Agent 6 - Tom Rob Smith - E-Book

Agent 6 E-Book

Tom Rob Smith

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Beschreibung

Für sein Land würde Leo Demidow alles tun. Für seine Frau würde er sterben. Für ihren Tod muss es einen Schuldigen geben. Und Leo wird ihn finden ...

Moskau 1950. Der schwarze amerikanische Sänger Jesse Austin besucht die Sowjetunion, um sein idealistisches Bild des Kommunismus zu überprüfen. Damit Austin nicht hinter die Kulissen des für ihn inszenierten Alltags schauen kann, wird ihm Geheimdienstoffizier Leo Demidow an die Seite gestellt. Doch trotz Leos Einsatz kommt es fast zum Eklat. Fünfzehn Jahre später reist Demidows Frau Raisa mit ihren beiden Töchtern nach New York, wo ein Konzert sowjetischer und amerikanischer Schüler für Entspannung im Kalten Krieg sorgen soll. Auch Jesse Austin wurde eine Rolle in dem Spektakel zugewiesen. Der Abend endet mit mehreren Toten, und nur ein Mann weiß, was wirklich geschah: Agent 6. Und eines Tages wird Leo ihn finden.

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Seitenzahl: 661

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Tom Rob Smith

AGENT 6

Roman

Aus dem Englischen vonEva Kemper

MANHATTAN

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Agent 6«

bei Simon & Schuster UK Ltd.

A CBS COMPANY

Manhattan Bücher erscheinen im

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung September 2011

Copyright © der Originalausgabe

2011 by Tom Rob Smith

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung

des Hans-im-Glück-Verlags, München

Redaktion: Martina Klüver

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-05653-7

www.manhattan-verlag.de

Moskau Lubjanka-Platz Lubjanka, Hauptquartier der Geheimpolizei 21. Januar 1950

Beim Tagebuchschreiben stellte man sich am besten vor, Stalin würde jedes Wort mitlesen. Das war am sichersten. Aber selbst bei so viel Vorsicht lief man immer noch Gefahr, etwas Unbedachtes zu schreiben, eine unbeabsichtigte Zweideutigkeit, einen missverständlichen Satz. Lob konnte als Spott missverstanden werden, aufrichtige Verherrlichung als Parodie. Weil sich auch der umsichtigste Tagebuchschreiber nicht gegen jede mögliche Interpretation wappnen konnte, blieb noch die Möglichkeit, das ganze Heft zu verstecken, und genau diese Methode hatte im vorliegenden Fall die Verdächtige gewählt, eine junge Künstlerin namens Polina Peschkowa. Ihr Tagebuch war in einem Kamin entdeckt worden, genauer gesagt im Rauchfang, eingewickelt in Wachspapier und zwischen zwei lockere Ziegel gestopft. Um es hervorzuholen, musste sie warten, bis das Feuer erloschen war, dann in den Rauchfang greifen und nach dem Rücken der Kladde tasten. Ironischerweise wurde Peschkowa gerade dieses raffinierte Versteck zum Verhängnis. Wegen eines einzigen rußigen Fingerabdrucks auf ihrer Schreibtischplatte hatte der mit der Untersuchung beauftragte Agent Verdacht geschöpft und daraufhin im Kamin nachgesehen – eine beispielhafte Ermittlungsleistung.

Aus Sicht der Geheimpolizei war es schon ein Verbrechen, ein Tagebuch zu verstecken, ganz egal, was darin stand. Damit versuchte ein Bürger, sein privates Leben vom öffentlichen zu trennen. In Wirklichkeit bestand zwischen beidem kein Unterschied. Die Partei hatte das Recht, über alles, was man dachte und machte, Bescheid zu wissen. Deshalb war ein verstecktes Tagebuch oft der belastendste Beweis, den sich ein Agent erhoffen konnte. Weil es nicht dafür gedacht war, gelesen zu werden, schrieb der Verfasser offen, was er dachte; er wurde unvorsichtiger und brachte ungefragt nichts anderes als ein Geständnis zu Papier. Diese ungeschminkte Ehrlichkeit erlaubte es, sich nicht nur über den Schreiber ein Urteil zu bilden, sondern auch über dessen Freunde und Familie. Manchmal förderte ein Tagebuch bis zu fünfzehn weitere Verdächtige zutage, fünfzehn neue Hinweise, und damit oft mehr als die eindringlichste Befragung.

Diese Untersuchung wurde von Agent Leo Demidow geleitet, siebenundzwanzig Jahre alt und ein dekorierter Soldat, den die Geheimpolizei nach dem Großen Vaterländischen Krieg angeworben hatte. Innerhalb des MGB, des Ministeriums für Staatssicherheit, war er durch eine Kombination von schlichtem Gehorsam, Glauben an den Staat, dem er diente, und einem extrem wachen Blick für Details aufgestiegen. Sein Pflichteifer beruhte nicht auf Ehrgeiz, sondern auf der aufrichtigen Verehrung seines Heimatlandes, des Landes, das den Faschismus besiegt hatte. Gutaussehend und ernsthaft wie er war, besaß er das Gesicht und den Geist eines Propagandaplakats, ein kantiges Kinn und geschwungene Lippen, auf denen stets eine Parole lag.

In seiner kurzen Karriere beim MGB hatte Leo die Sichtung von vielen hundert Tagebüchern überwacht und war Tausende von Einträgen durchgegangen. Er hatte unermüdlich jeden verfolgt, dem antisowjetische Agitation vorgeworfen wurde. An das erste Tagebuch, das er untersucht hatte, dachte er wie an eine erste Liebe zurück. Sein Mentor Nikolai Borisow hatte es ihm gegeben, und es hatte sich als schwieriger Fall erwiesen. Leo hatte auf den Seiten nichts Belastendes gefunden. Danach hatte sein Mentor das Tagebuch gelesen und die scheinbar unschuldige Bemerkung unterstrichen:

6. Dezember 1936: Gestern wurde Stalins neue Verfassung angenommen. Ich empfinde das Gleiche wie das ganze Land, d. h. vollkommene, unendliche Freude.

Borisow las aus diesem Satz keine glaubhafte Freude heraus. Dem Schreiber ging es eher darum, seine Gefühle denen des restlichen Landes anzugleichen. Das war rein strategisch gedacht und zynisch, eine hohle Erklärung, die nur die Zweifel des Autors verbergen sollte. Benutzt jemand zum Ausdruck echter Freude eine Abkürzung – d. h. –, bevor er seine Emotionen beschreibt? Genau diese Frage wurde dem Verdächtigen anschließend im Verhör gestellt.

VERNEHMUNGSBEAMTER BORISOW:Wie fühlen Sie sich im Moment?

VERDÄCHTIGER:Ich habe nichts Unrechtes gemacht.

VERNEHMUNGSBEAMTER BORISOW: Das habe ich nicht gefragt, sondern:Wie fühlen Sie sich?

VERDÄCHTIGER:Ich bin beunruhigt.

VERNEHMUNGSBEAMTER BORISOW:Natürlich, das ist völlig normal. Aber sehen Sie, Sie haben nicht gesagt: »Ich fühle mich, wie sich jeder in meiner Lage fühlen würde, d.h. beunruhigt.«

Der Mann bekam fünfzehn Jahre. Und Leo lernte eine wertvolle Lektion – ein Geheimpolizist durfte sich nicht darauf beschränken, nach staatsfeindlichen Äußerungen zu suchen. Viel wichtiger war es, wachsam auf Beteuerungen von Liebe und Loyalität zu achten, die nicht überzeugend wirkten.

Mit den Erfahrungen der letzten drei Jahre im Hinterkopf blätterte Leo das Tagebuch von Polina Peschkowa durch und bemerkte dabei, dass die Verdächtige für eine Künstlerin eine wenig elegante Handschrift besaß. Den ganzen Text hatte sie mit einem fest aufgedrückten, stumpfen Bleistift geschrieben, ohne ihn je anzuspitzen. Auf den Rückseiten der Blätter fuhr er mit der Fingerspitze über Sätze, die wie Brailleschrift hervorstanden. Er hielt das Tagebuch an die Nase. Es roch nach Ruß. Wenn er mit dem Daumen über die Seiten strich, knisterten sie wie trockenes Herbstlaub. Er roch an dem Buch, sah es genau an und wog es in der Hand – er untersuchte es auf jede mögliche Art, ohne es tatsächlich zu lesen. Den Bericht über den Inhalt des Tagebuchs überließ er der Nachwuchskraft, die ihm zugeteilt war. Als Leo vor Kurzem befördert wurde, hatte er damit auch die Aufgabe übernommen, neue Agenten zu betreuen. Er war vom Schüler zum Mentor geworden. Die neuen Agenten begleiteten ihn während seines Arbeitstags und bei nächtlichen Verhaftungen, sammelten Erfahrung und lernten von ihm, bis sie eigene Fälle übernehmen konnten.

Grigori Semitschastny war dreiundzwanzig Jahre alt und der fünfte Agent, den Leo angelernt hatte. Von allen war er der vielleicht intelligenteste und ohne Zweifel der am wenigsten vielversprechende. Er stellte zu viele Fragen und hinterfragte zu viele Antworten. Er lächelte, wenn er etwas amüsant fand, und runzelte die Stirn, wenn ihn etwas ärgerte. Ein Blick auf sein Gesicht genügte, um zu wissen, was er dachte. Er war noch während des Studiums an der Moskauer Universität angeworben worden, ein herausragender junger Mann, der im Gegensatz zu seinem Mentor einen akademischen Hintergrund besaß. Leo war deswegen nicht eifersüchtig, er wusste nur zu gut, dass ihm ein ernsthaftes Studium nicht lag. Da er seine eigenen Schwächen so klar einschätzen konnte, begriff er umso weniger, warum sein Protegé einen Beruf gewählt hatte, der absolut nicht zu ihm passte. Grigori war für seine Arbeit so ungeeignet, dass Leo sogar erwogen hatte, ihm einen ganz anderen Job nahezulegen. Aber so ein abrupter Wechsel war immer verdächtig und würde den Mann in den Augen des Staates höchstwahrscheinlich unfähig erscheinen lassen. Für Grigori war der einzig gangbare Weg, sich weiter zu mühen, und Leo empfand es als seine Pflicht, ihm so gut wie möglich dabei zu helfen.

Grigori ging konzentriert das Tagebuch durch, er blätterte vor und zurück, als würde er nach etwas Bestimmtem suchen. Schließlich blickte er auf und sagte:

– Im Tagebuch steht nichts.

Leo wusste nur zu gut, wie es ihm als Neuling ergangen war, deshalb war er über diese Antwort nicht besonders überrascht, trotzdem enttäuschte ihn das Versagen seines Protegés. Er antwortete:

– Nichts?

Grigori nickte.

– Nichts Wichtiges.

Das war unwahrscheinlich. Vielleicht enthielt es keine offene Provokation, aber die Dinge, die in einem Tagebuch nicht erwähnt wurden, waren genauso wichtig wie das tatsächlich Niedergeschriebene. Leo beschloss, diese Weisheiten mit seinem Schützling zu teilen, und stand auf.

– Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte. Ein junger Mann hat einmal in sein Tagebuch geschrieben, er sei unerklärlich traurig. Der Eintrag stammte vom 23. August. Und zwar im Jahr 1949. Was schließt du daraus?

Grigori zuckte mit den Schultern.

– Nicht viel.

Leo stürzte sich sofort auf diese Schlussfolgerung:

– Wann wurde der Nichtangriffspakt zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion geschlossen?

– Im August 1939.

– Am 23. August 1939. Das heißt, dieser Mann war am zehnten Jahrestag dieses Vertrages unerklärlich traurig. Weil er außerdem mit keinem Wort die Soldaten geehrt hat, die den Faschismus besiegt haben, oder Stalins militärische Verdienste, wurde seine Traurigkeit als unangemessene Kritik an unserer Außenpolitik interpretiert. Warum über Fehler nachgrübeln, statt stolz zu sein? Verstehst du?

– Vielleicht hatte es gar nichts mit dem Vertrag zu tun. Wir fühlen uns alle mal traurig oder einsam oder melancholisch. Wir sehen nicht jedes Mal auf den historischen Kalender, wenn wir uns so fühlen.

Leo wurde ärgerlich.

– Vielleicht hatte es nichts mit dem Vertrag zu tun? Vielleicht gibt es gar keine Feinde? Vielleicht lieben alle Bürger unseren Staat? Vielleicht gibt es niemanden, der unsere Arbeit unterminieren will? Unsere Aufgabe ist es, Schuld zu beweisen, und nicht, naiv darauf zu vertrauen, dass keine vorliegt.

Grigori merkte, wie wütend Leo war, und dachte nach. Dann formulierte er seine Antwort ungewohnt diplomatisch um, so dass sie weniger provozierend klang, aber an seinen Schlussfolgerungen festhielt:

– Polinas Tagebuch enthält gewöhnliche Beobachtungen über ihren Alltag. Soweit meine Fähigkeiten es erlauben, sehe ich nichts, was gegen sie spricht. So lautet mein Ergebnis.

Die Künstlerin, die Grigori so formlos bei ihrem Vornamen nannte, wie Leo nicht entgangen war, sollte eine Reihe öffentlicher Wandgemälde entwerfen und ausführen. Weil bei Künstlern immer das Risiko bestand, dass sie etwas unterschwellig Subversives produzierten, ein Kunstwerk mit einer versteckten Bedeutung, führte das MGB Routinekontrollen durch. Die Überlegung war einfach. Wenn ihr Tagebuch nichts Subversives enthielt, würde ihre Kunst das wahrscheinlich auch nicht tun. Eine nebensächliche Aufgabe, genau richtig für einen Anfänger.

Der erste Tag war gut gelaufen: Grigori hatte das Tagebuch gefunden, während Peschkowa in ihrem Atelier arbeitete. Nach seiner Durchsuchung hatte er das Beweisstück zurück in sein Versteck im Kamin gelegt, damit Peschkowa nichts von ihrer Überwachung merkte. Als er Bericht erstattete, hatte Leo kurz überlegt, ob für den jungen Mann nicht doch noch Hoffnung bestand; einen rußigen Fingerabdruck als Hinweis zu erkennen war bewundernswert. In den nächsten vier Tagen hielt Grigori die Frau unter ständiger Bewachung und investierte viel mehr Zeit als nötig. Trotz der zusätzlichen Arbeit lieferte er keine Berichte mehr und teilte auch keine Beobachtungen mit. Jetzt behauptete er, das Tagebuch sei wertlos.

Leo nahm ihm das Tagebuch ab. Er spürte, wie ungern Grigori die Seiten aus der Hand gab. Zum ersten Mal las er selbst darin. Nach einem Blick gab er zu, dass der Inhalt schwerlich so provokativ war, wie das ausgeklügelte Versteck hinter dem Feuer es hatte vermuten lassen. Weil er daraus noch nicht schließen wollte, dass die Verdächtige unschuldig war, blätterte er weiter zum Ende und las die letzten Einträge aus den fünf Tagen, in denen Grigori sie beobachtet hatte. Die Verdächtigte beschrieb darin, wie sie zum ersten Mal mit einem Nachbarn ins Gespräch gekommen war, der in dem Haus auf der anderen Straßenseite wohnte. Sie hatte ihn noch nie gesehen, aber der Mann war auf sie zugekommen, und sie hatten sich auf der Straße unterhalten. Sie schrieb, der Mann habe Humor, und sie hoffte, sie würde ihn irgendwann wiedersehen, bevor sie verschämt hinzufügte, dass sie ihn attraktiv fand.

Hat er mir gesagt, wie er heißt? Ich weiß es nicht mehr. Er hat es bestimmt getan. Wieso bin ich nur so vergesslich? Ich war abgelenkt. Ich wünschte, ich könnte mich an seinen Namen erinnern. Jetzt ist er bestimmt beleidigt, wenn wir uns noch einmal sehen. Falls wir uns noch einmal sehen, was ich hoffe.

Leo blätterte die Seite um. Am nächsten Tag wurde ihr Wunsch erfüllt, sie lief dem Mann wieder über den Weg. Sie entschuldigte sich für ihr schlechtes Gedächtnis und bat ihn, ihr noch einmal seinen Namen zu nennen. Er sagte, er würde Isaac heißen, dann gingen sie zusammen weiter und unterhielten sich so ungezwungen, als wären sie schon seit Jahren befreundet. Durch einen glücklichen Zufall war Isaac in die gleiche Richtung unterwegs. Als sie ihr Atelier erreichte, verabschiedete sie sich nur widerwillig von ihm. Ihrem Eintrag zufolge sehnte sie sich schon nach ihrem nächsten Treffen, als er gerade gegangen war.

Ist das Liebe? Nein, natürlich nicht. Aber vielleicht fängt so die Liebe an?

Fängt so die Liebe an? – Das war sentimental und passte zum etwas überspannten Naturell einer Frau, die ein unbedenkliches Tagebuch führte, aber es so sorgfältig versteckte, als ginge es darin um Verrat und Intrigen. Was für ein albernes und gefährliches Vorgehen. Leo brauchte keine Beschreibung des freundlichen jungen Mannes, um zu wissen, wer er war. Er hob den Blick zu seinem Protegé und fragte:

– Isaac?

Grigori zögerte. Dann entschied er sich gegen eine Lüge und gab zu:

– Ich dachte, ein Gespräch könnte nützlich sein, um sie richtig einzuschätzen.

– Du solltest ihre Wohnung durchsuchen und sie observieren. Ohne direkten Kontakt. Vielleicht hat sie geahnt, dass du zum MGB gehörst. Dann hätte sie ihr Verhalten ändern können, um dich zu täuschen.

Grigori schüttelte den Kopf.

– Sie hat keinen Verdacht geschöpft.

Leo ärgerten diese Anfängerfehler:

– Das weißt du nur aus ihrem Tagebuch. Dabei könnte sie das Original vernichtet und es mit diesen belanglosen Beobachtungen ersetzt haben, weil sie wusste, dass sie überwacht wird.

Als Grigori das hörte, gab er den kurzen Versuch auf, diplomatisch zu sein; wie ein Schiff, das an Felsen zerschellte, war es mit seiner Zurückhaltung unvermittelt vorbei. Seine spöttische Antwort klang ungewöhnlich anmaßend:

– Sie soll das ganze Tagebuch gefälscht haben, nur um uns zu täuschen? So denkt sie nicht. Sie denkt nicht wie wir. Das ist unmöglich.

Widerspruch von einem jungen Untergebenen, einem Agenten, der seinen Aufgaben nicht gewachsen war – Leo war ein geduldiger Mann, toleranter als die meisten anderen Offiziere, aber Grigori stellte seine Geduld wirklich auf die Probe.

– Gerade die Menschen, die unschuldig wirken, sollten wir oft besonders genau beobachten.

Grigori sah Leo beinahe mitleidig an. Ausnahmsweise passte sein Gesichtsausdruck nicht zu seiner Antwort.

– Du hast recht, ich hätte nicht mit ihr reden sollen. Aber sie ist ein guter Mensch. Da bin ich mir sicher. In ihrer Wohnung und in allem, was sie tut, habe ich nichts gefunden, was darauf hinweisen würde, dass sie keine treue Bürgerin ist. Das Tagebuch ist unbedenklich. Es ist nicht nötig, Polina Peschkowa zu einer Befragung zu holen. Sie sollte ihre Arbeit als Künstlerin weiterführen dürfen, darin ist sie hervorragend. Ich kann das Tagebuch immer noch zurückbringen, bevor sie von der Arbeit kommt. Sie muss von dieser Untersuchung nichts erfahren.

Leo warf einen Blick auf das Foto, das am Aktendeckel klemmte. Die Frau war schön. Grigori war in sie vernarrt. Hatte sie ihn bezirzt, um nicht verdächtigt zu werden? Hatte sie etwas über Liebe geschrieben, weil sie wusste, dass er diese Zeilen lesen würde? Wollte sie so seinen Beschützerinstinkt wecken? Leo musste diese Liebeserklärung gründlich prüfen. Er hatte keine andere Wahl, als das Tagebuch Zeile für Zeile zu lesen. Dem Wort seines Protegés konnte er nicht mehr vertrauen. Die Liebe hatte ihn fehlbar gemacht.

Die Einträge zogen sich über mehr als hundert Seiten. Polina Peschkowa schrieb über ihre Arbeit und ihr Leben. Dabei schlug ihr Charakter deutlich durch: Ihr Stil war unstet, voller Abschweifungen, plötzlicher Einfälle und Erklärungen. Die Einträge sprangen von einem Thema zum nächsten, Gedankengänge wurden oft einfach abgebrochen. Es gab keine politischen Anmerkungen, alles drehte sich um alltägliche Dinge und ums Malen. Nachdem er das ganze Tagebuch gelesen hatte, konnte Leo nicht abstreiten, dass die Frau etwas Anziehendes besaß. Sie lachte oft über ihre Fehler, die sie mit scharfsichtiger Ehrlichkeit beschrieb. Diese Offenheit mochte erklären, warum sie ihr Tagebuch so sorgfältig versteckte. Es war sehr unwahrscheinlich, dass sie es als Tarnung gefälscht hatte. Mit diesem Gedanken bedeutete Leo Grigori, er solle sich setzen. Während Leo gelesen hatte, war Grigori die ganze Zeit stehen geblieben, als würde er Wache halten. Er war nervös. Grigori setzte sich auf die Stuhlkante. Leo fragte:

– Warum hat sie das Tagebuch versteckt, wenn sie unschuldig ist?

Als Grigori zu spüren glaubte, dass Leo ein wenig milder gestimmt war, wurde er aufgeregt. Schnell rasselte er eine mögliche Erklärung herunter:

– Sie wohnt mit ihrer Mutter und zwei kleinen Brüdern zusammen. Sie will nicht, dass sie darin herumschnüffeln. Vielleicht würden sie sich über Polina lustig machen. Sie spricht von Liebe, vielleicht sind ihr solche Gedanken peinlich. Mehr ist es nicht. Wir müssen doch erkennen, wenn etwas nicht wichtig ist.

Leos Gedanken schweiften ab. Er konnte sich vorstellen, wie Grigori die junge Frau angesprochen hatte, aber es fiel ihm schwer, sich auszumalen, dass sie auf die Fragen eines Fremden freundlich reagieren würde. Warum hatte sie ihm nicht gesagt, er solle sie in Ruhe lassen? Eine solche Offenheit wirkte extrem unvorsichtig von ihr. Er beugte sich vor und sprach mit leiser Stimme, nicht aus Angst, jemand könnte mithören, sondern um zu zeigen, dass er nicht offiziell sprach, nicht als Offizier der Geheimpolizei.

– Was ist zwischen euch vorgefallen? Bist du auf sie zugegangen und hast einfach etwas gesagt? Und sie …

Leo zögerte. Er wusste nicht, wie er den Satz beenden sollte. Schließlich fragte er holprig:

– Und sie ist darauf eingegangen …?

Grigori schien nicht genau zu wissen, ob ihm ein Freund oder ein vorgesetzter Offizier die Frage stellte. Als ihm klar wurde, dass Leo tatsächlich neugierig war, antwortete er:

– Wie lernt man schon jemanden kennen? Man stellt sich vor. Ich habe über ihre Kunstwerke gesprochen. Ich habe ihr erzählt, ich hätte ein paar Bilder von ihr gesehen – das stimmt auch. Darüber sind wir ins Gespräch gekommen. Man konnte gut mit ihr reden, sie war nett.

Leo fand das erstaunlich.

– War sie nicht misstrauisch?

– Nein.

– Das hätte sie aber sein sollen.

Einen Moment lang hatten sie als Freunde über Herzensangelegenheiten gesprochen, jetzt waren sie wieder Agenten. Grigori ließ den Kopf hängen.

– Du hast recht, das hätte sie sein sollen …

Er war nicht böse auf Leo. Er war wütend auf sich selbst. Seine Beziehung zu der Künstlerin baute auf einer Lüge auf, seine Zuneigung beruhte auf List und Täuschung.

Leo war selbst überrascht, als er Grigori das Tagebuch entgegenstreckte.

– Hier, nimm.

Grigori rührte sich nicht, er begriff nicht, was gerade passierte. Leo lächelte.

– Nimm es. Sie darf weiter als Künstlerin arbeiten. Es gibt keinen Grund, die Sache weiter zu verfolgen.

– Bist du sicher?

– Ich habe im Tagebuch nichts gefunden.

Grigori begriff, dass sie in Sicherheit war, und lächelte. Er zog Leo das Tagebuch aus der Hand. Als die Seiten unter Leos Fingern hinwegglitten, spürte er einen Umriss auf dem Papier – keinen Buchstaben, auch kein Wort, sondern eine Form, die er nicht gesehen hatte.

– Warte.

Leo nahm das Tagebuch wieder an sich, schlug die Seite auf und begutachtete die rechte obere Ecke. Sie war leer. Aber auf der Rückseite konnte er eingedrückte Linien ertasten. Etwas war dort ausradiert worden.

Er nahm einen Bleistift, fuhr mit der Mine flach über das Papier und enthüllte den Geist einer kleinen Kritzelei. Die Zeichnung war kaum größer als sein Daumen. Sie zeigte eine Frau mit Fackel auf einem Sockel, eine Statue. Leo starrte verständnislos auf die Skizze, bis ihm klar wurde, was sie zeigte. Es war ein amerikanisches Denkmal. Die Freiheitsstatue. Leo sah Grigori an.

Der stolperte über seine eigenen Worte.

– Sie ist Künstlerin. Sie zeichnet ständig irgendwas.

– Warum wurde das ausradiert?

Darauf konnte er nichts sagen.

– Hast du Beweise manipuliert?

Grigoris Antwort klang panisch.

– Als ich beim MGB anfing, hat man mir an meinem ersten Tag eine Geschichte über Lenins Sekretärin Fotiewa erzählt. Sie hat gesagt, Lenin hätte Feliks Dserschinski, den Leiter der Staatssicherheit, gefragt, wie viele Konterrevolutionäre er unter Arrest hat. Dserschinski gab ihm ein Blatt Papier mit der Zahl 1500 darauf. Lenin zeichnete ein Kreuz und gab ihm das Blatt zurück. Laut seiner Sekretärin war das Kreuz für Lenin ein Zeichen, dass er ein Dokument gelesen hatte. Dserschinski hat ihn jedoch falsch verstanden und ließ alle hinrichten. Deshalb musste ich das ausradieren. Man hätte die Zeichnung falsch verstehen können.

Leo fand den Vergleich unpassend. Er hatte genug gehört.

– Dserschinski war der Vater dieser Behörde. Dein Dilemma mit seinem zu vergleichen ist lächerlich. Wir dürfen uns keine Interpretation erlauben. Wir sind keine Richter. Wir können nicht entscheiden, ob wir Beweise vorlegen oder vernichten. Wenn sie unschuldig ist, wie du behauptest, wird sich das bei weiteren Befragungen herausstellen. Mit deinem fehlgeleiteten Versuch, sie zu beschützen, hast du dich selbst belastet.

– Leo, sie ist ein guter Mensch.

– Du bist von ihr besessen. Du kannst nicht mehr klar urteilen.

Leos Stimme war plötzlich schroff geworden. Als er sich selbst hörte, sprach er sanfter weiter:

– Der Beweis existiert noch, deshalb sehe ich keinen Grund, deinen Fehler offiziell zu melden. Er würde mit Sicherheit das Ende deiner Karriere bedeuten. Schreib deinen Bericht, markiere die Zeichnung als Beweisstück, und überlass die Entscheidung denen, die mehr Erfahrung haben.

Dann fügte er hinzu:

– Und, Grigori, ich kann dich nicht noch einmal beschützen.

Moskau Moskvoretsky-Brücke KM-Straßenbahn Am selben Tag

Leo hauchte die Fensterscheibe an, bis sie beschlug. Wie ein Kind drückte er eine Fingerspitze auf die feuchte Scheibe und malte gedankenlos die Umrisse der Freiheitsstatue nach – eine plumpe Version der Zeichnung, die er heute gesehen hatte. Schnell wischte er sie mit dem dicken Jackenärmel weg und sah sich um. Niemand außer ihm hätte die Gestalt erkennen können, außerdem war die Straßenbahn so gut wie leer. Es gab nur einen weiteren Fahrgast, einen Mann, der vorne saß und sich gegen die Kälte in so viele Lagen Kleidung gehüllt hatte, dass von seinem Gesicht nur ein winziger Fleck sichtbar blieb. Nachdem Leo sicher war, dass niemand seine Zeichnung bemerkt hatte, entspannte er sich wieder. Normalerweise war er extrem vorsichtig, er konnte kaum glauben, dass er sich einen so gefährlichen Ausrutscher erlaubt hatte. Aber er hatte in letzter Zeit viel zu oft mitten in der Nacht Verhaftungen vornehmen müssen und bekam, auch wenn er nicht im Dienst war, viel zu wenig Schlaf.

Außer in den frühen Morgenstunden und am späten Abend waren die Straßenbahnen immer überfüllt. Mit einem breiten aufgemalten Streifen in der Mitte rasselten sie wie riesige Bonbons durch die Stadt. Oft musste Leo sich regelrecht hineinquetschen, bei fünfzig Sitzplätzen fuhren meist doppelt so viele Fahrgäste mit. An diesem Abend wäre Leo ein unbequem voller Wagen lieber gewesen, mit Ellbogen, die ihm in die Seite gerammt wurden, und Leuten, die sich vorbeidrängten. Stattdessen folgte dem Luxus eines leeren Sitzplatzes das Privileg, in eine leere Wohnung heimzukehren – die er sich, auch das eine Vergünstigung seines Berufs, mit niemandem teilen musste. Der gesellschaftliche Rang eines Mannes wurde mittlerweile darüber definiert, wie viel leerer Raum ihn umgab. Bald würde man ihm ein eigenes Auto zuteilen, eine größere Wohnung, vielleicht sogar eine Datscha auf dem Land. Immer mehr Platz, immer weniger Kontakt zu den Menschen, die er überwachen sollte.

Leo fielen wieder die Worte ein:

Fängt so die Liebe an?

Er war noch nie verliebt gewesen, nicht so, wie es im Tagebuch beschrieben war – dass er sich darauf freute, eine Frau wiederzusehen, und traurig war, sobald sie ging. Grigori hatte für eine Frau, die er kaum kannte, sein Leben riskiert. Musste das nicht Liebe sein? Liebe schien sich wirklich durch Tollkühnheit zu definieren. Leo hatte sein Leben viele Male für sein Land riskiert. Er hatte enormen Einsatz und Tapferkeit bewiesen. Wenn Liebe Aufopferung bedeutete, war der Staat seine einzig wahre Liebe. Und der Staat hatte ihn auch geliebt wie einen Sohn, er hatte ihn belohnt und ihm Macht verliehen. Es war undankbar und eine Schande, auch nur einen Moment lang zu denken, diese Liebe wäre nicht genug.

Er schob beide Hände unter die Beine, weil er sich einen Hauch Wärme erhoffte. Als er keine fand, überlief ihn ein Schauder. Seine Stiefelsohlen platschten in die flachen Pfützen, die der geschmolzene Schnee auf dem Stahlboden der Straßenbahn gebildet hatte. Er fühlte eine Schwere in der Brust, als würde er unter einer Grippe leiden, deren einzige Symptome Müdigkeit und ein dumpfer Geist waren. Am liebsten hätte er sich gegen das Fenster gelehnt, die Augen geschlossen und geschlafen, aber das Glas war zu kalt. Er wischte ein Stück der beschlagenen Scheibe frei und spähte hinaus. Die Straßenbahn überquerte die Brücke und fuhr durch Straßen voller Schneewehen. Und es schneite weiter, dicke Flocken trafen das Fenster.

Dann wurde die Straßenbahn langsamer und hielt. Die Türen vorne und hinten öffneten sich klappernd, Schnee wehte herein. Der Fahrer drehte sich zu der offenen Tür um und rief hinaus in die Nacht:

– Beeilung! Worauf warten Sie noch?

Eine Stimme antwortete:

– Ich trete mir den Schnee von den Stiefeln!

– Sie lassen mehr Schnee rein, als Sie abtreten. Steigen Sie jetzt ein, sonst mache ich die Türen zu!

Der Fahrgast stieg ein. Es war eine Frau mit einer schweren Tasche, an ihren Stiefeln klebten Schneebrocken. Als sich die Türen hinter ihr schlossen, sagte sie zum Fahrer:

– So warm ist es hier drin aber auch nicht.

Der Fahrer zeigte nach draußen:

– Wollen Sie lieber laufen?

Mit einem Lächeln nahm sie der Situation die Spannung. Der brummige Fahrer ließ sich von ihrem Charme einnehmen und lächelte zurück.

Als die Frau sich umdrehte und im Wagen umsah, blieb Leos Blick an ihr hängen. Er erkannte sie wieder, sie wohnte in seiner Nähe. Sie hieß Lena, und er hatte sie schon oft gesehen. Sie war ihm aufgefallen, weil sie sich benahm, als wollte sie unbemerkt bleiben. Sie trug schlichte Kleidung, wie die meisten Frauen, aber sie selbst war alles andere als reizlos. Ihr Wunsch, nicht aufzufallen, hatte mit ihrer Schönheit zu kämpfen, und selbst wenn es nicht zu Leos Aufgabe gehört hätte, Menschen zu beobachten, hätte er sie mit Sicherheit bemerkt.

Vor einer Woche war er ihr zufällig in der Metro begegnet. Sie hatten so nah beieinandergestanden, dass es ihm unfreundlich vorgekommen wäre, sie nicht zu grüßen. Nachdem sie sich schon mehrmals gesehen hatten, war es nur höflich, sich entsprechend zu verhalten. Er war so nervös geworden, dass er erst nach ein paar Minuten den Mut aufbrachte, sie anzusprechen, doch da stieg sie auch schon aus. Leo folgte ihr enttäuscht, obwohl es für ihn die falsche Haltestelle war und er normalerweise nicht so spontan reagierte. Als sie sich dem Ausgang näherte, berührte er sie an der Schulter. Sie wandte sich schnell um, die großen braunen Augen wachsam vor jeder Gefahr. Er fragte nach ihrem Namen. Sie musterte ihn mit einem kurzen Blick und sah sich die Fahrgäste an, die an ihnen vorbeiströmten, bevor sie antwortete, sie heiße Lena, und sich entschuldigte, sie habe es eilig. Dann war sie verschwunden. Ohne die leiseste Ermutigung, aber auch ohne die leiseste Unhöflichkeit. Leo hatte nicht gewagt, ihr zu folgen. Er war verlegen zum Bahnsteig zurückgegangen und hatte auf die nächste U-Bahn gewartet. Das Unternehmen hatte ihn einiges gekostet. Er war an diesem Morgen zu spät zur Arbeit erschienen, was noch nie vorgekommen war. Als kleinen Trost kannte er endlich ihren Namen.

Heute sah er sie zum ersten Mal nach diesem peinlichen Ereignis wieder. Angespannt beobachtete er sie, als sie durch den Gang lief, und hoffte, sie würde sich neben ihn setzen. Leicht schwankend von der Bewegung der Straßenbahn ging sie ohne ein Wort an ihm vorbei. Hatte sie ihn vielleicht nicht erkannt? Leo blickte sich um. Sie setzte sich in den hinteren Teil des Wagens. Ihre Tasche nahm sie auf den Schoß, den Blick richtete sie auf das Schneetreiben draußen. Er brauchte sich nichts vorzumachen: Natürlich erinnerte sie sich an ihn, das erkannte er daran, wie geflissentlich sie ihn übersah. Der Abstand, den sie zu ihm hielt, verletzte ihn, jeder Meter zeigte, wie wenig sie ihn mochte. Hätte sie mit ihm reden wollen, hätte sie sich nicht so weit weg gesetzt. Andererseits wäre das zu forsch gewesen. Es lag an ihm, auf sie zuzugehen. Er wusste, wie sie hieß. Sie kannten sich. Es wäre nichts Falsches dabei, ein zweites Gespräch anzufangen. Je länger er wartete, desto schwieriger würde es sein. Und falls kein richtiges Gespräch zustande kam, würde Leo nicht mehr als ein bisschen Stolz verlieren. Er scherzte in Gedanken, dass er einen solchen Verlust verschmerzen könnte: Wahrscheinlich schleppte er sowieso zu viel Stolz mit sich herum.

Nachdem er sich entschlossen hatte, stand er ruckartig auf und ging mit gespieltem Selbstbewusstsein auf Lena zu. Er setzte sich auf den Platz vor ihr und beugte sich über die Rückenlehne:

– Ich heiße Leo. Wir haben uns neulich gesehen.

Sie brauchte so lange für ihre Antwort, dass Leo schon dachte, sie wolle ihn ignorieren.

– Ja, ich erinnere mich.

Erst jetzt wurde ihm klar, dass er nicht wusste, worüber er reden sollte. Verlegen improvisierte er:

– Ich habe gerade gehört, wie Sie gesagt haben, draußen wäre es genauso kalt wie hier drinnen. Genau das habe ich auch gedacht. Es ist wirklich sehr kalt.

Seine Bemerkung war so banal, dass er errötete und bitter bereute, das Gespräch nicht vorausgeplant zu haben. Sie antwortete mit Blick auf Leos Mantel:

– Kalt? Obwohl Sie so einen schönen Mantel haben?

Als Agent kam Leo an hochwertige Winterjacken, handgearbeitete Stiefel und dicke Pelzmützen heran. An seinem Mantel konnte man seinen Status ablesen. Weil er nicht zugeben wollte, dass er für die Geheimpolizei arbeitete, griff er zu einer Lüge:

– Mein Vater hat ihn mir geschenkt. Ich weiß nicht, wo er ihn gekauft hat.

Dann wechselte Leo das Thema:

– Ich habe Sie schon oft gesehen. Vielleicht wohnen wir in der gleichen Gegend.

– Könnte sein.

Die Antwort ließ Leo stutzen. Offenbar wollte Lena ihm nicht sagen, wo sie wohnte. Es war nicht ungewöhnlich, dass jemand so vorsichtig war. Das sollte er nicht persönlich nehmen. Er konnte das besser als jeder andere nachvollziehen, es gefiel ihm sogar. Sie war klug, und auch das machte sie anziehend.

Sein Blick fiel auf ihre Tasche, die voller Bücher und Schreibhefte für die Schule steckte. Als gespielte Geste einer lockeren Vertrautheit griff er in die Tasche und zog ein Buch hervor.

– Sind Sie Lehrerin?

Leo sah kurz auf die Schrift auf dem Buchdeckel. Lena schien sich leicht aufzurichten.

– Ja, bin ich.

– Was unterrichten Sie?

Sie antwortete mit schwacher Stimme:

– Ich unterrichte …

Sie verlor den Faden und legte eine Hand an die Stirn.

– Ich unterrichte Politik. Entschuldigen Sie, ich bin sehr müde.

Das war eindeutig. Sie wollte von ihm in Ruhe gelassen werden. Es fiel ihr schon schwer, höflich zu bleiben. Er gab ihr das Buch zurück.

– Entschuldigen Sie, ich habe Sie gestört.

Leo stand auf, so unsicher auf den Beinen, als würde die Straßenbahn über ein stürmisches Meer schlingern. Auf dem Weg zu seinem Platz klammerte er sich an der Haltestange fest. Demütigung hatte das Blut in seinen Adern verdrängt, das Gefühl wurde durch seinen ganzen Körper gepumpt, jedes Stückchen Haut brannte. Er saß mehrere Minuten lang mit zusammengebissenen Zähnen da und starrte aus dem Fenster, während ihre sanfte Zurückweisung in seinem Schädel widerhallte. Die Hände hatte er so fest zu Fäusten geballt, dass seine Fingernägel zwei Reihen gebogener Abdrücke auf seinen Handflächen hinterließen.

Moskau Lubjanka-Platz Lubjanka, Hauptquartier der Geheimpolizei Am nächsten Tag

Leo hatte nachts nicht geschlafen, er hatte im Bett gelegen, die Decke angestarrt und darauf gewartet, dass die Demütigung nicht mehr so an ihm nagte. Nach ein paar Stunden war er aufgestanden und in seiner leeren Wohnung auf und ab gelaufen, von einem Zimmer zum nächsten wie ein eingesperrtes Tier, voller Hass auf den üppig bemessenen Raum, den man ihm zugestanden hatte. Da schlief man besser in einer Baracke, das war der richtige Ort für einen Soldaten. Seine Wohnung war für eine Familie gedacht, viele beneideten ihn darum, aber sie war leer – die Küche unbenutzt, das Wohnzimmer unangetastet, unpersönlich, nicht mehr als ein Ort, an dem man sich nach der Arbeit ausruhte.

Er traf früh bei der Arbeit ein, ging in sein Büro und setzte sich an den Schreibtisch. Er kam immer früh, bis auf den Morgen, an dem er Lena nach ihrem Namen gefragt hatte. Außer ihm war niemand im Büro, zumindest nicht auf seiner Etage. Vielleicht war jemand unten in den Verhörräumen, wo Befragungen manchmal tagelang ohne Pause liefen. Er sah auf die Uhr. In etwa einer Stunde würden die ersten anderen Mitarbeiter eintreffen.

Leo fing an zu arbeiten in der Hoffnung, das würde den Vorfall mit Lena aus seinen Gedanken vertreiben. Aber er konnte sich nicht auf die Papiere konzentrieren, die vor ihm lagen. Mit einer plötzlichen Armbewegung fegte er sie zu Boden. Die ganze Sache ärgerte ihn maßlos – wieso besaß eine Fremde eine solche Wirkung auf ihn? Sie war unwichtig. Er war ein bedeutender Mann. Es gab andere Frauen, reichlich Frauen, von denen sich viele über seine Aufmerksamkeit freuen würden. Er stand auf, lief in seinem Büro auf und ab wie vorher in seiner Wohnung und fühlte sich wie in einem Käfig. Dann öffnete er die Tür, ging den menschenleeren Flur hinunter und fand sich in einem Büro wieder, in dem die Berichte über verdächtige Personen aufbewahrt wurden. Er sah nach, ob Grigori seinen Bericht abgeliefert hatte, und rechnete damit, dass sein Schützling es vergessen oder seine Pflicht aus sentimentalen Gründen nicht erfüllt hatte. Aber die Akte war eingereicht und schlummerte fast als unterste in einem Stapel von Fällen, die weniger dringlich waren. Die meisten würden wochenlang ungelesen dort liegen, sie befassten sich mit absolut banalen Vorfällen.

Leo nahm Peschkowas Akte in die Hand und spürte das Gewicht des Tagebuchs darin. Spontan legte er sie auf den Stapel mit der höchsten Priorität, ganz obenauf – zu den schwersten Verdachtsfällen, was hieß, dass die Akte heute bearbeitet werden würde, sobald die Kollegen eintrafen.

Als Leo wieder an seinem Schreibtisch saß, fielen ihm langsam die Augen zu, als könnte er endlich schlafen, nachdem er diesen bürokratischen Akt erledigt hatte.

*

Leo schlug die Augen auf. Grigori stieß ihn leicht an, um ihn zu wecken. Verlegen, weil er schlafend am Schreibtisch erwischt worden war, stand Leo auf und fragte sich, wie spät es sein mochte.

– Ist alles in Ordnung?

Er sammelte seine Gedanken, dann erinnerte er sich – die Akte.

Wortlos lief er aus dem Büro. Die Flure waren voll, alle Mitarbeiter kamen gerade zur Arbeit. Leo ging schneller, drängte sich an seinen Kollegen vorbei und erreichte das Zimmer, in dem die Berichte zur weiteren Bearbeitung gesammelt wurden. Er ignorierte die Frage einer Frau, ob er Hilfe bräuchte, und durchsuchte den Aktenstapel nach den Unterlagen über die Künstlerin Polina Peschkowa. Ihre Akte hatte ganz oben gelegen. Vor gerade einer Stunde hatte er sie dort deponiert. Die Sekretärin fragte ihn noch einmal, ob er Hilfe bräuchte.

– Hier lag eine Akte.

– Die sind weg.

Peschkowas Fall wurde schon bearbeitet.

Am selben Tag

Leo suchte in Grigoris Gesicht nach einem Anzeichen von Hass oder Abscheu. Offenbar wusste sein Protegé nicht, dass die Akte von Polina Peschkowa weitergereicht war. Er würde es früh genug herausfinden. Leo sollte der Entdeckung besser mit einer Erklärung zuvorkommen, mit einer Entschuldigung – er war erschöpft gewesen, er hatte nur einen kurzen Blick auf das Dokument geworfen und es dann auf den falschen Stapel gelegt. Andererseits gab es keinen Grund, die Sache zu erwähnen. Gegen die Künstlerin lagen nur dürftige Beweise vor. Man würde ihre Akte durchsehen und die Untersuchung einstellen. Und bearbeitet werden würde sie so oder so, Leo hatte den Vorgang nur beschleunigt. Im schlimmsten Fall würde man sie zu einem kurzen Gespräch herbestellen. Danach würde sie weiterarbeiten können. Grigori könnte sich wieder mit ihr treffen. Leo schob die Gedanken an die Frau beiseite und konzentrierte sich auf die anstehende Aufgabe – auf ihren nächsten Fall. Grigori fragte:

– Ist alles in Ordnung?

Leo legte ihm eine Hand auf den Arm:

– Ja, natürlich.

*

Das Licht war ausgeschaltet, der Projektor im hinteren Teil des Zimmers surrte. Auf der Leinwand erschienen Bilder eines idyllischen, bäuerlichen Dorfes. Die Häuser waren aus Holz gebaut, ihre Dächer mit Stroh gedeckt. In den kleinen Gärten blühten üppige Sommerkräuter. Fette Hennen pickten Körner auf, die von übervollen Keramiktöpfen rieselten. Alles war im Überfluss vorhanden, inklusive Sonnenschein und guter Laune. Die Bauern trugen traditionelle Kleidung, gemusterte Tücher und weiße Hemden. Sie liefen durch Maisfelder zu ihrem Dorf zurück. Die Sonne strahlte aus wolkenlosem Himmel. Die Männer waren stark. Die Frauen waren stark. Alle hatten die Ärmel hochgekrempelt. Mitreißende Musik wurde von einem nüchternen Nachrichtenkommentar abgelöst:

– Diese Bauern bekommen heute überraschenden Besuch.

In der Dorfmitte standen mehrere Männer im Anzug, sie wirkten unbeholfen und fehl am Platz. Mit einem Lächeln auf den feisten Gesichtern führten die Anzugträger ihren Ehrengast durch die pittoreske Umgebung. Der Besucher war ein Mann Ende zwanzig, groß, untersetzt und gutaussehend. Durch geschickte Filmschnitte wirkte es, als läge ständig ein Lächeln auf seinem Gesicht. Vielleicht war er aber auch nur ein fröhlicher Mensch. Die Hände hatte er in die Hüften gestemmt. Er trug keine Jacke und hatte die Ärmel aufgekrempelt, genau wie die Bauern. Im Gegensatz zu der vorgespielten ländlichen Pantomime um ihn herum schien seine Begeisterung echt zu sein. Der Kommentar lief weiter:

– Der weltberühmte Negersänger und engagierte Kommunist Jesse Austin besucht ein ländliches Dorf bei seiner Reise durch dieses großartige Land. Obwohl er ein Bürger der Vereinigten Staaten ist, hat sich Mr. Austin als treuester Freund der Sowjetunion bewiesen. Er singt über unser Leben und den Glauben dieses Landes an Freiheit und Gerechtigkeit.

Der Film zeigte jetzt eine Nahaufnahme von Mr. Austin. Seine Antworten wurden auf Russisch nachgesprochen, in den Pausen zwischen der Übersetzung waren noch englische Wortfetzen zu hören.

– Ich habe eine Botschaft an die ganze Welt! Dieses Land liebt seine Bürger! Dieses Land ernährt seine Bürger! Hier gibt es Essen! Mehr als genug! Die Geschichten über Hungersnöte sind erlogen. Die Geschichten über Not und Elend sind nichts weiter als die Propaganda kapitalistischer Großunternehmer. Sie wollen euch einreden, sie könnten euch als Einzige das geben, was ihr braucht. Sie wollen, dass ihr lächelt und »danke« sagt, wenn ihr einen Dollar für Essen bezahlt, das gerade einmal einen Cent wert ist! Die Arbeiter sollen dankbar sein, wenn sie ein paar Dollar für ihre Mühen verdienen, während die Unternehmen Millionen scheffeln. Nicht hier! Nicht in diesem Land! Ich sage es der ganzen Welt – es geht auch anders! Ich sage es noch einmal – es geht auch anders! Ich habe es selbst gesehen.

Die Anzugträger umringten Austin wie ein Schutzwall, lachten dabei und applaudierten. Leo überlegte, wie viele Bauern wohl Agenten der Staatssicherheit waren. Alle, vermutete er. Einem echten Bauern würde man niemals zutrauen, eine solche Show abzuziehen.

Der Film endete. Ihr vorgesetzter Offizier, Major Kuzmin, ging nach vorne. Auf einen Außenstehenden würde der untersetzte Mann mit der dicken Brille vielleicht einen lustigen Eindruck machen, aber nicht auf die Offiziere des MGB. Sie wussten, welche Macht er besaß und wie schnell er bereit war, sie einzusetzen. Er erklärte:

– Diese Aufnahmen wurden 1934 gemacht, als Mr. Austin siebenundzwanzig Jahre alt war. Seine Begeisterung für unser Regime ist ungebrochen. Aber woher wissen wir, dass er kein amerikanischer Spion ist? Wie können wir sicher sein, dass er den Kommunisten nicht nur spielt?

Leo wusste ein wenig über den Sänger. Er hatte seine Lieder im Radio gehört und mehrere Artikel über ihn gelesen. Keiner davon wäre veröffentlicht worden, wenn man den Amerikaner nicht für wertvoll hielte. Weil er merkte, dass Kuzmins Fragen rein rhetorisch waren, sagte er nichts und wartete, bis Kuzmin weitersprach und aus einer Akte vorlas:

– Mr. Jesse Austin wurde 1907 in Braxton, Mississippi, geboren und zog im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie nach New York. Zahlreiche Negerfamilien verließen den Süden, wo sie verfolgt wurden. In den Mitschriften, die ich Ihnen gegeben habe, erzählt Mr. Austin ausführlich von seinen Erfahrungen. Der Hass dort sorgt für enorme Unzufriedenheit unter den schwarzen Amerikanern, er ist ein wirkungsvolles Instrument, um sie für den Kommunismus anzuwerben, vielleicht das wirkungsvollste, das wir besitzen.

Leo blickte zu seinem vorgesetzten Offizier auf. Er sprach von Hass nicht als einer Untat, es gab kein Falsch oder Richtig, alles wurde politisch eingeordnet. Es ging nicht um Empörung, sondern um Berechnung und Analyse. Kuzmin fing Leos Blick auf.

– Möchten Sie etwas sagen?

Als Leo den Kopf schüttelte, las Kuzmin weiter:

– Mr. Austins Familie zog 1917 um, wie viele andere. In dieser Zeit fand eine Massenmigration vom Süden in den Norden statt. Von allen Erfahrungen mit Hass, die Jesse Austin gemacht hat, nehmen wir an, dass es der Hass in New York war, durch den er zum Kommunisten wurde. Dort hassten ihn nicht nur die weißen Familien, sondern auch die Negerfamilien der Mittelklasse, die sich in diesem Gebiet bereits etabliert hatten. Sie hatten große Angst davor, die Migranten würden die Städte im Norden überschwemmen. Es war ein prägender Moment für ihn, als er sah, wie Menschen, die sich mit den Neuankömmlingen solidarisch zeigen sollten, sich gegen sie stellten. Er wurde Zeuge, wie Klassenunterschiede selbst die engste Gemeinschaft spalten.

Leo blätterte seine Kopie der Akte durch. Sie enthielt nur ein Foto des jungen Mr. Austin mit seinen Eltern. Mutter und Vater, den jungen Austin zwischen sich, standen so stocksteif aufgerichtet, als würde die Kamera sie nervös machen. Kuzmin fuhr fort:

– In New York hat sein Vater als Fahrstuhlführer in einem heruntergekommenen Hotel namens The Skyline gearbeitet, das mittlerweile bankrottgegangen ist. Dieses Hotel war ein Musterbeispiel für die Dekadenz kapitalistischer Großstädte – ein Ort, an dem mit Drogen gehandelt und Prostitution betrieben wurde. Soweit wir wissen, war sein Vater nicht in diese illegalen Aktivitäten verwickelt. Er wurde zwar häufig festgenommen, aber jedes Mal ohne Anklage wieder freigelassen. Seine Mutter hat als Dienstmädchen gearbeitet. Austin sagt, er hätte in seiner Kindheit weder unter Schlägen noch unter betrunkenen Eltern gelitten, stattdessen hätten die elenden Lebensumstände seine Familie zerstört. Ihr Zimmer war im Winter kalt und im Sommer heiß. Sein Vater starb, als Jesse Austin gerade zwölf Jahre alt war. Er hatte sich eine Lungentuberkulose zugezogen. Die Vereinigten Staaten besitzen zwar bewundernswerte medizinische Einrichtungen, aber sie stehen nicht allen offen. Die Metropolitan Life Insurance Company in New York hat zum Beispiel eines der fortschrittlichsten Sanatorien für seine Angestellten gebaut. Allerdings war Mr. Austins Vater kein Angestellter der Metropolitan Life Insurance Company. Er konnte sich kein Sanatorium leisten. Mr. Austin ist heute noch überzeugt, dass ein Aufenthalt dort seinem Vater das Leben gerettet hätte. Das könnte ein weiterer wichtiger Schritt in Mr. Austins politischer Entwicklung sein. Er hat seinen Vater sterben sehen, und zwar in einem Land, in dem die medizinische Versorgung vom Arbeitsplatz abhängt und der Arbeitsplatz von der Hautfarbe und dem Zufall der Geburt.

Dieses Mal hob Leo die Hand. Kuzmin nickte ihm knapp zu.

– Wenn das der Fall ist, warum werden dann nicht mehr Amerikaner Kommunisten?

– Das ist eine außerordentlich wichtige Frage, die uns Rätsel aufgibt. Wenn Ihnen die Antwort einfällt, können Sie meinen Posten haben.

Kuzmin lachte, ein seltsamer, erstickter Laut. Dann sprach er weiter.

– Mr. Austin ist zwar voll des Lobes über seine Mutter, aber sie musste nach dem Tod des Vaters bei der Arbeit viele Schichten übernehmen. Weil er häufig allein war, fing er an zu singen, um sich zu beschäftigen, und aus der kindlichen Freude wurde eine Karriere. Seine Musik und seine selbst geschriebenen Lieder waren dabei nie von der Politik zu trennen. In seinen Augen sind sie ein und dasselbe. Anders als viele Negersänger hat Jesse Austins Musik ihre Wurzeln nicht in der Kirche, sondern im Kommunismus. Der Kommunismus ist seine Kirche.

Dann legte Major Kuzmin eine Schallplatte auf, und sie hörten sich Mr. Austin an. Leo verstand den Text nicht, aber er begriff, warum Kuzmin, misstrauisch wie kein Zweiter, von der Ernsthaftigkeit des Sängers überzeugt war. Austin besaß die ehrlichste Stimme, die Leo je gehört hatte. Die Worte schienen direkt aus seinem Herzen zu strömen, ohne durch Vorsicht oder Berechnung gezügelt zu werden. Kuzmin stellte die Musik aus.

– Mr. Austin ist zu einem unserer wichtigsten Agitatoren geworden. Er singt nicht nur polemische Lieder und hat hohe Verkaufszahlen, er ist auch ein hervorragender Redner und auf der ganzen Welt bekannt. Seine Musik hat ihn berühmt gemacht und seinen politischen Ansichten eine internationale Bühne verschafft.

Kuzmin winkte dem Filmvorführer.

– Das hier sind Aufnahmen einer Rede, die er 1937 in Memphis gehalten hat. Sehen Sie genau hin. Es gibt keine Übersetzung, aber achten Sie auf die Reaktionen des Publikums.

Die Filmrolle wurde gewechselt, dann surrte der Projektor wieder. Die neuen Aufnahmen zeigten einen Konzertsaal mit Tausenden von Besuchern.

– Wie Sie sehen, sind alle Zuschauer weiß. In den amerikanischen Südstaaten gab es Gesetze, nach denen entweder nur Weiße oder nur Schwarze eine Veranstaltung besuchen durften. Integration fand nicht statt.

Mr. Austin stand im Smoking auf der Bühne und redete vor der großen Menge. Einige Zuschauer gingen hinaus, andere riefen dazwischen. Kuzmin deutete auf diejenigen, die den Saal verließen:

– Interessant ist, dass sich viele Leute in diesem weißen Publikum gerne seine Musik anhören. Sie sitzen da, klatschen, Austin bekommt sogar Ovationen. Allerdings kann er kein Konzert beenden, ohne eine politische Rede zu halten. Sobald er anfängt, über den Kommunismus zu reden, stehen die Leute auf und gehen oder beleidigen ihn. Aber sehen Sie sich dabei Mr. Austins Gesicht an.

Austin ließ sich keine Enttäuschung anmerken. Die Ablehnung der Leute im Saal schien ihn aufblühen zu lassen, seine Gesten wurden immer sicherer, seine Rede geriet keine Sekunde ins Stocken.

Kuzmin schaltete das Licht ein.

– Ihr Auftrag ist von entscheidender Bedeutung. Die amerikanische Obrigkeit setzt Mr. Austin verstärkt unter Druck, weil er weiterhin unser Land unterstützt. Diese Akten enthalten Artikel von ihm, die amerikanische sozialistische Zeitungen veröffentlicht haben. Sie werden selbst sehen, wie provozierend sie auf eine etablierte konservative Klasse wirken müssen. Sie rufen zu Veränderungen auf und verlangen eine Revolution. Unsere Sorge ist jetzt, dass Austin seinen Pass verlieren könnte. Vielleicht ist das sein letzter Besuch.

Leo fragte:

– Wann kommt er an?

Kuzmin stellte sich nach vorn und verschränkte die Arme.

– Heute Abend. Er bleibt zwei Tage in Moskau. Morgen wird ihm die Stadt gezeigt. Abends gibt er ein Konzert. Ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass nichts schiefläuft.

Leo war erschrocken. Das ließ ihm extrem wenig Zeit für Vorbereitungen. Vorsichtig formulierte er seine Bedenken in eine Frage um:

– Er kommt heute Abend an?

– Sie sind nicht das einzige Team, das diesen Auftrag erhalten hat. Ich habe erst spät spontan beschlossen, Sie einzubinden. Ich habe bei Ihnen ein gutes Gefühl, Demidow. Unser Gast wird zu Hause so genau beobachtet, dass es verständlich wäre, wenn er seine Loyalität zu unserem Land überdenken würde. Ich will, dass meine besten Leute an dieser Sache arbeiten.

Kuzmin drückte Leo kurz die Schulter, um sein Vertrauen in Leos Fähigkeiten zu bekräftigen und ihm gleichzeitig klarzumachen, wie wichtig dieser Auftrag war:

– Seine Liebe für unser Land muss um jeden Preis geschützt werden.

Moskau Haus an der Uferstraße Serafimowitsch-Straße 2 Am nächsten Tag

Leo bildete zusammen mit Grigori eines von drei Teams, die unabhängig voneinander dafür sorgen sollten, dass Austins Programm nach Plan ablief. Dabei war nicht Austins Leben bedroht, sondern seine hohe Meinung vom sowjetischen Staat. Der Einsatz von drei Teams mit sich überschneidenden Arbeitsaufträgen und demselben Ziel sollte etwas Wetteifer in die Operation bringen und außerdem der Tatsache Rechnung tragen, dass nicht immer alle auf ihrem Posten sein konnten – wenn ein Team versagte, konnte ein anderes einspringen. Diese außergewöhnlichen Vorsichtsmaßnahmen unterstrichen, wie wichtig Austins Besuch war.

Man hatte ihnen ein Auto zur Verfügung gestellt. Vom Lubjanka-Platz, dem Hauptquartier der Geheimpolizei, war es nicht weit zur Serafimowitsch-Straße und dem exklusiven Wohnkombinat, in dem Austin untergebracht war. Man hatte erwartet, dass er ein Zimmer im Hotel Moskva beziehen würde, im fünfzehnten Stock mit Blick auf den Roten Platz, aber er hatte abgelehnt. Er wollte lieber in einem der Wohnkombinate untergebracht werden, nach Möglichkeit bei einer Familie mit Gästezimmer. Er wollte:

Das echte, unverfälschte Leben, hautnah.

Austins Bitte hatte für große Bedenken gesorgt, weil man ihm eine Vision der künftigen kommunistischen Gesellschaft zeigen sollte, ein Abbild ihrer Möglichkeiten, und nicht die Gesellschaft, wie sie in Wirklichkeit bestand. Als Idealist mit Prinzipien hatte sich Leo diese Täuschung damit schöngeredet, dass die Revolution ja noch längst nicht abgeschlossen war. Nur noch wenige Jahre, dann würden sie im Wohlstand leben. Aber im Moment war ein freies Gästezimmer in einer Stadt, in der chronischer Wohnungsmangel herrschte, undenkbar. Und Austin bei einer russischen Familie wohnen zu lassen war viel zu riskant. Abgesehen von den beengten Verhältnissen könnte jemand vielleicht etwas Unpassendes sagen. Für Austin eine ideale Familie zu inszenieren war in dieser kurzen Zeit zu schwierig. Er hatte erst um die Änderung gebeten, als sie schon vom Flughafen losgefahren waren.

In panischer Hast improvisierten sie die Unterbringung in der Serafimowitsch-Straße 2. Es war eine absurde Idee, ein Wohnprojekt für die politische Elite, das mehr als vierzehn Millionen Rubel gekostet hatte, als typisch für die vielen neu entstehenden Wohnkombinate auszugeben. Im Gegensatz zu den meisten Wohnblocks mit kleinen aneinandergereihten Zimmern, Gemeinschaftsküchen und Außentoiletten beherbergte dieses Haus nur zwei große Wohnungen pro Etage. Allein das Wohnzimmer umfasste einhundertfünfzig Quadratmeter – auf so viel Platz waren normalerweise mehrere Familien untergebracht. Obendrein waren die Wohnungen luxuriös eingerichtet, sie besaßen Gaskocher, fließend warmes Wasser, Telefon und Radio. Es gab Antiquitäten und silberne Kerzenleuchter. Angesichts eines Gastes, der so sensibel auf soziale Unterschiede reagierte, beunruhigte Leo das dichte Netz aus Dienstboten, das den Bewohnern von der Wäsche bis zum Kochen und Putzen alles abnahm. Er konnte die anderen Hausbewohner überreden, ihren Dienstboten für die Dauer von Austins Besuch freizugeben. Sie willigten ein, denn die mächtigen und reichen Bürger fürchteten die Geheimpolizei genauso wie die armen, wenn nicht noch mehr. Die früheren Bewohner, darunter der kommunistische Theoretiker Nikolai Bucharin und Stalins Kinder, Wassili Stalin und Swetlana Allilujewa, konnte man kaum als durchschnittliche Bürger der Sowjetunion bezeichnen. Die Lebenserwartung in diesem Haus war vielleicht noch geringer als die von Menschen, die in schlimmstem Elend lebten. Luxus bildete keinen Schutz vor dem MGB. Leo selbst hatte in diesem Gebäude zwei Männer verhaftet.

Nachdem sie das Auto abgestellt hatten, liefen Leo und Grigori durch den Schnee auf den prunkvollen Eingang zu. Leo trat ein, knöpfte seine Jacke auf und zeigte seine Papiere vor. Beide Namen wurden mit der Liste derjenigen abgeglichen, denen Zugang zum Haus gewährt war. Sie gingen nach unten in den Keller, wo ein Agententeam rund um die Uhr zur Überwachung saß. Die Technik war schon lange vor Austins Besuch installiert worden. Weil einige der wichtigsten Köpfe der sowjetischen Gesellschaft in diesem Haus wohnten, war es für den Staat unerlässlich zu wissen, was sie taten und worüber sie sprachen. Austin würde fünf Etagen über ihnen einziehen, in eine Wohnung mit einer Abhörvorrichtung in jedem Zimmer. Zum Überwachungsteam gehörte auch ein Übersetzer – einer von dreien, die in Achtstundenschichten arbeiteten. Außerdem hatte man eine attraktive Agentin in der Wohnung selbst postiert, die als vorgebliche Bewohnerin in einem eigenen Zimmer schlief. Sie gab sich als Witwe aus, deren Mann im Großen Vaterländischen Krieg gefallen war. Nach Austins Profil zu urteilen wäre er für eine solche Geschichte besonders zugänglich. Er hasste den Faschismus mehr als alles andere und hatte oft gesagt, der Untergang des Faschismus sei vor allem ein Sieg Russlands gewesen, erkauft mit kommunistischem Blut.

Leo sah die Abschriften von Austins Gesprächen seit seiner Ankunft durch – eine Chronologie der zehn Stunden, die er in der Wohnung verbracht hatte. Er hatte zwanzig Minuten im Bad verbracht und fünfundvierzig Minuten beim Essen. Mit der Agentin hatte er sich über den Vaterländischen Krieg unterhalten. Austin sprach hervorragend Russisch, er hatte die Sprache nach seinem Besuch 1934 gelernt. Dass ihr Gast ihre Sprache verstand, wertete Leo als zusätzliche Komplikation. Dadurch konnten die Agenten nicht offen miteinander reden. Austin würde jeden Ausrutscher bemerken. In den Abschriften sah Leo, dass sich ihr Gast offenbar schon darüber gewundert hatte, warum eine einzelne Person eine so riesige Wohnung besaß. Die Agentin hatte geantwortet, das sei eine Belohnung für den tapferen Kriegseinsatz ihres Mannes. Nach dem Essen hatte Austin seine Frau angerufen und zwanzig Minuten lang mit ihr telefoniert.

AUSTIN: Ich wünschte wirklich, du könntest hier sein. Ich wünschte, du könnest alles erleben, was ich erlebe, und mir sagen, ob ich blind bin. Ich habe Angst, dass ich die Dinge so sehe, wie ich sie sehen will, und nicht, wie sie sind. Ich bräuchte jetzt deinen Instinkt.

Seine Frau hatte geantwortet, sein eigener Instinkt habe ihn noch nie im Stich gelassen und sie liebe ihn sehr.

Leo gab Grigori die Abschrift.

– Er hat sich verändert. Er ist nicht mehr der gleiche Mann, den wir bei den Bauern gesehen haben. Offenbar macht er eine Vertrauenskrise durch.

Grigori las die Seiten, dann gab er sie Leo zurück.

– Glaube ich auch. Es sieht nicht gut aus.

– Deshalb hat er bis zum letzten Moment gewartet, um eine andere Unterkunft zu verlangen.

Die Agentin, die den Part der Witwe übernommen hatte, betrat den Überwachungsraum. Leo wandte sich zu ihr um und fragte:

– War er an Ihnen interessiert?

Sie schüttelte den Kopf.

– Ich habe eine paar zweideutige Bemerkungen gemacht. Entweder ist es ihm nicht aufgefallen, oder er hat sie komplett ignoriert. Ich habe so getan, als würde mich der Gedanke an meinen toten Mann traurig machen. Er hat mich in den Arm genommen, aber das war nichts Sexuelles.

– Sind Sie sicher?

Grigori verschränkte die Arme.

– Was bringt es, wenn wir ihm eine Falle stellen?

Leo antwortete:

– Wir wollen nicht über ihn urteilen. Aber wir müssen unsere Freunde kennen, wenn wir sie schützen wollen. Wir sind nicht die Einzigen, die ihm nachspionieren.

In der Ecke hob ein Agent die Hand.

– Er ist wach.

*

Die Parteifunktionäre versammelten sich in der marmornen Eingangshalle – eine kleine Gruppe Männer von mittlerem Rang in mittlerem Alter, lächelnde Anzugträger, genau wie jene, die Austin das Bauerndorf gezeigt hatten. So wichtig Austin auch war, hatte man sich doch gegen Treffen mit hochrangigen Sowjets entschieden, weil das vielleicht dem FBI in die Hände gespielt hätte. Sie hätten Austin als Russenfreund hinstellen können, der sich nur für die Elite interessierte, statt vom System an sich begeistert zu sein.

Austin tauchte am Fuß der Treppe auf, in einem knielangen Mantel, Schneestiefeln und einem Schal. Leo begutachtete seine maßgeschneiderte Kleidung. Sie war nicht auffällig, aber fraglos von bester Qualität. Jesse Austin war ein wohlhabender Mann. Berichte schätzten sein Jahreseinkommen auf über siebzigtausend Dollar. Als Austin den Empfang betrachtete, den man ihm bereitet hatte, sah Leo ihm einen Hauch von Missfallen an. Vielleicht fühlte er sich bedrängt und zu sehr beschirmt. Er sprach die Männer auf Russisch an:

– Warten Sie schon lange?

Er sprach hervorragend Russisch, behielt aber seine amerikanische Satzmelodie bei, und obwohl er den Akzent gut traf, klangen die Wörter bei ihm fremd. Der ranghöchste Funktionär trat vor und antwortete auf Englisch. Austin unterbrach ihn:

– Reden wir doch Russisch. Zu Hause spricht niemand die Sprache. Wo soll ich sie sonst üben?

Er erntete Gelächter. Der Parteifunktionär lächelte und schaltete auf Russisch um.

– Haben Sie gut geschlafen?

Austin antwortete, das habe er, und ahnte dabei nicht, dass alle die Antwort längst kannten.

Die Gruppe verließ das Haus an der Uferstraße und führte ihren Gast durch den Schnee zu einer Limousine. Leo und Grigori trennten sich vom Rest und gingen zu ihrem eigenen Auto. Sie wollten den anderen folgen und am Ziel wieder zu ihnen stoßen. Als Leo die Tür öffnete, blickte er zurück und sah, wie Austin die Limousine verächtlich musterte. Dann sagte er etwas zu den Parteifunktionären. Leo konnte sie nicht verstehen, doch es gab offensichtlich eine Meinungsverschiedenheit. Die Funktionäre schienen zu zögern. Ohne auf ihre Einwände zu hören, lief Austin von der Limousine herüber zu Leo und Grigori:

– Ich will nicht hinter getönten Scheiben herumgefahren werden! Wie viele Russen fahren denn solche Autos!

Einer der Funktionäre holte ihn ein.

– Mr. Austin, wäre es für Sie im Diplomatenwagen nicht bequemer? Das hier ist nur ein einfacher Dienstwagen, mehr nicht.

– Einfacher Dienstwagen klingt doch sehr gut!

Der Funktionär war perplex, dass der sorgfältig vorbereitete Plan über den Haufen geworfen wurde. Er lief zu den anderen und besprach die Sache mit ihnen. Dann kam er zurück und nickte.

– In Ordnung, Sie und ich fahren bei Offizier Demidow mit. Die anderen fahren in der Limousine voraus.

Leo öffnete die Tür und bot Austin den Beifahrersitz an. Aber Austin schüttelte wieder den Kopf.

– Ich setze mich nach hinten. Ich will Ihrem Kollegen nicht den Platz wegnehmen.

Als Leo den Gang einlegte, warf er im Rückspiegel einen Blick auf den hochgewachsenen Austin, der sich in das enge Auto gequetscht hatte. Der Funktionär betrachtete unzufrieden die spärliche Ausstattung.

– Diese Autos sind extrem schlicht gehalten. Sie dienen der Arbeit, nicht dem Vergnügen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie im Vergleich zu vielen amerikanischen Autos schlecht abschneiden. Aber wir brauchen hier keinen Überfluss.

Mit dieser Ansicht hätte er vielleicht mehr Eindruck gemacht, wenn er nicht ein paar Minuten zuvor noch versucht hätte, seinen Gast mit einer luxuriösen Limousine zu beeindrucken. Austin antwortete:

– Es bringt einen hin, oder?

Der Funktionär lächelte, um seine Verwirrung zu überspielen.

– Wohin?

– Dahin, wo auch immer Sie mich bringen wollen.

– Ja, das tut es. Hoffentlich!

Der Funktionär lachte. Austin nicht. Er mochte diesen Mann nicht. Schon jetzt lösten sich ihre schönen Pläne in Luft auf.

MoskauGastronom Nr. 1 Feinkostladen Jelissejew Twerskaja 14 Am selben Tag

Gastronom Nr. 1 war das exklusivste Geschäft, das die Stadt zu bieten hatte, und stand nur der Elite offen. Die aufwendig gestalteten Wände waren mit Blattgold verziert. Die Säulen im Raum bestanden aus Marmor und besaßen kunstvoll geschmückte Kapitelle – Prunk, wie man ihn eher in einem Palast erwartet hätte. Er bildete eine majestätische Kulisse für polierte und mit dem Etikett nach vorn ausgerichtete Lebensmittelkonserven, für frisches Obst, das in Mustern zurechtgelegt war, für Spiralen aus Äpfeln und Berge dicker Kartoffeln. Das Geschäft war tagelang hergerichtet worden. Jeder Gang quoll vor Waren über, man hatte die Lagerräume geplündert, alles hervorgeholt und akribisch aufgebaut. Leo erkannte sofort, dass es ein Fehler gewesen war hierherzukommen. Man hatte den Gast aus Amerika grundlegend missverstanden. Der Laden zeigte kein Modell der neuen Gesellschaft, er verkörperte die Vergangenheit – eine Momentaufnahme des überbordenden Reichtums aus der Zeit der Zaren. Trotzdem strahlte die Horde der Parteifunktionäre Austin an, als würde sie Beifall erwarten. Aus Eitelkeit hatten die Funktionäre nicht erkannt, was ihr Gast wirklich wollte, sondern mit Überfluss geprahlt, weil sie sich ausgerechnet hatten, dass er umso beeindruckter sein würde, je mehr sie ihm zeigten. Ihre tief sitzende Angst, im Vergleich zu ihren amerikanischen Feinden als arm und schäbig dazustehen, hatte sie blind gemacht.

Leo blieb vor Dosen mit Erbsensuppe stehen, die zu einer Pyramide aufeinandergestapelt waren. Er hatte noch nie gesehen, dass man Lebensmittel so präsentierte, und fragte sich, warum irgendjemand das beeindruckend finden sollte. Austin warf im Vorbeigehen einen abfälligen Blick auf die Pyramide, während einige Funktionäre eifrig auf exotische Obstsorten deuteten, deren Namen Leo nicht kannte. Um zu versuchen, diesen Überfluss mit der Ideologie des Kommunismus zu vereinen, hatte man die Kunden, allesamt Agenten des MGB, aus unterschiedlichen Altersklassen ausgewählt und sie in schlichte Kleidung und abgewetzte Schuhe gesteckt, als stünde Gastronom Nr. 1 jedem offen – der Großmutter genauso wie der jungen Arbeiterin. Die Mitarbeiter – Männer an der Fleischtheke, Frauen in der Obstabteilung – waren derweil angewiesen worden, Austin zuzulächeln, wenn er vorbeiging. Ihre Gesichter sollten ihm folgen, als sei er die Sonne und sie Blumen, die sich seinem Licht zuwandten. Draußen, hinter den Kulissen, zitterten weitere Kunden im Schnee. Sie sollten das Geschäft in scheinbar zufälligen Abständen betreten und den Eindruck erwecken, es würde ein normales Kommen und Gehen herrschen.

Austins Miene wurde zusehends verdrießlicher. Er sprach nicht mehr. Die Hände hatte er tief in den Taschen vergraben, die Schultern ließ er hängen, während die Kunden um ihn herum wie ein Schwarm Elstern von Gang zu Gang flatterten und alles in die Hand nahmen, was im Licht funkelte. In einem Einkaufskorb sah Leo drei rote Äpfel, eine einzelne Rote Bete und eine Dose mit eingelegtem Schinken – eine seltsame Zusammenstellung für einen Einkauf.