Aileen - Algernon Blackwood - E-Book

Aileen E-Book

Algernon Blackwood

3,0

Beschreibung

Zwielicht Sonderband 1 Der englische Autor Algernon Blackwood (1869 – 1951), war bekannt für seine von unterschwelligem Schrecken geprägten Gruselgeschichten. Sein Werk wurde stark von den Eindrücken seiner zahlreichen Reisen beeinflusst. Auch hatte er eine starke Neigung zu allem Esoterischen, und gab an, selbst Geistererscheinungen gesehen zu haben, die er in seinen Geschichten verarbeitete. Dem Publikum wurde Blackwood später auch als Radiomoderator bekannt. Seine eindringliche Art, phantastische Geschichten zu erzählen, fesselte in den 40er Jahren eine treue Schar Zuhörer an die Radioempfänger. Inhalt: Algernon Blackwood - Geheimagent und Esoteriker (Artikel) Das Tal der Tiere / The Valley of the Beasts (1921) Aileen /Old Clothes (1910) Die Tafeln der Götter / The Man Who Found Out (1921) Max Hensig (1907) Die Wölfe Gottes / The Wolves of god (1921) Durch Wasser / By Water (1917) Der Preis von Wiggins Orgie / The Price of Wiggins's Orgy (1910) Der Blutweiher / The Tarn of Sacrifice (1921) Der Hund im Camp / The Camp of the Dog (1908) Der Heiler des Bösen (Artikel)

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Aileen

Klassische Horrorgeschichten von Algernon Blackwood

Horrormagazin

Zwielicht Sonderband 1

Herausgegeben von Michael Schmidt & Achim Hildebrand

Kontakt: [email protected]

Das Copyright der deutschen Texte liegt beim Übersetzer

Titelbild: Björn Ian Craig

Mai 2018

Vorwort5

Algernon Blackwood - Geheimagent und Esoteriker8

Das Tal der Tiere21

Aileen49

Die Tafeln der Götter92

Max Hensig115

Anmerkungen zu Max Hensig184

Die Wölfe Gottes187

Durch Wasser217

Der Preis von Wiggins' Orgie228

Anmerkungen zu Der Preis von Wiggins' Orgie253

Der Blutweiher255

Der Hund im Camp287

Der Heiler des Bösen382

Bibliographie391

Algernoon Blackwood - Veröffentlichungsliste393

Vorwort

Begonnen hat es 2013 mit Michael Schmidts SF-Anthologie Am Ende des Regens, in der Nina Allens Geschichte My Brother's Keeper in deutscher Übersetzung erscheinen sollte. Die Arbeit daran hatte bereits begonnen, konnte aber aus zeitlichen Gründen nicht wie geplant fortgeführt werden. So kam Michael auf mich zu und fragte an, ob ich nicht Zeit und Lust hätte, die Übersetzung zu übernehmen. Als schlechter Nein-Sager und mit mehr Selbstvertrauen als Erfahrung gesegnet, setzte ich mich also an meine erste Übersetzung.

Wider Erwarten ging die Sache so gut, dass ich Geschmack am Übersetzen fand. Zu der selben Zeit schrieb ich als Beitrag für Zwielicht einen Artikel über Algernon Blackwood. Dabei fiel mir auf, wie viele Texte dieses äußerst produktiven Autors noch nicht ins Deutsche übersetzt waren. Die meisten von ihnen gehörten bereits zur Public Domain, und so schlug ich Michael vor, in der nächsten Zwielicht-Ausgabe die Übersetzung eines Blackwood-Klassikers aufzunehmen, um das Angebot breiter und internationaler zu gestalten.

Michael hatte nichts dagegen und wir entschieden uns, es mit einer Blackwood-typischen Geschichte zu versuchen, einer mit viel wilder Natur und Lagerfeueratmosphäre. Die Wahl fiel auf The Valley of the Beasts, der wir den deutschen Titel Das Tal der Tiere verliehen. Sie erschien in Zwielicht 3.

Leider stellte sich nach der Veröffentlichung heraus, dass die Geschichte bereits in deutscher Übersetzung vorlag (in Hitchcocks Gruselkabinett - Die Insel der Stimmen Insel Verlag 1979). Damit war es zwar keine Erstübersetzung, aber immerhin kam sie bei den Lesern und Rezensoren so gut an, dass wir einen zweiten Versuch unternehmen wollten.

Diesmal fiel die Wahl auf The Wolves of God, das unter dem Titel Die Wölfe Gottes in Zwielicht 5 erschien. Wieder hatten wir das Pech, eine bereits existierende Erstübersetzung übersehen zu haben (in Peter Haining (Hrsg.), Schottische Gespenstergeschichten, Fischer Taschenbuch Verlag 1976). Aber wieder war das Leserecho so positiv, dass wir uns entschlossen, das Konzept weiter zu verfolgen.

In Zwielicht 6 erschien daher nicht nur Blackwoods Erzählung Max Hensig, sondern auch Alyssa Wongs für den Nebula und den World Fantasy Award nominierte Story Die Königin der Fischer, sowie mit Sheila Hodgsons Der Fluchstein, ein weiterer englischsprachiger Klassiker. Diesmal hatten wir alles richtig gemacht - zumindest ist bis jetzt keine frühere Erstübersetzung aufgetaucht.

Von da an waren die Blackwood-Stories - zusammen mit weiteren Werken moderner englischsprachiger Autoren - fester Bestandteil der Zwielicht-Anthologien. In den einzelnen Ausgaben sind ferner erschienen:

Zwielicht 7: Der Preis von Wiggins' Orgie (The Price of Wiggins' Orgy)

Zwielicht 8: Der Hund im Camp (The Camp of the Dog)

Zwielicht 9: Durch Wasser (By Water)

Zwielicht 10: Aileen (Old Clothes)

Zwielicht 11: Der Blutweiher (The Tarn of Sacrifice)

Zusätzlich ist in der vorliegenden Sammlung die Erzählung Die Tafeln der Götter (The Man who found out) als Bonus enthalten.

Das war genug Material für ein ganzes Buch, und von Zwielicht-Lesern kam immer wieder die Anregung, die Geschichten in einer eigenen Blackwood-Anthologie zusammenzufassen. Ein Gedanke, den auch wir so reizvoll fanden, dass wir ihn gern aufgegriffen haben; und ja - hier ist sie!

Ich möchte an dieser Stelle nicht näher darauf eingehen, was an Blackwood und seinem Werk bemerkenswert oder gar herausragend ist. Dafür haben wir eine kleine Biographie sowie die Artikel zu ausgewählten Geschichten mit aufgenommen, die auch in den Originalausgaben enthalten waren. Sie bieten einiges an Hintergrundinformation und Gedanken, die hoffentlich für den ein oder anderen Leser von Interesse sind.

In diesem Sinne wünschen wir allen Lesern - alten wie neuen - gute Unterhaltung, interessante Einblicke und vor allem viel von dem Grauen zwischen den Zeilen, für das Blackwood so berühmt ist.

Algernon Blackwood - Geheimagent und Esoteriker

1869–1951

Einleitung

Der junge Lovecraft bewunderte ihn und nannte ihn den 'absoluten und unbestrittenen Meister der unheimlichen Stimmung' und seine Geschichte Die Weiden bezeichnete er als 'nicht nur Blackwoods herausragendste Geschichte, sondern die beste unheimliche Geschichte aller Zeiten'.

Umgekehrt hielt Blackwood allerdings nicht so viel von Lovecraft, in dessen Werken er den 'spirituellen Schrecken' vermisste. Der Liebhaber subtilen Grauens empfand Lovecrafts Texte möglicherweise als zu plakativ und 'monsterhaltig'.

Immerhin, Lovecrafts Instinkt lag durchaus richtig. Wohl kaum ein anderer Autor beherrscht die Kunst der schleichenden Verunsicherung und des unterschwelligen Grauens so wie Blackwood. Monster und Adjektivcluster a la Lovecraft oder Howard wird man bei ihm kaum finden. Es fließt nicht einmal sonderlich viel Blut und in vielen seiner Geschichten ist dem Leser am Ende überhaupt nicht klar, was denn so Schlimmes geschehen ist, oder was den Schrecken der Protagonisten ausgelöst hat.

Um mal ein griffiges Beispiel zu konstruieren: Wo bei Lovecraft etwas, das auf „entsetzliche, grauenerregende und widernatürliche Weise falsch“ ist, dem Helden die Nerven strapaziert, sind es bei Blackwood kleine, kaum wahrnehmbare Unstimmigkeiten in der Umgebung oder seinen Gefühlen, die den Protagonisten – und damit den Leser, denn er bleibt genauso im Ungewissen – zunehmend verunsichern und schließlich zum Zusammenbruch treiben.

Besonders gut gelingt das in Umgebungen, in denen man gar nicht so genau weiß, wie etwas richtig zu sein hat. Etwa wenn ein Zivilisationsmensch, allein und in einer Zwangslage, mit der wilden Natur konfrontiert wird und langsam begreift, wie fremd sie ihm ist.

Zu Blackwoods Standardsujets gehören daher die sogenannten „Lagerfeuergeschichten“, unter denen man einige seiner besten Erzählungen findet. In ihnen weckt die urtümliche Magie der Natur das animalische Erbe tief in uns drin, das sich, je nach Situation, zum zitternden Bündel Angst entwickelt, zur gewalttätigen Bestie oder in einem Kollaps der Persönlichkeit mündet.

Besonders erfolgreich war Blackwood mit den Geschichten um den Detektiv John Silence, der nicht nur über die Fähigkeiten eines Sherlock Holmes verfügt, sondern auch ein parapsychisches Medium ist. Der Erfolg mag zum einen an eben dieser Ähnlichkeit mit Doyles äußerst beliebtem Detektiv gelegen haben, zum anderen sicher auch daran, dass in der viktorianischen Zeit esoterische und spiritistische Themen besonders en vogue waren. Schließlich waren zur gleichen Zeit so berühmte Esoteriker wie Gurdjeff, Ouspensky und Mme. Blavatsky sehr aktiv und prominent. Auch Blackwood selbst hatte zeitweise Kontakt zu ihnen.

Alles in allem war Blackwood ein äußerst vielseitiger und fruchtbarer Autor. Außer seinen phantastischen Geschichten schrieb er erfolgreich Kinderbücher, Theaterdramen, Reiseberichte und eine Autobiografie. Sein Werk umfasst etwa 200 Kurzgeschichten, 12 Romane, mehrere Schauspiele und auch Gedichte.

Biografie

Wie bei vielen anderen Phantasik–Autoren ähnelte sein Lebenslauf einem Flickenteppich an unterschiedlichsten Erfahrungen. Sein Vater, Sir Arthur Blackwood, arbeitete zunächst als Staatssekretär im Postministerium, bevor er im Krimkrieg – wohl auf Wunsch seiner Frau Harriet – zum Calvinismus konvertierte und von da an als Prediger und Missionar wirkte.

Für den kleinen Algernon bedeutete das eine strenge Erziehung und den Besuch mehrerer religiös geprägter Internate, unter deren militärischer Disziplin er mehr litt als lernte.

Der eher verträumte Junge versuchte diesem Druck zu entfliehen, indem er sich der Natur zuwandte. So kletterte er gelegentlich nachts aus dem Fenster und ließ sich in einem Boot auf dem Gartenteich treiben, wobei er sich vorstellte, von übernatürlichen Wesen beobachtet zu werden. Vielleicht liegen hier die Wurzeln seiner späteren Affinität zum übernatürlichen Zauber der Natur.

Ebenso wie Lovecraft, Howard, Smith und andere bezog er seine eigentliche Bildung aus dem, was er sich selbst aneignete. Er erlitt nicht weniger als fünf Schulen und Internate, bevor er begann, sich der fernöstlichen Weisheit und dem Buddhismus zuzuwenden.

Um dem Wunsch seines Vaters zu nachzukommen, begann er Landwirtschaft zu studieren, brach das Studium aber ab und führte einige Jahre lang ein ruheloses Vagabundenleben – kreuz und quer durch die USA, in die kanadischen Wälder und durch die Straßen von New York, wo er als Gerichtsreporter Erfahrungen mit der dunklen Seite der menschlichen Natur sammelte. Daneben arbeitete er erfolglos als Milchbauer, Kneipenwirt und Redaktionsassistent eines Methodistenblattes.

Die Erlebnisse und Erfahrungen dieses irrlichternden Lebenswandels waren ihm bei seiner späteren Tätigkeit als Schriftsteller außerordentlich nützlich. Die alte Autorenregel „Schreib über das, was du kennst“ bedeutete für ihn keine Einschränkung, denn er kannte fast alles. Zu jeglichen Themenbereichen, in denen er seine Erzählungen ansiedelte, war er in der Lage, glaubwürdige Handlungen und Charaktere zu entwickeln.

Er selbst war sich wohl sehr bewusst, wie ungewöhnlich und aufregend sein Leben bis dahin verlaufen war, denn er beschrieb diese Jahre sehr lebendig in einer Autobiografie mit dem Titel Episodes before Thirty (1923).

1899 kehrte er nach England zurück und wurde Teilhaber einer Trockenmilchfirma. Tatsächlich aber unternahm er zahlreiche Reisen durch Europa, z.B. ins Donaudelta, wo er die Anregungen für seine berühmteste Geschichte Die Weiden sammelte. 1900 wurde er Mitglied des Golden Dawn, einer esoterischen Geheimgesellschaft, der auch andere Autoren wie Machen und Yeats angehörten, die aber schon 1903 wieder zerfiel.

Er sammelte seine bisher entstandenen Erzählungen und sandte sie an den Verleger Eveleigh Nash, der sie 1906 in einer Sammlung herausgab. Diese enthielt bereits so bekannte Werke wie Die Weiden und Der Lauscher. Der Durchbruch kam aber erst mit der dritten Sammlung John Silence Physician Extraordinary, die vom Verlag mit außerordentlichem Aufwand beworben wurde – möglicherweise wegen der Ähnlichkeiten mit Doyles erfolgreichen Sherlock Holmes–Geschichten.

Von da an konnte er von seiner Schreibtätigkeit leben und war im Literaturbetrieb durchaus anerkannt. Selbst Rainer Maria Rilke äußerte sich lobend über Blackwoods Novelle The Centaur, und Edward Elgar benutzte die Erzählung A Prisoner Of Fairyland als Vorlage für die Musik zu dem Schauspiel Starlight Express, das später auch von Andrew Lloyd Webber mit viel Erfolg als Musical aufgeführt wurde.

Er ließ sich in der Schweiz nieder, unternahm aber weiter ausgedehnte Reisen, etwa nach Ägypten oder in den Kaukasus.

Im ersten Weltkrieg diente er beim britischen Geheimdienst, arbeitete als Agent in der Schweiz und erlebte auch hier wieder haarsträubende und lebensgefährliche Abenteuer. Es gibt aber auch Berichte, nach denen er lediglich beim Roten Kreuz mitarbeitete.

Nach dem Krieg kehrte er zurück nach Kent und begann wieder zu schreiben und zu reisen. Er brachte zwar noch zwei Storysammlungen heraus, verlagerte aber seinen Themenschwerpunkt in Richtung Dramen und Kinderbücher. Besondere Beliebtheit erlangte Dudley and Gilderoy (1929), eine humorvolle Geschichte um einen Papagei und eine Katze.

Zu dieser Zeit nahm seine schriftstellerische Tätigkeit mehr und mehr ab, was aber kaum auf nachlassende Energie zurückzuführen war, denn er wandte sich – immerhin schon deutlich über sechzig – den neuen Medien Radio und Fernsehen zu.

Bereits in der ersten britischen Fernsehshow Picture Page trat er 1936 auf und bekam sogar eine eigene Sendung, in der unter dem Spitznamen „Ghost man“ Geistergeschichten vorlas (Saturday Night Spot). Sie war außerordentlich beliebt, was vielleicht ein bisschen damit zu tun hat, dass Blackwoods Physiognomie in seinen späten Jahren der eines knorrigen Naturgeists nicht unähnlich war – er passte einfach zu den Geschichten.

1949 wurde er im Buckinghampalast zum Commander of the British Empire (CBE) ernannt, was in etwa der Verleihung des kleinen Bundesverdienstkreuzes entspricht.

1951 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand rapide und er starb am 10. Dezember an einem Gehirnschlag. Sein Leichnam wurde verbrannt und sein Neffe verstreute die Asche am Saanenmöser–Pass im Berner Oberland.

Noch eine Anmerkung zu einem gewissen Wilfred Wilson. Er wird in einigen Erzählungen als Mitautor angegeben. Bei ihm handelt es sich um einen Reisegefährten Blackwoods, der auch bei der Entstehung von Die Weiden eine Rolle spielte, nämlich die des 'Schweden'.

Blackwoodkenner sind sich allerdings einig, dass Wilson bei den Geschichten allenfalls als Inspirator und Ideengeber wirkte. Geschrieben wurden sie ausschließlich von Blackwood selbst. Diese Annahme wird auch dadurch gestützt, dass meines Wissens keine eigenständigen Werke Wilsons bekannt sind. Die Nennungen als Mitautor sind also wohl eher als liebenswerte Geste an einen guten Freund zu sehen, der Teilnahme an Blackwoods Arbeit zeigte.

Aus diesem Grund haben wir davon abgesehen, ihn als Mitautor aufzuführen, erwähnen ihn aber in den bibliographischen Angaben zu den betreffenden Erzählungen.

Werke

Kurzvorstellungen ausgewählter Blackwood–Stories

Der Wendigo (The Wendigo)

(In Das leere Haus, Suhrkamp TB 30, 1977, ISBN 3–518–06530–0)

Mit zwei Führern und einem Koch gehen Dr. Cathcart und sein Neffe auf Elchjagd in den kanadischen Wäldern. Alles verläuft zunächst ohne besondere Vorkommnisse, bis Defago, einer der beiden Führer, zunehmend unruhig wird. Er fürchtet sich, das Gebiet des Wendigo zu betreten. Doch er lässt sich schließlich überreden, den Neffen weiter in den Wald zu führen. Am Abend, als sie beim Lagerfeuer sitzen, hören sie einen seltsamen Laut, der klingt, als würde Defagos Name gerufen. Der Führer schlägt sich vor Entsetzen so schnell in die Büsche, dass der Neffe ihm nicht zu folgen vermag. Als er schließlich dessen Spur untersucht, findet er nicht nur diese, sondern auch eine andere, die sehr fremdartig aussieht. Plötzlich enden beide Fährten.

Dem Neffen gelingt die Rückkehr zum Camp seines Onkels. Sie

wollen einen Suchtrupp aufstellen um Defago zu suchen – doch der kehrt plötzlich von selbst zurück – oder ist es etwas, das ihm ähnelt?

Das leere Haus (The Empty House)

(In Das leere Haus, Suhrkamp TB 30, 1977, ISBN 3–518–06530–0)

Tante Julia hat für ein paar Tage die Schlüssel eines berüchtigten Spukhauses bekommen und bittet ihren Neffen, Jim Shorthouse, sie bei einer Besichtigung zu begleiten, von der sie sich einen 'Riesenspaß' verspricht. Einst geschah ein scheußlicher Mord in diesem Haus und etliche Mieter haben das Haus vorzeitig wieder verlassen.

Jim und Tante Julia untersuchen das Haus Raum für Raum, und in jedem von ihnen scheinen die Geister der Vergangenheit noch höchst aktiv. Sie hören seltsame Geräusche, glauben huschende Schatten zu sehen und haben ständig das Gefühl, dass „gewisse Vorgänge in den leeren Räumen innehielten, sobald man sie betrat und wieder fortgesetzt wurden, wenn man sie verlassen hatte …“

Das Tal der Tiere (The Valley of the Beasts)

(In Zwielicht 3, Hrsg. Michael Schmidt, Verlag Erik Schreiber Saphir im Stahl, 2013, ISBN 978–3–943948–11–0)

Eine weitere Lagerfeuergeschichte. Grimwood, ein cholerischer, ignoranter Sportjäger, hat sich von seiner Jagdgesellschaft getrennt und verfolgt mit seinem indianischen Führer Toshalli einen riesigen Elch. Die Fährte des Tiers führt in ein Tal, das Toshalli nicht betreten möchte, weil es das Reich des Gottes oder Naturgeistes Ishtot, und eine sichere Zuflucht für die Tiere sei.

Nach einer handgreiflichen Auseinandersetzung ist Toshalli am folgenden Morgen verschwunden und Grimwood folgt dem Elch allein in das 'Tal der Tiere'. Bald spürt er die ersten Veränderungen; sein Jagdfieber lässt nach, und schließlich steht er dem Elch unmittelbar gegenüber, der überhaupt keine Angst zu haben scheint. Grimwood wird vor Aufregung ohnmächtig.

Als er erwacht, kann er sich nicht mehr an seinen Namen erinnern und wozu seine Ausrüstungsgegenstände dienen. Er fürchtet sich vor Feuer und trinkt wie ein Tier Wasser aus dem Bach. Aber er empfindet ein tiefes Gefühl von Sicherheit und Wohlbehagen.

Dann wird es Nacht, und im Mondlicht nähern sich ihm die Tiere des Tals...

Die Weiden (The Willows)

(In Das leere Haus, Suhrkamp TB 30, 1977, ISBN 3–518–06530–0)

Der Erzähler und sein Gefährte, „der Schwede“, unternehmen einen Kanutrip auf der Donau. Aufkommendes Hochwasser veranlasst sie, auf einer von Weiden überwucherten, sandigen Insel zu kampieren, bis die Flut nachlässt. Einheimische haben sie davor gewarnt, die Insel zu betreten, doch zunächst machen sie sich nur darüber lustig.

Aber schon während sie das Zelt aufschlagen und zum Feuerholzsammeln über die Insel streifen bekommen sie mehr und mehr das Gefühl, dass die Weiden sich nicht so zu benehmen scheinen, wie sie sollten. Ist es nur der Sturm, der ihre unheimlichen Bewegungen hervorruft?

Nach einer grausigen Nacht entdecken sie, dass ihr Kanu ein Leck hat und ein Paddel fehlt. Auch Lebensmittel sind verschwunden. Was geht auf dieser Insel um? Und welche Absichten hat es?

Ein Opfer der vierten Dimension (A Victim of Higher Spaces)

(In Der Tanz in den Tod, Suhrkamp TB 2792, 1982, ISBN 3–518–39292–1)

Ein Wissenschaftler beschäftigt sich mit der mathematischen Beschreibung höherer Dimensionen. Dies gelingt ihm so gut, dass er selber in die Lage versetzt wird, diese Dimensionen zu betreten und sich darin aufzuhalten.

Schnell merkt er, dass er diese Fähigkeit immer weniger kontrollieren kann. Er hat keinen Einfluss darauf, wann er in eine fremde Dimension gesogen wird, was er dort vorfindet und wo er in unserer Welt wieder auftauchen wird. Was sehr riskant ist, denn einige dieser Welten beherbergen äußerst unsympathische Bewohner.

Als er immer öfter in die fremden Dimensionen gerissen wird, bittet er John Silence um Hilfe. Aber sein Zustand ist schon weit fortgeschritten …

Deutsche Ausgaben

Abdrucke einzelner Geschichten Blackwoods findet man immer wieder in Anthologien klassischer Horror–Autoren. Sie alle aufzuzählen würde sicher den Rahmen dieses Artikels sprengen.

Die vollständigste und einzige Ausgabe seiner Werke ist die des Suhrkamp-Verlags, die zuerst in den 70ern herausgegeben wurde und bis in die 90er immer wieder aufgelegt wurde. Aktuell findet man nur gebrauchte Exemplare bei Amazon und diversen Antiquariatsseiten. Alles in allem eine sehr verdienstvolle Leistung von Suhrkamp. Allerdings wirft auch hier – wie schon bei den Ausgaben von Clark Ashton Smith – der überdreht poetisch-romantisierende Duktus der Übersetzung, der den englischen Originalen gänzlich fehlt, einen kleinen Schatten auf den guten Gesamteindruck.

Nachfolgend die einzelnen Bände:

Das leere Haus (Bibliothek des Hauses Usher Bd. 1)

Rächendes Feuer (Suhrkamp TB 301)

Besuch von drüben (Bibliothek des Hauses Usher Bd. 8)

Griff aus dem Nichts (Bibliothek des Hauses Usher Bd. 18)

Die gefiederte Seele (Suhrkamp Taschenbuch Bd. 1620)

Tanz in den Tod (Suhrkamp Taschenbuch Bd. 2227

Filme und Comics

Im Film hat Blackwoods Werk leider nur wenig Beachtung gefunden (abgesehen vom Musical Starlight–Express) – obwohl einige seiner Stories sicher die Vorlage für recht spannende Psycho–Thriller ganz eigener Art hätten liefern können. Aber so blieb es bei einigen Verfilmungen für englische TV–Serien in den 50er und 60er Jahren.

Lediglich der Wendigo wurde 1978 in voller Spielfilmlänge verfilmt, ein Werk, das in den wenigen Reviews derart verrissen wird, dass es einem um Blackwoods großartige Novelle leidtun möchte.

http://www.cultreviews.com/reviews/wendigo–1978/

Der vorerst letzte Versuch ist ein ziemlich bizarrer Kurz–Kurzfilm (2:42 Minuten mit Vor– und Abspann) von 2008, der eher in den Bereich Experimentalfilm gehört.

Der Comicbereich ist aufgrund seines hohen Outputs und der zahlreichen Underground- und Independent-Projekte, naturgemäß ein wenig unübersichtlich. Mir ist nur eine englischsprachige – gar nicht schlecht gemachte – Umsetzung von Die Weiden bekannt:

The Willows

Texte: Nathan Carson, Zeichnungen: Sam Ford

erschienen in zwei Bänden (2017 und 2018) bei Floating World Comics (Portland/Oregon)

Zwar wird die alte Indianerlegende vom Wendigo in den Marvel-Comics, in Gestalt eines gleichnamigen Superhelden, aufgegriffen, aber hier handelt es sich um typische Marvel-Action, ohne weitere Bezüge zu Blackwood.

Internetressourcen

Im Web findet sich eine überraschend große Anzahl von Seiten, die sich mit Blackwood und seinen Werken beschäftigen. Nachfolgend eine Auswahl besonders ergiebiger Seiten, natürlich – bis auf eine – in englischer Sprache.

A Portrait of Algernon Blackwood (6 Teile)

http://tychy.wordpress.com/2009/11/25/a–portrait–of–algernon–blackwood–16–episodes–and–confessions/

Eine sehr ausführliche Biographie Blackwoods

Blackwood Stories

http://algernonblackwood.org/#

Eine sehr engagiert gepflegte Sammlung lizenzfreier Stories im PDF–Format, die ständig erweitert wird.

The Literary Gothic

http://www.litgothic.com/Authors/authors.html

Eine weitere Sammlung von Textlinks, Biographien und Bibliographien klassischer Phantastik–Autoren. Sehr umfangreich. Leider wird sie wohl demnächst vom Netz gehen. Wer also auf der Suche nach besonderen Raritäten ist, kann hier noch fündig werden – wenn er sich beeilt.

Phantastik–Couch

http://www.phantastik–couch.de/algernon–blackwood–das–leere–haus.html

Eine Reihe von Rezensionen der Suhrkamp–Ausgabe von Michael Drewniok. Sehr empfehlenswert für eine erste Orientierung in Blackwoods Werk.

Horror Masters

http://www.horrormasters.com/

Noch eine sehr umfangreiche Sammlung von Texten klassischer Autoren. Leider ist die Seite im Moment down. Aber da sie mittelfristig wieder aktiviert werden soll, führe ich den Link hier trotzdem auf.

Miskatonic University, Arkham

http://www.yankeeclassic.com/miskatonic/welcome.htm

Stories, Magazincover, verbotene Bücher, Alchemie, Phantastik – es gibt hier einiges zum Stöbern.

Das Tal der Tiere

I

Als sie unversehens aus dem dichten Wald heraustraten, hielt der Indianer an. Grimwood, der ihn eingestellt hatte, blieb neben ihm stehen und blickte in das herrlich bewaldete Tal, das sich unter ihnen im Glanz eines goldenen Sonnenuntergangs ausbreitete. Beide Männer stützten sich auf ihre Büchsen, gefangen vom Zauber der unerwarteten Szenerie.

„Wir lagern hier“, sagte Tooshalli unvermittelt, nachdem er die Umgebung sorgfältig begutachtet hatte. „Morgen machen wir einen Plan.“

Er sprach ein ausgezeichnetes Englisch. Der Unterton von Entschlusskraft, ja beinahe Autorität in seiner Stimme war unüberhörbar, aber Grimwood schob es auf die natürliche Erregung des Augenblicks. Jede Fährte, der sie in den vergangenen Tagen gefolgt waren - und eine im Besonderen - hatte geradewegs in Richtung dieses entlegenen und verborgenen Tals geführt und sie versprach ein außergewöhnliches Jagdvergnügen

„So machen wir es“, erwiderte er in befehlendem Ton. „Du kannst gleich anfangen, das Lager aufzuschlagen.“

Er setzte sich auf eine umgestürzte Hemlock-Tanne, um seine Mokassinstiefel auszuziehen und die Füße einzufetten, die schmerzten nach dem beschwerlichen Tag, der sich nun seinem Ende zuneigte. Obwohl er unter gewöhnlichen Umständen darauf gedrängt hätte, noch ein oder zwei Stunden weiter zu marschieren, hatte er nichts dagegen, hier zu übernachten. Die Schinderei der letzten Stunden hatte ihn erschöpft, sein Auge und seine Muskeln waren nicht mehr sicher genug, um zuverlässig einen tödlichen Schuss anzubringen. Er hatte nicht vor, ein zweites Mal daneben zu schießen.

Mit seinem kanadischen Freund, Iredale, dessen Halbblut und seinem eigenen Indianer, Tooshalli, war die Gruppe vor drei Wochen aufgebrochen um die 'herrlichen großen Elche' aufzuspüren, von denen die Indianer berichteten, dass sie in der Gegend am Snow River umherstreiften. Bald stellten sie fest, dass die Berichte zutrafen; Fährten gab es reichlich, fast jeden Tag sahen sie schöne Tiere, doch obwohl sie ansehnliche Geweihe trugen, erwarteten die Jäger noch bessere Beute und ließen sie in Ruhe.

Sie drangen weiter den Fluss hinauf vor bis zu einer Kette kleiner Seen an seiner Quelle, wo sie sich in zwei Gruppen teilten, jede mit einem Neun-Fuß-Rindenkanu und ausgerüstet für die drei Tage, die es nach Meinung der Indianer dauern würde, bis man die größeren Tiere in den tieferen Wäldern aufgespürt hätte. Die Erregung war stark, aber die Erwartungen waren noch stärker.

Am Tag bevor sie sich trennten schoss Iredale den größten Elch seines Lebens, und das Geweih - größer sogar als die mächtigen Alaska-Geweihe - hängt noch heute in seinem Haus. Grimwoods Jagdfieber war schon ziemlich angestiegen. Sein Blut war von feuriger, um nicht zu sagen wilder Art. Manchmal schien es, als liebte er das Töten nur um seiner selbst willen.

Vier Tage nachdem die Gruppe sich geteilt hatte stieß er auf eine gigantische Fährte, deren Größe und Schrittlänge jeden Nerv in ihm aufs Höchste anspannten.

Tooshalli untersuchte die Spuren einige Minuten sehr sorgfältig.

„Das ist der größte Elch auf der Welt“, sagte er schließlich mit einem ungewohnten Ausdruck auf seinem undurchschaubaren roten Antlitz.

Sie folgten der Spur den ganzen Tag, bekamen den Riesenburschen aber nicht zu Gesicht. Er schien einer moorigen Senke zu folgen, zu klein, um ein Tal genannt zu werden, die von Weiden und Gestrüpp überwuchert war. Er hatte seine Verfolger noch nicht gewittert. Bei Anbruch der Abenddämmerung waren sie ihm dicht auf den Fersen. Gegen Abend des zweiten Tages erhaschte Grimwood in einem Weidendickicht einen kurzen Blick auf das Ungeheuer und die Pracht des mächtigen Kopfes, der mit Leichtigkeit alle Rekorde brach, ließ sein Herz vor Aufregung wie ein Hammerwerk schlagen. Er legte an und feuerte. Doch anstatt zusammenzubrechen preschte der Elch durch das Gebüsch davon und verschwand. Das Geräusch seines stampfenden Galopps verlor sich rasch in der Ferne. Grimwood hatte es verfehlt, auch wenn das Tier möglicherweise verwundet war.

Den ganzen nächsten Tag lang folgten sie der riesigen Fährte, nachdem sie ein Lager aufgeschlagen und dort ihr Kanu zurück gelassen hatten. Obwohl sie Spuren von Blut fanden, waren diese jedoch gering und bewiesen, dass der Schuss das Tier nur gestreift hatte. Der Marsch wurde immer beschwerlicher. Gegen Abend, als sie sich völlig verausgabt hatten, führte sie die Spur auf den Höhenrücken, auf dem sie nun standen und in das verzauberte Tal blickten, das sich zu ihren Füßen öffnete. Der riesige Elch war in dieses Tal hinabgestiegen, wohl weil er sich dort in Sicherheit fühlte. Grimwood stimmte dem Urteil des Indianers zu. Sie würden hier die Nacht über lagern und im Morgengrauen die wilde Jagd nach dem „größten Elch der Welt“ wieder aufnehmen.

Das Abendessen war vorüber und das kleine Feuer, auf dem sie es gekocht hatten, fast heruntergebrannt, als Grimwood zum ersten Mal bemerkte, dass sich der Indianer nicht wie gewöhnlich benahm. Was genau ihm merkwürdig vorkam, konnte er allerdings nicht sagen. Er war ein eher begriffsstutziger, schwerfälliger Mann, robust und unsensibel. Eine Tatsache musste seine Behaglichkeit, sein Wohlbefinden stören, bevor er sie wahrnahm. Jeder andere hätte den Wandel in der Stimmung der Rothaut schon lange vorher bemerkt. Tooshalli hatte das Feuer angezündet, den Speck geröstet, den Tee serviert und war jetzt dabei, die Schlafdecken auszurollen - seine und die seines Dienstherrn, als diesem sein Schweigen auffiel.

Tooshalli hatte seit anderthalb Stunden nicht ein einziges Wort gesprochen- seit sie den ersten Blick in das Tal geworfen hatten, um genau zu sein. Sein Schweigen fiel seinem Arbeitgeber erst jetzt auf, denn nach dem Abendessen hatte er es gern, Lagerfeuer- und Jagdgeschichten zu hören.

„Bist ganz schön erledigt? Nicht wahr?“, sagte Grimwood und schaute über den Feuerschein in das dunkle Gesicht. Er ärgerte sich über den Mangel an Konversation, jetzt, da er ihm einmal aufgefallen war. Er selbst war hundemüde, und obwohl ohnehin von aufbrausendem Gemüt, fühlte er sich noch reizbarer als gewöhnlich.

„Hast du die Sprache verloren, eh?“, knurrte er, als der Indianer seinen Blick mit ernster, ausdrucksloser Miene erwiderte. Dieser dunkle, unergründliche Ausdruck zerrte ein wenig an seinen Nerven. „Spuck's aus, Mann!“ stieß er scharf hervor. „Was ist los mit dir?“

Der Engländer hatte schließlich begriffen, dass es da etwas zum „ausspucken“ gab. In seinem jetzigen Zustand steigerte diese Erkenntnis noch seinen Ärger. Tooshalli blickte ernst, gab aber keine Antwort.

Sein Schweigen dehnte sich fast zu Minuten. Dann wandte er den Kopf etwas seitwärts, so als ob er lauschte. Grimwood beobachtete ihn mit wachsendem Ärger.

Doch es war die Art, in der die Rothaut den Kopf drehte und gleichzeitig den Körper völlig bewegungslos hielt, die an Grimwoods Nerven zerrte und ihn einer Empfindung auslieferte, die er in seinem ganzen Leben noch nicht erlebt hatte - er bekam eine Gänsehaut. Es brachte seine gesamte innere Ordnung in Aufruhr, machte ihn aber auch vorsichtig. Er mochte das nicht - diese Kombination von Gefühlen, die ihn verwirrten.

„Sag was, ich rate es dir“, wiederholte er in schärferem Ton und erhobener Stimme. Er setzte sich auf und schob seinen massigen Körper dichter ans Feuer. „Sag was, verdammt!“

Seine Stimme verlor sich den Bäumen ringsum und machte die Stille des Waldes auf unerfreuliche Weise spürbar. Kein Wind wehte, kein Ast rührte sich; nur das Knacken trockener Zweige war hin und wieder zu hören, wenn das nächtliche Leben sich manchmal unachtsam regte, das die Menschen an ihrem kleinen Feuer belauerte. Die Oktoberluft trug einen beißenden, frostigen Hauch heran.

Die Rothaut antwortete nicht. Kein Muskel seines Halses oder des starren Körpers bewegte sich.

„Nun?“, wiederholte der Engländer und senkte diesmal instinktiv seine Stimme. „Was hast du gehört, verdammt.“ Der Hauch seltsamer Nervosität, der seinen Ärger schürte, verriet sich in seiner Ausdrucksweise.

Tooshalli drehte seinen Kopf langsam wieder in seine normale Stellung, der Körper starr wie zuvor.

„Ich höre nichts, Mr. Grimwood“, sagte er und blickte mit stiller Würde in die Augen seines Dienstherrn.

Das war zu viel für den anderen, einen Mann von wildem Gemüt selbst in seinen umgänglichsten Momenten. Er war der Typ des Engländers, der feste Vorstellungen davon hatte, wie mit „minderwertigeren“ Rassen umzugehen war.

„Du lügst, Tooshalli – und ich lass mich nicht von dir belügen. Also was war es? Sag’s mir auf der Stelle!“

„Ich höre nichts“, wiederholte der Andere. „Ich denke nur.“

„Und was beliebst du zu denken?“

Die Ungeduld legte einen gehässigen Zug um seinen Mund.

„Ich gehe nicht“, war die brüske Antwort, unabänderliche Entschlossenheit in der Stimme.

Diese Erwiderung kam so unerwartet, dass Grimwood zuerst nichts sagen konnte. Für einen Augenblick begriff er die Bedeutung nicht. Sein gewohnt unbeweglicher Geist war durch Ungeduld verwirrt wie durch das, was er als die Lächerlichkeit dieser Szene empfand. Dann begriff er es blitzartig – und er erkannte die unerschütterliche Sturheit der Rasse, mit der er es zu tun hatte. Tooshalli teilte ihm mit, dass er nicht in das Tal gehen würde, in dem der große Elch verschwunden war. Seine Überraschung war so groß, dass er zunächst nur dasaß und starrte. Ihm fehlten schlicht die Worte.

„Es ist …“, sagte der Indianer und benutzte einen Eingeborenenausdruck.

„Was bedeutet das?“ Grimwood fand die Sprache wieder, aber es lag eine Drohung in ihrem ruhigen Ton.

„Mr. Grimwood, es bedeutet, ‘Tal der Tiere’“, kam die Antwort in noch ruhigerem Ton.

Der Engländer kämpfte ernsthaft um seine Selbstbeherrschung. Er erinnerte sich selbst daran, dass er es mit einer abergläubischen Rothaut zu tun hatte und er kannte deren Verbohrtheit. Wenn der Indianer ihn verließ, war der Jagdzug unwiderruflich gescheitert, denn alleine konnte er in der Wildnis nicht jagen. Selbst wenn er den begehrten Schädel erbeutete, konnte er ihn niemals alleine zurück bringen. Die angeborene Selbstsucht unterstützte seine Anstrengungen. Er musste den aufsteigenden Ärger unterdrücken und es mit Überredungskunst versuchen.

„Das Tal der Tiere“, sagte er mit einem Lächeln, mehr auf seinen Lippen als in den finster blickenden Augen. „Aber das ist doch genau das, was wir suchen. Wir sind hinter dem Wild her, oder nicht?“ Seine Stimme hatte einen falschen, vergnügten Klang, der nicht einmal ein Kind getäuscht hätte. „Aber was meinst du nun eigentlich damit – Das Tal des Wildes?“, fragte er in einem ungeschickten Versuch, sympathisch zu wirken.

„Es gehört Ishtot, Mr. Grimwood. Der Mann schaute ihm mit festem Blick ins Gesicht.

„Mein … unser … großer Elch ist dort“, sagte der Andere, der den Namen des indianischen Jagdgottes erkannte, und – weil er nun besser verstand – sicher war, seinen Begleiter überreden zu können. Es fiel ihm ein, dass Tooshalli, zumindest dem Namen nach, ein Christ war. „Wir nehmen im Morgengrauen die Verfolgung wieder auf und holen uns die größte Trophäe, die die Welt je gesehen hat. Du wirst berühmt sein.“ Seinen Ärger jetzt besser unter Kontrolle fügte er hinzu: „Dein Stamm wird dich verehren. Und die weißen Jäger werden dir viel Geld bezahlen.“

„Er geht dorthin, um sich in Sicherheit zu bringen. Ich gehe nicht.“

Grimwoods Zorn flammte angesichts dieser blödsinnigen Sturheit wieder auf. Aber er bemerkte trotzdem die altertümliche Wortwahl des Indianers. Er begann zu begreifen, dass nichts mehr diesen Mann umstimmen konnte. Gleichzeitig war ihm bewusst, dass Gewalt seinerseits die Sache nur schlimmer machen würde. Doch Gewalttätigkeit war nur natürlich für seinen „dominanten“ Charakter. Der brutale Grimwood wurde er oft genannt.

„Denk dran, dass du in der Siedlung wieder ein Christ bist“, versuchte er unbeholfen ein weiteres Argument. „Auf Ungehorsam steht das Höllenfeuer. Das weißt du.“

„Ich ein Christ – in Siedlung“, kam die Antwort. „Aber hier draußen herrscht Roter Gott. Tal gehört Ishtot. Kein Indianer jagen dort.“ Es war, als spräche ein Felsblock.

Das wilde Temperament des Engländers, aufgestaut durch die lange, mühsame Unterdrückung, flammte plötzlich auf. Er stand auf, trat seine Decken beiseite und stampfte auf den Indianer zu. Tooshalli erhob sich ebenfalls. Auge in Auge standen sie sich gegenüber, zwei Menschen allein in der Wildnis, beobachtet von zahllosen verborgenen Augen des Waldes.

Tooshalli stand reglos da, obwohl er mit einer Gewalttätigkeit des närrischen, unwissenden Bleichgesichts rechnete.

„Du geh allein, Mr. Grimwood.“ Es war keine Furcht in ihm.

Grimwood würgte vor Zorn. Nur mühsam stieß er die Worte hervor und brüllte sie in die Stille des Waldes:

„Ich bezahl dich – oder nicht? Du wirst tun, was ich sage und nicht, was du sagst!“ Seine Stimme hallte von den Bäumen wider. Der Indianer gab die alte Antwort:

„Ich gehen nicht“, erwiderte er standhaft.

Es stachelte den Anderen zu unkontrollierter Raserei an. Die Bestie drängte nach oben; sie brach sich Bahn.

„Das hast du einmal zu oft gesagt, Tooshalli.“ Grimwood schlug ihm brutal ins Gesicht. Der Indianer fiel nieder, kam wieder auf die Knie, brach neben dem Feuer zusammen und brachte sich mühsam in eine sitzende Position. Nicht einmal löste er seinen Blick vom Gesicht des weißen Mannes.

Außer sich vor Wut stand Grimwood über ihm. „Reicht das? Wirst du jetzt gehorchen?“ brüllte er.

„Ich gehen nicht“, kam die mühsame Antwort des Indianers. Blut rann aus seinem Mund, aber seine Augen blickten fest. „Dieses Tal Ishtot beschützt. Ishtot sehen uns jetzt. Er sehen dich.“ Die letzten Worte betonte er auf seltsame, fast unheimliche Weise.

Grimwood, den Arm erhoben und die Faust geballt, bereit, seine scheußliche Gewalttat zu wiederholen, hielt plötzlich inne. Sein Arm sank herab. Was genau ihn abgehalten hatte konnte er sich nicht erklären. Einerseits fürchtete er sich vor seiner eigenen Wut; fürchtete, dass er nicht aufhören konnte, wenn er sich jetzt gehen ließ – bis er getötet, einen Mord begangen hatte. Aber das war es nicht allein. Die ruhige Standhaftigkeit des Indianers, sein Mut trotz des Schmerzes und etwas in seinen furchtlosen, brennenden Augen geboten ihm Einhalt. War es auch etwas in den Worten, die er benutzt hatte – ‘Ishtot sehen dich’ – das eine eigenartige Warnung mitten in Grimwoods Wildheit bohrte?

Er konnte es nicht sagen. Er spürte nur, wie eine plötzliche Scheu über ihn kam. Der Wald, der sie umgab wurde ihm unangenehm bewusst. So still, als lausche er in einer Art undurchdringlichen mitleidlosen, Schweigens. Die einsame Wildnis, die reglos auf den beinahe begangenen Mord herabblickte, mischte eine unerklärliche dumpfe Kühle in sein zorniges Blut. Seine Hand sank wieder herab, die Faust öffnete sich, sein Atem beruhigte sich.

„Schau mal her“, sagte er und verfiel unbewusst in die hiesige Sprechweise. „Ich bin kein schlechter Mann. Obwohl dein Gehabe einen Mann verdammt ermüden kann. Ich will dir noch eine Chance geben.“ Seine Stimme klang verdrossen, aber mit einem neuen Unterton, der ihn selbst überraschte. „Ich tue es. Du kannst die Nacht über noch einmal darüber nachdenken, hörst du, Tooshalli? Besprich es mit deinem …“

Er beendete den Satz nicht. Irgendwie sträubte sich der Name des Indianergottes, über seine Lippen zu kommen. Er wandte sich ab, vergrub sich in seine Decke und war in weniger als zehn Minuten – von seinem Zornausbruch ebenso erschöpft wie von den Strapazen des Tages – fest eingeschlafen.

Der Indianer, der noch immer neben dem erlöschenden Feuer kauerte, hatte nichts gesagt.

*

Nacht umfing den Wald, der Himmel war von Sternen besät und das Waldleben ging lautlos seinen Geschäften nach mit jenem wun-

derbaren Geschick, das Millionen von Jahren zur Vollkommenheit entwickelt hatten. Der Indianer, in dem diese Fähigkeiten noch lebendig genug waren, dass er sie instinktiv nutzte, war still, wachsam und erfahren, seine Umrisse waren so unauffällig wie die seiner vierbeinigen Lehrer, als er mit dem umgebenden Dickicht verschmolz.

Wohl bewegte er sich, doch nichts und niemand wusste von seiner Bewegung. Seine Klugheit, geerbt von der ewigen uralten Mutter, die aus unendlicher Erfahrung heraus niemals Fehler machte, ließ ihn nicht im Stich. Sein behutsames Auftreten machte kein Geräusch, Atem und Schritt in perfektem Gleichgewicht.

Die Sterne beobachteten ihn, aber sie schwiegen darüber. Die leichte Luft kannte seinen Weg, aber sie verriet ihn nicht.

Die kühle Dämmerung schimmerte schließlich zwischen den Bäumen, beschien die fahle Asche eines erloschenen Feuers ebenso wie die unförmige Gestalt unter einer Decke. Die Kälte war durchdringend.

Und diese unförmige Gestalt bewegte sich, denn ein Traum quälte sie. Ein dunkles Etwas stahl sich durch sein noch wirres Blickfeld. Die Gestalt bewegte sich, aber sie erwachte nicht.

Das Etwas begann zu sprechen.

„Nimm dies“, flüsterte es und hielt ein seltsam geschnitztes Stöckchen. „Es ist das Totem des großen Ishtot. Im Tal werden dich alle Erinnerungen an die weißen Götter verlassen. Rufe Ishtot an. Rufe Ihn an, wenn du es wagst.“ Das dunkle Etwas glitt davon, fort aus dem Traum und fort aus jeder Erinnerung.

II

Als Grimwood erwachte, nahm er als Erstes wahr, dass Tooshalli nicht mehr da war. Kein Feuer brannte und kein Tee war bereit. Er fühlte wieder den Ärger. Mit zornigem Blick und einem Fluch erhob er sich, um Feuer zu machen. Seine Gedanken schienen ihm verwirrt und aufgewühlt und zuerst begriff er nicht viel mehr, als dass sein Führer ihn in der Nacht verlassen hatte.

Es war sehr kalt geworden. Mit einiger Mühe brachte er das Holz zum Brennen und bereitete sich seinen Tee. Dann erst fand er nach und nach in die wirkliche Welt zurück. Der Indianer hatte sich aus dem Staub gemacht. Vielleicht der Faustschlag, vielleicht sein abergläubisches Grauen – vielleicht auch beides – hatten ihn fortgetrieben.

Er war jetzt allein, das war eine offensichtliche Tatsache. Für andere Dinge als offensichtliche Tatsachen hegte Grimwood nur geringes Interesse. Fantasievolle Spekulationen hatten keinen Platz auf seinem Kompass. Zusammen mit der brutalen Veranlagung entsprach das seiner Natur.

Während er seine Decken zusammenpackte – mit dumpfem, bösartigem Groll – berührten seine Finger ein Stückchen Holz. Er wollte es wegwerfen, als die ungewöhnliche Form plötzlich seine Aufmerksamkeit weckte. Sein seltsamer Traum kehrte zurück. Aber war es ein Traum? Das Stück Holz war anscheinend ein Totemstab. Er untersuchte es und widmete ihm mehr Aufmerksamkeit, als er vorhatte, wünschte. Ja, es war fraglos ein Totemstab. Also war der Traum kein Traum gewesen. Tooshalli hatte ihn verlassen, aber aus Treue zu irgendeinem indianischen Gebot, hatte er ihm ein Mittel zu seinem Schutz dagelassen. Er lächelte säuerlich, stopfte aber den Stab in seinen Gürtel. „Man weiß nie“, murmelte er zu sich selbst.

Grimmwood sah der Situation ins Auge. Er war allein in der Wildnis. Sein tüchtiger, erfahrener Waldläufer hatte ihn im Stich gelassen. Eine ernste Lage. Was sollte er tun? Ein Schlappschwanz würde sicher umkehren und der Spur, die sie getreten hatten, zurück folgen aus Angst, in diesem riesigen Hinterland weglosen Waldes auf sich allein gestellt zu sein.

Aber Grimwood war aus anderem Holz. Beunruhigt war er, gewiss, aber aufgeben würde er nicht. Seine Fehler waren von besonderer Art. Die Brutalität seines Wesens erzeugte Kraft. Er war ein Sportsmann und fest entschlossen. Er würde weiter gehen.

Zehn Minuten nach dem Frühstück, nachdem er ein Lager für den übriggebliebenen Proviant eingerichtet hatte, war er auf dem Marsch, den Höhenrücken hinunter und in das geheimnisvolle Tal des Wildes.

Im morgendlichen Sonnenlicht bot es einen verzaubernden Anblick. Die Bäume schlossen sich hinter ihm, aber er bemerkte es nicht. Es trieb ihn voran …

Er folgte der Fährte des riesigen Elchs, den er zu töten gedachte, und der süße, herrliche Sonnenschein half ihm. Die Luft war wie Wein, die verlockende Spur des großen Tiers mit vereinzelten Blutstropfen auf Blättern und Boden lag stets direkt vor seinen Augen. Er empfand das Tal als – auch wenn ihm dieses Wort nicht in den Sinn kam – verführerisch. Mehr und mehr wurde ihm die Schönheit, die einsame Erhabenheit der mächtigen Fichten und Tannen bewusst, die Pracht der granitenen Klippen, die sich an manchen Stellen über den Wald zur Sonne erhoben.

Das Tal war tiefer und weiter als er es sich vorgestellt hatte. Er fühlte sich sicher hier, daheim, auch wenn diese Wörter ebenfalls nicht in sein Bewusstsein drangen. Hierher könnte er sich für immer zurückziehen und Frieden finden. Er entdeckte eine neue Eigenschaft an dieser tiefen Einsamkeit. Die Landschaft übte zum ersten Mal in seinem Leben einen Reiz auf ihn aus und die Art dieses Reizes war eigenartig – er fühlte sich behaglich.

Für einen Mann seiner Gewohnheiten war das ungewöhnlich, aber die neuen Empfindungen stahlen sich so sanft an ihn heran, so allmählich, dass sein Bewusstsein sie zunächst nur indirekt wahrnahm. Sie hatten sich in ihm ein genistet, lange bevor er sie wahrnahm; und diese Unterschwelligkeit zeigte sich darin, dass seine Jagdleidenschaft einem Interesse an dem Tal selber Platz machte.

Dieses Jagdfieber, die wilde Lust, aufzuspüren und zu töten, der unwiderstehliche Wunsch, kurz gesagt, seine Beute in Schussweite vor sich zu sehen, zu zielen, zu feuern, die Erfüllung der langen Expedition zu erleben – das alles hatte spürbar nachgelassen, während der Eindruck, den das Tal auf ihn machte, sich stetig verstärkte. Es lag eine Art Begrüßung darin, die er nicht verstand.

Diese Veränderung war einzigartig, doch, seltsam genug, sie kam ihm nicht einzigartig vor, sie war unnatürlich, aber sie fiel ihm nicht auf. Für einen stumpfen Geist seiner unachtsamen, oberflächlichen Art brauchte es herausragende, dramatische Änderungen, damit er sie wahrnahm. Etwas wie ein Schock musste sie begleiten, damit er bemerkte, dass etwas geschehen war. Aber es hatte keinen Schock gegeben.

Die Fährte des großen Elchs war viel deutlicher, jetzt, da er den Vorsprung des Tieres fast aufgeholt hatte; die Blutspuren waren häufiger zu sehen. Er entdeckte den Platz, an dem es geruht hatte, der mächtige Körper hatte einen deutlichen Eindruck auf dem weichen Boden hinterlassen. Hier und da war zu erkennen, wo es die Blätter von Baumschößlingen gezupft hatte. Zweifellos musste es sich ganz in der Nähe aufhalten und er rechnete jede Minute damit, den riesigen Körper vor sich zu sehen, nahe genug für einen sicheren Schuss. Aber sein Jagdeifer war irgendwie abgeflaut.

Er bemerkte diese Veränderung an sich, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass das Tier sich weniger vorsichtig verhielt. Es musste ihn doch wittern. Ein Elch mit seinem schwachen Sehvermögen war gänzlich auf seinen außerordentlich feinen Geruchssinn angewiesen. Und er hatte den Wind im Rücken. Das kam ihm entschieden ungewöhnlich vor: Der Elch war offensichtlich sorglos, trotz der Nähe des Jägers. Er hatte keine Angst.

Es war diese unerklärliche Veränderung im Verhalten des Tiers, die ihn schließlich den Wandel in sich selbst bemerken ließ. Er war dem Elch nun einige Stunden gefolgt und hatte dabei achthundert bis tausend Fuß Höhenunterschied zurückgelegt. Die Bäume standen hier lichter und es gab parkähnliche Flecken, wo Silberbirke, Essigbaum und Ahorn ihre lodernden Farben versprühten. Ein kristallklarer Bach schäumte über mehrere Wasserfälle dem Talgrund zu, der noch einmal tausend Fuß weiter unten lag.

An einem stillen, von Felsen umschlossenen Teich, hatte der Elch offensichtlich gehalten um zu trinken. Grimwood erhob sich, nachdem er sorgfältig geprüft hatte, welche Richtung der Elch nach dem Trinken genommen hatte - die Hufabrücke waren frisch und deutlich in dem moorigen Boden am Ufer – und blickte plötzlich geradewegs in die Augen des riesigen Geschöpfs. Es war keine zwanzig Meter entfernt von dort, wo er jetzt stand – und er hatte fast zehn Minuten dort gestanden, gefangen vom Zauber und der Einsamkeit des Platzes. Der Elch musste die ganze Zeit dicht neben ihm gewesen sein. Er hatte ruhig getrunken, ungestört durch seine Anwesenheit und ohne Scheu.

Jetzt kam der Schock, der Schock, der seiner schwerfälligen Natur die Erkenntnis aufzwang. Für einige Sekunden, wahrscheinlich Minuten, stand er wie angewurzelt, bewegungslos, kaum atmend. Er starrte als sähe er eine Vision. Das Tier hatte den Kopf gesenkt, aber etwas schräg gewandt, so dass die Augen an den Seiten des mächtigen Hauptes ihn genau beobachten konnten. Grimwood sah die weit gespreizten Vorderbeine, die enormen Schultern, die zu den herrlichen Flanken hin abfielen. Es war ein prächtiger Bulle. Das Geweih und der Schädel erfüllten seine wildesten Erwartungen, sie waren unübertrefflich, ein Rekordexemplar, und eine Redensart – wo hatte er die gehört? – ging ihm undeutlich, wie aus weiter Ferne, durch den Sinn: ‘Der größte Elch auf der Welt.’

Trotzdem, da war die außergewöhnliche Tatsache, dass er nicht schoss; er fühlte nicht einmal den Wunsch zu schießen. Der vertraute Instinkt, sonst so stark in seinem Blut, meldete sich nicht; der Wunsch zu töten hatte ihn offenbar verlassen. Plötzlich war es ihm unmöglich, das Gewehr anzulegen, zu zielen und zu schießen.

Er bewegte sich nicht. Das Tier und der Mensch starrten sich gegenseitig in die Augen, eine lange Zeit, deren Dauer er nicht ermessen konnte. Dann hörte er ein sanftes Geräusch dicht neben sich: Das Gewehr war seinem Griff entglitten und mit einem dumpfen Laut auf den moosigen Boden zu seinen Füßen gefallen.

Und der Elch bewegte sich nun zum ersten Mal. Mit gemächlichem, ruhigem Schritt kam er auf ihn zu. Sein ungeheures Gewicht erzeugte schmatzende Geräusche, wenn er die Füße vom sumpfigen Grund löste. Die massigen Schultern verliehen ihm den Anblick eines auf dem Meer schwankenden Schiffes. Dann war das Tier neben ihm, berührte ihn fast, den prächtigen Kopf gesenkt. Die Breite des mächtigen Geweihs lag direkt vor seinen Augen. Er hätte es tätscheln, streicheln können. Er sah, mit einem Anflug von Bedauern, das Blut, das aus einer Wunde in der linken Schulter sickerte und das dichte Fell verklebte. Es schnüffelte an dem fallengelassenen Gewehr.

Dann hob es wieder Kopf und Schultern und witterte in die Luft, diesmal mit einem vernehmbaren Geräusch, das die letzte Möglichkeit aus Grimwoods Bewusstsein verjagte, es könne sich um einen Traum oder eine Vision handeln.

Einen Moment starrte es in sein Gesicht, mit furchtlosen braunen Augen, dann wandte es sich abrupt ab und trabte davon, immer schneller, über die parkartigen Stellen, bis es schließlich jenseits davon im Gewirr des Unterholzes verschwand. Die Muskeln des Engländers gaben nach, seine Starre verließ ihn, die Beine weigerten sich, sein Gewicht zu tragen, und er sank schwer zu Boden.

III

Er hatte anscheinend geschlafen, lang und tief. Er setzte sich auf, streckte sich, gähnte und rieb sich die Augen. Die Sonne hatte den Himmel überquert, denn die Schatten, die er sah, zeigten nun nach Osten, und es waren lange Schatten. Offenbar hatte er mehrere Stunden geschlafen und der Abend dämmerte herauf. Er fühlte sich hungrig. In seinen beutelartigen Jackentaschen hatte er Trockenfleisch, Zucker, Streichhölzer und Tee und das kleine Kochgeschirr, das er immer bei sich trug. Er würde ein Feuer machen, Tee kochen und essen.

Aber er machte keine Anstalten, seine Absicht auszuführen. Er spürte eine Abneigung dagegen, aufzustehen, saß nur da und grübelte, grübelte … Worüber grübelte er? Er konnte es nicht genau sagen; es waren nur flüchtige Bilder, die durch sein Bewusstsein glitten. Wer war er, und wo? Dies war das Tal des Wildes, das wusste er; aber sonst war er sich über nichts sicher. Wie lange war er schon hier, und woher war er gekommen, und warum? Die Fragen verweilten nicht, bis er Antworten fand, fast so, als habe er lediglich ein automatisches Interesse an ihnen. Er fühlte sich glücklich, friedvoll, ohne Angst.

Er schaute empor und der Bann des jungfräulichen Waldes kam über ihn wie ein Zauber; nur das Rauschen des fallenden Wassers, das Murmeln und Seufzen des Windes zwischen unzähligen Zweigen durchbrach die allumfassende Stille. Am Himmel über den Wipfeln der ragenden Bäume spannte sich ein wolkenloser Abendhimmel in durchscheinendem Orange, Opal und Perlmutt. Er sah Bussarde, die träge empor stiegen. Eine scharlachfarbene Tangare huschte vorbei. Bald würden die Eulen beginnen zu rufen und die Nacht sich wie ein süßer schwarzer Schleier herabsenken und alle Dinge verbergen, unter dem Funkeln tausender und abertausender Sterne…

Sein Blick fiel auf etwas, das auf dem Boden schimmerte – ein glatter, polierter Streifen gerundeten Metalls: sein Gewehr. Er schickte sich an aufzustehen, ohne noch zu wissen, was er zu tun beabsichtigte. Beim Anblick der Waffe war etwas in ihm plötzlich lebendig geworden, dann verblasst, erloschen und wieder verschwunden.

„Ich – ich bin – „, stammelte er zu sich selbst, konnte aber nicht vollenden, was er sagen wollte. Sein Name war verschwunden. „Ich bin im Tal des Wildes“, wiederholte er anstelle dessen, was er suchte aber nicht finden konnte.

Die Tatsache, dass er sich im Tal des Wildes befand, schien das einzig sichere Wissen zu sein, das er besaß. An dem Namen haftete etwas Bekanntes und Vertrautes, aber was es war konnte er nicht festhalten. Nichtsdestotrotz stand er auf, ging ein paar Schritte vorwärts, bückte sich und hob das schimmernde Metallding auf, sein Gewehr. Er untersuchte es kurz, mit aufsteigender Furcht und Abscheu, fast einem Entsetzen, das ihn zittern ließ, dann – mit einer ruckartigen Bewegung, deren Intensität er sich nicht erklären konnte – schleuderte er das Ding weit von sich in den schäumenden Wildbach. Er sah das Aufspritzen und erblickte im selben Moment den großen Grizzlybären, der schwerfällig am Ufer entlang trottete, keine zehn Meter von ihm entfernt. Dieser hatte das Platschen auch wahrgenommen, denn er stutzte, verhielt eine Sekunde, wechselte dann die Richtung und kam auf ihn zu. Er kam ganz nahe. Sein Pelz streifte Grimwoods Körper. Er untersuchte ihn gemächlich, wie der Elch es getan hatte, schnüffelte, halb auf die schrecklichen Hinterbeine aufgerichtet und öffnete das Maul, so dass die rote Zunge und die schimmernden Zähne deutlich zu sehen waren. Dann ließ er sich wieder auf alle Viere plumpsen und stieß ein tiefes Grollen aus, indem jedoch kein Zorn schwang. Er wandte sich ab und trottete rasch zum Ufer zurück. Grimwood hatte den heißen Atem auf seinem Gesicht gespürt, aber er hatte keine Furcht empfunden. Das Ungeheuer war verwirrt, aber nicht feindselig, und es entfernte sich.

„Sie wissen nicht, was ein …“, er suchte nach dem Wort für „Mensch“, fand es aber nicht. „Es hat sie nie jemand gejagt.“

Die Worte huschten durch seinen Geist, auch wenn er sich nicht ganz sicher war, was sie bedeuteten. Sie tauchten sozusagen von selber auf; irgendwo in ihnen lag ein vertrauter Klang. Zugleich stiegen Gefühle in ihm auf, die er ähnlich empfand, obwohl auf andere Weise vertraut und natürlich; Gefühle die er einst sehr gut gekannt, aber vor langer Zeit verloren hatte.

Was waren sie? Woher kamen sie? Sie schienen so weit weg wie die Sterne und waren doch in seinem Körper, in seinem Blut und den Nerven, ein fester Bestandteil seines Fleisches. …Oh, wie lang, wie lang?

Es fiel ihm schwer zu denken; aber es fiel ihm leicht zu empfinden. Wenn er versuchte zu denken, gelang ihm das nur für kurze Zeit, dann kamen die Empfindungen und erstickten den Versuch.

Dieser riesige, scheußliche Bär – nicht ein Nerv, nicht ein Muskel hatte gezittert, als der scharfe Geruch in seine Nase gedrungen war und sein Fell sich an seinen Beinen gerieben hatte. Dennoch war er sich bewusst, dass irgendwo Gefahren lauerten, wenn auch nicht hier. Irgendwo gab es Angriffslust, Feindseligkeit und ausgeklügelte Pläne gegen ihn – wie gegen das herrliche umherschweifende Tier, das ihn beschnüffelt und geprüft hatte und dann zufrieden seiner Wege gegangen war. Aber – nicht hier. Hier war er sicher, geborgen und in Frieden; hier war er glücklich; hier konnte er frei umherschweifen, ohne ängstliche Blicke in die Tiefen des Waldes, ohne ständig die Ohren nach verdächtigen Lauten zu spitzen, ohne nach verdächtigen Gerüchen zu schnüffeln. Er fühlte es, ohne es zu denken. Er fühlte sich auch hungrig und durstig.

Etwas in ihm drängte ihn schließlich zum Handeln. Das Kochgeschirr lag neben seinen Füßen und er hob es auf. Die Streichhölzer – sie steckten in einer Büchse, deren Schraubdeckel sie vor Feuchtigkeit schützte – waren schon in seiner Hand. Er sammelte einige trockene Zweige und bückte sich, um sie anzuzünden. Plötzlich zuckte er zurück – zum ersten Mal empfand er Furcht.

Feuer! Was war Feuer? Der Gedanke erschien ihm abstoßend, es war unmöglich, er fürchtete sich vor Feuer. Er schleuderte die Metalldose dem Gewehr hinterher, sah sie in den letzten Strahlen des Sonnenuntergangs aufblinken und mit leisem Platschen im Wasser versinken. Als er auf sein Kochgeschirr blickte, begriff er, dass er keinen Gebrauch davon machen konnte, ebenso wenig wie von dem trockenen braunen Zeug, das er in Wasser hatte kochen wollen. Er fühlte keinen Widerwillen, schon gar keine Furcht bei dem Gedanken an diese Dinge. Er konnte sie nur nicht benutzen, er brauchte sie nicht und hatte vergessen, ja vergessen, was sie eigentlich bedeuteten. Diese eigenartige Vergesslichkeit ergriff immer schneller von ihm Besitz, wurde umfassender mit jeder Minute. Doch der Durst musste gelöscht werden.

Im nächsten Moment fand er sich am Bachufer wieder. Er bückte sich, um sein Kochgeschirr zu füllen, hielt inne, zögerte, musterte das strömende Wasser und ging unvermittelt einige Schritte bachaufwärts. Das Kochgeschirr ließ er zurück. Er war ungeschickt damit umgegangen, mit linkischen, ja unnatürlichen Handbewegungen. Jetzt warf er sich auf mühelose, einfache Art zu Boden, senkte den Kopf zu einer ruhigen Stelle im Wasser und trank von der kühlen, erfrischenden Flüssigkeit. Aber, auch wenn er das nicht bemerkte, er trank nicht – er leckte.

Er blieb hocken wo er war und aß das Fleisch und den Zucker aus seinen Taschen, leckte noch etwas Wasser und bewegte sich ohne sich aufzurichten ein Stück zurück, auf den trockenen Boden unter den Bäumen. Dort rollte er sich zu einer bequemen Position und schloss die Augen um zu schlafen. Nicht eine einzige Frage erhob sich jetzt noch in ihm. Er fühlte nur Behagen und Zufriedenheit.

*

Er regte sich, schüttelte sich, öffnete ein Auge halb und sah – was er bereits im Schlaf gefühlt hatte – dass er nicht allein war. Auf den parkartigen Flächen vor ihm, wie auch in den Schatten des Waldrandes hinter ihm waren Bewegung und Geräusche, Geräusche von schleichenden Füßen und die Bewegung zahlloser dunkler Körper. Das Schreiten und Stampfen von Tieren, das Dahinziehen dunkler Rücken, geschmeidiger Wesen in endlosem Strom. Auf diese Masse fiel das Licht des Halbmondes der hoch am wolkenlosen Himmel stand. Das Schimmern der Sterne, die in der klaren Nachtluft wie Diamanten funkelten, spiegelte sich in hunderten von Augen, die meisten von ihnen nur ein paar Fuß über dem Boden. Das ganze Tal war lebendig.

Er setzte sich auf und starrte, starrte – doch er starrte in Verwunderung, nicht in Furcht, obwohl einige aus der großen Masse ihm so nahe kamen, dass er nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um sie zu berühren. Er blickte gebannt auf ein rastloses Gewimmel im fahlen Licht des Mondes und der Sterne, das nun in der aufkommenden Morgendämmerung verblasste. Und der Geruch des Waldes selbst erschien ihm keineswegs lieblicher als der vermischte Duft, roh, scharf und stechend, dieser pelzigen Masse von herrlichen wilden Tieren, die sich wie ein Meer bewegten. Myriaden von Füßen und Körpern, die in stetigem Auf und Ab vorbeizogen. Auch war das Leuchten der phosphoreszierenden Augen nicht weniger angenehm als jene freundlichen Lampen, die verirrte Wanderer zu gemütlichen Stuben und Geborgenheit leiteten. Aus der wilden Armee strömte die tiefe Behaglichkeit des ganzen Tales auf ihn über, eine Behaglichkeit, die die Freundlichkeit einer Einladung und das Willkommen einer magischen Heimkehr in sich trug.

Es waren keine Gedanken in ihm, aber seine Empfindungen schwollen zu einer Flut von Verwunderung und Zustimmung. Sein Wesen hatte nach Hause gefunden. Er fühlte eine vage, trübe Ahnung in sich, dass er nach einer langen, nutzlosen Irrfahrt in einer anderen Welt, in der widrige Bedingungen ihn gezwungen hatten, sich unnatürlich und damit schrecklich zu benehmen, dahin zurückgekehrt war, wo er hingehörte. Hier, im Tal des Wildes, hatte er Frieden, Geborgenheit und Glück gefunden. Er würde endlich er selbst sein.

Es war eine wunderbare, fast magische Szene, die er beobachtete, die Nerven aufs Höchste angespannt und doch völlig ruhig, die Sinne zu äußerster Wachsamkeit gereizt, doch es war nichts beunruhigendes in den Botschaften, die sie ihm zutrugen. Unaufhaltsam wie eine mächtige Flut und doch undeutlich wie aus unermesslich fernen Zeiten und Räumen erhob sich über ihm der Bann einer längst vergessenen Erinnerung an einen Zustand, in dem er zufrieden und glücklich war, in dem er natürlich war. Die Schemen mächtiger, archaischer Bilder tauchten vor ihm auf und verblassten wieder, bevor ihre Einzelheiten erkennbar wurden.

Er beobachtete die große Armee der Tiere, sie waren nun überall um ihn herum. Er kauerte auf den Knien im Mittelpunkt eines ruhelosen Stroms wilden Waldlebens. Große Timberwölfe liefen hin und her, kamen in langen Sätzen auf ihn zu und drehten anmutig wieder ab. Mit heraushängenden roten Zungen schwärmten sie zu hunderten umher. Zwischen ihnen trotteten die riesigen Grizzlies, nicht plump, wie ihre ungeschlachten Körper es hätten vermuten lassen, sondern leichtfüßig, geschmeidig und flink. Sie tollten herum und richteten sich manchmal halb auf, wohlgestaltet in ihrer Kraft und Masse. Und der schwarze und der braune Bär waren mit ihnen, Bären ohne Zahl, Ungeheuer und kleine Bärchen, eine prächtige Schar.

Ein Stück hinter ihnen, wo die parkartigen Flächen mehr Bewegungsspielraum ließen, erhob sich ein Meer von Hörnern und Geweihen wie ein Miniaturwald im silbernen Mondlicht.

Der gewaltige Stamm des Hirschwildes sammelte sich in riesigen Herden unter dem sternenbeschienen Himmel. Elch und Karibu, der mächtige Wapiti und der kleinere Rothirsch in dichtgedrängten Tausenden. Er hörte den Klang aneinanderschlagender Geweihe, den Tritt zahlloser Hufe, das gelegentliche Scharren am Boden, wenn die größeren Geschöpfe sich mehr Raum verschafften. Er sah einen Wolf, der behutsam die verletzte Schulter eines gr0ßen Elchbullen leckte. Und die Flut zog sich zurück, schwoll wieder an, stieg und fiel wie eine lebendige See mit Wellen in Tierform, den Bewohnern des Tals des Wildes.

Unter dem schweigenden Mondlicht wogten sie vor ihm hin und her. Sie beobachten ihn, erkannten ihn und hießen ihn willkommen.

Er bemerkte auch eine Welt kleineren Lebens, das eine Art Unterströmung bildete und zwischen den Beinen der größeren Geschöpfe hin und her wimmelte. Auch wenn er sie nicht direkt sehen konnte, ahnte er, dass sie in ungeheuren Massen die Erde bedeckten. Sie huschten hierhin und dorthin, tauchten auf und verschwanden wieder; zu emsig mit ihren eigenen Dingen beschäftigt, um ihm die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken wie ihre größeren Genossen. Sie prallten gegen seinen Rücken, schossen an ihm vorbei, flitzten sogar über seine Beine und huschten mit dem trippelnden Geräusch rastloser kleiner Füße davon, zurück in die Masse der anderen Tiere. Auch in dieser kleinen Welt fühlte er sich zu Hause.

Er konnte nicht sagen, wie lange er so saß und schaute, glücklich mit sich selbst, geborgen, zufrieden und natürlich. Aber es war lange genug, um in ihm den Wunsch zu erwecken, sich mit dem zu vermischen, was er sah, engen Kontakt zu spüren, eins zu werden mit ihnen allen, lange genug für jenes tiefe, blinde Begehren sich anzuschließen. So begann er sich nach einiger Zeit von seinem moosigen Sitz auf sie zuzubewegen, so wie sie es taten, und nicht aufgerichtet auf zwei Beinen.

Der Mond stand jetzt tiefer und versank gerade hinter einer ragenden Zeder, deren struppige Krone sein Licht zu silbrigem Schein zerstreute. Auch die Sterne waren blasser geworden. Über den Höhen am östlichen Ende des Tals begann es rötlich zu schimmern.

Er hielt inne und schaute sich um, als er bemerkte, dass die Masse bereits ihre Reihen geöffnet hatte, und dass ein Bär sogar mit der Nase auf dem Boden scharrte, als wolle er ihm den Weg zeigen, dem er folgen solle. Plötzlich sprang ein Lux an ihm vorbei in die unteren Äste einer Hemlock-Tanne und er hob den Kopf, um dessen perfektes Gleichgewicht zu bewundern. Im selben Augenblick erblickte er die Ankunft der Vögel; die Armee der Adler, Falken und Bussarde, Raubvögel – der Weckflug, der der Morgendämmerung vorausging. Er sah die Schwärme und Formationen, die die verblassenden Sterne mit einem unglaublichen Geschwirr von Schwingen verdeckten, als sie vorüberzogen. Der Ruf einer Eule erklang gerade über ihm, wo der Luchs ohne Bösartigkeit auf seinem Ast kauerte.

Er stutzte und erhob sich in eine halb aufrechte Stellung. Er wusste nicht, warum er das tat, konnte nicht genau sagen, warum er gestutzt hatte. Aber in dem Versuch, sein neues und, wie es nun schien, ungewohntes Gleichgewicht zu finden, sank eine Hand an seiner Seite herab und berührte ein hartes gerades Ding, das sperrig aus seinen Kleidern hervor ragte. Er zog es heraus und betastete es mit den Fingern. Es war ein kleiner Stock. Er hob ihn vor seine Augen und musterte ihn im Licht der Dämmerung, das nun rasch zunahm. Er erinnerte sich, erinnerte sich undeutlich, was es war und verharrte regungslos.

„Der Totemstab“, murmelte er zu sich selbst, aber doch hörbar, und fand so die Sprache wieder. Und etwas anderes – ein schwaches Aufflackern der Erinnerung – zum ersten Mal, seit er das Tal betreten hatte.

Ein flammender Schrecken durchfuhr ihn; er richtete sich gerade auf, als ihm bewusst wurde, dass er einen Augenblick zuvor auf Händen und Knien gekrochen war. Es schien, als sei etwas in seinem Hirn zerbrochen und habe einen Schleier zerrissen, eine Sperre weggesprengt. Und die Erinnerung drängte mit schrecklicher Kraft durch die Bresche..

„Ich bin … bin Grimwood“, flüsterte sein Stimme, leiser als sein Atem. „Tooshalli hat mich verlassen. Ich bin allein …“

Er bemerkte eine Änderung im Verhalten der Tiere, die ihn umdrängten. Ein großer grauer Wolf saß einen Meter entfernt und starrte ihm ins Gesicht; neben ihm ein riesiger Grizzly, der sich von einem Fuß auf den anderen wiegte; dahinter, als ob er den beiden über die Schulter schaute, ragte ein gigantischer Wapiti auf, dessen Geweih in die Schatten der herabhängenden Zweige einer Zeder tauchte. Aber die nördliche Dämmerung war nun nah, die Sonne stand dicht unter dem Horizont. Mit scharfer Deutlichkeit konnte er nun Einzelheiten erkennen.