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»Sophia Klink schreibt über majestätische Bären und Vulkane, sie schreibt aber auch über eine Natur, die mit dem bloßen Auge nicht sichtbar ist, über Plankton, Proteine, Hormone, und sie findet dafür eine bildmächtige Sprache.« Marion Poschmann Das aufregende und sprachlich brillante Romandebüt von Sophia Klink: Klimawandel und Überfischung bedrohen die Lachsbestände des Kurilensees. Fasziniert von der magischen Wildnis der Kamtschatka versucht die Biologin Anna zu retten, was zu retten ist. Jeden Sommer verbringt die Biologin Anna auf der russischen Forschungsstation am Kurilensee, mitten in der Wildnis Kamtschatkas. Sie nimmt Wasserproben, zählt Lachse und Phytoplankton. Der Klimawandel bedroht die Fischbestände, das Forschungsteam soll eine Empfehlung aussprechen: für oder gegen eine Phosphatdüngung des Sees. Anna liebt die Schönheit des Kurilskoye, ihre Streifzüge mit Vova, der jeden Bären beim Namen nennt, die Abende am Lagerfeuer mit Yulia, deren Publikationsliste genauso einschüchternd ist wie ihre Trinksprüche, die Diskussionen mit ihrem Chef Fjeodor, der den Unmut der Frauen auf der Station auf sich zieht. Anna fürchtet, eine Düngung könnte das ganze Ökosystem aus dem Gleichgewicht bringen. Und doch wird der Kurilensee ohne menschliches Eingreifen nicht mehr derselbe bleiben – am Ende des Sommers müssen sie die Entscheidung treffen. In Sophia Klinks Debüt legen sich die rationale Sprache der Wissenschaft und emotionale Naturbetrachtung wie Linsen übereinander, durch ihr poetisches Okular erscheint das Mikrosystem Kurilensee in vielfacher Vergrößerung und lässt so globale Phänomene wie die Klimaerwärmung und schwindende Lachsbestände greifbar werden. Zusammen mit Klinks wahrnehmungsformender Sprache und der psychologisch spannenden Figurenkonstellation wird »Kurilensee« zu einem literarischen Abenteuer, einer aufregenden Spielart des Nature Writing, und schärft den Blick für die Bedrohung des Planeten, die Ambivalenzen der Wissenschaft und die Schönheit der Natur. »Sophia Klinks Sprache ist wie ein Mikroskop, unter dem die Zusammenhänge des Lebens vergrößert und scharfgestellt werden. Wer dieses Buch gelesen hat, wird anders auf die Welt und ihren feingliedrigen, gefährdeten Reichtum blicken.« Isabelle Lehn
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Seitenzahl: 237
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Sophia Klink
Roman
1. Auflage 2025
© Frankfurter Verlagsanstalt GmbH,
Arndtstraße 11, 60325 Frankfurt am Main, [email protected]
Alle Rechte vorbehalten. Der Verlag behält sich ebenfalls
das Text- und Data-Mining nach § 44b UrhG vor,
was hiermit Dritten ohne Zustimmung des Verlags untersagt ist.
Lektorat © Frankfurter Verlagsanstalt
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler
Herstellung: Laura J Gerlach
Satz: psb, Berlin
eBook: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
eISBN 978-3-627-02351-5
Mai
Juni
Juli
August
September
Alle Häuser stehen noch. Sogar die Schleuse hat den letzten Winter gut überstanden. Der See ist eisfrei, nur am Spülsaum liegen noch ein paar Schneebrocken verstreut. Das Haupthaus muss frisch gestrichen werden, die Beete neu umzäunt. Der Wind weht so stark, dass wir morgen das Windrad anwerfen können, dann haben wir Strom für die Laptops und Mikroskope.
Vova und ich laufen immer wieder auf die Schleuse hinaus. Die Bären haben ein paar Latten abgetreten, aber Vova sagt, das lasse sich leicht reparieren. Solange die Unterwassertore nicht beschädigt sind, können wir alles verzeihen.
Wir schauen flussabwärts, als könnten unsere Blicke die Lachse anlocken. Ein paar haben wir schon gesehen. Silbrige Nerkas und Gorbuschas, die sich im Wasser nur als schwache Streifen abzeichnen. Sie sind früh dran.
Fjeodor sagt, das wird ein gutes Jahr werden.
Ich wäre mir da nicht so sicher.
Vova und ich drehen die Haupthähne auf, während Yulia kistenweise Kastenbrot in die Regale räumt. Perlgraupen, Butter, Äpfel. Buchweizen für ein halbes Jahr. Nur Fjeodor spaziert mit dem Fernglas über die Station, als gäbe es nichts zu tun. Der Kambalny südwestlich von uns trägt immer noch diese Rauchfahne über dem Krater. Wir streiten, ob es mehr oder weniger Rauch geworden ist im Vergleich zu letztem Jahr. Ich finde, dass es mehr geworden ist. Aber ich habe nur sechs Sommer zum Vergleich, längst nicht so viele wie Fjeodor und Yulia.
Da ist eindeutig eine Hexe am Werk, sagt Yulia, das kann sogar ich mit meinen alten Augen sehen. Fjeodor schneidet ihr sofort das Wort ab, weil er nichts von Hexen hören will. Ne govori glupostei! Du bist doch Wissenschaftlerin, wie kannst du da an solche Märchen glauben?
Fjeodor sagt, die Wahrscheinlichkeit sei gering, dass der Kambalny in naher Zukunft wieder ausbricht. Letzten Frühling, das war schließlich nur eine Ascheeruption, und siebenhundert Jahre davor sei ja auch nichts passiert.
Mich beunruhigt mehr das pflanzliche Plankton. Vom Pier sieht der See so klar und nährstoffarm aus, als würde keine einzige Algenzelle darin wachsen. Aber natürlich lässt sich aus der Sichttiefe nur bedingt auf das Algenwachstum schließen. Wie groß ihre Valven sind, welche Arten die Gemeinschaft dominieren.
Ich würde am liebsten sofort eine erste Wasserprobe nehmen. Immerhin hängt von den Algen ab, was diesen Sommer entschieden wird. Aber Yulia sagt, wir sollten die Gelegenheit nutzen und lieber erst Ordnung in die alten Daten bringen, bevor die richtige Forschung beginnt.
Unser Nasslabor sieht aus, als hätten Yulia und ich es gestern erst verlassen. Überall liegen Strichlisten herum, Bechergläser mit weißen Kalkflecken. Ich finde sogar eine Tasse von Yulia, in der noch ein alter Teebeutel klebt. Ich ziehe ihn an der Schnur vom Tassenrand. Eine riesenhafte Panzeralge, braun und mit poröser Theka, die sich an ihrer Geißel dreht. Ich denke an die Millionen toter Organismen, die wir im September ungezählt zurückgelassen haben. Über hundert braune Fläschchen, in denen eine ganze Fauna tot am Boden liegt: meine Kieselalgen, Yulias Zooplankton.
Ich bringe es nicht übers Herz, die Planktonproben wegzuschütten, obwohl ich weiß, dass Yulia mich schimpfen wird. Was willst du mit dem alten Zeug, Anna? Wir haben doch signifikante Ergebnisse bekommen. Ein paar Datenpunkte mehr werden uns da leider auch nicht weiterhelfen.
Ich weiß, Yulia. Aber ich würde die alten Proben trotzdem nicht so schnell verwerfen. Nur zum Vergleich, falls wir ähnlich schlimme Daten wie letztes Jahr bekommen. Die richtige Empfehlung kann auch leicht die falsche sein, wenn es darum geht, tonnenweise Chemikalien in einen See zu kippen. Wir haben viel zu wenig unter Kontrolle, was diesen Sommer mit dem Kurilskoye passieren wird. Ich will auf alles vorbereitet sein.
*
Fjeodor und ich hacken Holz, während Vova Stämme aus dem Unterholz zieht. Das Windrad läuft stabil. Unsere beiden Häuser und das Nasslabor sind warm. Aber es schadet nicht, die Holzvorräte aufzufüllen, solange es noch keine Lachse gibt, die Vova zählen und untersuchen muss, noch keine Planktonproben für Yulia und mich.
Im Frühling wissen wir nie, wie lange die Wetterlage hält. Der Wind treibt regenschwere Wolken vom Ochotskischen Meer herüber. Dann scheint wieder die Sonne. Das Wetter kann dreimal am Tag unvorhergesehen wechseln. Windstille wäre am schlimmsten, dann müssten wir alles Öl für den Generator aufsparen und das frische Holz verheizen, bevor es auch nur im Ansatz trocknen kann. Aber zum Glück sieht es nicht danach aus.
Mein Beil scheitert an den dünnsten Scheiten, so sehr bremsen es die Fasern. Vor allem das Schwemmholz ist bis ins Mark durchfeuchtet. In den oberen Waldwiesen ist fast nichts mehr zu holen, kein trockenes Bruchholz, das wir sofort verheizen könnten. Flussabwärts sind ein paar Zwergkiefern zusammengebrochen, aber längst nicht so viele wie sonst. Schlechtes Zeichen, sagt Vova, wahrscheinlich hat diesen Winter kaum Schnee gelegen.
Auch am Seeufer finden wir nur verfaulte Stämme, die kreuz und quer liegen und die Uferwege blockieren. Vor allem die Landzunge am Flusskopf muss aufgeräumt werden.
Aufgeräumt, hat Yulia gesagt.
Zurückerobert, hat Fjeodor gesagt.
Als ob uns diese Ufer jemals gehören könnten.
*
Im Bärenzaun fließt immer noch kein Strom. Vova hat mir das Flicken überlassen, obwohl der Zaun ihm zugeordnet ist. Aber Vova hat nie etwas dagegen, wenn ich seine Arbeit übernehme. Nicht wie Fjeodor, der grummelt, wenn Yulia und ich beim Holzhacken helfen, eigenhändig unsere Mikroskope zerlegen, um eine Diode auszutauschen. Dabei sollte er froh sein, dass wir uns selbst organisieren, einspringen, wo es nötig ist.
Ich taste die Drähte am Flussufer ab, folge dem Zaun über die Landzunge, die den Fluss vom See trennt. Immer wieder schneide ich ein Stück von der Kupferspule, um die Kontakte zu verstärken. Ich schiebe Äste zur Seite, die den Stromkreis unterbrechen könnten, knicke sie ab, wenn es nicht anders geht. Nur eine Frage der Geduld, bis der Strom wieder fließt. Ich will zurückkommen und sagen, dass alles funktioniert.
Ich folge den Holzplanken in die Waldwiesen hinauf. Die Sträucher hier sind noch braun und struppig. Steinbirken und Zwergkiefern, die mir kaum bis zur Schulter reichen. Stängel von Blaubeeren, Rauschbeeren, Siberian Mountain Ash.
Von den Hängen aus kann ich alle acht Häuser überblicken. Haupthaus, Speisesaal, weiter hinten am Ufer Bootshaus und Banja, das Haus von Vova und mir gleich neben dem Nasslabor. Es sieht aus, als würden unsere Häuser dem See im Nacken sitzen, sich in diese Kuhle ducken, um ihn und den Fluss so unbemerkt wie möglich zu bewachen. Ich sehe Vova sägend neben dem Schleusenhäuschen. Yulia, die einen Eimer zum Student's House trägt.
Ich verlasse die Holzplanken, obwohl die Erde immer sumpfiger wird. Zwischen Windrad und Plumpsklo 2 finde ich eine kritische Stelle. Die Drähte haben sich aus den Ösen gelöst, vielleicht hat ein Tier oder der Schnee sie zu Boden gedrückt. Ich taste mehr nach den Drähten, als dass ich sie sehe, versuche nicht auf die frischen Triebe zu steigen, die Lupinen und Doldenblütler werden. Aber es ist schwer, mit Gummistiefeln auf Zehenspitzen zu gehen. Die Erde unter mir zieht sich zusammen. Ich denke an die Poren, die ich mit jedem Schritt verschließe, an die Fadenwürmer und Schlammspringer, die nicht viel größer als meine Planktonzellen sind. Ich bewege mich langsam, als könnte ich dadurch den Druck auf die Erde minimieren. Wie weit müsste ich mein Gewicht verteilen, um nicht einmal das Gras unter meinen Füßen zu verletzen?
*
Vorhin haben Yulia und ich grob durch die ersten Samples gescreent. Die Algengemeinschaft ist normal für Anfang Mai. Die Kieselalgen dominieren wie immer, Aulacoseira subarctica an allererster Stelle.
Gutes Zeichen, ich habe schon das Schlimmste befürchtet. Die Daten letzten Herbst haben so sehr darauf hingedeutet, dass etwas aus dem Ruder läuft. Als würde sich das ganze Nahrungsnetz verschieben, die Nährstoffe aus den Lachskadavern nicht bei den Algen ankommen.
Yulia sagt auch, warten wir lieber die neuen Daten ab. Vielleicht sind das ja nur die üblichen Schwankungen gewesen. Ich hoffe, sie hat recht und das Ökosystem hat sich über den Winter wieder gefangen.
*
Der Pier steht fast unter Wasser. So hoch haben wir den See selten erlebt. Wenn ich abends auf der Wasserleiter sitze, scheinen die vertäuten Boote über mir zu schwimmen. Nur ein paar Meter fehlen, dann würde der See die Wolken berühren. Sie hängen so tief, der ganze See scheint zu rauchen. Vielleicht erinnert er sich an den Vulkan, der er früher gewesen ist. Nur hat sich dieser Vulkan in sein Negativ verkehrt. Die Hänge fallen steil nach unten ab, laufen unter Wasser immer weiter aufeinander zu und bilden an der tiefsten Stelle, dreihundert Meter unter uns, einen perfekten Kegel.
Ich weiß nicht, wie lange es dauert, dass aus einem See ein Berg wird und wieder ein See. Manchmal meine ich es wie im Zeitraffer zu sehen: einen dunklen Fleck weit draußen. Eine Insel, die sich aus dem See erhebt. Die Insel wird größer, bäumt sich zu einem riesigen Vulkan auf. Wasser strömt von den Hängen. Das Magma schießt in einer gewaltigen Eruption bis in die Stratosphäre. Die Lava verteilt sich, bis nur eine leere Kuppel übrig bleibt. Am Ende stürzt die Magmakammer in sich zusammen, wie damals vor mehr als achttausend Jahren.
Wie oft verkehrt sich eine Landschaft in ihr genaues Gegenteil? Vielleicht wird der Kurilensee unendlich oft ein Berg werden und dann wieder ein See. Man müsste alle Landschaften, die es hier jemals gegeben hat, übereinanderlegen. Vielleicht heben sich dann alle Täler durch Berge auf, und alle Berge durch Täler. Zurück bliebe nur eine glatte Fläche.
*
Yulia ist schon um halb sechs wach und bereitet die Kascha für alle vor, während Fjeodor die ersten E-Mails schreibt. Vova und ich kommen um halb acht dazu. Dabei könnten wir viel länger schlafen. Keine Morning Lecture, keine Studierenden, die auf uns warten. Aber die Uhrzeit hat sich so eingespielt, dass ich noch vor unserem Wecker aufwache, egal, wie müde ich bin.
Der Speisesaal ist viel zu groß für uns. Dafür haben wir Kastenbrot in Hülle und Fülle. Sogar Tomaten und Gurkenscheiben dürfen wir uns nehmen, so viele wir wollen. Wir sitzen um den kleinen Tisch in der Mitte, wie konzentrierte Kartenspieler, schon in Fischerjacken und Gummistiefeln, weil es gleich hinaus zur Schleuse geht. Der Hibiskustee ist immer noch zu süß. Dabei versuche ich, den Zucker jeden Morgen schwächer zu dosieren, ohne dass es auffällt.
Schweigend löffeln wir den heißen Brei, auf dem die Butter zu einem See zerläuft. Yulias Kascha ist klumpig. Ich kaue auf diesen Klumpen, taste die harten Stellen mit der Zunge ab. Grießnester, die sich am Gaumen in immer kleinere Klumpen zerdrücken lassen, ohne je zu verschwinden. Ich muss an Fischeier denken, wie sie im Mund zerplatzen und sich rückstandslos auflösen. An Seifenmoleküle, die sich blitzschnell um Fettpartikel legen und dabei einen neuen Körper bilden.
Vova neben mir kaut ebenfalls, aber niemand traut sich, die Konsistenz zu kommentieren. Fjeodor schlingt so schnell und ohne ein Wort zu verlieren, dass Yulia ihn nicht aus den Augen lässt. Schmeckt's nicht, fragt Yulia grimmig.
Aber Fjeodor ist ein guter Lügner.
*
Die erste Banja. Wir haben den ganzen Nachmittag eingeheizt, nur eine der beiden Kammern. Ausnahmsweise keine Geschlechtertrennung. Ich wäre wie immer unbekleidet gegangen, aber Yulia hielt es für ganz unmöglich, nackt vor den Männern zu sein. Yulias Badeanzug ist violett und um die Brust seltsam gerafft, was in ihrer Jugend vielleicht modern gewesen ist.
Wir stehen um zwei Zinkwannen, in denen wir heißes und kaltes Wasser mit der Hand vermischen. Yulia und Fjeodor kichern und schöpfen sich gegenseitig mit den Schöpfkellen das Wasser über. Dabei sind sie sonst wie Hund und Katz. Dagegen komme ich mir von Vova seltsam distanziert vor. Wir stehen weit voneinander entfernt, ohne uns zu berühren. Als hätten wir nicht den ganzen Winter davon geträumt, zu zweit allein in der Banja zu sein. Vovas bärenartiger Körper ist voller Haarkringel, in denen sich der Schaum zu kleinen Sicheln formt. Ich schaue diese Schaumsicheln an, seinen Rücken, über den ich gerne streichen würde. Aber Vova dreht sich verschämt zur Wand. Ich könnte ihn necken, ihn in die Seite kneifen. Stell dich nicht so an! Vova würde rot bis zu den Haarwurzeln werden und mir ausweichen. Aber ich will ihn auch nicht in Verlegenheit bringen. Also bleibe ich auf meiner Seite der Zinkwanne und richte mich in dem Gefühl ein, Vova nahe zu sein, ohne ihn berühren zu müssen.
In der Schwitzkammer gießt Yulia einen Sud aus Birkenreisern auf. Ich schlage Vova rote Striemen auf die Haut, erst über die linke Schulter bis zur Hüfte, dann kreuzweise dazu. Die Rauten verblassen gleich wieder. Ich peitsche fester, um Vova zu zeigen, bis wann es sich gut anfühlt.
Du darfst ruhig fester schlagen, sage ich. Ich habe die Rückenmuskulatur eines Bären, ich habe das Recht, genauso behandelt zu werden wie du!
Aber Vova schlägt mich nur umso sanfter. Ich will dir nicht wehtun, sagt er, unter keinen Umständen.
Dann soll Yulia mich schlagen, sage ich, obwohl ich weiß, dass er mich niemals Yulias Behandlung überlassen wird, die Fjeodor mit den Birkenreisern malträtiert, als hätte sie schon lang auf diese Gelegenheit gewartet.
Ich schließe halb die Augen, konzentriere mich auf das heiße Holz unter meinen Handflächen. Meine Lippen lassen sich nicht mehr schließen. Ich atme eine Säule aus heißem Wasser. Kiefernharz, das wie Moschus berauscht. Mein Herz sackt leicht nach hinten weg. Ich denke an den Rauch über dem Kambalny. Vielleicht ist die Fahne wirklich stärker geworden.
Dann laufen wir hinaus auf den Pier, aber der See ist viel zu kalt zum Springen. Yulia und Fjeodor tauchen die Füße ins Wasser. Nur Vova und ich trauen uns auf die Wasserleiter. Wir hängen an den Sprossen, schreien vor Kälte, bis wir bis zu den Hüften im Wasser sind. Dann lassen wir los.
Die Kälte zieht mir die Haut über die Ohren, reißt meinen Körper nach unten, während mein Herz nach oben springt. Ich pruste. Meine Arme rudern noch schneller, als mein Puls schlägt. Vova japst und flucht neben mir.
Wir klettern sofort wieder nach draußen, während Yulia und Fjeodor uns die Handtücher entgegenwerfen, von irgendwelchen Vorschriften reden, die wir gerade übertreten hätten. Dabei ist Fjeodor der Erste, der im Sommer heimlich vom Pier springt und einen Herzstillstand riskiert. Offiziell ist es nur verboten, vor den Studentinnen vom Pier zu springen. Und selbst wenn wir bei dieser Kälte gesprungen wären. Vor der Saison erlauben wir uns vieles, was später verboten ist.
Yulia sagt immer, jeder Fisch sucht sich seine Nische, nur der Mensch ist überall. Obwohl das Sprichwort natürlich nicht stimmt. Unser Verhalten korreliert stark mit den Temperaturen. Acht Grad an der Oberfläche, vier Grad am Grund. Selbst wenn wir so tun, als wären wir hart im Nehmen. Von den abiotischen Faktoren werden wir genauso beeinflusst wie die Fische und Bären.
Nach der Banja sitzen Vova und ich auf der Bank hinter unserem Haus, die feuchten Haare unter dicken Mützen. Unsere Herzen schlagen tiefer. Wir essen Tschak-Tschak und lauschen in die Waldwiesen hinaus. Sogar der Fluss hat sich zur Ruhe gelegt. Es fühlt sich wie Urlaub an nach diesem Winter, der nur aus Besprechungen und Paperschreiben bestand. Den Abenden vor Vovas Küchenfenster in Petropawlowsk, wo die Lüftungsklappe immer offen steht und wir uns auf der schmalen Eckbank drängen, weil sich nur dort Hitze und Kälte angenehm vermischen. Außen minus zwanzig, innen dreißig Grad, weil sich die Heizung nicht regulieren lässt. Wir lesen und tippen, mal kurzärmlig, dann streifen wir wieder unsere Wollpullover über. Ein einziges Warten, bis endlich die Saison am Kurilensee beginnt.
Wir reden über den Bärenzaun, den Rauch über dem Kambalny. Dass wir die Hexe unter dem Vulkan nicht weiter verärgern sollten. Yulia weiß, wovon sie spricht, sage ich. Schließlich ist sie die beste Wissenschaftlerin von uns allen. Warum sollte es nicht auch Hexen geben, neben den messbaren Erdaktivitäten? Aber Vova sagt, hör auf, Anna! Das ist überhaupt nicht lustig. Über Hexen macht man keine Witze.
Nur einmal erwähne ich die Entscheidung, die wir bald zu treffen haben. Dabei will ich nicht darüber nachdenken, den Frühling genießen wie eine Galgenfrist.
Glaubst du, dass es funktionieren würde? Zwanzig Tonnen Phosphatdünger in einen See zu kippen? Das ist doch Wahnsinn!
Vielleicht, sagt Vova, vielleicht auch nicht.
Fjeodor hat schon recht, sage ich. Es könnte die Lachse über viele Jahre retten. Wir könnten aber auch das ganze Ökosystem aus dem Gleichgewicht bringen. Und wenn wir nichts tun, werden die Kreisläufe vielleicht auch zusammenbrechen. Egal, was wir der Kommission für eine Empfehlung geben. Es kann doch nur die falsche sein!
Vielleicht wird es auch die richtige sein, sagt Vova, der optimistisch denkt wie immer.
Dabei werden die Lachszahlen immer schlechter. Wenn es wieder nur achthunderttausend in den See schaffen, reicht es nie, um die Bestände langfristig zu sichern. Wir brauchen mal ein gutes Jahr. Sonst wird uns gar nichts anderes übrig bleiben, als die fehlenden Lachskadaver chemisch auszugleichen.
Du machst dir zu viele Gedanken, Anna. Die Saison hat noch nicht mal angefangen. Wir haben Zeit. Zeit genug, um alles in Ruhe durchzudenken.
Vielleicht sind die neuen Daten ja gar nicht so schlecht. Oder die Kommission ändert doch noch mal die Durchlassquote. Wenn noch mehr Lachse zurückwandern dürfen, anstatt gefangen zu werden. Ein paar mehr ungestörte Passing Days hier und da. Wenn zwei Millionen in den See entkommen, dann könnte es reichen. Dann wird ein künstlicher Eingriff vielleicht gar nicht nötig sein.
Ich weiß, ich weiß.
Das wird schon, sagt Vova. Freuen wir uns lieber, dass der Sommer kommt.
Natürlich stimmt, was Vova sagt. Es hat keinen Sinn, sich jetzt schon verrückt zu machen. Wir haben ja noch nicht mal unser Nasslabor in Betrieb genommen, noch nicht mal eine erste Wasserprobe gezählt. Also zwinge ich mich, meinen Kopf auf Vovas Schulter zu legen, nicht weiter über die Hexen, Bären und Rauchwolken nachzudenken. Du hast recht, sage ich. Vielleicht finden wir ja eine gute Lösung.
*
Fjeodor sagt auch, dass wir noch eine Menge Zeit haben. Unser Zwischenbericht ist erst im Juli fällig. Vorher wird die Kommission sicher nicht über die Düngung entscheiden. Acht Wochen noch, um alle Möglichkeiten abzuwägen.
Die Chancen stehen gut, sagt Fjeodor. So eine Düngung könnte das Algenwachstum ankurbeln, sich positiv auf die jungen Lachse auswirken.
Aber gleichzeitig, wage ich einzuwerfen, könnte es auch ganz andere Effekte haben. So ein Eingriff ist doch unkalkulierbar!
Oder aber, sagt Fjeodor, wir bekommen zur Abwechslung ein Rekordjahr. Auf drei schlechte Jahre kann ja nur ein gutes folgen. Kann doch sein, dass der Klimawandel es gut mit uns meint, wer weiß?
So ein Depp, flüstert Yulia mir zu und schaut Fjeodor böse an, der die Hände zufrieden über dem Bauch verschränkt, als ginge es nur darum, das letzte Wort zu haben.
Wie auch immer, sagt Fjeodor. Machen wir einfach unsere Arbeit. Bis zum Sommer werden unsere Daten sicher ein klares Bild ergeben.
Sehr lustig, flüstert Yulia, und ich denke still dasselbe. Wann sind unsere Daten denn jemals eindeutig gewesen?
*
Der Pegel ist über Nacht weiter gestiegen. Alle Sandbänke stehen unter Wasser. Als ob es die Bären nicht schon schwer genug hätten. Sie stromern am Ufer entlang, fressen Gras und Wurzeln.
Vova und ich wandern über die Landzunge bis zum Flusskopf. Nur ein schmaler Graswall trennt hier den See vom Fluss. Links und rechts stehen die Bären bis zum Hals im Wasser. Sie beachten uns kaum.
Vova bleibt so dicht an meinem Rücken, dass meine Haare sich im Reißverschluss seiner Jacke verfangen. Sein Gewehr hat er über die Schulter gehängt. Aber ich weiß, dass Vova schnell sein kann. Er hat noch nie auf einen Bären geschossen, nur einmal einen Warnschuss in die Luft abgegeben, als ein ausgewachsenes Männchen seine Beute verteidigen wollte.
Unglückliche Situation, hat Vova gesagt.
Ich habe es noch nie erlebt, dass ein Bär zum Angriff übergegangen wäre. Vova auch nicht, obwohl er schon als Jugendlicher hier war, um für ein Taschengeld die Lachse zu zählen. Seit zwanzig Jahren wurde niemand mehr am Kurilensee von einem Bären getötet.
Wir setzen uns auf die Picknickbank, die Beine auf die Sitzfläche gezogen, weil sie sonst im Wasser stünden. Die Bären tun mir leid, sagt Vova, und ich weiß, dass er an den letzten Sommer denkt. Wenn das Wasser langfristig so hoch steht wie jetzt, werden die Bären nur im Schwimmen jagen können und mehr Energie verbrauchen, als sie sammeln. Reserven, die sie für den Winter bräuchten. Kein Wunder, wenn sie dann im Herbst aggressiv werden.
Schon jetzt schwimmen die Bären unruhig auf und ab. Zu gerne würde ich ihnen etwas zu fressen geben, Prjaniki und einen Schluck Kaffee. Aber wir haben nichts mitgenommen, was essbar riechen könnte.
Ein paar der Jungtiere sind Mütter geworden. Die meisten habe ich kaum wiedererkannt. Vor allem die Jungen vom letzten Jahr kann ich ohne ihre Nackenzeichnung schwer auseinanderhalten.
Da drüben sind Mascha und Denis, sagt Vova, ohne eine Sekunde zu zögern. Erkennst du sie nicht?
Aber ich habe nicht Vovas Blick für ihre Anatomie. Nicht so, wie ich eine Aulacoseira selbstverständlich von einer Nitzschia unterscheiden kann, während sie für Vova nur wie glasige Scheiben und gerippte Monde aussehen. Die Kieselalgen sind meine Bären. Wie Vova den Bären Namen gibt, benenne ich meine Algen. Ich beschreibe immer wieder neu, was hier seit achtzig Jahren unter Beobachtung steht, entdecke manchmal noch eine neue Art. In meinem Kopf sind die Planktonzellen genauso groß wie die Bären. Es erfordert kaum Anstrengung, nur einen kurzen Blick auf ihre Körper. Ich scanne ihre Morphologie, weiß intuitiv, nach welchem Sporn oder welcher Raphe ich Ausschau halten muss, welche Spezies ich tendenziell ausschließen kann. Als hätte ich einen Entscheidungsbaum in meinem Kopf. Rund und groß: ja. Theka porös: ja. Stachelkranz: ja. Dann kommt nur Stephanodiscus oder Cyclotella in Frage.
Vielleicht läuft auch in Vovas Kopf dieses Programm ab, wenn er den Körper eines Bären scannt. Weil er weiß, auf welche Merkmale er schauen muss, weil es doch eine Art von Theorie ist, die ihm die Praxis vorgibt. Auch wenn Vova meint, dass es nur ein Gefühl ist. Ich glaube, dass es kein Wissen gibt, das rein vom Gefühl erfasst werden kann, und kein Wissen ohne Gefühl. Obwohl ich aus der Theorie und Vova aus der Praxis kommt, glaube ich nicht, dass sich unser Wissen so sehr voneinander unterscheidet. Sehen wir unsere Studienobjekte nicht doch mit den gleichen Augen?
Auf dem Weg zurück hebt Vova lauschend einen Finger, zeigt hinauf zwischen die Birkenzweige, obwohl dort nichts zu sehen ist. Solovey krasnoscheyka, sagt er. Dann höre ich es auch.
Das erste Rubinkehlchen. Sein Gesang klingt wie Wasser, das über Steine hüpft und immer auf derselben Note endet, als würde es eine bestimmte Aussage wiederholen. Ähnlich und doch anders als die Rotkehlchen in Europa, deren Töne zittern und perlen. Selbst die Singvögel hier scheinen ihre eigene Sprache zu sprechen.
Ich sehe nie ein Rubinkehlchen, könnte nicht sagen, wie sehr sich seine Färbung von einem Rotkehlchen unterscheidet. Auch die Amseln und Meisen bleiben hier seltsam unsichtbar. Dabei höre ich sie ständig.
Ich wusste lange nicht, wie dieser Vogel heißt, der mir über alle Wiesen zu folgen schien. Nicht einmal Fjeodor oder die Bestimmungsbücher aus dem Haupthaus konnten mir weiterhelfen. Vova war es, der mir ihren Namen gesagt hat, während meiner allerersten Saison: Solovey krasnoscheyka, Rubythroat. Das war unser erstes richtiges Gespräch.
*
Die erste Feuerrunde neben dem Volleyballplatz. Vova hat zwei Nerkas gefangen, die wir filetieren und zwischen die Fischeisen klemmen. Jede von uns bekommt zwei Bier, so üppig sind die Vorräte. Paradiesische Zustände. Wir trinken aus den geschwungenen Gläsern mit den eingravierten Lachsen, die Fjeodor vor vierzig Jahren aus Petropawlowsk mitgebracht hat. So schrecklicher Kitsch, dass wir ihn schon wieder großartig finden.
Yulia hat wie immer die besten Trinksprüche parat. Wir trinken auf unsere Lieblingsalge Aulacoseira subarctica. Wir trinken auf den Phosphatwert, dass er so hoch bleibt wie bisher. Wir trinken auf den Seeadler, den allmächtigen, der über die Berge in den fünften Himmel fliegt, der blauer ist als alle Himmel darunter. Dort, sagt Yulia, trifft der Seeadler den Großen Bären, der eine Prinzessin gefangen hält, denn der Seeadler ist eigentlich ein Prinz und sein Königreich ist der Vulkan unter dem See. Er muss nur eine Moltebeere im Schnabel über den See tragen und auf Serdze Alaida vergraben, denn nicht ohne Grund ist die Insel wie ein Herz geformt. Ohne Umschweife würde der See austrocknen, und aus den Hängen würden sich all die Seeadler wie Steinlawinen lösen, die man für ausgestorben hielt. Ein besonders schöner Seeadler flöge zu dem Prinzen heran und verwandelte sich zurück in seine geliebte Prinzessin, und sie würden eine rauschende Hochzeit am Lagerfeuer feiern, und darum trinken wir auf die Großmütigkeit des Großen Bären, dass er immer Vegetarier bleibt.
Und Yulia lacht, als würde sie sich für ihre Fantasie schämen, bevor sie beherzt anstößt. Vielleicht ist sie auch einfach ein bisschen betrunken.
Alleine deswegen würde ich gerne Babuschka werden, eine Babuschka wie Yulia, um Geschichten zu erzählen bar jeder wissenschaftlichen Vernunft und doch von so zwingender Kausalität, dass sie nur wahr sein können.
Am Kurilensee sagt niemand ernsthaft, dies ist aber nicht erwiesen oder jenes nicht ganz plausibel. Am Kurilensee darf sogar eine Wissenschaftlerin ihren Hirngespinsten nachjagen. Aber ist Wissenschaft nicht auch eine Art Märchen?
Yulia ist die krasseste Wissenschaftlerin von uns allen. Sie scheint nie zu schlafen, aber auch nie zu arbeiten. Wenn ich sie frage, na, Yulia, wie geht's voran mit der Arbeit? Da sagt sie nur: Gut. Nicht viel zu tun. Weil sie alles erledigt wie nebenher in einer Zeit, die ich nicht habe und die auch für niemanden sonst zu existieren scheint. Immer wieder zeigt sie mir Tabellen und Mikroskopbilder, von denen ich nicht mitbekommen habe, wie sie entstanden sind. Die schönsten Planktonpräparate, mit Sonden gefärbte Naupliuslarven, ganze Zeitreihen in bester Auflösung.
Nebenprojekte, sagt Yulia, und ich bin gewillt, sie ihr zu gönnen.
Ihre Publikationsliste ist bemerkenswert. Sie hat sogar mehr und in wichtigeren Journals publiziert als Fjeodor. Einmal habe ich sie rundheraus gefragt, warum leitest du eigentlich nicht die Station? Und Yulia hat mit einem grimmigen Lächeln geantwortet: Tja.
Nur aus Solidarität scheint Yulia sich neben mich an ihr Mikroskop zu setzen, einen Objektträger unter ihr Objektiv zu legen. Es klackt, wenn die Revolver einrasten. Manchmal summt sie, begleitet das Zählen mit einer Melodie, die vielleicht dem Rhythmus ihrer Bleistiftstriche entspricht. Sie eilt von einem Zählquadrat zum nächsten.
Yulia zählt mühelos. Copepoden, Ruderfußkrebse, die wie borstige Tropfen aussehen. Daphnien mit geweihartigen Antennen und schlaflosen Augen. Zwanzig Gesichtsfelder vertikal, zwanzig horizontal. Wir zählen wie alle Limnologinnen vor uns, die in den letzten achtzig Jahren hier gesessen haben. Wissenschaftlerinnen, die nicht einmal Yulia noch gekannt haben dürfte und deren Mikroskope sicher miserabel waren im Vergleich zu unseren.
Zu gerne würde ich jene Forscherinnen fragen, wie es damals gewesen ist. Ob es dem See besser ging als heute, die Temperaturen zwei Grad niedriger im Schnitt. Dafür wurde rücksichtslos gefischt und gewildert, bis kaum noch Lachse übrig waren. Seit wir sie überwachen, sind die Schwärme größer geworden. Zehn Millionen Lachse, die allein in unserem Fluss und vor der Küste in den Fischernetzen landen.
Wir können uns glücklich schätzen, sagt Fjeodor immer. Den Lachsen bei uns geht es doch vergleichsweise gut. Längst nicht so schlecht wie im Atlantik, wo es kaum noch Wildbestände gibt. Dort sind die meisten Populationen vom Aussterben bedroht. Bei uns hat die Fischerei selten so viel Profit gemacht wie in den letzten Jahren.
Ja, das stimmt. Wir beuten aus, was geht. Ist nur die Frage, um welchen Preis.
In der Mittagspause gehen Yulia und ich spazieren. Wir verabreden uns nie, laufen uns einfach beim Haupthaus über den Weg und folgen dem Way of Lost Talents bis zum Windrad hinauf. Zwischen den Holzlatten wächst schon das erste Wollgras heraus, dreikantige Stängel mit Wattebäuschen. Bald wird es aussehen, als hätte eine Herde Schneeschafe ihre Wolle über das Gras verteilt. Manchmal denke ich, die Evolution hat das Wollgras nur deshalb erfunden, damit zwei Wissenschaftlerinnen am Kurilensee die Blütenfäden einsammeln und Pullover daraus stricken. Dann würden wir wie zwei Baba Jagas aussehen, sagt Yulia, und die ganze Station in Angst und Schrecken versetzen.
Wir gehen hintereinander, die Arme vor der Brust verschränkt, die Hände wärmend unter die Achseln geschoben, wie zwei langjährige Freundinnen, vielleicht auch wie Mutter und Tochter. Immerhin liegen fast dreißig Jahre zwischen uns.