auch sie, trotz all der unfassbaren technologischen Wunder in ihrer Stadt, nicht in der Lage, neue Kristalle zu erschaffen. Ansonsten wäre die Imperatorin kaum darauf angewiesen gewesen, sie anderen zu stehlen und damit um ihre Zukunft zu bringen.

Gibt es eine Zukunft für Dornwall?

Als wir zurückkehrten, habe ich daran geglaubt. Ich dachte, alles könnte wieder so sein, wie es war, bevor wir überfallen wurden. Habe ich mich geirrt? Wenn ich die Sorgenfalten im Gesicht meines Vaters sehe, scheint es so.

Er und die übrigen Mitglieder des Rates, zu denen auch Ryans Mutter und sein Bruder Tomman gehören, kämpfen jeden Tag dar­um, unsere Gemeinschaft zu erhalten und zu schützen. Aber auch sie können nicht zaubern. Wir brauchen Essen. Wir brauchen Energie. Wir brauchen den Schutz des Kristalls, damit wir innerhalb der Stadtmauern ohne Luftfilter überleben können. – Sonst sind Dorn­­wall und seine Bewohner zum Untergang verurteilt.

So weit darf es jedoch nicht kommen. Wenn es gar nicht anders geht, könnten wir uns eine neue Heimat suchen. Wenigstens haben wir noch die meisten der aus der Wandernden Stadt mitgenommenen Fahrzeuge. Notfalls würden sie uns nicht nur transportieren, sondern auch Zugang zu einer anderen Siedlung verschaffen. Sie sind wertvoll. Wir könnten sie im Austausch dafür weggeben, aufgenommen zu werden. Vielleicht könnten wir in Lichtheim unterkommen oder in Kliffberg, wo meine Tante lebt. Sie würde sich bestimmt freuen, uns zu sehen.

Ich ärgere mich über meine eigenen Gedanken. Ich will Dornwall nicht verlassen! Wir haben so hart gekämpft, um hierher zurückkehren zu können. Jetzt einfach aufzugeben, erscheint mir falsch. Könnten wir nicht irgendwo einen neuen Grünen Kristall finden? Aber wo? Andere Städte haben einen, würden den allerdings nie herausgeben, schließlich sind sie davon genauso abhängig wie wir von unserem. Sollen wir uns mit Gewalt nehmen, was wir brauchen? Dann wären wir kein bisschen besser als die Bewohner der Wandernden Stadt, die ihr eigenes Wohl über das aller anderen ge­­stellt haben. Am Ende mussten sie dafür bezahlen, denn die Reise ihrer monströsen Stadt ist vorbei.

Vielleicht könnte ich, während ich nach Devan suche, auch nach einem neuen Kristall suchen. Fast muss ich über mich selbst lachen. Entwickle ich einen Heldenkomplex? Glaube ich etwa langsam selbst die Geschichten, die über mich und meine angeblich so großartigen Taten erzählt werden?

Ich kann froh sein, wenn ich Devan finde. Den Rest müssen an­­dere übernehmen.

Kurz darauf erreiche ich die Stallungen, die beim Angriff auf Dorn­­wall stark in Mitleidenschaft gezogen wurden. Inzwischen sind sie wieder instand gesetzt worden. In einer der Boxen erwartet mich Kun-Kun, meine neue Tabi. Eigentlich gehörte sie einer Jägerin na­­mens Lascha, die beim Kampf um Dornwall ihr Leben verlor. Ich habe Kun-Kun ausgewählt, weil sie kräftig und ausdauernd ist. Als Reit­­echse einer Jägerin ist sie es gewohnt, lange Strecken zurückzulegen.

Kun-Kun mustert mich wie einen Eindringling. Ich glaube, sie vermisst ihre alte Besitzerin, obwohl wir uns inzwischen ganz gut aneinander gewöhnt haben. Während ich ihr Sattel und Zaumzeug anlege, bewegt sie sich unruhig. Wenigstens schnappt sie nicht mehr nach mir, wie sie es am Anfang getan hat.

Ich vermisse Chan-Chan.

Vermutlich werde ich nie wieder eine Tabi finden, zu der ich eine so tiefe Verbindung aufbauen kann wie zu ihr. Sie war mehr als nur eine Reitechse – sie war meine Freundin. Ich kannte sie, seit sie aus ihrem Ei geschlüpft war. Wir sind zusammen aufgewachsen und wuss­­ten genau, was wir voneinander erwarten konnten. So etwas lässt sich nicht einfach wiederholen.

Kun-Kun knurrt. Spürt sie, dass ich eigentlich auf dem Rücken einer anderen Echse reiten will? Vielleicht wird uns die Reise, die wir vor uns haben, zusammenschweißen. Das wäre immerhin etwas.

»Komm, Kun-Kun«, fordere ich sie auf. Einen Moment lang starrt sie mich herausfordernd an und rührt sich nicht. Erst als ich ihr ein paar getrocknete Käfer ins Maul schiebe, setzt sie sich in Be­­we­­gung. »Geht doch«, murmele ich und sehne mich nach Chan-Chan.

Kun-Kun. Ich habe ihr diesen Namen gegeben. Chan-Chan tauf­te ich, als ich acht war – das war immer meine Ausrede. Jetzt bin ich sech­zehn. Da gibt’s keine Ausreden mehr. Offenbar mag ich nied­­­liche Namen.

Ich steige auf Kun-Kuns Rücken, nachdem wir die Stallungen verlassen haben. Wir halten aufs Südtor zu und ich kann nicht verhindern, dass mein Herz schneller schlägt. Warum werde ich ner­­vös? Ich tue nichts Verbotenes. Es gibt kein Gesetz, das mir untersagt, nach Devan zu suchen, und ich bin alt genug, meine ei­­ge­­­nen Entscheidungen zu treffen. Mit sechzehn Jahren gilt man in Dorn­­wall nicht mehr als Kind, obwohl ich mich nicht anders füh­­le als vor ein paar Monaten. Es wird von mir erwartet, dass ich Ver­ant­wortung übernehme – für mich und für die Gemeinschaft.

Handle ich verantwortungsvoll, wenn ich mich davonmache, ohne mit meiner Familie auch nur darüber zu reden? Ich bin Sammlerin. Die Menschen in Dornwall sind gerade ganz besonders auf all jene angewiesen, die den Verlorenen Wald durchstreifen, um Essbares zu finden oder zu jagen. Aber was ist mit Devan? Es gibt andere Samm­ler, die meinen Platz einnehmen können, doch es gibt niemanden außer mir, der nach Devan suchen kann oder will. Dabei hat er viel für uns getan. Ohne seine Hilfe wären die Sklaven aus Dornwall nie in der Lage gewesen, sich mit der Widerstandsbewegung der Wan­dernden Stadt zu verbünden, um gemeinsam die Imperatorin zu stürzen. Ohne ihn wäre Mina, die den Grünen Kristall bei sich trug, wahrscheinlich nie wohlbehalten aus der Stadt entkommen. Ich finde, wir schulden ihm etwas. Ich schulde ihm etwas, denn er hat mir mehr als einmal das Leben gerettet.

Bin ich jetzt wieder damit an der Reihe, ihn zu retten? Wenn es so ist, werde ich alles dafür tun.

Ich vermisse ihn.

Die Wächter am Tor grüßen mich und ich grüße zurück. Nie­mand hält mich auf. Niemand stellt Fragen. Warum sollten sie? Es kommt oft vor, dass ich in den Verlorenen Wald reite, schließlich ist das meine Arbeit. Meist begleitet Ryan mich dabei. Heute na­­tür­­lich nicht. Hoffentlich wird er nicht allzu böse darüber sein, dass ich ihn zurückgelassen habe. Ich bin mir sicher, er wäre mit mir gekommen, wenn ich ihn darum gebeten hätte. Habe ich aber nicht.

Dies ist meine Aufgabe. Ich muss sie allein erfüllen.

Eine Weile lasse ich Kun-Kun auf dem Weg reiten, der in den Wald führt. Hin und wieder werfe ich einen Blick über die Schulter, um sicherzustellen, dass mir keiner folgt. Der Pfad hinter mir bleibt leer, während die graue Wolkendecke über mir dichter wird. Es sieht nach Regen aus. Obwohl es kühl ist, friere ich nicht. Der neue Schutzanzug hält meinen Körper warm. Ein Luftprüfer steckt an meinem Gürtel; sein grünes Licht lässt mich wissen, dass ich mir im Augenblick keine Sorgen um die Luft, die ich atme, machen muss. Atemfilter, Schutzbrille und Sauerstoffgerät sind sicher in meinem Rucksack verstaut, zusammen mit einigen Vorräten. Den größten Teil meiner Ausrüstung trage ich allerdings noch nicht bei mir. Es wäre doch etwas auffällig gewesen, voll beladen aus Dornwall herauszureiten, weshalb ich die letzten Wochen genutzt habe, um in einem Versteck im Wald ein Lager einzurichten. Dort warten meine Sachen jetzt auf mich. Ich muss sie nur holen.

Kun-Kun verlässt den Pfad und wandert durch den Verlorenen Wald, der selbst im Frühling kaum frische Triebe hat. Die meisten Bäume, die ihre kahlen Äste dem wolkenverhangenen Himmel entgegenrecken, sind tot und zu versteinerten Zeugen längst vergan­gener Zeiten geworden. Hier und da entdecke ich jedoch austreibende Büsche oder Rankengewächse, die sich wuchernd auf dem Boden ausbreiten. Noch kämpft die Welt um ihr Überleben. Noch will sie sich nicht geschlagen geben – genauso wenig wie wir.

Ich erreiche das Versteck, das sich in einem hohlen Baum befindet, dessen obere Hälfte irgendwann abgebrochen ist und nun ein paar Schritte entfernt auf dem moosigen Boden liegt, bedeckt von Pilzen, die essbar sind. Beim Sammeln fand ich erst die Pilze und dann den Hohlraum im Baum. Beides war nützlich.

Schnell steige ich von Kun-Kuns Rücken und nähere mich dem verborgenen Lagerplatz. Den Zugang zum Hohlraum habe ich mit einer dichten Lage aus Ästen und Gestrüpp getarnt. Zusätzlich ist er mit giftigen Pflanzen gesichert, die wilde Tiere davon abhalten sollten, sich über die Vorräte herzumachen. Bisher hat es funktioniert und auch heute sieht mein Versteck unberührt aus.

Darauf achtend, die Giftpflanzen, deren unangenehmer Geruch mir in die Nase steigt, nicht zu berühren, entferne ich das Strauch­werk. Plötzlich höre ich in der Nähe ein Knacken.

Ich wirbele herum, meine Hand tastet nach der Steinschleuder an meinem Gürtel. Ehe ich sie in Position bringen kann, entdecke ich den Verursacher des Geräusches.

Es ist Ryan.

Er kommt hinter ein paar grauen Bäumen hervor, seine Tabi am Zügel mit sich führend. Chan-Chan hätte seine Anwesenheit be­­­­merkt und mich gewarnt. Falls Kun-Kun gespürt haben sollte, dass jemand hier ist, hatte sie offenbar nicht das Bedürfnis, dieses Wis­­sen mit mir zu teilen.

»Was machst du hier?«, frage ich, wobei ich nicht sonderlich freundlich klinge. Ich fühle mich ertappt.

»Die Frage ist wohl eher, was du hier machst.«

Meine Wangen glühen. Kennt er meinen Plan? Will er mich auf­halten?

»Pilze sammeln«, versuche ich, mich herauszureden.

Eine Mischung aus Enttäuschung und Ärger huscht über seine Züge. »Und dafür brauchst du all die Sachen in dem Baum da?«

Ich seufze. Mit dem Herausreden wird es offenbar nichts. »Du kannst mich nicht stoppen. Ich gehe, egal, was du sagst!«

Ryan nähert sich. »Wieso glaubst du, dass ich dich aufhalten will? Ich will dich begleiten.«

Erst jetzt bemerke ich die Ausrüstung auf Donners Rücken. Mein Unmut schwindet. »Du weißt doch gar nicht, was ich vorhabe.«

»Lass mich raten: Du willst dem Crawler folgen, um ihn zu su­­chen?«

Das Glühen auf meinen Wangen nimmt zu. Bin ich so leicht zu durchschauen? »Wie … wie hast du es herausgefunden?«

»Komm schon, Ember. Wir kennen uns, seit wir klein waren. Denkst du, ich merke nicht, wenn du auf einmal ohne mich im Ver­lorenen Wald herumkriechst und Vorräte in einem Baum hortest?«

Ich habe Ryan unterschätzt. Keine Ahnung, warum. Er ist schließ­­lich nicht blöd. »Und weshalb willst du mit mir kommen? Du magst Devan nicht mal.«

»Stimmt. Aber ich mag –« Er unterbricht sich und setzt erneut an. »Wir sind Freunde. Freunde sind füreinander da – selbst wenn sie im Begriff sind, etwas ziemlich Dummes zu tun.«

Ein Teil von mir freut sich über seine Worte und wäre froh, wenn er mich begleiten würde. Ein anderer Teil jedoch kann nicht auf­hören, an Dario, Rohan und Ester zu denken. Manchmal träume ich von ihnen und von dem Tag, an dem wir auf die Skulls trafen. Ihre Schreie verfolgen mich, genauso wie die Erinnerung an ihren Tod.

Ich bin bereit, mein eigenes Leben bei der Suche nach Devan zu riskieren – aber nicht das von jemand anderem. Nicht Ryans.

»Ich gehe allein. Es tut mir leid.«

Er zuckt mit den Schultern. »Es tut mir auch leid, aber du kannst mir keine Befehle geben – ich komme trotzdem mit.«

Es dauert ein paar Sekunden, bis ich darauf eine Antwort finde. »Was ist mit deiner Mutter? Sie lässt dich nie und nimmer gehen.«

»Die lässt mich so gehen, wie dein Vater dich hat gehen las­­sen«, wiegelt er ab. »Im Übrigen hat sie ja jetzt Tomman zurück. Da wird sie es wahrscheinlich gar nicht merken, wenn ich nicht mehr da bin.« Der Vorwurf in seiner Stimme ist unüberhörbar. Familien sind eben kompliziert.

»Ich … ich will dich nicht in Gefahr bringen«, versuche ich es er­­­neut.

»Wunderbar. Dann lass uns einige Pilze sammeln und nach Dorn­­­wall zurückreiten.«

Wieder seufze ich. »Du wirst nicht lockerlassen, oder?«

Ein Lächeln stiehlt sich auf seine Züge. Ich mag es, wenn er lä­­chelt. »Nicht mal ein bisschen.«

Seine Worte sollen scherzhaft klingen, aber der entschlossene Ausdruck in seinen Augen lässt mich erkennen, wie ernst es ihm ist. Wie es aussieht, werde ich auf meiner Reise doch nicht allein sein.

Ich hole meine Ausrüstung aus dem Versteck im Baum, belade Kun-Kun und stelle sicher, dass auch Ryan alles an Gepäck mitgebracht hat, was er brauchen wird. Während wir unsere Reitechsen besteigen, fängt es an zu regnen. Ich ziehe mir die Kapuze meines Schutzanzuges in die Stirn und werfe Ryan einen kurzen Blick zu. Ein wenig erleichtert bin ich schon darüber, dass ich mich nicht allein auf den Weg machen muss. Wenn es jemanden gibt, den ich an meiner Seite haben will, dann ist er es, immerhin durchstreifen wir seit Jahren zusammen den Verlorenen Wald. Ich weiß, dass ich ihm vollkommen vertrauen kann. Er wird mich nie im Stich lassen – und ich ihn ebenfalls nicht.

Beim letzten Mal, als ich Dornwall hinter mir ließ, verfolgte ich eine ganze Armee, um Hunderte von Gefangenen zu befreien. Das war praktisch unmöglich – trotzdem haben wir es geschafft. Im Ver­­gleich dazu erscheint es mir geradezu simpel, einen einzelnen Jun­­gen und dessen Schwester ausfindig zu machen.

Gemeinsam mit Ryan werde ich Devan und Yalla finden. Und dann kehren wir alle zusammen nach Dornwall zurück.

Was soll dabei schon schiefgehen?

Rückkehr in die Tiefe

Ich stehe auf dem Felsausläufer, der aus der Seite des Berges her­­ausragt. Es ist nicht das erste Mal. Vor vielen Monaten habe ich schon einmal hier gestanden und bin dabei auf die Spur der Wandernden Stadt gestoßen. Die tiefen Furchen, die ins Erdreich gerissen wurden, sind nach wie vor da. Regen und Schmelzwasser sind hineingelaufen; fast sieht es aus wie ein seltsam geradliniger Fluss, der glitzernd in der Ferne verschwindet. Würde ich ihm folgen, würde ich irgendwann wieder zur Wandernden Stadt gelan­­­gen – oder dem, was davon übrig ist. Daran habe ich allerdings keinerlei Interesse. Wenn ich der Drohung, die Falke bei unserer letzten Be­­gegnung ausgesprochen hat, glauben darf, wartet dort nur der Tod auf mich.

»Ist das der Eingang?« Ryan deutet mit dem Zeigefinger auf ein dunkles Loch mitten in der Seite des Berghanges.

Ich nicke und trete neben ihn. Meine Nervosität nimmt zu, als ich daran denke, wieder in das Reich unter der Erde zurückkehren zu müssen. Die Erinnerungen an meinen letzten Besuch sind nicht gerade positiv. Ich wäre dort unten fast gestorben! Was wäre von mir geblieben, wenn Devan und ich uns nicht durch Zufall in einem der Tunnel begegnet wären? Bestimmt nicht mehr als ein Schutz­anzug und ein paar Knochen. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken und rasch schiebe ich den Gedanken beiseite.

Diesmal bin ich besser vorbereitet. Wie wichtig das ist, haben die letzten Wochen bewiesen. Es war ein weiter und anstrengender Weg hierher – aber wir haben ihn geschafft, ohne dabei zu Schaden zu kommen. Meine Befürchtung, mein Vater oder Ryans Mutter könnten uns einen Suchtrupp hinterherschicken, um uns notfalls mit Gewalt nach Hause zurückzuschleppen, bewahrheite­­te sich nicht. Als Angehörige des Rates können sie sich so eine Blöße auch nicht geben. Leute und Ressourcen dafür zu verschwenden, zwei eigenwilligen Jugendlichen nachzujagen, wäre unangemessen gewesen. Ich rede mir ein, dass mein Vater meine Entscheidung res­­pektiert. Ob es wirklich so ist, werde ich wohl erst erfahren, wenn ich wieder in Dornwall bin.

Das Wetter war ebenfalls auf unserer Seite. Während der ersten Woche unserer Reise hat es viel geregnet, doch danach wurden die Temperaturen milder und die Niederschläge blieben aus. In der Wüste jenseits des Verlorenen Waldes überraschte uns ein Staub­sturm. Glücklicherweise gelang es Ryan und mir rechtzeitig, uns in einer alten Ruine zu verkriechen, die auch den Tabis ausreichend Platz bot. Der Sturm kostete uns drei Tage, war aber nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Das Gleiche galt für die Wüste selbst. Ich habe aus meiner Erfahrung gelernt und darauf geach­tet, genug Wasser dabeizuhaben.

Wir haben genau den Weg genommen, den Devan nehmen soll­te. Er führte uns in einem weiten Bogen um das Gebiet herum, in dem die Skulls ihr Unwesen treiben. Natürlich waren sie meine größ­te Sorge. Ich habe nicht vergessen, was sie meinen Gefährten an­­getan haben.

Während wir den Bergen der Skulls nahe waren, verzichteten wir darauf, abends ein Feuer zu machen. Abwechselnd hielten wir Wache, um nicht überrascht zu werden. Geschlafen habe ich in der Zeit nicht viel, meine Angst und meine Erinnerungen hielten mich wach. Ryan erging es kaum besser. Die Skulls haben seinen Vater ermordet, da verwundert es nicht, dass er sie ebenso fürchtet wie ich. Beide waren wir heilfroh, als wir uns weiter und weiter von ihrem Reich entfernten, ohne auch nur einen Einzigen von ihnen zu Gesicht zu bekommen.

Schließlich führte unsere Reise uns zu einem von zwei Eingän­­gen, die ich kenne, um in die unterirdische Welt der Grounders vorzudringen. Einer liegt in dem Tunnel, in dem ich damals durch ein Loch im Boden stürzte, wobei ich mir fast meinen Knöchel gebrochen hätte. Doch dieser Zugang ist viel zu nahe bei den Skulls, weshalb uns nur der andere blieb. Ryan und ich stehen direkt davor.

»Und da sollen wir rein?« Er hört sich nicht gerade begeistert an. Denkt er an all die Geschichten, die man sich bei uns über die Crawler erzählt? Viele davon sind wahr, geben jedoch nur ein unvollständiges Bild über die Grounders und ihr Leben unter der Erde ab. Sie sind nicht alle Mörder und Diebe. Manche von ihnen sind sogar richtig nett. Wie Devan.

Leider sind wir auf dem Weg hierher nicht auf ihn und seine Schwester gestoßen. Ich hatte ein bisschen darauf gehofft. Viel muss das allerdings nicht bedeuten. Es gibt weder Straßen noch Pfa­­de, denen man folgen könnte. Gut möglich, dass wir uns knapp ver­­passt haben und in wenigen Kilometern Entfernung aneinander vor­­beigelaufen sind. Das wäre wirklich blöd. Ist Devan inzwischen längst in Dornwall eingetroffen? Sollte es so sein, werde ich nicht nur von meinem Vater etwas zu hören bekommen, wenn ich wieder da­­heim bin.

Vorsichtig nähere ich mich dem Tunnel, der tief hinein in die Erde führt. Ich komme mir vor, als würde ich direkt ins aufgeris­sene Maul eines hungrigen Untieres treten. Worüber mache ich mir Sorgen? Diesmal muss ich die Dunkelheit nicht fürchten. Ich habe ein Nachtsichtgerät bei mir! Es hat mich einige Zeit und Mühe ge­­kostet, eines aufzutreiben, doch letztendlich bin ich bei einem Händ­ler in Dornwall fündig geworden. Das Gerät lag ganz unten in einer Kiste mit allerlei Plunder, sieht ziemlich schäbig aus und ist nicht so gut wie das Modell, das Devan für mich gestohlen hatte. Aber es funktioniert. Ich habe dafür bezahlt, indem ich den Verlorenen Wald nach heilenden Kräutern und Pilzen abgesucht habe. Die Frau des Händlers lag mit starkem Fieber im Bett – nach Dreas Tod fehlt uns eine Heilerin, die etwas von ihrem Handwerk versteht. Als die Frau wieder gesund war, bekam ich mein Nachtsichtgerät. Ein guter Handel für uns alle.

Bedauerlicherweise fehlt Ryan eine Nachtsichtbrille, weshalb wir vorerst Lichtstäbe nutzen werden müssen – ich habe einen gan­­zen Beutel davon mitgebracht. Einen der Stäbe schlage ich mit der Un­­terseite gegen die Wand des Tunnels. Innerhalb weniger Se­­kun­den vertreiben die freigesetzten Chemikalien mit ihrem Leuch­­ten die Finsternis in der Nähe. Ich sehe mich um.

Der in den Fels geschlagene Pfad führt relativ steil nach unten. Ich folge seinem Verlauf ein Stück, während Ryan bei den Tabis bleibt. Hat Devan es bis hierher geschafft? Ich wünschte, wenigstens auf diese Frage könnte ich eine Antwort finden.

Sekunden später wird mein Wunsch erfüllt.

Das helle Licht meines Stabes fällt auf den Sattel einer Tabi. Abgesehen davon, dass es wohl kaum mehrere Leute geben wür­­d­­­e, die den Sattel ihrer Reitechse in genau diesem Tunnel deponie­­ren würden, erkenne ich das Symbol wieder, mit dem der Sattler Dorn­walls jede seiner Arbeiten versieht. Es kann keinen Zwei­­fel ge­­­ben.

»Ryan!«, rufe ich aufgeregt nach oben. Kurz darauf steht er ne­­ben mir, die Armbrust schussbereit in seinen Händen. »Er war hier!« Ich deute auf den Sattel.

»Sieht so aus«, stimmt Ryan mir zu. »Er ist also angekommen. Aber was ist dann passiert?«

Nervös suchen seine Blicke die Dunkelheit vor uns ab, als würde er befürchten, jeden Moment könne sie Gegner ausspeien, die über uns herfallen. Unbegründet ist diese Furcht nicht. Die Tunnel der Grounders sind nicht so verlassen, wie man vermuten könnte.

Meine Finger streichen über das Leder des Sattels. Es fühlt sich kalt an. Die Euphorie darüber, auf eine Spur Devans gestoßen zu sein, weicht Sorge. Weshalb ist er nicht aus der Tiefe zurückgekehrt?

Ich lasse den Sattel hinter mir und dringe weiter in den Tunnel vor. Diesmal bleibt Ryan bei mir. Auch er holt einen Lichtstab her­­vor und aktiviert ihn, was ich zwar für Verschwendung halte, aber immerhin entdecke ich dadurch einen Spalt im Fels, der mir an­­sonsten vielleicht entgangen wäre. In ihm ist etwas versteckt wor­­den!

Mit einiger Mühe gelingt es mir, Ausrüstung aus dem Spalt zu zerren. Ein Zelt. Ein Rucksack. Ich öffne ihn und finde darin Vor­­räte. Ein Großteil davon ist verdorben. Sie müssen schon seit Mo­­naten hier herumliegen. Viel wichtiger allerdings als die vergammelten Lebensmittel ist ein in Leder eingeschlagenes Buch – Devans Buch!

Ich presse es an meine Brust, einen Moment lang mit den Tränen kämpfend. Dies ist Devans wertvollster Besitz. Niemals hätte er das Buch dauerhaft zurückgelassen. Selbst wenn er sich entschieden hätte, doch bei seiner Familie zu bleiben, hätte er es geholt und es nicht einfach aufgegeben. Es muss ihm etwas zugestoßen sein!

Meine Suche hat sich soeben in eine Rettungsmission verwandelt.

Ryans Hand legt sich sanft auf meine Schulter. »Bist du okay?«

Tapfer blinzele ich meine Tränen weg und nicke. Ich erkläre ihm, welche Relevanz das Buch für Devan hat. In ihm ist all das Wissen gesammelt, das er und sein Großvater über viele Jahre hinweg zu­­sammengetragen haben. Auch Ryan versteht, was das bedeutet.

»Er ist also noch da unten.« Sein Blick geht den Tunnel hinab, der sich jenseits unseres Lichtes in einen schwarzen Schlund zu verwandeln scheint. Ist Devan von ihm verschlungen worden?

»Ich muss ihn finden!«

Ryan löst seine Hand von meiner Schulter. Einen Augenblick lang sieht er aus, als wolle er mir widersprechen, doch stattdessen sagt er nur: »Ich weiß.«

Da wir an diesem Tag schon viele Stunden unterwegs waren, be­schließen wir, erst am nächsten Morgen weiterzuziehen. Unser La­­­ger schlagen wir am Zugang zum Tunnel auf, wo wir erst im Ta­­ges­­licht essen und dann unter Sternenlicht schlafen. Als die Sonne un­­tergeht, beobachte ich es mit gebanntem Blick und versuche, mir al­­les genau einzuprägen. Dort, wo ich hingehen werde, gibt es keine Son­­ne, sondern nur ewige Finsternis.

Ryan übernimmt die erste Wache, ich die zweite. Trotz all der Gedanken, die in meinem Kopf herumschwirren, schlafe ich so gut, dass er mich wachrütteln muss. In eine warme Decke gehüllt, warte ich auf die Dämmerung, die so schnell kommt, dass ich mich frage, ob ich zwischendurch eingenickt bin. Erstaunlich wäre es nicht. Weder Ryan noch ich bekommen genug Schlaf, denn einer von uns wacht immer über den anderen. Auf die Dauer ist das ganz schön anstrengend.

Nach einem kurzen Frühstück bleibt uns keine andere Wahl, als uns von Kun-Kun und Donner zu verabschieden. Ins Reich der Grounders können sie uns nicht begleiten. Von Sätteln und Zaumzeug haben wir sie bereits am letzten Abend befreit, jetzt legen wir ihnen noch etwas Futter hin.

»Was machen wir, wenn sie weglaufen?«, fragt sich Ryan.

»Ich schätze, dann müssen wir zu Fuß nach Hause gehen.«

Er stöhnt. »Großartig …«

»Wenn wir Glück haben, bleiben sie in der Gegend.« Chan-Chan hätte garantiert auf mich gewartet. Bei Kun-Kun bin ich mir da nicht so sicher.

Auch einen Großteil unserer Ausrüstung müssen wir zurücklassen. Jeder von uns nimmt nur einen Rucksack mit, in den alles passen muss, was wir brauchen, und der dennoch nicht mehr wiegen darf, als wir problemlos über längere Zeit tragen können. Nach einigem Zögern stopfe ich auch Devans Buch in meinen hinein. Es könnte sich als nützlich erweisen.

Während seiner Zeit in Dornwall hat Devan die alten Auf­zeich­nungen seines Großvaters noch einmal ganz genau studiert und ist dabei auf einen Weg gestoßen, der ihm vorher nicht bekannt war und der ihn zurück nach Gandea bringen sollte, ohne dem Ge­­biet der Verborgenen zu nahe zu kommen. Nach unserer letzten Be­­geg­nung mit ihnen, die damit endete, dass wir um unser Leben rennen mussten, erschien das auch angebracht. Ich habe einen kompletten verregneten Nachmittag investiert, um eine Kopie der Karte anzufertigen, auf der Devan den neuen Weg eingezeichnet hatte. Damals war mir nicht so recht klar, weshalb ich mir die Arbeit überhaupt machte. Nun bin ich froh darüber, denn so ist es uns möglich, Devans Reise in die Tiefe Schritt für Schritt zurückzuverfolgen. Selbst wenn ich nun auch Devans Buch dabeihabe – die meist verschlüsselten Hinweise seines Großvaters kann ich nicht entziffern.

Hinter Ryan und mir wird das Licht am Ende des Tunnels kleiner und kleiner, bis es irgendwann ganz verschwindet. Es bleibt uns nur der Kreis aus Helligkeit, der von dem Lichtstab in meiner Hand ausgeht. Ryan hält seine Armbrust bereit. Ich hoffe, dass er sie nicht benutzen muss, auch wenn ich meine Zweifel habe, ob sich diese Hoffnung erfüllen wird. Ist Devan wieder in Gefangenschaft geraten? Wurde er angegriffen? Hatte er einen Unfall?

Unter der Erde ist es definitiv nicht sicherer als an der Oberfläche, selbst wenn es hier keine Staubstürme geben mag.

Rasch stelle ich fest, dass ich das klaustrophobische Tunnel­la­­­byrinth der Grounders nicht vermisst habe. Wasser, Essen und Licht werden mir diesmal nicht so schnell ausgehen, außerdem ha­­be ich die Karte, die mir den Weg weist. Trotzdem sind meine Hän­de verschwitzt und mein Herz scheint schneller zu schlagen, je weiter unsere Wanderung uns von der Oberfläche fortführt.

Auch Ryan wirkt angespannt. Bei jedem Geräusch, das aus der Fer­­ne an unsere Ohren dringt, zuckt er zusammen. Einmal er­­schrickt er sich so sehr vor einem Schatten, dass er den Abzug seiner Arm­brust betätigt. Harmlos prallt der Bolzen von der steinernen Wand ab. Als ich sehe, wie Ryan bis über beide Ohren rot wird, muss ich lachen. Danach fühle ich mich besser.

An diesen Teil des Weges kann ich mich gut erinnern. Es ist derselbe, den ich bei meinem letzten Besuch bei den Grounders ge­nommen habe – nur sind Devan und ich da in die andere Richtung gegangen. Bedauerlicherweise bedeutet das, dass wir am Ende unseres ersten Tages in der Tiefe auf die Steilwand treffen, die ich auch damals überwinden musste. Weder Ryan noch ich sind erfahrene Kletterer, weshalb wir mit dem Abstieg bis zum Morgen warten, den es hier unten eigentlich gar nicht gibt. Wir verzichten sogar auf eine Wache, da uns die Steilwand vor Angreifern schützen müsste. So kann ich endlich mal durchschlafen.

Ausgeruht vertraue ich mich als Erste der Wand an, die praktisch senkrecht nach unten führt. Ich versuche, mich an all die Dinge zu erinnern, die Devan mir übers Klettern beigebracht hat, und stelle fest, dass der Abstieg mir erstaunlich leichtfällt. Letztes Mal hatte ich Probleme und war gezwungen, etliche Pausen einzulegen. Diesmal mache ich keine einzige. Ich bin viel stärker als früher. Muss ich mich dafür bei den Sklaventreibern der Wandernden Stadt bedanken? Die Zeit in der Fabrik, die ich damit verbracht habe, einen zu schweren Hebel nach oben und unten zu wuchten, hat meine Muskeln wachsen lassen. Auch danach habe ich nicht aufgehört zu trainieren. Im Winter habe ich etliche Stunden an Tommans Klimmzugstange verbracht. Es hat sich ausgezahlt. Die einarmigen Klimmzüge, die ich zuvor für ein Ding der Unmöglichkeit hielt, schaffe ich jetzt selber. Wenn Mina und Ceren mir dabei zuschauen, werden ihre Augen ganz groß vor Staunen. Allein das ist die ganze Schinderei schon wert.

Am Boden angekommen, nehme ich meine Nachtsichtbrille ab. Sie erschien mir sicherer als ein Lichtstab, den ich irgendwo an meiner Kleidung hätte befestigen müssen, um die Hände frei zu haben. Ryan lässt mit dem längsten Seil, das wir haben, einen Beutel zu mir herab, in den ich die Brille packe. Vorsichtig zieht er ihn wieder zu sich herauf, um das Nachtsichtgerät ebenfalls nutzen zu können. Mit einem Stück Kreide habe ich den Weg, den er nehmen soll, und die Stellen, an denen er sich festhalten kann, markiert. Ich kann seinen Abstieg nicht mit meinen Blicken verfolgen, denn Licht aus einer anderen Quelle würde die Funktion der Nachtsichtbrille beeinträchtigen. Angespannt lausche ich Ryans Bewegungen an der Wand über mir.

Es dauert lange, bis er bei mir ist, deutlich länger, als es bei mir gedauert hat. Mit einem erschöpften Keuchen sinkt er auf die Knie, kaum dass er den Boden berührt hat. Schnell lasse ich einen Lichtstab die Dunkelheit um mich herum vertreiben.

»Das«, japst er, »war anstrengend. Hättest du mich nicht warnen können?«

»Ich habe dich gewarnt.«

Blinzelnd nimmt er die Brille ab und massiert seine schmerzenden Arme. Er sieht erschöpfter aus, als ich mich fühle. Es macht mich ein klein wenig stolz, was ich natürlich für mich behalte.

Nach einer ausgedehnten Pause setzen wir unseren Weg fort. Wir kommen nicht wirklich schnell voran. Ich habe Angst davor, eine falsche Abzweigung zu nehmen und mich zu verlaufen, weshalb ich jedes Mal, wenn wir im Begriff sind, einen neuen Tunnel zu betreten, meine Karte hervorhole und sie genau studiere. Hin und wieder zeichne ich mit dem Stück Kreide ein Symbol an eine Wand oder die steinerne Decke, möglichst dort, wo es nicht sofort ins Auge fällt. Ich will nicht, dass es jemand bemerkt und uns darüber verfolgen kann. Notfalls würden wir so aber zurückfinden – auch ohne die Karte.

Tage später sind wir in einen Bereich der Tunnel vorgedrungen, den ich nie zuvor zu Gesicht bekommen habe. Wir durchqueren Höh­­len, in denen die verschiedensten Pilze wachsen, und Grotten, die von Gewächsen überwuchert wurden, von denen ein mysteriöses Leuchten ausgeht. Nicht alle sind unbewohnt. Einmal um­schwirren uns plötzlich Hunderte geflügelter Kreaturen, deren spitze Schreie in meinen Ohren schmerzen, ein anderes Mal wandern wir auf einem wogenden Teppich schwarzer Käfer – da bin ich es, die schreit.

Schließlich erreichen wir eine Schlucht, an deren Grund sich ein reißender Fluss befinden muss. Wir können ihn nicht sehen, aber das Sprudeln und Rauschen der Wassermassen dringt bis zu uns nach oben. Über die Schlucht, die zu breit ist, um sie überspringen zu können, führt eine morsche, baufällige Brücke aus Seilen und Holz. Misstrauisch betrachten Ryan und ich die wenig einladend aussehende Konstruktion, die den Eindruck erweckt, jeden Augenblick zusammenbrechen zu können.

»Ich gehe zuerst«, biete ich an, da ich weniger wiege als Ryan und all dies meine Idee war.

Langsam wage ich mich auf die Brücke vor. Das Holz unter mei­­nen Stiefeln knarrt und knirscht verdächtig bei jedem meiner Schrit­te. Meine Hände klammern sich an den Seilen fest, die zu bei­­den Seiten der Hängebrücke verlaufen. Ist sie es, die schwankt, oder bin ich es?

Ich bin heilfroh, als ich unbeschadet die gegenüberliegende Sei­­te der Schlucht erreiche. Gandea ist nicht mehr fern! Das behaup­­tet jedenfalls die Karte, an der ich mich orientiere.

»Jetzt du!«, rufe ich zu Ryan hinüber.

Auch er betritt die Brücke. Nachdem er gesehen hat, dass ich sicher hinübergekommen bin, bewegt er sich weniger achtsam, als ich es getan habe. Ein Fehler, wie sich herausstellt.

Eines der morschen Bretter gibt unter seinem Gewicht nach. Ryans Fuß sackt nach unten, gefolgt vom Rest seines Körpers. Sein über­­raschter Schrei übertönt sogar das Gurgeln des Flusses in der Tiefe.

»Ryan!« Ich will auf die Brücke stürmen, um ihm zu Hilfe zu ei­­len.

»Nicht!«, warnt er panisch. »Wenn wir nicht aufpassen, stürzen wir beide ab!«

Ich halte inne. Noch fällt keiner von uns, noch lassen Ryans Hän­­de die Seile der Brücke nicht los. Sein linker Fuß steht sicher, wäh­­rend der rechte über dem Abgrund baumelt. Mit klopfendem Herzen beobachte ich, wie Ryan sein Bein aus der Lücke im Holz herauszieht und seinen Weg fortsetzt – deutlich vorsichtiger als zuvor.

Sobald er in meiner Reichweite ist, strecke ich die Hände nach ihm aus und ziehe ihn zu mir. Die Erleichterung ist uns beiden an­­zusehen.

»Da geh ich nicht noch mal rüber!«, verkündet er und wirft der Brücke einen bösen Blick zu. Ich verzichte auf den Hinweis, dass uns bei unserem Rückweg keine andere Wahl bleiben wird.

Nachdem wir die Schlucht hinter uns gelassen haben, erhöhe ich das Tempo etwas. Die Aussicht, Gandea bald zu erreichen, gibt mir neue Kraft. Jedoch dauert es nicht lange, bis wir auf ein weiteres Hindernis stoßen.

Der Tunnel vor uns ist eingestürzt – das war nicht auf der Karte.

Ich fluche, während das Licht meines Stabes über die Gesteins­massen gleitet und nach einer Lücke sucht, durch die wir uns vielleicht quetschen können. Es gibt keine.

Auch eine Stunde später hat sich an diesem ersten Eindruck nichts geändert. Ungezählte Tonnen Fels und Geröll blockieren den Weg, der kein Weg mehr ist, sondern eine Sackgasse. Hier würde nicht einmal eine Maus durchkommen. Unseren Versuch, den Tun­­nel freizuräumen, geben wir schnell wieder auf. Die meisten der Brocken lassen sich nicht bewegen und sind so verkantet, dass wir uns nur die Fingernägel abbrechen. Es fällt mir nicht leicht, es zu­­zu­­geben, aber durch diesen Tunnel werden wir die Stadt der Last Corporation nie erreichen.

Ryan wischt sich die Hände an seiner Hose sauber. »Und was jetzt?«

Fast hätte ich ihn angefaucht, beherrsche mich aber im letzten Moment. Er kann schließlich nichts dafür. Wahrscheinlich ist die­­­ser Tunnel ein weiteres Opfer des Erdbebens, das auch Gandea und sei­ne Umgebung erschütterte. Ich hätte wohl damit rechnen müs­­­sen.

Nachdenklich betrachte ich den Trümmerberg vor mir. Devan wird vor dem gleichen Hindernis gestanden haben. Was hat er ge­­macht? An die Oberfläche ist er nicht zurückgekehrt, so viel ist sicher. Also muss er einen anderen Weg gefunden haben. Ein mulmiges Gefühl macht sich in meiner Magengrube breit. Soweit ich weiß, gibt es nur einen anderen Weg, der vom Erdbeben verschont wurde – und er führt direkt durch das Reich der Verborgenen.

Ist Devan dorthin gegangen? Ist das der Grund, weshalb er ver­­schwunden ist? Plötzlich ist meine Angst zurück. Lebt Devan über­haupt noch? Was, wenn meine Suche gar keinen Erfolg mehr ha­­ben kann?

Nicht aufgeben, mache ich mir selbst Mut. Überzeugend bin ich nicht.

Wir rasten in unmittelbarer Nähe des verschütteten Tunnels und brechen nach ein paar Stunden Schlaf wieder auf. Ryan ist nicht besonders glücklich, als er doch erneut über die Brücke muss. Ich auch nicht. Da es an Alternativen mangelt, gehen wir trotzdem. Wir schaffen es, was so ziemlich der einzige Erfolg des Tages bleibt. Devans Karte nützt mir nun wenig, weshalb ich das Buch seines Großvaters hervorhole. Leider bleibt es dabei, dass ich nur Teile davon lesen kann, da der Rest in einer seltsamen Codesprache verfasst ist. Devan hat den Code geknackt, wofür er allerdings Jahre Zeit hatte. Mir bleiben keine Jahre. Ich habe nicht einmal Tage.

Ich ziehe die in dem Buch eingezeichneten Karten zu Rate, um herauszufinden, wo wir sind und wohin wir uns wenden müssen. Aber kann ich den Plänen trauen oder sind sie ebenfalls verschlüsselt, sodass ich mein Ziel nie finden würde?

Tagelang irren wir durch die Tunnel und Höhlen. Manchmal glaube ich, dass wir genau auf dem richtigen Weg sind, dann wieder bin ich vollkommen davon überzeugt, dass wir uns hoffnungslos verlaufen haben. Liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen? Be­­finden wir uns im Reich der Verborgenen? Und was wird passieren, wenn wir welchen von ihnen begegnen? Bei unserem letzten Auf­einandertreffen haben sie versucht, mich zu töten. Die Situa­­­tion eskalierte jedoch erst, als ich einen von ihnen zu Boden stieß. Ob sie sich an mich erinnern? Vielleicht lassen sie uns einfach in Ruhe, wenn wir uns unauffällig verhalten.

Ryan und ich bleiben wachsam, obwohl die Dunkelheit unser einziger Begleiter zu sein scheint. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass in diesem Labyrinth aus Stein und Hoff­­nungslosigkeit niemand lebt. Es wäre ein Irrtum. Ich habe die Bewohner Gandeas gesehen und bin durch die Höhlen der Ver­­­borgenen gewandert. Laut Devan soll es hier unten weitere Grup­­­­­pen von Groundern geben: Dirtgrabbers, das Freefolk, die Wa­­ter­watchers, die Howlers. Wo sind sie alle? Wie gigantisch ist dieses Reich unter der Erde?

Vor uns erklingt ein scharrendes Geräusch, als würde Felsen über Felsen mahlen. Ryans Armbrust hebt sich wie von selbst. Ich taste nach dem Griff des Messers in meinem Gürtel.

»Wer ist da?« Mein Ruf hallt verzerrt von den Wänden des Tunnels wider. Eine Antwort bekomme ich nicht.

Mit rasendem Herzen schwenke ich den Lichtstab vor mir durch die Luft. In diesem Fall würde mir die Nachtsichtbrille bessere Diens­­te leisten, denn ihre Reichweite übersteigt den kleinen Kreis aus Helligkeit, der uns umgibt. Bedauerlicherweise ist sie sicher in meinem Rucksack verstaut. Sie hervorzuholen, würde zu lange dauern. Mutig wage ich mich ein paar Schritte in Richtung des Ge­­räusches, das sich bisher nicht wiederholt hat.

Ein Schatten bewegt sich huschend durch die Finsternis vor uns. Ryan legt mit seiner Armbrust darauf an, seinen Finger bereits am Abzug.

»Nicht schießen!«, bringe ich hastig heraus, ehe er einen furchtbaren Fehler machen kann. Mein Lichtstab offenbart, auf wen wir nach vielen Tagen in der Tiefe gestoßen sind: ein kleines Mädchen.

Es ist nicht das erste Mal, dass ich ihr begegne. Sie war die erste Verborgene, die ich je traf. Sie war es auch, die Devan und mich vor ihren Leuten in Sicherheit brachte. Ich erkenne sie wieder. Sogar das Shirt, das Devan ihr zum Dank für ihre Dienste gegeben hat, trägt sie noch.

Ich atme auf. Von allen Verborgenen, die uns hier unten über den Weg hätten laufen können, ist sie wahrscheinlich die Einzige, die keine