Ahnensog 2 - Sigrid Crasemann - E-Book

Ahnensog 2 E-Book

Sigrid Crasemann

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Beschreibung

Fatale Herzlosigkeit im Ahnensog. Reaktive, attackierende Gegenbewegungen als Motiv. Leid bringende Verhaftung. Schlund der Verzweiflung. Beflügelnder Trieb nach innerer Freiheit jenseits der eigenen Geschichte. Schamlose Wahrhaftigkeit. Freiheitsrebell Georg Kerner als Sprungbrett. In der Tiefe verwandte Streiflichter umkreisen, beleuchten und hinterfragen unterschiedlichste Facetten unseres Lebens. Dem hochgespülten Schlamm ins Auge schauen, solange, bis er verbrannt ist. Kontemplatives Niederschreiben. Prozesshaftes Verstehen. Stilles Schauen. Feuer der Erkenntnis. Heilige Asche. Volle Gegenwart jenseits von Geburt und Tod. Radikale Absage an blinde Verpflichtung. Freiheit im gelenkten Schutz des Kosmos. Inspiration und Bedrängnis in Form von Poems als verdichteter Schlussakkord.

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Georg Kerner (1770 – 1812)

Asche III, 2009, [70 x 120],

Holzkohle, Bronze, Lappen, Dammar, Gouache auf Leinwand

Inhalt

Vorwort

Beflügelt

Ich weiß warum

Ostern

Frühlingsgruß

Gemütlich

Lachen in Schwarz-Rot-Gold

Fähnchen

“Bitte!”

Die Narbe

Ausblick

Einsamkeit

Morgenandacht

still june

Vorsicht Workshop!

Goldene Sehnsucht

Die Schlucht

Alles gut

Unter der Platane

Warmes Herz

Wer bin ich?

Hingabe

Es weihnachtet

Elegisch

In die Farben geboren

Shoah 1

Neujahrsgruß

Shoah 2

Thermopen

Antisemitisch

Weiße Berge

Da sitzt sie wieder

So einfach

Das Versprechen

Asche

Anstelle eines Nachworts

emotions

Anhang

Vorwort

Diesem Buch AHNENSOG 2, 200 Jahre nach Georg Kerner, ging mein Buch AHNENSOG voran. In autobiografischen Reflexionen umkreiste ich darin mein Dasein als Frau. Es entstand ein Bericht, der das eigene Leben zum Anlass nahm, um immer wieder auf den Ahnensog zu verweisen, dem wir alle unterliegen. Dieser erfühlte Begriff steht für die Tatsache der christlich abendländischen Prägung, in der ich wesentlich das mächtige Hindernis für unsere innere Ungebundenheit sehe. Ausgangsmotiv für diese Niederschrift war Schmerz, mein Schmerz, der mein Leben begleitete, stetig unterwanderte und mich schließlich derart peinigte, dass ich hinsehen musste auf den Moloch, welcher diesem Schmerz zugrunde liegt. Es war mein Anliegen, mich als Frau ganz zu zeigen, in voller Verantwortlichkeit über das eigene Leben zu sprechen, mich in dem Wunsch nach Freiheit und Liebe ernst zu nehmen und die eigene Verleugnung endlich zu beenden.

Ich sprach zu Themen des Lebens, wie Arbeit, Religion, Wohnen, Künste, Geburt, Tod, Sexualität und Familie. Bei aller Deutlichkeit und Schwere des Textes war die Entstehung des Buches ein eher positiver Akt, da sich während des Schreibens immer wieder das Feuer von Wandlung Bahn brach.

Der Bericht ist zugleich ein Stück Zeitgeschichte, und zwar des politischen und kulturellen Geschehens der Bundesrepublik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Ich fügte eigene bildnerische Arbeiten ein. Es sind Blätter zweier Bildserien, Der Schmerz der Frauen und Der Schmerz des Erwachens. Die im Jahr 2010 zeitlich vor der Niederschrift entstandenen Aquarelle sind dem Text nicht als Illustrationen zugeordnet, sondern ihm wie eine Wellenbewegung beigemischt. Ich habe sie als Impuls zum Anhalten eingegeben, zur kurzen Atempause, um dann weiter zu lesen.

In Ahnensog 2 geht es mir erneut um die innere Freiheit. Um dieses Anliegen auch jenseits der eigenen Geschichte zu ergründen, diente mir als Sprungbrett maßgeblich die Entdeckung meiner Verwandtschaft zu dem Freiheitsrebellen Dr. Georg Kerner (1770 – 1812). Ich befasse mich in diesem zweiten Band vor allem auch mit Gegenbewegungen, die das vorangegangene Buch Ahnensog in mir auslösten, die ich in ähnlichen Formen ebenso im Leben meiner Mitmenschen wahrnehme. Der Ahnensog ist also wieder, jetzt in einem anderen Gewand, mein Leitgedanke. Der Trieb nach dem Verstehen dieser mich attackierenden Bewegungen aus meinem Inneren ist mein Motiv. Ihr kontemplatives Niederschreiben führt mich zu einer distanzierten neuen Sehweise, die mich am Ende leicht macht.

Zum besseren Verständnis des Begriffs Ahnensog sind für die Leser, die das vorangegangene Buch Ahnensog nicht kennen, im Anhang zwei gekürzte Kapitel aus diesem ersten Band zu lesen.

Die Kapitel von Ahnensog 2 sind lose aneinander gereiht und können auch einzeln gelesen werden. Wird das Buch aber ganz gelesen, wird sich dem Leser mein Anliegen möglicherweise eher erschließen. Die einzelnen Kapitel umkreisen die Leid bringende Verhaftung an unsere alte und uralte bis heute wirkende Konditionierung, die sich nur verändern kann, wenn wir uns ihrer bewusst werden. Die Texte bemühen sich um ihr Verstehen und beleuchten unterschiedlichste Facetten unseres Lebens. Kritische Reflexionen, amüsierte Beobachtungen, erzählende Ereignisberichte, philosophische Betrachtungen, Glossen ähnliche Streiflichter, ahnende Sprachfetzen setzen während ihres Hinterfragens ein prozesshaftes meditatives Erkennen in Gang.

Wiederum ist Ahnensog 2 ein Stück Zeitgeschichte, nun der aktuellen Gegenwart. Auch diesem zweiten Band füge ich eine künstlerische Begleitmelodie bei. Es sind dieses Mal keine Bilder, sondern Poems inwendiger Spannungen in geballter Form. Sie riefen im Verlauf des Entstehens von Ahnensog 2 nach Gehör. Ich flechte sie dem Text nicht ein, wie ich es mit den Aquarellen im ersten Band vornahm, sondern gestalte mit ihnen das Nachwort. So bringe ich Inspiration und Bedrängnis durch den Ahnensog noch einmal in einem verdichteten Schlussakkord zum Ausdruck.

Beflügelt

Ein Blitz schlägt ein.

Gestern schaute ich im Tagebuch meiner Urgroßmutter Anna Duncker nach. Ich wollte erfahren, unbedingt wissen, wie sich meine Verwandtschaft zu Dr. Johann Georg Kerner herleiten lässt. Denn ich habe einen Fund getan, eine nahezu unglaubliche Entdeckung gemacht:

Georg Kerner, Bruder des bekannten Dichters Justinus Kerner aus dem Württembergischen, war ein maßgeblicher Freiheitskämpfer Deutschlands. Er stürzte sich in das Leben eines Rebellen, sagte sich los von herrschenden Konventionen und Familienbanden und ging zu Fuß nach Paris, um dort als Chronist der Französischen Revolution zu arbeiten. Sein lebenshungriges und einsatzbereites Wirken im bahnbrechenden Geist der Zeit führte ihn, häufig zu Pferde, über viele Länder am Ende seines kurzen Lebens nach Hamburg. Enttäuscht vom Ausgang der Revolution, wandte er sich nach langen Jahren des Kampfes und der Entbehrungen in seinem ursprünglichen Engagement als Arzt den Armen und Kranken zu. Die konservativen Kaufleute in Hamburg ließen ihn nicht in ihren Reihen bestehen und schwiegen seine aufrührerische Seite gern tot. Als Arzt fasste er hier dennoch Fuß und heiratete Friederike Duncker, mit der er drei Kinder zeugte. Deren eine Tochter, Klara Kerner, wurde die Frau vom Urgroßvater meines Vaters. Deren beider Sohn, Arthur Duncker, hat nun im Anhang der oben erwähnten Tagebücher seiner Frau Anna Duncker, Tochter des Hamburger Malers Otto Speckter, nach ihrem Tod den Hergang der Ehelichung seiner Eltern und Großeltern beschrieben, sodass ich jetzt weiß, dass ich eine Ur-Ur-Urenkelin von Dr. Johann Georg Kerner aus Württemberg bin. Beschämt gestehe ich, diese Tatsache erst jetzt in mein waches Bewusstseinsfeld gerückt zu haben.

Noch niemals war ich derart berührt von irgendeinem verwandtschaftlichen Bezug. Schon war mir meine Herkunft aus dem hanseatischen Gewerbe nicht unangenehm und verursachte zeitweise gar einen geheimen Stolz. Aber zugleich wirkte dann immer eine Vorsicht mit, die mich zum Innehalten aufforderte. Wusste ich doch zu gut, mit welcher Vehemenz sich meine hanseatischen Ahnen oftmals gerade gegen das wandten, was mich zieht und treibt, nämlich die geistige Freiheit der Menschen. Mit dem Wissen um die oftmals radikal antisemitische Haltung der Hamburger während der NS-Zeit ist meine Vorsicht noch gewachsen. Selbst die Dynastie der Künstlerfamilie Michael Speckter, die in Hamburg und darüber hinaus einst zu beträchtlichem Ansehen avancierte, war in ihrer Lebensauffassung und -haltung wie die Familien Duncker und Crasemann konservativ und bewegte sich trotz ihrer talentierten Künstlerpersönlichkeiten Otto, Erwin und Hans Speckter nicht aus dem einengenden Schutz eines betont christlichen Milieus heraus. Und nun ist da plötzlich eine Ader in meiner Ahnenreihe von ganz anderer Qualität. Auf der Stelle möchte ich sie eine Hauptschlagader nennen, so sehr beflügelt mich die Entdeckung der Verwandtschaft mit diesem Rebellen. Mir ist, als hätte ich eine Goldmiene gefunden, die mir eine lebenslang im Verborgenen gehegte Vermutung bestätigt und die ich nun endlich bewahrheitet sehen darf. Das Feuer in meinen Adern, das für die ungehinderte Entfaltung eines jeden Menschen brennt, hat in mir selbst Geschichte!

Ich will den Blitzschlag nicht in bloßer Verehrung und eitlem Stolz auf die Sippe löschen, sondern mich entzünden lassen und seine Glut für meine eigenen Bemühungen fruchtbar machen.

Ich weiß warum

Der Ahnensog wurde sorgfältig gezimmert hinter einem Schild kalter Herzen. Seit 2000 Jahren vergiftet er unser Blut und unterwandert unser Dasein. Er ist eine Realität, die nicht zu leugnen oder zu überlisten ist, schon gar nicht durch Ausblendung. Es sind nicht nur passable Tricks, die uns in seinen Wirbel hinein steuern. Der Ahnensog ist ein uraltes Instrument der ignoranten Herrschaft unserer christlichen Kirche. Das herzlose Phänomen, geschmiedet aus geplanter Erniedrigung, drängt uns in seine tödliche Abwärtsbewegung und schweißt uns in diese bewusst gelegte Schlinge wie in einen bleiernen Schwamm rückhaltlos ein. Ich weiß, warum ich mir Zeit nahm und mich in das Beschreiben dieses Sogs stürzte. Ich weiß, warum ich ihm jahrelang nachspüren musste, um über ihn zu berichten, ihn zu umschreiben, ihn aufzudecken und immer weiter in mir zu erforschen. Ich weiß genau, warum ich ein Buch schrieb, das den Titel Ahnensog trägt.

Die wiederholte Ausrottung des Großen Weiblichen hat die Menschheit in eine desaströse Wirrnis manövriert, die ihr jetzt über den Kopf wächst. Ist es denn überhaupt möglich, zu entkommen? Ist der wiederholten Vernichtung unserer Wurzeln noch etwas entgegen zu setzen? Sind unsere Seelen nicht schon verseucht? Durch die über Jahrhunderte systematisch verleugnete Wahrhaftigkeit werden all unsere Bemühungen unterlaufen und kaum einer versteht, wie all dies zusammen hängt. Ich sehe und spüre, wie wir getrennt sind vom Urweiblichen, das unzerstörbar ist wie das Sein. Vielleicht sind zwar seine Vertreterinnen, die weisen Frauen, vernichtet worden, nicht aber seine Wurzelenergie. Zurzeit lebt sie als Rächerin unter uns. Je stärker Verletzung und Vernichtung der Mater einher schreiten, desto dringender geriert sich die menschliche Sucht nach ihr. Der Materialismus wütet und nimmt beim Einzelnen wie auch im großen Stil selbstmörderische Züge an. Die Herzenergie des Großen Weiblichen ist aber nicht zu vernichten, da sie ja da ist. Sie bleibt und wartet. Schreibend habe ich mich ihrer Verschleierung gewidmet, mich durch das Dickicht von Fallen und Verstellungen gewühlt. Nun ist das Buch abgeschlossen und in unerwarteten zeitlichen Abständen ergreifen mich reaktive Wogen.

Gerade immer dann, wenn du glaubst, nun ist es gut, nun darf das Leben leichter werden, schleicht sich unmerklich ein Teilchen des beleidigten Sogs in dein Blut und lenkt das Herz erneut in seine fatale Richtung. Verkleidet in eine Facette der persönlichen Geschichte färben sich deine Bilder und Handlungen. Die eigenmächtige Bewegung verstärkt sich, ufert aus, reißt dich mit und hat dich wieder in ihren giftigen Klauen. Du bemerkst nicht, dass es der heranrauschende Ahnensog ist, der dich in seinen vernichtenden Strudel zieht. Nein, schlimmer. Denn Du selbst bist sein Erfüllungsgehilfe. Du bist diese Verdrehung, deine eigene Verleumdung. Eine durch dich selbst erwirkte Versklavung deines Wesens erklimmt unmerklich die Festung deiner Bemühungen. Hinterhältig, jählings und von teuflischer Sicherheit.

Diese Gegenbewegungen zu durchschauen und mich ihnen zu stellen, ist mein Auftrag. In seiner Herausforderung nehme ich eine Kraft wahr, die mich durch all meine Erfahrungen zwingt und der ich mich nicht entziehen will.

Ostern

Die Zeit von Kreuzigung und Auferstehung, hohe Feiertage der Wandlung. Zum Osterfest ruft paradoxerweise unsere christliche Kirche auf, die den Menschen seit 2000 Jahren am wertvollen alchemistischen Schatz innerer Erkenntnis bewusst hindert. Aber wir dürfen uns wandeln! Lasst uns in den Riss gehen, uns in Schmerz und Angst einfach fallen, am Grunde der Ausweglosigkeit in Hingabe vergehen und auf geheime Weise ein Wunder erleben: Metamorphose, Erneuerung, von Qual zu Frieden, von Leid zu Freude, von Hass zu Liebe, von Dunkelheit zu Licht. Wir entzünden ein Feuer zur Verbrennung von Zweifel, Argwohn, Missgunst, Verachtung, Schuld und Scham. Heilige Asche, die übrig bleibt, wenn der Müll vom Feuer der Erkenntnis verbrannt ist. Wir feiern Ostern die Einsicht in unser lebenslanges Sterben, die dauernde Erfahrung von Tod und Geburt.

Dieses Jahr wurde ich erstmalig bewusst Zeuge von der Tatsache meiner Blutsverwandtschaft mit Dr. Georg Kerner, dem deutschen Freiheitsrebellen aus der Zeit der französischen Revolution.1 Am Ostersamstag, dem

7. April 2012, war sein 200. Todestag, am Ostermontag, dem 9. April, sein Geburtstag. Der Historiker Dr. Andreas Fritz, wie die Familie Kerner aus dem Württembergischen, hat sein Interesse an dem Arzt und Revolutionär umgesetzt und eine wunderbare, umfangreiche Biografie über dessen Leben und Wirken verfasst.2 In Anbetracht der Zeitgleichheit des Abschlusses von Ahnensog und der Entdeckung dieses politischen Geistes aus meiner unmittelbaren Ahnenreihe durchflutet mich ein geheimnisvoller Zusammenklang. Immer wunderte ich mich über meinen inneren Drang nach Veränderung und Freiheit. Mein Liebster und Gefährte, der Georg Kerner Ostern spontan im Internet aufstöberte und hoch erfreut seine geistige Bruderschaft zu ihm entdeckte, rief unbekannterweise Dr. Fritz an, der sofort bereit war, über sein Buch zu sprechen. Just zu diesem genauen Zeitpunkt hatte er Georg Kerner zu dessen 200. Todestag eine ganze Seite in der Hamburger Wochenzeitung, DIE ZEIT, gewidmet. So konnte ich mir umgehend diesen fein verfassten Artikel besorgen und meine Neugier vertiefen. Ich trage also ein bodenständiges Verlangen nach Freiheit und Wahrhaftigkeit in mir und konnte nun meine Zweifel an Richtigkeit und Absicht zur Veröffentlichung von Ahnensog eher bändigen. Die Aufarbeitung meiner persönlichen Geschichte als Anstoß für andere zur Aufarbeitung ihrer eigenen Geschichte war kein ausgedachtes Vorhaben, sondern ein in meinen Wurzeln begründetes Anliegen. Könnte durch meine Niederschrift möglicherweise breiteres Licht fallen auf ein Leben jenseits von Verstrickung und Moral, was mein tiefster Wunsch wäre?

Die Demokratisierung Deutschlands war der große Traum Dr. Georg Kerners. Als er sich nach etlichen Jahren eines risikobereiten Lebens in seinem Bestreben als gescheitert betrachtete, wandte er sich dem stofflichen Leib der Menschen zu, was mein Herz berührt, ist er sich doch im Kern treu geblieben. Die Zeit war noch nicht reif für eine geistige Revolution, was er bitter erkannte: Ich wollte der Bekämpfung der geistigen Gebrechen der Menschheit mein Leben weih(e)n, es gelang mir nicht. Nun kehre ich zur Bestimmung meiner Jugend zurück, zur Bekämpfung körperlicher Gebrechen der Menschen.3 Bis heute hat sich seine Vorstellung von der Gleichheit der Menschen nicht bewahrheiten können. Im 21. Jahrhundert scheint es mir nicht mehr zeitgemäß, in politischen Aktivitäten und engagierten Projekten eine Möglichkeit zu Wandlung und Veränderung der Menschheit zu sehen. Natürlich dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass die Massen der Armen weiterhin keine Existenzberechtigung haben und dass eine Umverteilung der materiellen Güter unserer Erde ausreichen würde, alle Menschen zu ernähren. Dennoch müssten wir zur Erlangung von Freiheit heute nach Abschluss des 20. Jahrhunderts anders als bisher ansetzen. Die Möglichkeiten von Physik, Philosophie und Medizin des 21. Jahrhunderts sind integraler Natur und entfalten sich jenseits von ehrgeizigen religiösen, politischen und sozialen Plänen. Was bleibt uns im einzelnen? Mir? Als Frau? Als Künstlerin? Welcher Art werden sich in diesem neuen Bewusstsein Kunst, Literatur, Musik, Medizin, Psychologie, Philosophie zeigen? Werden die Äußerungen auf diesen Feldern sich bald überhaupt noch mit den althergebrachten Bezeichnungen identifizieren lassen? Wird es nicht viel eher bald wesentlich übergreifende Äußerungen geben, die keine Klassifizierungen mehr zulassen? Werden damit dann vielleicht die guten alten Felder unserer westlichen Philosophie-, Religions- und Kulturgeschichte in ihrer Spezifizierung verblassen und am Ende möglicherweise ganz verschwinden? Wie kann ich das starke Erbe von Dr. Georg Kerner in mir entfalten und mit der ahnenden Kraft seines prophetischen Instinkts wirksam umsetzen?

1 siehe Beflügelt, Seite 10

2 Dr. Andreas Fritz, Georg Kerner (1770-1812): Fürstenfeind und Menschenfreund, eine politische Biografie, Liberté Verlag, 2002

3 ebenda, S. 577

Frühlingsgruß

Der Mai macht den Erwartungen alle Ehre. Das junge Grün der Blätter entfaltet sich und lässt mich still werden. Lichtdurchflutete Räume, Leichtigkeit, hell, nicht grell, warm, nicht heiß, frisch, nicht kalt, luftig, nicht stickig, die Atmosphäre freundlich, Menschen lächeln. Sympathie breitet sich aus. Dennoch kann meine Seele nicht entspannen. Zu oft schon brach nach dem schönen Monat Mai eine kalte Dunkelheit herein, die das Betörende einfach zunichte machte. Dichte Wolken, endlose Regenfälle und kühles Grau verwandelten den Maiflaum in eine grüne Hölle. Die Sehnsucht nach Wärme und Licht wurde gebrochen, die freudige Erwartung eines beglückenden Sommers enttäuscht.

Noch vor wenigen Jahren erarbeitete ich in Wort und Bild den Zauber der Rotbuche im Frühling. Diese Riesen unserer Kulturlandschaft bilden für mich den Gipfel unaussprechlicher Schönheit. Lebenslang könnte ich in bewundernder Hingabe mein Lied über sie singen. Das Licht des schon leicht rötlichen Aderwerks mischt sich mit dem des erwachenden Blattgrüns zu feinsten Farbtönen, welche meine Seele leise schimmernd umspielen. Gleichwohl spüre ich eine Gefahr, die mein tiefes Empfinden für die mich umfangende Rotbuchenschönheit schmälert. Nicht Demut und schlichte Freude erfüllen mein Herz, sondern ich lasse mich hinreißen. In sentimentaler Überwältigung werde ich zum schwelgenden Bewunderer ihrer farbigen Erhabenheit und erlebe zugleich meine Kleinheit. Diese überzogene Begeisterung erzeugt Leid. Sie entspringt der Sehnsucht aus der Zeit der Romantik, in der die Natur mit der Größe Gottes gleich gesetzt wurde. Die Unterwürfigkeit unter Gott dem Vater wurde unbewusst verlagert. Der geistige Aufbruch der Romantiker ist bis heute nicht eingelöst worden. Ihre revolutionäre Bewegung hat sich in einem falsch verstandenen romantischen Nebel abgesetzt und wuchert unter einer kalten Decke des modernen Menschen der Ratio. Die schwülstige Weise sentimentaler Freude verbirgt eine schwer zu ertragende Sehnsucht und erzeugt ein seelisches Vakuum.

Hier haben Drogen oder gleichwertige Ersatzbeschäftigungen leichtes Spiel. Auf den Dorffesten beim Tanz in den Mai muss gesoffen werden. Das reaktionäre Klientel dieser Feiern hält zusammen und lässt intellektuelle Städter nicht gern unter sich bestehen. Allerdings ist nun die Ausweichlösung, diesen Abend zum Beispiel in einer sehnsüchtigen Gemeinschaft von spirituellen Tänzern zu verbringen, eine magere Entgegnung. Das hier so sinnvoll erscheinende Gebot einer Tanzmeditation, nicht zu sprechen und keinen Alkohol zu trinken, wird an diesem Tage fallen gelassen. In dieser vielleicht wohlgemeinten Alternative vernehme ich Verdrängung. Das notwendige Verstehen unserer verkommenden Feiertage wird übergangen. Die Aufhebung der Regeln einer geistvollen Aktivität zugunsten von Vergnügen empfinde ich wie eine Lüge. Eine Tanzmeditation alternativ für unsere traditionellen Festtage einzusetzen, geht an der Kunst zu feiern vorbei. Können wir den Tanz in den Mai zurückholen? Wenn ich mich enttäuscht mitten aus dem Geschehen davon mache, fällt mir das Gleichnis aus der Bibel ein, in dem Jesus die Händler aus dem Tempel trieb.

Müssen wir uns dem Schmerz über Aufweichung unserer geliebten Fest- und Feieratmosphären von anno dazumal nicht ernsthaft widmen? Natürlich war früher nichts wirklich besser als heute. Hinter dem Tanz in den Mai lauerte schon zu Zeiten von verpflichtendem Kirchgang und verordneter Sonntagsheiligkeit das schlechte Gewissen armer Sünder, das nur mit viel Bier in ein kurzfristiges Tanzvergnügen zu verwandeln war. Was passiert in unserem Land, dass wir nicht mehr feiern können und sich zunehmend alle Feiern gleichen, und zwar derart, dass sie eben keine Feiern sind? Was ist es, dass ihnen ihr Wesens bestimmender Wandlungscharakter abhanden kommt? Verkappte Sehnsucht wird durch übermäßiges Speisen betäubt und im Alkohol ertränkt. Der Werteverlust unserer kirchlichen Fest- und Feiertage wird nicht bewusst reflektiert, sondern durch tausenderlei Angebote verkleistert oder wie häufig in der spirituellen Szene bedenkenlos ersetzt.

Was gibt es zu tun? Wohin führt mich meine Sentimentalität im Frühling? Wie begegne ich der rumorenden Unerträglichkeit des Daseins auf der angeblichen Sonnenseite als Wohlstandsbürger und zugleich meinem Verlangen nach echten Feiern? Es bleibt, dass die Schönheit der Rotbuche im Frühling mich magisch anzieht und betört. Eher will ich nicht ruhen, bevor es mir nicht gelingen wird, mich der silbernen Kraft ihres aufrechten Stammes in furchtloser Achtsamkeit zu nähern, mich freudig und ohne Trauer von ihrer gewaltigen tausendblättrigen Krone umschließen zu lassen, in ihr das samtene Geräusch des Frühlingswindes, das sanfte farbige Grau ihres rotgrün vibrierenden Blätterflaums ohne Sentimentalität leise zu erspüren und in liebender Hingabe ihren einzigartigen, mich stärkenden Klang zu vernehmen. Das Ringen um Wahrhaftigkeit lenkt mich in den Verzicht.

Gemütlich

Meine Unruhe ist groß, fast gewalttätig gegen meine nach Entspannung dürstende Seele.

Mach’ es dir gemütlich.

Aber die Unruhe ist groß! Ihr Nagen fühlt sich nicht bloß nach innerer Unzufriedenheit an, etwa nach unterdrückter Einsicht in den unabdingbaren Verfall des Körpers, den ich hinnehmen muss. Oder nach zwanghafter Selbstbeherrschung, entsprechend der Aufforderung, mich in altersgemäßer Bescheidenheit und Demut zu üben, widerspruchslos einfach leiser zu treten. Zwar fühle ich mich angehalten, einer angemessenen Altersweisheit nachzukommen, wenn es um emotionale Reaktionen geht, um Kritik, Ängste, lamentierende Befürchtungen, euphorische Ideen, Meinungen oder Beurteilungen. Aber soll dies nun für mich heißen, den Mund zu halten? Wenn doch die Erde stirbt, die Menschen sich aus Angst zunehmend selbst zerstören, Ausgrenzung, Gewalt und Kriege kein Ende nehmen, anfänglich sich liebende Paare in ohnmächtige Entfremdung geraten, sich rabiaten gegenseitigen Vorwürfen ausliefern, häufig in Streitsucht, Trennung und Isolation enden? Kann ich meine privilegierte Zufriedenheit einfach genießen und verteidigen? Wozu denn? Ist in der Anpassung an eine fehlgeleitete Gesellschaft noch ein Sinn zu erkennen? Wo ist mein Platz, meine Verantwortung? Wo ist die Stille, welche automatisch eintrat, als ich mich mit Ahnensog beschäftigte? Ich brauchte mich nur an den Schreibtisch zu setzen, und schon wurde ich von einer tiefen Ruhe beatmet. Es lief alles wie von selbst. Nun bleibt dieses Phänomen aus. Was ist es, das mir fehlt? Warum kann ich diese Art der Hingabe nicht weiterhin erleben? Warum nicht wie die Weisen zu jeder Zeit an jedem Ort? Warum meine Unruhe?

Mach’ es dir doch gemütlich.

Soll ich mich mit der Bürgerruhe am gemütlichen Abend begnügen? Ich will es nicht. Es ist etwas im Entstehen. Es brodelt ohne Form, geriert sich im Ungefähren und erzeugt eine mich beängstigende Unruhe, durchzogen von erweiternden Vorstellungen, Möglichkeiten und Fetzen taufrischer Erkenntnisse. Fehlt mir der Schlüssel für meine anstehende Arbeit? Neuartige Ideen kochen in mir hoch. Zweifel am Bekannten werden unerträglich. Warum nur. Zweifel hatten in unserem Kulturkreis traditionell keinen Wert. Anders Denkende wurden in alten Zeiten ausgegrenzt, eingesperrt, der Ketzerei beschuldigt, gefoltert, erhängt oder verbrannt. Bis heute wird der Zweifel von maßgeblichen Institutionen und auch in der Erziehung nicht gern gesehen, schon gar nicht gefördert. Blindes Vertrauen in die jeweils angesagte Moral wird erwartet oder verlangt. In den östlichen Ländern der Weisheitslehren dagegen wurde traditionell zum Zweifel erzogen. Das Wissen um den Schein alles sinnlich und gedanklich Erfahrbaren galt als ehrbares Gedankengut und das Ringen um dieses Wissen hatte in der Erziehung einen großen Stellenwert. Ohne Aufruhr und Zweifel keine Einsicht, ohne Einsicht keine Erkenntnis, ohne Erkenntnis keine Wandlung.

Der Funke ist gesprungen. Im betrachtenden Verstehen während des Schreibens zieht sich meine Unruhe zurück. Meine Gedanken wandern zu Franz Jung. In seiner Autobiografie Der Weg nach Unten zitiert er als Einstieg den Mystiker Thomas von Kempen aus dem 15. Jahrhundert Warum suchst Du Ruhe, wenn Du zur Unruhe geboren bist? Auch Jesus lehrte die Reibung mit der Realität als notwendige Erfahrung: Ich bin gekommen, Euch zu bringen Feuer und Schwert. Ich werde dem Sog der ansteckenden und verbreiteten Sucht nach der Deutschen Gemütlichkeit in mir widerstehen. Meine Unruhe ist die Voraussetzung für die Infragestellung von Allem. Ich erkenne die Pflicht zum Ungehorsam und zum Zweifel. Wie soll ein System sterben dürfen und sich erneuern können, das vornehmlich auf konservierende Ruhe aus ist? Die Gemütlichkeit von Rentnerdasein, Urlaub und Feierabend verrät sich im Allgemeinen selbst im Ausleben der zuvor angehaltenen Süchte. Ich lasse mich von der Gewalt meiner Unruhe schütteln, verwirren und vernichten. Für das Chaos und das, was ich noch nicht weiß.

Lachen in Schwarz-Rot-Gold

Fußballfieber. Europameisterschaft. Flächendeckendes Interesse fegt die Straßen leer. Die Notwendigkeit, aufrichtig zu sein beim Schreiben, wird angefacht durch das Gähnen eines heute kaum besuchten Cafés, sonst bunter Nachmittagstreff nach der Arbeit. Nicht nur schwarz-rot-goldene Fähnchen, T-Shirts, Schwitzbänder, Becher, Mützen und Sticker werden erworben, auch große Flaggen für die Fahnenstange vor dem Haus, ganze Kostüme und Unterwäsche in den Nationalfarben, um sich im schalen Wirgefühl zu stärken, zu verbünden und abzugrenzen. Die eigene Nichtidentität wird mit schwarz-rot-goldener Schminke übertüncht. Unter dieser Maske ist dann bis hin zu rassistischen Phantasmen allerhand erlaubt: saufen, brüllen, hassen, besiegen, vom Platz fegen, zermürben. Hohle kritische Töne der Presse lassen zwar Bedenken in puncto Armut, Ausbeutung, Folterbereitschaft in den Gefängnissen u. ä. in einem Gastgeberland der EM mit in ihre Berichterstattung einfließen. Auch durchdenkt der eine oder andere Politiker seine Teilnahme an den Spielen in einem derartigen Land. Aber letztlich wird das große Ereignis wieder einmal herhalten für die taktierende Beschwichtigung der Europäer, insbesondere der gute deutsche Fußball für das gefährliche Argument, dass nun endlich auch das Deutsche Volk wieder stolz auf sich sein dürfe. Dass nicht wenige der schwerreichen deutschen Fußballstars, Sympathieträger des Exportweltmeisters Deutschland, bedenkenlos Werbung für Alkohol, die Bildzeitung u. a.