After Dawn – Die wandernde Stadt - Lars Meyer - E-Book

After Dawn – Die wandernde Stadt E-Book

Lars Meyer

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Beschreibung

"Wie sollen wir sie befreien? Wie sollen wir überhaupt in die Stadt hineinkommen? Und wie kann eine ganze Stadt wandern?" Ein schweres Erdbeben im unterirdischen Reich der Grounders ermöglicht Ember und Devan die Flucht an die Oberfläche. Endlich kommt Ember ihrem Ziel näher: ihre Familie zu befreien, die von fremden Soldaten gefangen genommen wurde – als Arbeitskräfte für die wandernde Stadt des Dawn Imperiums. Die Spur des stählernen Kolosses ist unübersehbar, er verwüstet und entwurzelt, zermalmt alles, was ihm im Weg ist. Die wenigen Zugänge ins Innere sind schwer bewacht. Um an ihnen vorbeizugelangen, müssen Ember und Devan alles riskieren, denn ein Zurück gibt es für sie nicht mehr. Aber das ist erst der Anfang, denn die Welt innerhalb des wandernden Kolosses übersteigt alles, was Ember sich jemals hätte ausmalen können … - Dieses Jugendbuch ist ein Pageturner! – Lars Meyers Erzählstil ist gradlinig und packend - Embers Suche nach ihrer entführten Familie und ihr Kampf ums Überleben entwickeln einen atemlosen Sog - Spannendes Setting: Wandernde Städte, verlorene Wälder, Staubstürme und eine unterirdische Welt - Für Fans von Die Tribute von Panem, Vortex, Maze Runner, The Loop Bände der Trilogie "After Dawn": After Dawn – Die verborgene Welt (Band 1) After Dawn – Die wandernde Stadt (Band 2) After Dawn – Der fließende Kristall (Band 3 – erscheint Herbst 2023) Stimmen zu "After Dawn – Die verborgene Welt": »Woah, bin ich geflashed! Dieses Buch liest man wirklich mit Herzklopfen vor lauter Spannung. Und zwar ab der ersten Seite!« Marsha Kömpel, Mutter & Söhnchen-Blog »Lars Meyer überzeugt mit toughen Charakteren, unerwarteten Wendungen und einer dystopischen Welt, die beim Lesen lebendig wird« Kilifü - Almanach der Kinderliteratur 2022/23 »spannend und bildgewaltig« Mandys Bücherecke »After Dawn – Die verborgene Welt war mein Buchhighlight 2022« Lisa, Amazon-Rezension

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Seitenzahl: 394

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Originalcopyright © 2023 Südpol Verlag GmbH, Grevenbroich

Autor: Lars Meyer

Umschlaggestaltung: Corinna Böckmann

E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim

ISBN: 978-3-96594-222-6

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung,

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Mehr vom Südpol Verlag auf:

www.suedpol-verlag.de

Für Nils

the best brother you can have

Inhalt

Aufstieg

Die Verborgenen

Die Suche

Die Tabi

Die Wandernde Stadt

Der Junge in der Menge

Widerstand

Sklave

Familie

Die Imperatorin

Warana

Der Zweikampf

Aufstand

Wahrheit

Überleben

Verrat

Das Monster und das Mädchen

Ausbruch

Am Ende der Reise

Jenseits des Horizonts

Aufstieg

Ich wandere durch ein unterirdisches Labyrinth aus Tunneln. Die Nachtsichtbrille, die ich trage, taucht den Weg vor mir in grünes Licht. Ein Glück, dass ich sie habe, sonst wäre ich von völliger Fins­­ternis umgeben! Der Gang hat eine leichte Steigung nach oben. Das ist hoffentlich ein gutes Zeichen, denn ich spüre jetzt schon das Gewicht des schweren Rucksacks auf meinen Schultern. Ver­pflegung, Wasser, Kleidung, Ausrüstung zum Klettern – alles, was ich für den Aufstieg und die anschließende Reise an der Oberflä­­che brauchen werde, muss ich selbst tragen. Ganz schön anstrengend.

»Wie weit ist es eigentlich nach oben?«

»Genau kann ich’s dir auch nicht sagen.« Devans Blick geht zur steinernen Decke über ihm. »Ich war ja noch nie da.«

Da hat er natürlich recht. Trotzdem liegt all meine Hoffnung auf ihm. Devan war es schließlich, der mich gefunden hat, als ich verzweifelt und am Ende meiner Kräfte durch die Tiefe geirrt bin. Anfangs habe ich ihn für einen Feind gehalten, aber das hat sich schnell geändert. Er hat mir geholfen, als ich Hilfe brauchte. Ver­rückt, ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich mal mit einem Crawler befreundet sein würde.

»Mach dir keine Sorgen«, fährt Devan fort. »Wir schaffen das schon.«

Ich soll mir keine Sorgen machen? Dabei hat er mir vorhin erst erzählt, wie gefährlich es in diesem Teil der Höhlen ist! Wir bewegen uns durch das Gebiet der Verborgenen. Von allen Groundern, die unter der Erde hausen, weiß ich über sie am wenigsten. An­­­scheinend leben sie sehr zurückgezogen und meiden den Kontakt mit anderen. Wie sie wohl reagieren, wenn sie merken, dass wir durch ihre Tunnel schleichen? Würden sie uns angreifen?

»Ember! Pass auf!« Devan packt mich am Arm, was mich davor bewahrt, über einen Felsbrocken zu stürzen, der direkt vor mir liegt. Er muss sich bei dem plötzlichen Erdbeben gelöst haben, das auch Gandea erschüttert hat. Wobei erschüttert noch eine Untertrei­­bung ist. Großteile der Stadt liegen in Trümmern! »Behalt immer deine Umgebung im Auge. Das hier ist kein Spaziergang.«

Meine Wangen glühen. Es ist mir peinlich, dass ich so unachtsam war. Im Reich der Grounders ist es auch nicht anders als im Verlorenen Wald – jeder falsche Schritt kann fatale Folgen haben.

Der Gedanke an meine Heimat erinnert mich daran, was für einen weiten Weg ich bereits hinter mir habe. Ich bin erst durch den Wald und dann die Wüste gereist, habe mich durch das Territorium der Skulls gekämpft, bis es mich unter die Erde verschlug. Alles, um meine Familie zu finden, die vom Dawn-Imperium entführt wurde. Um sie zu befreien. Ich versuche, nicht daran zu denken, wie absolut unmöglich meine Mission ist. Jetzt geht es erst einmal darum, an die Oberfläche zurückzukehren. Das ist schwer genug.

Ein Tunnel reiht sich an den nächsten, eine Höhle folgt der an­deren. Wie es Devan gelingt, in diesem steinernen Irrgarten nicht den Überblick zu verlieren, ist mir schleierhaft. Irgendwie sieht alles gleich aus. Ich muss darauf vertrauen, dass Devan weiß, was er tut, und wir dürfen uns auf keinen Fall verlieren!

Hin und wieder schaue ich misstrauisch über meine Schulter, um sicherzustellen, dass uns niemand aus Gandea folgt. Devan ist immerhin aus dem Gefängnis geflohen, in das er gesperrt wur­de, weil er für mich eine Nachtsichtbrille gestohlen hat. Seine Schwes­ter Yalla und ich haben ihn zwar befreit, aber es ist nicht aus­­zu­­schließen, dass jemand hinter uns her ist, um ihn wieder einzu­fan­gen. Obwohl die Last Corporation, die über Gandea herrscht, derzeit wirklich größere Sorgen hat als einen Jungen, der nicht mehr länger in ihren Minen schuften will.

Als es auch Stunden später keine Spur von Verfolgern gibt, ent­­­­­spanne ich mich ein wenig. Kurz darauf hält Devan endlich an und wir schlagen unser Lager in einer Höhle auf, die von Adern glit­zernden Kristalls durchzogen ist. Selbst im grünen Licht der Nacht­­sichtbrille sieht es fantastisch aus! Auch die Welt unter der Erde steckt voller Wunder.

Erschöpft von dem langen Marsch essen und trinken wir. Da­­nach suche ich mir einen halbwegs bequemen Platz zum Schlafen und bette den Kopf auf meine Armbeuge. Die Decke bleibt im Ruck­sack, mein Schutzanzug ist warm genug. Wo Devan sich nieder­lässt, bekomme ich schon nicht mehr mit.

Der nächste Tag ist nicht weniger anstrengend. Devan führt uns wei­­ter. Stunde um Stunde. Tunnel für Tunnel. Wir gelangen an eine Schlucht, die so tief ist, dass ihr Grund in der Schwärze unsichtbar bleibt. Es gibt eine steinerne Brücke, die den einzigen Weg hinüber darstellt. Sie ist viel zu schmal! Normalerweise habe ich keine Höhenangst, doch der Anblick des klaffenden Spaltes im Fels lässt mich schwindeln. Plötzlich habe ich die Schlucht vor Augen, über die ich springen musste, um den Skulls zu entrinnen, und Ester, die in den Abgrund stürzte. Meine Knie fangen an zu zittern.

Als ich Devan folgen soll, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Reiß dich zusammen! Tapfer strecke ich meine Arme aus und balanciere Schritt für quälenden Schritt über den dünnen Steg. Sicher auf der gegenüberliegenden Seite angekommen, fällt mir ein Stein vom Her­­zen.

In der Höhle, die jenseits der Schlucht auf uns wartet, tropft Wasser von der Decke, was zur Bildung eines Waldes von Stalaktiten geführt hat. Die Stalagmiten am Boden sind so hoch, dass sie ihre Brüder und Schwestern an der Decke fast erreichen. Wir quetschen uns zwischen den Steinsäulen hindurch und wandern weiter.

Nach einer Pause, die wir zum Essen nutzen, begegne ich hier unter der Erde den ersten Lebewesen, die keine Menschen sind: seltsame geflügelte Kreaturen, die an der Decke hängen. Sie flattern aufgeregt herum, als wir ihr Reich betreten, und stoßen spitze Schreie aus. In der Höhle stinkt es bestialisch, was an dem Dung der Tiere liegt, der den Boden fast vollständig bedeckt. Jetzt bloß nicht ausrutschen! Wir können kaum schnell genug weiterziehen.

Mein linkes Bein, immer noch geschwächt von meinem Sturz in die Welt der Grounders, wird müde. Die Riemen des Rucksacks lassen meine Schultern schmerzen. Ich beschwere mich nicht. Ich will nach oben! Je schneller, desto besser.

Stunden später – so kommt es mir jedenfalls vor – betreten wir eine Reihe von Grotten, in denen verschiedene Pilze wachsen. Auch hier stinkt es.

»Fass nichts an«, warnt Devan mich. »Die Pilze gehören den Verborgenen. Sie bauen sie an.«

Die Verborgenen nutzen den Dung der Schreihälse als Dünger. Daher also der Gestank. Ich sehe mich um, kann jedoch niemanden entdecken, der hier arbeitet. Ob wir beobachtet werden?

»Bist du den Verborgenen schon mal begegnet?«

Devan schüttelt den Kopf. »Ich habe mich immer von ihrem Gebiet ferngehalten. War wohl auch besser so. Sie sollen sich … verändert haben.«

»Verändert?«

»Die meisten von ihnen können nicht mal mehr sehen.«

»Wie finden sie sich dann hier zurecht?«

»Gute Frage …«

Vorsichtig bewegen wir uns durch die Pilzfelder und erreichen den Eingang zum nächsten Tunnel. Devan zögert, ehe er hineingeht.

»Manchmal, wenn ich in den Höhlen unterwegs war, hab ich sie gehört – in den Wänden.«

Ich bekomme eine Gänsehaut. Sind die Verborgenen uns viel nä­­her, als wir dachten?!

Wir schlagen unser Lager schließlich in einem Gang auf, der so niedrig ist, dass wir uns bücken müssen, um nicht an die Decke zu stoßen. Ich hoffe, die Tunnel vor uns werden nicht noch enger! Devan holt eine knollige Schattenwurzel und getrockneten Fisch aus seinem Rucksack. Beides teilt er mit mir. Der Fisch stammt aus den Netzen der Waterwatchers. Unglaublich, dass die Grounders tatsächlich in der Lage waren, sich so tief unter der Erde eine Existenz aufzubauen.

Ob das Erdbeben, von dem Gandea erschüttert wurde, etwas daran ändern wird? Wie viel Schaden hat es jenseits der Stadt angerichtet? Zumindest die Region, in der die Verborgenen leben, scheint glimpflich davongekommen zu sein. Ein Glück! Nicht auszudenken, wenn plötzlich auch der letzte Weg nach oben blockiert wäre.

Eigentlich wäre es besser, wenn einer von uns Wache halten würde, während der andere schläft, damit wir nicht überrascht werden können. Nach dem anstrengenden Marsch, den wir hinter uns haben, ist daran aber nicht mal zu denken. Wir sind beide völlig erledigt.

Als ich erwache, tut mein Rücken weh. Liegt bestimmt an dem blöden Rucksack, den ich die ganze Zeit mit mir herumschleppen muss! Oder ich hätte doch lieber die Decke nehmen sollen, anstatt mich nur auf den Schutzanzug zu verlassen. Es ist ziemlich kühl hier unten. Solange ich unterwegs bin und mich bewege, fällt es nicht so auf, aber jetzt friere ich. Um mich aufzuwärmen, reibe ich mit den Händen über meine Oberarme und mache einige Dehnübungen.

Devan erwacht und betrachtet mich stirnrunzelnd. »Du bist ja schon ganz schön munter.«

»Nimm dir mal ein Beispiel«, treibe ich ihn an.

Nach einem kurzen Frühstück machen wir uns auf den Weg. Frühstück … Im Grunde habe ich keine Ahnung, ob es Tag oder Nacht ist. Wie auch? Wir sind ständig von Finsternis umgeben.

Obwohl unsere Rucksäcke nicht leichter werden, kommen wir gut voran. Ich will möglichst schnell aus dem Gebiet der Ver­borgenen raus. Argwöhnisch behalte ich meine Umgebung im Blick. Wo versteckt ihr euch?

Gerade bewegen wir uns durch eine Grotte, von deren Wänden und Decke Wasser tropft. Am Boden hat es sich gesammelt. Es geht mir bereits bis zu den Knöcheln! Im grünen Licht der Nacht­sichtbrille ist es schwer zu erkennen, ob der kleine See weiter vorne tiefer wird. Hoffentlich nicht. Ich will nicht auch noch schwimmen müssen!

Meine Erleichterung ist groß, als ich auf der gegenüberliegenden Seite der Grotte ankomme, ohne pitschnass zu werden.

»Bist du schon mal hier gewesen?«, frage ich Devan.

»Nein, noch nie«, gibt er zu.

»Dafür kennst du dich gut aus.«

»Mein Großvater hat viele Jahre lang die Tunnel durchsucht. Ich glaube, die Karten, die er dabei angefertigt hat, sind die genausten, die es gibt.« Er tippt sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Ich habe mir viele davon eingeprägt.«

»Meine Mutter hat auch Karten gemacht – vom Verlorenen Wald.«

»Du hast sie nie erwähnt. Ist sie nett?«

»Das war sie.«

Ich erzähle ihm von meiner Mutter. Davon, dass sie eine der besten Sammlerinnen Dornwalls war. Wie sie sich um die Zwillinge, Mina und Ceren, und mich gekümmert hat. Wie sehr wir sie alle vermissen …

Am Ende hole ich sogar das Foto von ihr hervor, das ich stets bei mir trage. Als ich bemerke, wie verknittert es inzwischen ist, fange ich fast an zu heulen. Es gibt nicht viele Bilder meiner Mutter. Ich will nie vergessen, wie sie ausgesehen hat! Aber das werde ich auch nicht. Selbst wenn es auf der ganzen Welt kein einziges Foto mehr von ihr gäbe, sind ihre Züge trotzdem für immer in meine Erinnerung gebrannt.

»Sie ist sehr schön«, sagt Devan und schaut dabei mich an.

Sorgsam verstaue ich das Bild wieder in der Innentasche meines dunklen Schutzanzugs. Während wir unsere Wanderung durch das Labyrinth im Fels fortsetzen, schildere ich, wie meine Mutter mich vor Jahren auf einen Ausflug in den Verlorenen Wald mitnahm, wo ich von einem Krarg angefallen wurde.

»Siehst du? Hier hat mich das blöde Viech gebissen.« Ich will gerade den Ärmel meines Schutzanzugs hochkrempeln, um Devan die Narbe zu zeigen, als er mich mit einer Geste zum Anhalten bringt.

Vor uns ist eine der Verborgenen aufgetaucht!

Es ist ein junges Mädchen, vielleicht so alt wie die Zwillinge. Sie sieht nicht sehr bedrohlich aus. Eigentlich sieht sie überhaupt nicht bedrohlich aus. Das Kind ist klein und dürr und noch blasser als Devan. Die hellen Haare sind ein ungekämmter Wust und die einzige Kleidung, die es am Leibe trägt, ist ein Lendenschurz. Friert es nicht?

Das Mädchen hockt am Boden und spielt mit der hässlichsten Kreatur, die ich je in meinem Leben gesehen habe. Ich kann nicht einmal sagen, was es ist. Eine Art Kröte? Sie ist so groß wie ein Kopf, über und über mit Warzen bedeckt und mit vier Beinen ausgestattet, die zu schwach wirken, um den Rest des aufgedunsenen Körpers zu bewegen. Aus ihrem Mund, der von einer Seite des Gesichts zur anderen geht, ragt eine lange, schmierige Zunge, die gerade über die Finger der Verborgenen leckt und dort eine schleimige Spur hin­­terlässt.

Angewidert verziehe ich das Gesicht. Dem Mädchen scheint es jedoch Spaß zu machen. Sie kichert fröhlich und zieht an der Zunge der Kröten-Kreatur, was diese mit einem blubbernden Geräusch quittiert.

»Was machen wir jetzt?«

»Keine Sorge, solange wir sie nicht angreifen, kann uns nichts passieren.«

Wegen dem Mädchen mache ich mir keine Sorgen, aber wo ein Kind ist, können die Eltern nicht weit sein.

Wir gehen langsam weiter und Devan holt ein Stückchen getrockneten Fisch aus seinem Rucksack. Das Mädchen steht auf und blickt uns neugierig entgegen.

»Wie kann sie uns ohne Nachtsichtbrille sehen?«, flüstere ich. Es gibt kein Licht in der Höhle.

»Tut sie nicht. Sie kann uns hören und riechen.«

Er bleibt vor dem Mädchen stehen und streckt seine Hand mit dem Fisch aus. Sie schnuppert, wie ein Tier, das Witterung aufnimmt. Dann schnellt eine Hand blitzartig vor und greift nach dem Fisch. Hastig springt das Kind ein paar Schritte zurück, riecht erneut an dem Fisch und fängt an, ihn sich in den Mund zu stopfen. Zufrieden mit seiner Beute läuft es davon.

Zwei Höhlen weiter treffen wir auf die nächste Verborgene.

Diesmal ist es kein Mädchen, sondern eine Frau. Sie hockt auf einem Felsen, einen länglichen Stock in der Hand. Benutzt sie ihn, um sich zu orientieren? Das Kind vorhin sah eigentlich ganz normal aus, abgesehen davon, dass es blass und unterernährt war. Die Frau auf dem Felsen hingegen wirkt missgebildet. Ihre linke Schulter steht viel zu hoch, während die rechte nach unten gezogen ist. Ihr Brustkorb ist seltsam eingefallen. Auf ihrem Kopf gibt es kahle Stellen und ich glaube, sie ist blind. Ihr Blick geht jedenfalls ins Leere.

Aber sie bemerkt uns trotzdem.

Plötzlich springt sie von ihrem Felsen und kommt schnüffelnd auf uns zu. Ihr Stock schwingt von einer Seite zur anderen, um sie vor Hindernissen zu warnen. Nicht weit von uns entfernt bleibt sie stehen. Ihre blinden Augen scheinen uns anzustarren.

»Wir kommen in Frieden.« Devan bemüht sich um einen freundlichen Tonfall. »Wir möchten nur euer Territorium durchqueren. Das ist alles.«

Kann ihn die Frau überhaupt verstehen? Sie macht keinen sonderlich intelligenten Eindruck. Als Antwort streckt sie fordernd die Hand aus. Devan reicht ihr ein Stück Schattenwurzel. Wenn das so weitergeht, haben wir bald unsere ganzen Vorräte an die Ver­bor­genen verfüttert!

Die Frau lässt uns passieren und wir dringen tiefer ins Gebiet der Verborgenen ein. Mir ist nicht ganz wohl dabei, Devan hat mich schließlich oft genug vor ihnen gewarnt. Aber der Weg, der uns eigentlich an die Oberfläche führen sollte, wurde beim Erdbeben verschüttet. Uns bleibt keine Wahl!

Hin und wieder kommt es mir vor, als würde ich zwischen den Felsen huschende Bewegungen wahrnehmen. Wenn ich jedoch ge­­­nauer hinsehe, ist niemand zu entdecken. Es sollte mich nicht wun­­dern, immerhin heißen die Grounders, mit denen wir es jetzt zu tun haben, die Verborgenen. Leider scheint nicht jeder von ihnen die Bedeutung dieser Bezeichnung zu verstehen – ein dritter Verborgener taucht vor uns auf und versperrt uns den Weg.

Er ist ebenfalls blind und blass, zieht ein Bein hinter sich her und wirkt bedrohlicher als das Kind und die Frau. An einer Hand fehlen zwei seiner Finger. Ich weiß nicht, ob es eine Mutation ist oder ob er sie im Kampf verloren hat. Vielleicht hat er sie gegessen, weil er hungrig war. Allmählich verstehe ich, warum die meisten in Gandea kein Problem damit haben, in den Minen der Corporation zu schuften. Devans Leute gehören hier unten offensichtlich zu denen, die es besser haben.

Devan holt ein weiteres Stück Schattenwurzel aus seinem Ruck­sack und hält es Dreifinger hin. Dieser nimmt die Wurzel an sich und beißt prüfend eine Ecke ab. Er scheint etwas Mühe beim Kauen zu haben, was daran liegen mag, dass er nicht mehr viele Zähne hat. Dennoch erfüllt die Schattenwurzel wohl seine Erwartungen, denn er steckt sie in eine zerfledderte Tasche an seinem Gürtel. Neben ihr entdecke ich ein verrostetes Messer.

Ich gehe davon aus, dass uns Dreifinger jetzt weiterziehen lässt. Stattdessen kommt er näher. Die Hand, die noch über fünf Finger verfügt, tastet über Devans Gesicht. Devan verzieht keine Miene und wartet einfach ab, bis Dreifinger seine Hand zurückzieht. Danach kommt er auf mich zu. Die Aussicht, von einem dreckigen Crawler berührt zu werden, gefällt mir nicht. Ich werfe Devan einen Blick zu, aber er macht nur eine beruhigende Geste.

Dreifingers Nasenflügel beben und sein Gesicht kommt mir näher, als mir lieb ist. Ich frage mich, wie er überhaupt etwas riechen kann, denn von ihm selbst geht ein unangenehmer Gestank aus, der alles überdeckt. Am liebsten würde ich mich abwenden, rühre mich aber nicht. Wahrscheinlich will er nur sichergehen, dass von uns keine Gefahr für die Verborgenen ausgeht.

Bleib einfach ruhig.

Seine Finger strecken sich nach mir aus und finden mein Gesicht. Sie streichen über meine Wangen, meine Nase, meinen Mund. An der Nachtsichtbrille verharren sie kurz. Dreifinger gibt ein seltsam kehliges Geräusch von sich und nimmt seine Hand von meinem Gesicht. Im nächsten Moment legt er sie auf meine Brust.

Mit beiden Händen stoße ich ihn grob von mir. Er stürzt zu Boden, einen fauchenden Schrei auf den Lippen. Ich sehe, wie seine Hand nach dem Messer in seinem Gürtel tastet, und setze nach. Mein Stiefel trifft ihn am Kopf, der auf den steinernen Untergrund knallt. Besinnungslos bleibt Dreifinger liegen.

Devan seufzt. »Musste das sein?«

»Hast du nicht gesehen, was er gemacht hat?!«, verteidige ich mich wütend.

Er spart sich jede weitere Diskussion. Der Schaden ist ohnehin angerichtet. Ich befürchte, ein paar Happen Essen werden uns nun nicht mehr weiterbringen.

Devan greift nach meiner Hand und zieht mich mit sich. Wir verschwinden in einem nahen Tunnel, von dessen Wänden unsere Schritte laut widerhallen. Vielleicht haben wir Glück und es dauert eine Weile, bis Dreifinger gefunden wird.

Wir haben kein Glück.

Die Verborgenen

Nur Augenblicke nachdem wir in den Tunnel gelaufen sind, ertönt hinter uns ein lauter Schrei. Eine Warnung an alle Verborgenen, dass Feinde aufgetaucht sind. Ich wünschte, ich könnte ihnen er­klären, dass wir keine Feinde sind, dass wir lediglich ihr Gebiet durchqueren müssen, um aus dem Reich der Grounders zu entkommen. Aber die Zeit für Erklärungen ist vorbei. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie mich verstehen würden, wenn sie bereit wären, mir zu­­­zuhören.

Auch von vorne kommen die Rufe der Verborgenen. Ich weiß nicht, wie viele es sind. Zu viele, um mit ihnen fertig zu werden.

»Gibt es wirklich keinen anderen Weg?«

»Dies ist der andere Weg.« Devan wirft mir beim Laufen einen Blick zu. »Wir kommen gleich in eine Höhle. Egal was passiert, wir müssen auf die gegenüberliegende Seite. Verstanden?«

»Verstanden.« Ich lasse seine Hand los und ziehe meine Stein­schleuder. Wird die Nachtsichtbrille meine Zielgenauigkeit beeinträchtigen? Ich muss es wohl darauf ankommen lassen.

Devan schaut auf die Schleuder in meiner Hand. »Töte niemanden! Wenn wir einen von ihnen umbringen, werden sie nicht aufhören, uns zu jagen.«

Erinnerungen an die Skulls werden wach und mein Herz klopft noch schneller. Ich habe nicht vor, jemanden zu töten, aber wenn ich angegriffen werde, muss ich mich verteidigen.

Wir kommen aus dem Gang und finden uns in einer Höhle wieder, die größer ist als die meisten. Es wimmelt von Verborgenen, die nicht mehr länger bestrebt sind, ihre Anwesenheit zu verbergen. Manche von ihnen tragen Speere, Knüppel oder Messer. Es gibt keine Schusswaffen, nicht einmal Bögen. In der Dunkelheit schießt es sich nicht besonders gut.

Wir weichen den Verborgenen aus, was uns dank unserer Nacht­sichtbrillen nicht allzu schwerfällt. Viele von ihnen scheinen wirklich blind zu sein. Es ist wohl eine Auswirkung des langen Lebens unter der Erde. Diejenigen, deren Augen klar sind, haben es auch nicht besser. Es gibt hier unten kein Licht. In einer Welt der Blinden herrschen die Sehenden – und Devan und ich sind die Einzigen, die sehen können.

Wir rennen an den Verborgenen vorbei, weichen hin und wieder einem ausgestreckten Arm oder Knüppel aus. Die andere Seite der Höhle kommt rasch näher. Jeder Schritt, den ich mache, überzeugt mich mehr davon, dass wir es schaffen werden.

Plötzlich übertönt ein kehliger Ruf alle übrigen Geräusche.

Die Verborgenen erstarren mitten in der Bewegung. Stille senkt sich über die Höhle. Alles, was noch zu hören ist, sind die Schritte von Devan und mir. Während ich mich noch frage, was das Ganze soll, gibt eine ältere Frau, die ich soeben passiere, einen schrillen Laut von sich. Ich zucke zusammen, erwarte einen Angriff, aber die Frau rührt sich nicht vom Fleck.

Ein weiterer kurzer Schrei ertönt neben Devan – und dann wieder neben mir. Wie eine Welle folgen sie uns durch die Höhle. Der kehlige Ruf wiederholt sich und auf einmal kommt Bewegung in die Verborgenen. Sie strömen auf uns zu, als wüssten sie ganz genau, wo wir sind. Unsere Schritte! Unsere Schritte haben uns verraten.

Innerhalb von wenigen Augenblicken sind wir umzingelt. Devan und ich bleiben stehen, sehen uns hektisch nach einer Lücke in der Wand der Verborgenen um.

Es gibt keine.

»Meinst du, es hilft, wenn du ihnen wieder etwas zu essen anbietest?«

»Ich habe etwas Besseres.«

Er wühlt in einer Tasche seiner Jacke und holt mehrere Plastik­pfropfen hervor. Zwei davon reicht er an mich weiter. »Steck dir die in die Ohren.«

»Wie soll uns das helfen?«, frage ich zweifelnd.

»Vertrau mir.«

Devan steckt sich selbst zwei der Pfropfen in die Ohren und ich folge seinem Beispiel. Die Geräusche um mich herum, verursacht von den versammelten Verborgenen, verschwinden. Es kommt mir vor, als wäre ich taub.

In Devans Jacke verbirgt sich noch ein Gegenstand, den er nun zückt. Es ist ein kleiner Metallzylinder. Devan zieht den Siche­rungsstift heraus, drückt eine Taste und lässt das Ding fallen. Ich nehme an, dass es eine Waffe ist. Hat er mir nicht eben erst gesagt, dass wir niemanden töten dürfen?!

Im nächsten Moment zerreißt ein schrilles Kreischen die Stille. Ich höre es trotz der Pfropfen in meinen Ohren – die Wirkung auf die Verborgenen ist jedoch ungleich größer. Sie zucken zusammen, reißen die Hände an die Ohren und geraten in Panik. Einige von ihnen brechen zusammen und winden sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden, andere laufen davon, so schnell sie ihre Beine tragen. Der Kreis, den sie um uns herum geschlossen hatten, bricht auf!

Devan und ich setzen uns gleichzeitig in Bewegung. Wir halten auf eine Lücke in der Menge zu. Devan springt über eine Frau, die ihm im Weg liegt, und ich weiche einem Mann aus, der an mir vorbeitaumelt.

Eine der Verborgenen, ihr Haar verschmutzt und strähnig, be­merkt trotz des Lärms meine Anwesenheit. Sie bekommt mich an der Schulter zu fassen. Selbst durch meinen Schutzanzug spüre ich ihre scharfen Fingernägel. Mein Ellbogen zuckt nach hinten und trifft sie am Hals. Benommen verliert sie das Gleichgewicht und lässt von mir ab.

Wir hetzen durch die Höhle, dem Ausgang entgegen. Kurz bevor wir ihn erreichen, verstummt das markerschütternde Pfeifen hinter uns. Ein Blick zurück zeigt mir, wie sich die Verborgenen von dem Angriff auf ihre Trommelfelle erholen. Es wird nicht lange dauern, bis sie ihre Desorientierung überwunden haben und unsere Ver­folgung wieder aufnehmen werden.

Devan zieht die Pfropfen aus seinen Ohren. Ich fummle meine ebenfalls heraus und bin froh, als ich wieder normal hören kann.

»Was war das?«, flüstere ich, als wir in den Tunnel springen, der aus der Höhle führt.

»Eine Schallgranate. Sie stammt noch von meinem Großvater. Ein Glück, dass sie funktioniert hat. Ich war mir nicht sicher.«

»Hast du mehr davon?«

»Leider nicht. Das war die einzige.«

Dann können wir nur hoffen, dass die Verborgenen uns nicht noch einmal so nahe kommen wie eben.

Seite an Seite eilen wir durch den Tunnel. Trotz der Kälte fange ich an zu schwitzen. Der Rucksack ist so schwer. Ich wünschte, meine Tabi Chan-Chan wäre hier, um ihn zu tragen. Dabei weiß ich noch nicht mal, ob ich meine treue Reitechse überhaupt jemals wie­­dersehen werde. Sie fehlt mir. Ich wünschte auch, dass ich nicht schon wieder um mein Leben laufen müsste. Warum haben es alle Menschen, denen ich begegne, auf mich abgesehen? Ich tue doch nie­­mandem etwas.

»Wie groß ist das Gebiet der Verborgenen? Haben wir es noch weit?«

»Lauf einfach weiter. Dann schaffen wir es.«

Weder Devans Worte noch der Blick, den er mir dabei zuwirft, sind geeignet, mich zu beruhigen. Offenbar sind wir nach wie vor in Gefahr.

Irgendwo hinter uns höre ich Schritte. Die Verborgenen sind uns auf den Fersen! Ich versuche, schneller zu laufen, aber der Rucksack hängt an mir, als würde ich Steine schleppen. Vor uns wird der Tunnel breiter, was mir Zuversicht gibt, allerdings nur so lange, bis ich die Verborgenen sehe, die unseren Weg blockieren.

Diesmal sind es Krieger. Ich erkenne es nicht nur an den Waffen in ihren Händen, sondern auch an der Art, wie sie auf uns warten. Ohne Angst, mit Entschlossenheit in den Augen. Keiner von ihnen ist blind. Aber was soll ihnen das nützen? Sie können schließlich nicht in der Dunkelheit sehen. Die Nachtsichtbrillen sind der größte Vorteil, den Devan und ich haben. Wir werden ihn so gut wie möglich nutzen müssen.

Etwas glimmt in der Dunkelheit. Ein Funke, dann ein zweiter. Die Funken werden zu Flammen, und die Flammen vertreiben die Finsternis. Auf einmal sehe ich nur grüne Schleier. Hastig nehme ich die Brille ab. Meine Augen blinzeln und tränen in der plötzlichen Helligkeit.

Unser größter Vorteil ist weg.

Die Verfolger hinter uns kommen näher und auch die Krieger vor uns setzen sich in Bewegung. Ich registriere, dass mehrere von ihnen Netze in den Händen halten. Wollen sie uns fangen wie Fische? Ich lade meine Steinschleuder. Ein Kampf ist unvermeidlich geworden.

Hinter mir höre ich einen leisen Pfiff. Ich wirbele herum. Sind unsere Verfolger bereits heran? – Sie sind es nicht. Noch nicht. Aber woher kam dann das Pfeifen?

Ich bemerke eine kleine Hand, die aus einem Loch im Fels ragt. Ich könnte schwören, dass es eben nicht da gewesen ist. Die Hand winkt mich zu sich, und ich treffe eine Entscheidung.

»Komm mit«, wispere ich Devan zu, der bisher weder Loch noch Hand bemerkt hat.

Wir hasten zu der Öffnung, die so eng ist, dass ich meinen Rucksack abnehmen muss, um hindurchzukommen. Auf der anderen Seite ist es dunkel. Ich kann nicht sehen, wer uns zu Hilfe gekommen ist, doch im Moment spielt es auch keine Rolle. Dies ist unsere einzige Chance!

Schleunig wuchte ich Devans Rucksack in den engen Tunnel, in dem ich hocke. Devan ist direkt hinter seinem Gepäck, aber unsere Verfolger sind ebenfalls nicht fern.

Eine bleiche Hand legt sich um Devans Knöchel und will ihn wieder aus dem Loch herausziehen.

Sofort lasse ich den Rucksack los und greife stattdessen nach Devans Handgelenken. Ich ziehe ihn nach innen, der Verborgenen-Krieger zerrt ihn nach draußen. Devan, der zwischen uns gefangen ist, flucht und tritt nach den bleichen Händen. Es gelingt ihm, sich zu befreien, und schnell zieht er seine Beine in den Gang. Ich will bereits weiterkriechen, denn unsere Verfolger werden uns nicht einfach entkommen lassen, als sich das Loch plötzlich scharrend schließt.

Schwärze umfängt mich.

Ich setze meine Brille auf und kann Sekunden später wieder klar sehen. Nicht weit von mir entfernt entdecke ich unseren Retter: Es ist das kleine Mädchen, dem wir ganz am Anfang begegnet sind. Die Verborgene hockt im Gang und mustert uns wachsam. Wahr­scheinlich fragt sie sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hat. Als ich mich ihr nähern will, weicht sie zurück und entblößt ihre Zähne.

»Hab keine Angst. Wir tun dir nichts.« Ich verharre an meinem Platz.

Nach ein paar Augenblicken kommt das Mädchen wieder näher.

»Danke, dass du uns geholfen hast«, sage ich in ruhigem Tonfall. »Aber … warum?«

Sie grinst und streckt fordernd ihre kleine Hand aus. Fast hätte ich laut aufgelacht. Alles, was sie will, ist Essen.

Ich hole etwas Schattenwurzel aus meinem Rucksack, breche ein Stück davon ab und halte es ihr hin. Wie ein scheues Tier reckt sie sich vor und schnappt sich die Wurzel. Ihr Grinsen wird breiter, als sie anfängt zu essen.

Auf der anderen Seite der Felswand hämmern die Verborgenen gegen den nun verschlossenen Eingang. Wird es ihnen gelingen, ihn zu öffnen? Besser, wir hauen ab!

»Kannst du uns von hier wegbringen?«, frage ich das Mädchen. »Kannst du uns dahin bringen, wo keine Verborgenen sind?«

Versteht sie überhaupt ein einziges Wort, das ich sage? Sie schiebt sich den Rest der Wurzel in den Mund, dreht sich um und lässt sich auf alle viere nieder. »Komm«, sagt sie mit einer Stimme, der anzumerken ist, dass sie nicht oft benutzt wird. »Folge.«

Wir folgen ihr.

Der Tunnel ist so niedrig, dass wir kriechen müssen. Unsere Rucksäcke schieben wir mühsam vor uns her, was uns noch langsamer macht. Wie sich die Verborgene ohne Licht zurechtfindet, ist mir ein Rätsel. Kann sie in der Dunkelheit sehen? Die Sicherheit, mit der sie sich fortbewegt, lässt es fast so erscheinen. Ich erinnere mich daran, wie hilflos ich mich gefühlt habe, als ich kein Licht mehr hatte. Anscheinend können Menschen sich an alles gewöhnen, wenn sie dafür genug Zeit haben.

Das Mädchen führt uns tiefer und tiefer in dieses neue Laby­­rinth aus engen Tunneln hinein. Manche sind so schmal, dass Devan und ich Mühe haben, uns hindurchzuwinden. Als ich das erste Mal in einem dieser Gänge stecke und das Gefühl habe, nicht mehr atmen zu können, erwacht in mir die Furcht, dass all dies eine Falle ist, in die wir gelockt wurden. Das Kind, klein und harmlos, bringt uns in einen Tunnel, aus dem wir nicht mehr herauskommen. Der Tunnel wird verschlossen, wir ersticken und die Verborgenen haben uns er­­­ledigt und unsere Vorräte erbeutet, ohne auch nur kämpfen zu müs­­sen.

Als das Mädchen nach meinem Rucksack greift und ihn wegzieht, sehe ich meinen furchtbaren Verdacht bereits bestätigt. Pa­­nisch will ich nach meinem Messer tasten, doch der Tunnel ist so eng, dass ich nicht herankomme. Verdammt, was soll ich tun?!

Einen Augenblick später packt die kleine Verborgene meine Hand und hilft mir aus dem Tunnel. Ich komme mir dumm und un­­­dankbar vor.

Wie lange unsere Reise dauert, weiß ich nicht. Ein paarmal rasten wir und teilen unser Essen und Wasser mit unserer jungen Füh­rerin. Einmal schlafen wir in einer kugelförmigen Höhle, aus der mehrere Gänge hinausführen. Als ich erwache, hat sich das dürre Mädchen auf der Suche nach Wärme an mich geschmiegt. Ich muss an Mina und Ceren denken und lege schützend meinen Arm um die Verborgene. Ich hoffe, sie wird keine Probleme bekommen, weil sie uns geholfen hat.

Schließlich erreichen wir eine glatte Felswand. Der Weg, den wir genommen haben, scheint eine Sackgasse zu sein, jedoch nur so lange, bis das Mädchen auf einen Felsvorsprung drückt, der im Stein verschwindet. Rumpelnd öffnet sich vor uns ein Ausgang. Endlich gelangen wir in einen Tunnel, in dem Devan und ich aufrecht stehen können. Dankbar recke und strecke ich mich.

»Sind wir am Ziel?«

»Ziel.« Die Kleine nickt und streckt hoffnungsvoll ihre Hand aus. Wir enttäuschen sie nicht. Devan gibt ihr einen Beutel mit getrocknetem Fisch, Schattenwurzeln und Beeren, die aus den Gärten des Freefolks stammen. Ich überreiche ihr ein Shirt von Zarina, einer von Devans Schwestern. Es ist ihr zwar zu groß, aber wenigstens muss sie dann nicht mehr fast nackt durch die kalten Höhlen laufen. Die Verborgene ist ganz überwältigt von unserer Großzügigkeit. Sie klammert sich an den Sachen fest, als wären es wertvolle Schätze. Für sie sind sie es wahrscheinlich auch.

Nachdem sich der Eingang zu dem versteckten Tunnel hinter ihr wieder geschlossen hat, bleiben Devan und ich allein zurück.

»Weißt du, wo wir sind?«

Er blickt den Gang hinunter, erst in die eine Richtung, dann in die andere. »Ich habe keine Ahnung.«

Es dauert ganze zwei Tage, bis Devan mithilfe seines Buches auf eine Höhle stößt, die er identifizieren kann. Zum Glück hat uns das Mädchen in die richtige Richtung geführt, sodass wir keine langen Umwege auf uns nehmen müssen. Immer öfter haben die Tunnel, durch die wir uns bewegen, eine deutliche Steigung. Unser Marsch wird dadurch nicht einfacher, aber wenigstens zeigt es uns, dass wir unserem Ziel, der Oberfläche, endlich näher kommen.

Auf einmal stehen wir jedoch vor einem Hindernis, das auf den ers­ten Blick unüberwindlich scheint: Eine zerklüftete Steilwand ragt bedrohlich in die Höhe.

»Du willst mir jetzt aber nicht sagen, dass wir da hochklettern müs­­sen, oder?« Allein bei dem Gedanken daran hämmert mein Herz schon schneller.

»Äh … doch.«

Ich unterdrücke einen Fluch. Wie soll ich das denn hinkriegen?!

Zumindest die Kletterausrüstung, die Devan mitgebracht hat, zahlt sich jetzt aus. Wir haben Seile, Haken, lange Nägel und Häm­mer, um sie in den Fels zu schlagen. Ich habe noch nie eine fast senk­­rechte Felswand erklommen. Es ist schwerer, als ich vermutete. Viel schwerer!

Devan steigt voran und schlägt Haken in die Wand, an denen wir die Seile, die uns notfalls halten sollen, verankern können. Ich muss an Tomman denken, der seit seinem Sturz im Rollstuhl sitzt. Dumm von mir, nun habe ich noch mehr Angst.

Es dauert nicht lange, bis meine Arme und Schultern schmerzen. Wieso muss mein Rucksack nur so schwer sein?! Schnaufend und keuchend kämpfe ich mich Meter für Meter den steinernen Wall hinauf. Devan findet für uns Stellen, an denen wir innehalten und uns ausruhen können. Das ist auch notwendig! Meine Finger zittern vor Anstrengung.

Ich will ihn anflehen, dass wir umdrehen und einen anderen Weg finden, aber ein Blick in die Tiefe zeigt mir, dass wir schon die Hälfte der Strecke hinter uns haben. Es gibt kein Zurück. Wir müssen weiter. Ich schaffe es. Ich muss es schaffen!

Keine Ahnung, wie es mir gelingt, oben anzukommen. Kaum bin ich der Steilwand entronnen, breche ich zusammen. Mir tut alles weh. Mit letzter Kraft streife ich den verfluchten Rucksack ab, der mich die ganze Zeit in die Tiefe reißen wollte. Völlig fertig bleibe ich liegen. Ich gehe heute keinen Schritt mehr!

Am nächsten Tag kommt endlich der Moment, auf den wir so lange gewartet haben: Vor uns taucht ein winziger heller Punkt auf.

»Devan!« Ich packe ihn am Arm. »Siehst du das?!«

»Ich sehe es!«

Wir rennen los, denn ganz in der Nähe wartet der Ausgang auf uns. Die anstrengende Kletterei des Vortages und der mühsame Weg nach oben sind mit einem Mal vergessen. Da vorne ist echtes Licht. Tageslicht!

Für das letzte Stück des Weges nehmen wir die Nachtsichtbril­­­­len ab, da sie bei Helligkeit nicht wirklich funktionieren. Mein Herz rast vor Freude. Nach der scheinbar endlosen Zeit im Reich der Groun­ders habe ich kaum mehr zu hoffen gewagt, dass ich es je nach drau­ßen schaffen würde.

Auf den letzten Metern vor dem Ausgang wird Devan plötzlich langsamer und hält schließlich gänzlich inne. Auch ich bleibe stehen. Ich sehe das Zögern in Devans Augen. Ich glaube, er kann selbst nicht fassen, dass er die Oberfläche erreicht hat.

Lächelnd nehme ich seine Hand und führe ihn ins Licht. »Will­kommen in meiner Welt.«

Gemeinsam treten wir aus dem Tunnel hinaus und gelangen auf ein Plateau, das aus der Seite eines Hanges ragt. Die Luft ist herrlich frisch und über den Himmel ziehen erstaunlich wenige Wolken. Fast so, als hätte er sich zu unserer Begrüßung besondere Mühe gegeben.

Blinzelnd, denn nach Wochen in der Dunkelheit müssen sich auch meine Augen erst wieder an die Helligkeit anpassen, wende ich mich Devan zu. Er hat seine rechte Hand gehoben, um damit sein Gesicht abzuschirmen. Für ihn ist das Licht der Sonne völlig ungewohnt. Hier draußen wirkt er noch blasser als in den Höhlen. Seine Augen tränen.

»Weinst du?«

Hastig entzieht er mir seine Linke und wischt damit die Feuch­tigkeit von seinen Wangen.

»Liegt bloß am Licht – es blendet« Auf einmal fängt er an zu grinsen. »Licht … Ich bin oben!« Sein Grinsen wandelt sich zu einem glücklichen Lachen. »Ember, schau – ich bin oben!«

Sein Lachen ist ansteckend, seine Fröhlichkeit auch.

Devan tritt weiter hinaus aufs Plateau und streckt die Arme zu beiden Seiten aus. Zum ersten Mal in seinem Leben fallen Son­nen­strahlen auf seine Züge, was sein Lächeln noch strahlender macht, auch wenn das grelle Licht ihm neue Tränen in die Augen treibt.

»Großvater, sieh her!«, ruft er dem Himmel und dem Mann zu, der ihn von der Welt oben hat träumen lassen. »Ich hab’s geschafft!«

Und ich habe es auch geschafft!

Nachdem sich die erste Euphorie gelegt hat und meine Augen sich wieder ein wenig an die Helligkeit gewöhnen konnten, sehe ich mich genauer um. Dafür, dass ich Devans Führerin sein soll, kenne ich mich hier nicht sonderlich gut aus. Rechts von mir kann ich in der Ferne Berge ausmachen. Das Gebiet der Skulls. Dorthin gehe ich bestimmt nicht zurück. Auf keinen Fall!

Ich drehe mich nach links – in der Ferne entdecke ich eine Schneise der Zerstörung.

Ob sie von dem Erdbeben verursacht wurde? Hat es auch an der Oberfläche seine Spuren hinterlassen? Nein, dafür ist der Verlauf der Schneise viel zu geradlinig. Es ist, als wäre etwas unglaublich Schweres über das Land gerollt und hätte ein Feld aus Trümmern hinterlassen. Doch was könnte eine derartige Verwüstung anrichten? Mein Blick folgt der Spur, die sich immer weiter zieht, um irgendwo am Horizont zu verschwinden.

Ein Erdbeben bei den Grounders, in einem Gebiet, in dem es keine Erdbeben geben soll. Eine Schneise aus aufgewühlter Erde, die dem, was über sie hinweggezogen ist, nicht widerstehen konnte. Eine Spur, die sich in der Ferne verliert …

Plötzliche Erkenntnis durchzuckt mich wie ein Blitz und lässt mich einen wankenden Schritt nach hinten machen. Jetzt weiß ich, was hier geschehen ist, was das Erdbeben verursacht und die Erde aufgerissen hat!

Die Wandernde Stadt.

Es kann keine andere Erklärung geben! Die Wandernde Stadt des Dawn-Imperiums ist über das Gebiet der Grounders gerollt. Die Spur der Stadt ist nicht zu übersehen. Ich habe sie wiedergefunden und kann ihr folgen.

Meine Knie geben nach und ich sacke auf den Boden.

Ich kann meine Familie retten!

Die Suche

Aus der Nähe betrachtet ist die Spur, die die Wandernde Stadt im Erdreich hinterlassen hat, noch deutlicher. Es sieht aus, als hätte ein Riese den Boden durchpflügt. Unzählige metertiefe Furchen, jede so breit wie ein Haus, verlaufen parallel zueinander, eine neben der anderen. Wie ausgedehnt ist die Schneise? Zweihundert Meter? Drei­­hundert? Ich kann es nur grob schätzen. Eines aber weiß ich mit Sicherheit: Die Wandernde Stadt ist ein Monstrum.

Wie ist es möglich, dass ein solcher Koloss sich bewegen kann? Wie wird die Stadt angetrieben? Wie viele Menschen leben in ihr? Allein die Gefangenen aus Dornwall sind schon mehrere Hundert. Wer so viele Sklaven braucht, muss über eine Bevölkerung von Tau­­senden verfügen. Tausende von Menschen in einer Stadt, die über die Erde kriecht! Auch wenn ich den Beweis für ihre Existenz direkt vor Augen habe, fällt es mir dennoch schwer, es zu glauben.

»Und du bist sicher, dass wir dieser Fährte folgen wollen?« Devan tritt mit dem Fuß gegen einen Stein, der am Rand einer Furche liegt. Der Stein rollt in die Tiefe und reißt lose Erde mit sich.Wir werden uns neben der Spur halten müssen, denn die Fur­chen sind zu tief, um in ihnen zu wandern.

»Meine Familie ist in dieser Stadt.« Wenn sie den Weg dorthin geschafft haben. »Ich werde sie finden und retten.«

Meine Worte sollen mehr mich überzeugen als Devan. Die Be­­­geg­­nung mit den waffen- und zahlenmäßig weit überlegenen Trup­pen des Dawn-Imperiums war schlimm genug. Jetzt auch noch die Verwüstung vor Augen zu haben, die ihre Stadt anrichten kann, macht es nicht besser.

Wir gehen an den Furchen entlang. Ich weiß, dass wir zu langsam sind. Die Wandernde Stadt ist schon vor Tagen über das Land gerollt, unter dem die Grounders leben. Ich kann nicht sagen, wie schnell sie ist oder wie groß ihr Vorsprung sein mag. Sie wird jedoch zügiger vorankommen als wir, da wir lediglich zu Fuß unterwegs sind. Und das bedeutet, dass ihr Vorsprung mit jedem Tag wächst. Leider gibt es nichts, was ich dagegen tun kann. Ich kann nur einen Fuß vor den anderen setzen und Kilometer um Kilometer hinter mich bringen. Irgendwann werde ich die Stadt einholen! Verstecken kann sie sich jedenfalls nicht vor mir. Wilde Entschlossenheit macht sich in mir breit und verleiht mir neue Energie.

Devans Anwesenheit macht die Reise leichter. Er ist begeistert von allem, was er sieht. Jede Pflanze, die nicht von der Wandernden Stadt überrollt wurde, wird von ihm untersucht. Jede Spur von Le­ben, sei es ein schwarzer Käfer, der sich unter einem Stein verbirgt, oder eine kleine Eidechse, winziger Verwandter der Tabis, muss betrachtet und begutachtet werden. Wenn wir eine Pause einlegen, holt er oft sein Buch heraus, um sich Notizen zu machen oder Zeichnungen anzufertigen. Sein Wissensdurst ist schier unersättlich und ich stoße bei meinen Erklärungsversuchen bald an meine Grenzen.

Am nächsten Tag ziehen dunkle Wolken auf. Besorgt blicke ich zum Himmel. Hoffentlich ist es kein Staubsturm! Devans Ausrüstung ist nicht gerade die beste. Er hat ja nicht mal einen richtigen Schutz­anzug. Und wie viel hält das Zelt aus, das er in Gandea aufgetrie­­­ben hat? Würde es einem Staubsturm standhalten?

Ich schaue mich eilig nach einem Ort um, wo wir Deckung finden könnten. Leider ist unsere Umgebung eher trist. Keine Bäume, keine alten Ruinen, selbst geeignete Felsen fehlen. Die Wandernde Stadt hat natürlich eine Route gewählt, die möglichst eben und ohne Hindernisse ist. Gut für sie, aber schlecht für uns. Gibt es denn nirgendwo einen Unterschlupf?!

Diesmal ist das Glück auf unserer Seite. Der Sturm bleibt aus, aber es fängt an zu regnen. Als die ersten Tropfen zur Erde fallen, bleibt Devan stehen und legt den Kopf in den Nacken. Fasziniert streckt er seine Hände aus und fängt die dicken Tropfen auf. Je stärker der Regen wird, desto breiter wird Devans Grinsen. »Wasser, das vom Himmel fällt …«

Seine Fingerspitzen fahren über sein feuchtes Gesicht, während ich die Kapuze meines Schutzanzugs über meine Haare ziehe.

»Regen«, erkläre ich. »Du weißt doch, was Regen ist, oder?«

»Ich habe davon gehört.« Er streckt seine Zunge aus und fängt damit einige der Tropfen auf. Ich hoffe, der Regen ist nicht belastet. »Wie ist so etwas möglich?«

Ich versuche, mich daran zu erinnern, was ich in der Schule da­­rüber gelernt habe. Es ist doch noch gar nicht lange her. »Feuchtig­keit auf der Oberfläche verdunstet und steigt als Wasserdampf in die Atmosphäre auf. Dort sammelt sich der Dampf zu Wolken.«

»Und dann?«, fragt Devan gespannt.

»Dann fällt er irgendwann als Regen wieder runter.«

»Hm.« Er scheint ein wenig enttäuscht von meiner Erklärung. »Ist das alles?«

»Ich bin kein Lehrer, weißt du«, verteidige ich mein lückenhaftes Wissen. »Und bei Wasser musst du vorsichtig sein. Viele Quellen sind vergiftet. Sogar der Regen könnte schädlich sein. Wir haben für so was Testgeräte, aber meins ist weg.«

Wir stapfen weiter durch den Regen, der den Untergrund bald so durchweicht hat, dass unsere Stiefel im Matsch stecken bleiben. Jeder Schritt wird zu einer Anstrengung. Da wir ohnehin nicht gut vorankommen, schlagen wir unser Lager auf, als wir auf ein paar flache Felsen stoßen. Wenigstens versinken wir so nicht im Schlamm. Das Zelt hat auch den Vorteil, dass es nicht am Boden befestigt werden muss. Nachvollziehbar, schließlich gibt es im Reich der Groun­ders eher selten weiche Erde, in die Verankerungen hineingesto­­ßen werden könnten.

Wie sich bald zeigt, verstehen die Zeltmacher der Grounders al­­ler­­­­­dings nicht allzu viel von ihrem Handwerk. Oder sie hatten nicht da­­mit gerechnet, dass ihr Produkt sich jemals den Heraus­for­derun­gen an der Oberfläche würde stellen müssen. Jedenfalls hält das Zelt dem ständigen Regen nur kurz stand. Erst fängt es an einer Stelle an zu tröpfeln, dann an einer zweiten. Es dauert nicht lange, bis uns die Behältnisse ausgehen, die die Tropfen auffangen sollen. Selbst Devans Begeisterung für dieses Naturereignis lässt da­­­raufhin spürbar nach.

TROPF – TROPF – TROPF.

Das Wasser, das von der Zeltdecke perlt, um platschend in der Blechschüssel direkt neben meinem Kopf zu landen, geht mir auf die Nerven. Immer wieder reißt es mich aus meinem unruhigen Schlaf. Der Boden ist hart und auch von unten dringt Feuchtigkeit in das Zelt ein. Die Decke, in die ich mich gehüllt habe, ist schon an vielen Stellen ganz durchnässt. Nur mein Schutzanzug hält mich trocken, aber nicht warm.

TROPF – TROPF – TROPF.

Ich seufze lautlos. Wann hört der Regen endlich auf? Und wieso haben wir kein vernünftiges Zelt? Das muss der Grund sein, aus dem Grounders bei uns Crawler heißen – weil sie keine ordentlichen Zelte herstellen können.

TROPF – TROPF – TROPF.

Wäre es nicht Devan, sondern Ryan, der neben mir liegt, hätte ich mich jetzt an ihn gekuschelt, damit wir uns gegenseitig wärmen. Wo ist Ryan jetzt? Ob er in der Wandernden Stadt schuften muss? Immerhin wäre er dann noch am Leben. Ich spüre ein Ziehen in meinem Herzen.

TROPF – TROPF – TROPF.

Ich muss daran denken, wie wir alle zusammen auf meinem Bett saßen, Ryan, die Zwillinge und ich, eingewickelt in dicke, warme Decken. Während draußen Winterstürme tosten, las meine Mutter uns Geschichten aus einem Buch vor. Ich sehe es vor mir, als wäre es gestern gewesen, und gleichzeitig fühle ich mich, als wären seitdem tausend Jahre vergangen. Ich wünsche mich dorthin zurück, in eine Zeit, wo ich sicher und behütet war und umgeben von denen, die mich lieben. Meine Augen brennen in der Dunkelheit. Keine Tränen. Es ist nass genug.

TROPF – TROPF – TROPF.

Ich hasse diesen Regen.

Als ich das nächste Mal aufwache, tropft es nicht mehr und auch das Rauschen des Regens ist verschwunden. Im Zelt herrscht eine klamme Kälte. Ich drehe mich auf die andere Seite, nur um festzustellen, dass Devans Nachtlager verwaist ist.

Hat er mich zurückgelassen?! Eine Welle der Enttäuschung über­­­rollt mich. Dann erinnere ich mich daran, dass ich diejenige war, die ihn zurücklassen wollte. Aber inzwischen hat sich so viel ver­­­­ändert. Da er aus dem Gefängnis geflohen ist, kann er nicht mehr nach Gandea zurück. Die Corporation würde ihn nur wieder ein­­­sper­­­ren.

Natürlich könnte ich mich trotzdem in einem unbeobachteten Moment wie diesem davonmachen. Aber ich tue es nicht. Ich will nicht ohne Devan weiterziehen. Es ist schön, jemanden an meiner Seite zu haben, und er hat mir mehr als einmal bewiesen, dass ich ihm vertrauen kann. Er hat Wort gehalten. Er hat mich zurück an die Oberfläche gebracht, obwohl der Preis dafür sehr hoch für ihn war. Devan hat seine Familie zurückgelassen, seine Schwestern, seine Heimat, alles, was er kannte. Und auch wenn er es vielleicht nicht für mich getan hat, sondern, weil er die Welt hier oben sehen wollte, wäre es ohne mich wahrscheinlich nie dazu gekommen. Ich habe ihn dafür zwar aus dem Gefängnis befreit, aber ich schulde ihm trotzdem etwas. Schließlich wäre er ohne mich nie verhaftet worden. Die zweite Nachtsichtbrille hatte er nur für mich gestoh­­len. Und wenn ich nicht zufällig auf ihn getroffen wäre, als ich orien­tierungslos und verletzt durch die unterirdischen Gänge gehum­­pelt bin, wäre ich höchstwahrscheinlich dort verhungert oder gefan­­gen genommen worden. Auf Devan zu treffen, war mein Glück. Ich werde das nie vergessen, und auch ich werde mein Wort halten.