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Steckt eine echte Piratin in dir? Alejas Wunsch nach Abenteuern geht in Erfüllung, als sie in die Besatzung des legendären Schattenschiffs aufgenommen wird. Denn die Piratinnen an Bord des Schiffs suchen nach einer magischen Schatzkarte – und die soll in einer versunkenen Wüstenstadt versteckt sein. Doch Kraken, Piratenjäger und knifflige Rätsel erschweren den Weg. Um an ihr Ziel zu gelangen, müssen die Piratinnen Mut beweisen und all ihren Einfallsreichtum aufbringen! Ausgezeichnet mit der "Ulmer Unke 2021" als Bestes Kinderbuch ab 10 Jahren! Die ersten Tage an Bord des Schattenschiffes verbrachte Aleja damit, sich umzusehen. Die Magie in den Geheimgängen und verborgenen Kammern zeigte sich jeden Tag in anderer Gestalt. Mal als leuchtender Wasserfall, dann wieder als funkelnder Dunst, als über Nacht aus dem Boden gewachsener Urwald oder als schillernde Blasen, die um Aleja herumtanzten und sie zum Lachen brachten. "Dieses Schiff ist aus dem Stoff gemacht, aus dem Legenden sind", hatte Kapitänin Quint geantwortet, als Aleja sie gefragt hatte, wie das möglich war. "Alle Legenden, die sich um das Schattenschiff ranken, sind wahr und tragen zu seiner Magie bei." Entdecke alle Abenteuer rund um "Aleja und die Piratinnen": Band 1: Das Schattenschiff Band 2: Der Tempel der Wunder
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Seitenzahl: 318
Veröffentlichungsjahr: 2020
leja war ein abenteuerlustiges Mädchen. So abenteuerlustig, dass es sie manchmal an ungewöhnliche Orte zog. Heute Nacht zum Beispiel spazierte sie, statt zu schlafen, über die Dächer von Sevilla. Zu Hause hatte sie ein großes Kissen unter ihre Bettdecke gestopft.
Aleja kletterte von einem Dach zum anderen und wagte sich immer weiter in den ältesten Teil der Stadt vor. Viele der hohen, nur durch schmale Gassen getrennten Häuser waren baufällig, und Aleja musste aufpassen, dass sie nicht von den losen Ziegeln und schmalen Simsen abrutschte. Sie malte sich aus, dass die mächtigen Kuppeln und Türme zu Schlössern, Burgen und Kathedralen gehörten und dass ihre Mauern sagenhafte Geschichten von längst verstorbenen Königen, Königinnen, Entdeckern und Gelehrten erzählten. Nachts war die beste Zeit, um solche heimlichen Streifzüge zu unternehmen. Dann summte das Raunen der Stadt in ihren Adern.
Von hier oben konnte sie einen ganz neuen Blick auf ihre Heimatstadt werfen. Sevilla duftete nach Orangenblüten und war wie ein großes Schiff fest in der Vergangenheit vertäut.
Im Schutz der Dunkelheit sprang Aleja auf das nächste Haus und lief quer über das weiße Flachdach. Ihre kleine Schultertasche hüpfte auf ihrem Rücken. Aleja machte einen so weiten Satz, dass es sich einen Moment lang anfühlte, als würde sie fliegen. Dann prallte sie mit ausgestreckten Armen so unsanft auf die gegenüberliegende Mauer, dass ihr die Luft wegblieb. Doch sie erholte sich gleich wieder, machte es sich oben auf der Mauer bequem und lachte in sich hinein. Die Stadt gehörte ihr.
Sie zog die Beine unter sich, lehnte sich an ein gedrungenes Türmchen, holte ein dickes Buch aus der Tasche und schlug es so schwungvoll auf, dass der Buchrücken knackte. Die Lichter der Giralda – das war der hohe, schlanke, kunstvoll verzierte Turm, der einst als Minarett gedient hatte, inzwischen aber ein Glockenturm war – warfen ihren matten Schein auf die Seiten, und Aleja fing zu lesen an.
Das Buch war auf Englisch verfasst und hieß LegendäreEntdecker. Es erzählte unter anderem von den Reisen, die Christoph Kolumbus von Sevilla aus unternommen hatte, und obwohl Aleja begierig war, mehr über seine Expeditionen und Seefahrten zu erfahren, handelten ihre Lieblingskapitel von jemand anderem.
Thomas James war ein britischer Entdecker gewesen, der die Welt auf seinem eigenen Schiff bereist und Urwälder, Steppen und Wüsten durchquert hatte. Das Buch war zwar nicht in Alejas Muttersprache Spanisch, sondern auf Englisch verfasst, aber Aleja hatte sich diese Sprache in langen Schmökerstunden selbst beigebracht und sie hatte das Buch so oft gelesen, dass seine Sätze wie gute alte Freunde für sie waren, die man nicht mehr vergaß.
Als sie irgendwann merkte, dass es allmählich hell wurde, klappte sie Legendäre Entdecker zu und sagte halb laut auf Englisch vor sich hin:
ThomasJameswarderKönigderEntdecker.Ersegelteunter falscher Handelsflagge, um sein wahres Ziel – nämlich die Geheimnisse der Welt zu enträtseln – nicht preiszugeben. Auf seinem Schiff prangte ein uraltes Symbol …
Das waren die Geschichten, um die sich Alejas Träume rankten.
iratenüberfälle im Mittelmeer.“
leja setzte sich kerzengerade auf und spähte zum Hafen hinüber.
War es bloß Einbildung gewesen? Sie sog prüfend die Luft ein. Nein, der Wind trug unverkennbar einen beißenden Geruch heran. Doch die Schiffe lagen in tiefer Dunkelheit, nichts Verdächtiges war zu erkennen.
Wieder schien das Mondlicht zu flackern, und Aleja legte den Kopf in den Nacken. Ein riesiger Vogel schwebte mit ausgebreiteten Flügeln geräuschlos über dem Hafengelände, beschrieb zwei Kreise und landete dann auf dem Bug eines Schiffes, das Aleja unbekannt vorkam.
Da!
Das Schiff glitt langsam in den Hafen.
Es war ein unscheinbares Segelschiff mit nur einem großen Mast in der Mitte, an dem sämtliche Segel befestigt waren. Die Segel selbst waren vom langen Gebrauch schon ein bisschen zerlumpt. Dass das Schiff so langsam fuhr, schien Absicht zu sein, denn eigentlich waren solche Fahrzeuge flink und wendig. Auf offener See überholten sie die schweren Frachtschiffe und benötigten nur eine kleine Besatzung. Was Aleja aber am meisten ins Auge stach, als sie sich an die bröckelige Brüstung der Dachterrasse drückte und die Einfahrt des fremden Schiffes verfolgte, war etwas anderes.
Von dem Schiff stieg Rauch auf.
Große Teile des Rumpfes waren rußgeschwärzt und verströmten offenbar den Schießpulvergestank. Wenn Aleja die Augen zusammenkniff, erkannte sie den Umriss eines großen Loches – das musste von einer Kanonenkugel stammen. Das Schiff kam geradewegs aus einer Schlacht!
Seltsamerweise besaß es selbst kein Kanonendeck.
Die Flagge am Mast war blau mit einem diagonalen weißen Kreuz – eine Handelsflagge. Warum beschoss jemand ein Handelsschiff, das keine eigenen Geschütze mitführte? Alejas Hände zitterten vor Aufregung. War das unbekannte Schiff etwa von Piraten überfallen worden?
Es warf auf der gegenüberliegenden Seite des Hafens Anker, ein Stück abseits der größeren Schiffe. Die Dunkelheit verbarg seine lädierte Erscheinung. Anschließend blieb erst einmal alles ruhig, aber Aleja konnte sich trotzdem nicht von dem Anblick lösen.
Dann entdeckte sie etwas.
Etwas, das vorn am Bug im Schein der Schiffslaterne glitzerte. Aleja tastete nach dem geschliffenen Stück Glas, das sie auf dem Dach versteckte, und spähte hindurch. Dank der Vergrößerung erkannte sie, dass in den Bug eine Eule mit ausgebreiteten Flügeln geschnitzt war. Auf jedem Flügel prangte ein goldenes Auge. Aleja wunderte sich, trotzdem kamen ihr die sonderbaren Augen irgendwie bekannt vor. Doch bevor ihr einfiel, woher, wurde ein klappriger Laufsteg heruntergelassen, und zwei Gestalten gingen an Land. Sie hielten auf die Schenke zu. Sofort eilte Aleja die Stiege wieder herunter und auf die Straße.
Sie versteckte sich hinter der Hauswand und wartete. Eine Minute verstrich, dann eine zweite. Und gerade, als Aleja es nicht mehr aushielt, hörte sie etwas. Zwei Personen unterhielten sich gedämpft. Aleja drückte sich flach an die Mauer und spitzte die Ohren, dann fiel ihr etwas auf. Nicht, dass eine der Personen Englisch sprach – das war nichts Ungewöhnliches in Sevilla, wo Schiffe aus aller Welt ankamen –, sondern dass die Stimme unverkennbar einer Frau gehörte.
Sie lugte um die Hauswand herum.
Die beiden Gestalten trugen dunkle Kapuzen, aber Aleja erhaschte einen Blick auf ein paar lange blonde Haarsträhnen, dann antwortete die zweite Frau auf Englisch mit einem Akzent, den Aleja nicht einordnen konnte: „Keine Ahnung, wo wir um diese Zeit so viel Holz herbekommen sollen.“
„Wir können nicht warten, bis es hell wird. Wir brauchen die Bretter sofort.“
„Dann müssen wir sie von einem anderen Schiff stehlen.“
Damit waren die beiden außer Hörweite.
Aleja überquerte die Straße, lief aber nicht hinter den Frauen her zum Hafen, sondern in die entgegengesetzte Richtung.
Noch nie im Leben war sie so gerannt. Sie nahm denselben Weg wie schon vorher – gestern? –, den Weg zur Universität. Als sie über den Hof stürmte, färbte sich der Himmel bereits mattorange.
Aleja kletterte wieder durchs Fenster, lief zielstrebig zu einem Regal, zog LegendäreEntdecker heraus und setzte sich damit auf den Boden. Das Buch klappte von allein an der Stelle auf, die Aleja so unzählige Male gelesen hatte, dass sie die Sätze fast auswendig konnte: ThomasJameswarderKönigderEntdecker.ErsegelteunterfalscherHandelsflagge,umseinwahresZiel –nämlichdieGeheimnissederWeltzuenträtseln –nichtpreiszugeben.AufseinemSchiffprangteeinuraltesSymbol,dieEulederAthene.SiestandfüralldasWissen,daserinseinemSchiffhütete.Eshieß,ZugangzudiesemWissenkönnemansichnurmitJames’goldenemSchlüsselverschaffen.ThomasJamesgiltalseineArtSchattengestaltderWeltmeere.SeineZeitgenossenunddieGeschichtsschreibungwissennurwenigüberihnundseineEntdeckungsreisenzuberichten,undseineTagebüchersindunwiederbringlichverschollen.
Und da war auch die Abbildung, ganz unten auf der Seite: eine kleine goldene Eule. Zwei Augen zierten ihre ausgebreiteten Flügel.
Rasch suchte Aleja in den Regalen nach einem Werk über die alten Griechen. Sie entdeckte einen stockfleckigen Band mit dem Titel Göttliche Symbole, blätterte bis zu der griechischen Göttin vor und las: Athene war die Göttin der Weisheit und der Kriegskunst. Ihr sind Kriegssymbole zugeordnet, des Weiteren der Olivenbaum und die scharfsichtige Eule.
Eine Verwechslung war ausgeschlossen – bei dem unbekannten Segelschiff musste es sich um das Schiff von Thomas James handeln. Aber der Entdecker war seit über achtzig Jahren verschollen! Wer waren dann diese Frauen, die mit seinem Schiff unterwegs waren?
Was hatten die beiden angetrunkenen Seeleute gesagt? „Die Besatzung soll nur aus Weibern bestehen.“ Und: „Auf dem Schiff sollenalleSeeleuteherumspuken,diesieschonumgebrachthaben,darum nennt man das Schiff auch …“
Aleja bekam Herzklopfen.
Sie griff zu Die gefürchtetsten Piraten der Weltmeere und hatte rasch gefunden, was sie suchte:
Schattenschiff, das
Sagenumwobenes Piratenschiff. In Hafenschenken kursieren blutrünstige Schauergeschichten über die mordlustige Besatzung. Keine Sichtungen bekannt.
Jetzt war Aleja endgültig überzeugt, dass das unbekannte Schiff mit der Handelsflagge, das Schiff von Thomas James sowie das Schattenschiff ein und dasselbe Fahrzeug waren. Sie drückte die Bücher an sich und dachte wieder an die beiden Frauen.
Ihr wurde auf einmal klar, dass es schon immer Mädchen gegeben hatte, die wie sie selbst waren – Mädchen, die sich insgeheim brennend nach Abenteuern sehnten. Und wenn diese Mädchen groß waren, wurden sie Piratinnen.
Aleja musste sich das rätselhafte Schiff unbedingt näher ansehen.
ls die ersten Strahlen der Morgensonne in die Bibliothek fielen, stellte Aleja die Bücher zurück, doch dann hielt sie inne, weil etwas Funkelndes ihren Blick anzog.
In den Sockel des Regals war eine vergoldete Eule geschnitzt, aber sie war schon so abgewetzt, dass sie kaum noch zu erkennen war. Die Schnitzerei musste schon sehr alt sein. Aleja kniete sich hin und beklopfte den Sockel prüfend. Poch-poch-poch … Wieder hielt sie inne. Das letzte Pochen hatte hohl geklungen! Aufgeregt beugte sie sich vor und entdeckte einen schmalen Spalt, in den sie gerade mal den Fingernagel zwängen konnte. Es knarrte leise, dann klappte der Regalsockel plötzlich auf, sodass Staub und tote Fliegen durch die Luft wirbelten.
In der Öffnung, die zum Vorschein kam, lag ein Buch.
Bronzefarbene Buchstaben waren in den Einband geprägt: Thomas James. Mit bebenden Fingern zog Aleja ihren Fund heraus. War das etwa eins der verschollenen Tagebücher? Doch nein – dafür war das Buch zu dünn. Es enthielt nur sechs Blätter aus dickem, gelblichem Papier, und die Seiten waren leer. Aleja war enttäuscht. Sicherheitshalber betrachtete sie jede Seite eingehend, aber sie hatte nichts übersehen.
Sie richtete sich wieder auf und ihre Gedanken überschlugen sich. Auf dem Buch stand Thomas James’ Name. Sie hatte es in einem Geheimfach entdeckt, das mit dem gleichen Symbol verziert war wie sein Schiff. Und jemand hatte sich viel Arbeit gemacht, um das Buch in der Bibliothek zu verstecken – aber warum, wenn es doch leer war? Das Buch musste etwas zu bedeuten haben, da war Aleja sicher. Aber was nur?
Sie klemmte ihren geheimnisvollen Fund unter den Arm, kletterte wieder durchs Fenster und kehrte zum Hafen zurück.
Um diese frühe Stunde erwachte der Hafen. Wo Aleja auch hinsah, überall wurden große Kisten an dicken Tauen hochgehievt oder herabgelassen und Schiffe be- oder entladen. Der Guadalquivir-Fluss schlug richtige Wellen, als große und kleine Fahrzeuge umeinander herummanövrierten. Der lang gestreckte, gewundene Hafen zog sich an der Altstadt entlang, und Alejas Ziel war der östliche Kai. Dort lag eins der größten Docks, und die Seeleute, die an Land gingen, landeten praktisch alle direkt im El Puente.
Hinter Aleja erstreckte sich ein dichtes Gewirr aus Gassen und Gebäuden. Möwen kreischten, Salzgeruch tränkte die Luft. Wieder ging ihr durch den Kopf, wie nah das Meer doch war. Trotzdem hatte sie es noch nie gesehen, obwohl es per Schiff nur einen halben Tag entfernt war. Das goldene Buch fest unter den Arm geklemmt, ließ sie den Blick über das Hafengelände wandern und überlegte, wie sie sich dem sonderbaren Segelschiff unauffällig nähern könnte. Sie musste herausfinden, was es mit dem Schiff von Thomas James und seiner weiblichen Besatzung auf sich hatte.
Als sie sich ihren Weg zwischen den Kistenstapeln hindurchbahnte, musterte sie jeden, der ihr entgegenkam, entdeckte aber keine Frauen, die nicht hierherzugehören schienen. Zwei Männer, die ein schweres Fass schleppten, fluchten derb, als Aleja ihnen vor die Füße lief, aber sie ließ sich davon nicht aufhalten.
Am Kai hatte sich eine Schar Händler eingefunden. Sie priesen den Ankömmlingen lautstark ihre Waren an und schwenkten lockend Orangen und Olivenölflaschen. Es war zwar noch früh am Tag, aber Aleja musste sich trotzdem beeilen. Wenn die abuela aufstand, würde sie merken, dass ihre Enkelin nicht da war. Als Aleja an den Verkaufsbuden vorbeilief, rannte sie wieder in zwei Männer mit einem Fass hinein. Abermals wurde sie mit Flüchen überschüttet, und die Männer bückten sich nach dem Kleingeld, das ihnen heruntergefallen war. Aleja machte, dass sie weiterkam, aber dann horchte sie auf und blieb stehen. An einem Obststand sprach jemand stockendes Spanisch mit englischem Akzent, und dieser Jemand war eine Frau.
Aleja schlich näher, ganz Augen und Ohren und Neugier. Die Frau feilschte mit einem Budenbesitzer um einen Korb Orangen.
Sie trug eine Pluderhose, weiche Lederstiefel und ein weißes Hemd unter einer geschnürten Weste. Ihre sommersprossigen Wangen waren gerötet, sonst war sie eher blass. Auch auf der Nase hatte sie Sommersprossen und Fältchen um die Augen. Das lange kastanienbraune Haar war mit einem Lederband zurückgebunden. Ihre Aufmachung war so ungewöhnlich – eine Frau in Hosen! –, dass Aleja sie unwillkürlich mit offenem Mund anstarrte. Gehörte die Frau etwa zur Besatzung des Schattenschiffes? War sie eine Piratin? Aleja spürte, dass sie einem Rätsel gegenüberstand, zu dessen Entschlüsselung ihr noch ein paar entscheidende Hinweise fehlten – aber sie wollte es unbedingt lösen!
Sie überlegte noch, ob sie die Fremde ansprechen sollte, als die Frau sich umdrehte und Aleja so eindringlich musterte, als wollte sie ihr die Haut abschälen, um zu sehen, was sich darunter verbarg. Unwillkürlich überlegte Aleja, was die Fremde wohl vorfinden würde. Ein wogendes Muster aus Gedanken, Fantasiebildern und Träumen? Doch da hatte sich die Frau schon wieder abgewandt, die Orangen an sich genommen und reichte dem Händler nun das Geld. Aleja betrachtete sie noch einmal, und plötzlich schien sich die Zeit zu verlangsamen. Sonnenverbrannte Unterarme, schwielige Hände … und die Tätowierung, die unter dem hochgekrempelten Ärmel hervorlugte und eine Eule darstellte.
Die Frau nahm ihren Einkauf und ging davon. Aleja bekam einen Schreck. Jetzt oder nie!
„¡Espere! Wartet! Wait!“, stieß sie hervor, wusste aber nicht, ob sie es richtig aussprach, denn ihre Englischkenntnisse stammten ja nur aus Büchern. Bei ihren mitternächtlichen Besuchen in der Bibliothek hatte sie die fremden Vokabeln bei Kerzenschein vor sich hingeflüstert und sich vorgestellt, sie sei eine berühmte Entdeckerin auf einer Expedition zum Nordpol oder zum Nil, die fünfzehn Sprachen fließend beherrschte und sich auch sonst auf allen erdenklichen Gebieten auskannte. Aber noch nie hatte sie jemanden auf Englisch angesprochen, so wie jetzt in ihrer Angst, eine unwiederbringliche Gelegenheit zu verpassen.
Die Frau blieb stehen. „Du sprichst Englisch?“ Sie musterte Aleja stirnrunzelnd von oben bis unten. Aleja schämte sich, dass ihr Kleid schmutzig war. Nicht auszudenken, wie ihre Großmutter geschimpft hätte, wenn sie ihre Enkelin in dieser Verfassung ertappt hätte. Vor lauter Verlegenheit nickte sie nur stumm und hoffte, dass die Frau nicht auf den Zustand ihrer Kleidung achtete.
Tatsächlich schien sich die Fremde mehr für etwas anderes zu interessieren, denn ihr Blick blieb ganz kurz auf dem Buch in Alejas Hand hängen, um sogleich wieder zu ihrem Gesicht zurückkehren. Doch Aleja war nicht entgangen, dass die Frau geschluckt und ihre Miene sich verfinstert hatte, als sie den Titel auf dem Einband gelesen hatte. Sie hatte das Buch wiedererkannt. Mehr noch – Aleja spürte, dass die Fremde es in ihren Besitz bringen wollte. Sofort packte sie ihren Fund fester. Wusste die Fremde vielleicht, was das rätselhafte Buch für Geheimnisse barg?
Doch jetzt sagte die Frau: „Unsere Besatzung braucht jemanden, der sich mit Sprachen auskennt. Unsere vorige Sprachkundige ist …“, sie stockte kurz, „… nicht mehr da.“ Als sie Aleja strahlend anlächelte, verschwanden ihre Stirnfalten wie Mäuse, die davonhuschten. „Na, interessiert?“
Aleja, ein Mädchen, das Wörter so liebte – spanische, französische, englische Wörter, sogar ein paar arabische –, war auf einmal um Worte verlegen. Sie stand stumm da und drückte ihr Buch an sich, doch in ihrem Inneren herrschte wilder Aufruhr. Sollte sie mit der Fremden mitgehen? Die Versuchung war groß. Endlich ein echtes Abenteuer!
Aber etwas hielt sie zurück. Sie musste daran denken, wie Miguel zumute wäre, wenn sie so überraschend aus seinem Leben verschwand.
Der Mut verließ sie.
„Verstehe“, sagte die Frau, ließ Aleja aber immer noch nicht aus den Augen.
Aleja schaute zu Boden. Alles, was sie gern entgegnet hätte, schoss ihr durch den Kopf, doch als sie sich dazu durchgerungen hatte, es auszusprechen, war die Frau schon weg. Rasch drehte sich Aleja einmal um sich selbst, aber die Fremde war nirgends mehr zu sehen, war samt Pluderhose und Eulentätowierung von der Menge verschluckt. Aleja spürte, dass sie nicht zurückkommen würde.
Sie hatte sich immer ausgemalt, dass sie die erstbeste Gelegenheit zu einem Abenteuer bedenkenlos ergreifen würde, aber da hatte sie sich anscheinend überschätzt. Natürlich konnte sie immer noch versuchen, Thomas James’ Schiff auszuspionieren und herauszufinden, was die Besatzung vorhatte und wo das Schiff von Piraten überfallen worden war, und auch das Rätsel des Buches war noch ungeklärt, trotzdem war sie von sich selbst tief enttäuscht.
Wütend trat sie gegen das nächstbeste Fass. Es klirrte, und als Aleja durch ein Loch im Deckel spähte, sah sie es metallisch schimmern. Münzen! Das Fass enthielt Geld. Viel Geld. Ganz in der Nähe trugen Männer ähnliche Fässer auf ein Schiff. Aleja kannte etliche von ihnen, denn sie arbeiteten als Geldeintreiber für Juans Vater und waren oft gesehene Gäste im El Puente. Aber warum beluden sie das Schiff mit Fässern voller Geld? Aleja bückte sich nach ein paar heruntergefallenen Münzen und steckte sie ein. Die letzte behielt sie in der Hand und betrachtete sie von beiden Seiten. Dann ging ihr ein Licht auf. Das war Falschgeld!
Jemand packte sie grob am Kragen und zog sie von dem Fass weg. Aleja schnappte erschrocken nach Luft und trat um sich.
„¿Qué haces aqui?“, knurrte eine barsche Stimme: „Was hast du hier zu suchen?“
„Nada!“, keuchte Aleja und versuchte, sich aus dem eisernen Griff des Mannes zu befreien. Er entwand ihr die Münze und packte noch fester zu. Aleja gab es auf, sich zu wehren, und versuchte es mit einer anderen Taktik. „Ich erzähl’s keinem“, sagte sie. „Das kostet aber was.“
Der Mann musste lachen, und sein Griff lockerte sich. Aleja holte mit dem Fuß aus und versetzte ihm einen kräftigen Tritt. Er stöhnte auf, und sie konnte sich endlich losreißen.
Sie rannte davon. Der Mann war der Stärkere, aber dafür konnte sie schneller laufen. Wie ein Aal schlängelte sie sich durch die Altstadtgassen hinter dem Hafen und kam auf einer breiten Straße heraus. Vor ihr lagen die Werften, die noch aus dem Mittelalter stammten.
Früher waren hier ganze Flotten prächtiger Schiffe gebaut worden, der Stolz der Weltmeere, doch inzwischen dienten die großen Ziegelhallen mit ihren gotischen Spitzbögen nur noch als Lagerhäuser. Hier und dort moderte hinter den Mauern noch ein halb fertiges Schiff vor sich hin, und man erzählte sich, dass es hier spukte, aber Aleja war noch keinem Gespenst begegnet. Allerdings trieb sich Juan oft hier herum.
Als er Aleja entdeckte, ging das boshafte Grinsen über sein Gesicht, das ihr sonst das Blut in den Adern gefrieren ließ, doch als er den Mund aufmachte – bestimmt um ihr wie üblich eine Gemeinheit entgegenzuschleudern –, warf sie ihm eine Münze aus ihrer Tasche zu.
„Sieh dir das mal an“, forderte sie ihn auf.
Juan verzog keine Miene, als er das Geldstück betrachtete, aber Aleja entging nicht, dass er ein bisschen blass um die Nase wurde.
„Hör endlich auf, mich zu belästigen“, sagte sie energisch, „oder ich sorge dafür, dass sich die Hafenbehörde die Geschäfte deines Vaters mal genauer anschaut. Geldfälscher werden geköpft, stimmt’s?“ Sie ließ die anderen Münzen in ihrer Hand in der Sonne funkeln, dann steckte sie sie wieder ein. „Beweismittel.“ Sie klopfte auf ihre Tasche.
Juan riss sich zusammen. „Willst du mir drohen, oder was?“
Aleja hörte, dass jemand angelaufen kam. Sie schlenderte davon, grinste Juan aber noch einmal über die Schulter an. „Du hast’s erfasst.“
Sie zwang sich, langsam zu gehen, bis sie außer Sichtweite war, dann flitzte sie los. Juan brauchte nicht mitzubekommen, dass die Handlanger seines Vaters hinter ihr her waren, er sollte ruhig ins Schwitzen kommen. Dass sie sich getraut hatte, ihm zu drohen, hatte sie in Hochstimmung versetzt, aber die stampfenden Schritte auf dem Kopfsteinpflaster machten ihr wieder bewusst, dass sie in Gefahr schwebte. Sie schlüpfte in eine schmale Sackgasse und drückte sich an eine Mauer.
„Das wird schon“, redete sie sich mit gedämpfter Stimme gut zu und kniff die Augen zusammen. „Die kriegen mich nicht.“
„Ach nein?“, sagte jemand belustigt.
Der Mann stand an der Einmündung der Sackgasse und schaute zu ihr herüber. Hinter ihm standen noch zwei Burschen und grinsten hämisch.
Aleja schluckte schwer. „Ich nehm’s zurück, es kostet nichts. Ihr braucht mir nichts dafür zu geben, dass ich niemandem etwas erzähle.“
Der Mann kam näher. „Soso … aber leider traue ich dir jetzt nicht mehr. Ich tu’s nicht gern“, er zuckte die Achseln, „aber ich muss sichergehen, dass du die Klappe hältst.“
Die Sonne ließ die scharf geschliffene Dolchklinge gleißend funken, und Aleja war geblendet. Als sie sah, dass die Waffe auf sie gerichtet war, ging sie langsam rückwärts, bis sie ans Ende der Sackgasse kam. Inzwischen hatten alle drei Männer Dolche gezückt, und ihre Schadenfreude war unübersehbar. Sie waren sich ihrer Sache sicher.
Aleja lachte in sich hinein.
he die Männer reagieren konnte, hatte Aleja das Buch in die große Tasche vorn an ihrem Kleid gesteckt, sich umgedreht und die Finger in die Mauerfugen gekrallt. Dann kletterte sie so gelenkig an der Mauer hoch wie eine Bergziege aus der Sierra Nevada.
Wo jemand anders nur herausgebrochene Steine, raue Kanten und bröckelige Vertiefungen gesehen hätte, sah Aleja Haltegriffe für ihre Finger und Stufen für ihre Füße. Klettern war beinahe wie Fliegen, und man fühlte sich dabei herrlich frei.
Es dauerte nicht lange, bis sie sich auf ein Flachdach hochziehen konnte. Sie hielt aber nicht an, sondern lief quer über die sonnenheißen Ziegel und tauchte unter aufgehängter Wäsche hindurch. Ihr Herz schlug so schnell, wie sich ihre Füße bewegten, und als sie am anderen Ende des Daches ankam und sah, wer dort wartete, kam sie nur schlitternd zum Stehen.
Die Frau in der Pluderhose lächelte sie an.
„Klettern kannst du auch? Sehr gut“, sagte sie auf Spanisch und kam näher, bis Aleja im Schatten des breitkrempigen Hutes ihre Sommersprossen erkennen konnte.
„Ich … Seid Ihr mir gefolgt?“ Aleja schob das Buch, das ein Stück herausgerutscht war, wieder in ihre Kleidertasche.
Die Frau hatte es trotzdem entdeckt. „Manchmal muss man ungewöhnliche Maßnahmen ergreifen“, erwiderte sie leichthin, dann erschollen unten auf der Straße laute Rufe.
„¡Ladrona! Haltet die Diebin!“
Aleja erschrak, denn sie erkannte die aufgebrachten Stimmen ihrer Verfolger wieder. Kein Wunder, dass die Männer in Panik waren. Wenn Aleja sie anzeigte, würde die Obrigkeit eine Ermittlung einleiten, und sie würden wegen Geldfälschung einen Kopf kürzer gemacht. Wenn sie Aleja aber zu fassen bekamen und als Diebin hinstellten, würde ihr kein Mensch glauben, und sie würde öffentlich ausgepeitscht werden.
Die Frau deutete mit dem Kinn nach unten. „Ganz recht“, sagte sie so gelassen, als wären sie und Aleja nicht auf der Flucht, sondern tränken nur Tee auf dem Dach. „Wenn du mich einen Blick auf dein Buch werfen lässt, verstecke ich dich auf unserem Schiff. Dort findet dich keiner.“ Ihre Augen funkelten.
„Einverstanden“, sagte Aleja.
„Kennst du den kürzesten Weg zum Hafen?“
„Ich kenne diese Stadt in- und auswendig“, gab Aleja lachend zurück.
Die Frau breitete die Arme aus. „Dann führ uns hin. Aber bitte hinten herum und zum östlichen Teil des Hafens. Dort liegt unser Schiff vor Anker.“
Die Gebäude in der Altstadt drängten sich schief und krumm aneinander wie schlechte Zähne. Aleja sprang zielstrebig von einem Dach aufs nächste und hörte, wie die Frau ihr folgte. Unwillkürlich strahlte sie übers ganze Gesicht und reckte die Arme in die Höhe, sodass sie den blauen Himmel zu streifen glaubte. Sie würde das rätselhafte Schiff zu sehen bekommen!
Dann kletterte sie gelenkig eine Mauer hinunter, wobei sie sich, ohne hinzuschauen, mit den Füßen vorantastete. Die Rufe hatten sich vervielfacht, als wären es mehr Verfolger geworden, und sie kamen aus allen möglichen Richtungen. Alejas Strahlen erlosch, und weder sie noch die Frau sprachen ein Wort. Sie hielten sich möglichst im Schatten, und Aleja zwang sich weiterzulaufen, ohne anzuhalten. Sie wollte sich dem Hafen im Bogen nähern und wechselte im Zickzack von einer Gasse in die andere, doch da stolperte sie über einen hochstehenden Pflasterstein und landete so unsanft auf den Knien, dass ihr kurz die Luft wegblieb.
Ehe die Frau sie wieder hochziehen konnte, schloss sich eine große Hand wie ein Schraubstock um ihren Ellbogen. „Hab ich dich endlich!“ Aleja sträubte sich, aber der Mann war aus Erfahrung klug geworden und drückte ihr mit der anderen Hand den Dolch an die Kehle. Sofort hielt Aleja still.
„He, du! Such dir gefälligst einen gleich großen Gegner!“ Die Frau hatte die Situation sofort erfasst und stemmte herausfordernd die Hand in die Hüfte.
Der Mann drückte fester mit der Dolchklinge zu. Aleja rang nach Luft und biss die Zähne zusammen, obwohl sie es kaum aushielt, sich nicht wehren zu können.
„Lass das Mädchen einfach los, dann kannst du mit mir kämpfen“, fuhr die Frau in ihrem stockenden Spanisch fort.
„Die Angelegenheit ist geschäftlich“, entgegnete der Mann. „Die Kleine ist eine Diebin, und Diebe werden in dieser Stadt nicht geduldet.“
„Was hat sie denn gestohlen?“
Keine Antwort.
Die Frau nickte. „Hab ich mir schon gedacht.“ Mit klackernden Absätzen kam sie auf Aleja und den Mann zu. Unwillkürlich wünschte Aleja sich, sie besäße selbst Stiefel und könnte damit durch die Straßen stolzieren. Noch ein Schritt – und der Mann nahm den Dolch von Alejas Kehle und richtete ihn stattdessen auf die Frau. Doch er hielt Aleja immer noch eisern am Ellbogen fest und zog sie an sich. Aleja wehrte sich, aber ohne Erfolg.
Beim nächsten Schritt der Frau riss der Mann den Dolch hoch. Aleja glaubte zu sehen, wie ihr die Fremde zuzwinkerte, oder bildete sie sich das bloß ein? Doch da griff die Frau blitzschnell in ihren Stiefel, zog ein krummes Messer heraus und schlug dem überrumpelten Mann den Dolch aus der Hand, dass es nur so klirrte. Bevor er sich nach der Waffe bücken konnte, grub ihm Aleja die Zähne in den Arm. Mit einem Aufschrei ließ er sie los und hielt sich die blutende Wunde.
„Gut gemacht“, sagte die Frau anerkennend, dann verpasste sie dem Mann einen Fausthieb ins Gesicht, und es knackte laut.
Er sackte aufheulend zusammen und hielt sich die gebrochene Nase.
„Komm!“ Die Frau beförderte den Dolch rasch mit einem Tritt außer Reichweite, dann bedeutete sie Aleja, wieder vorauszulaufen. Hinter sich hörten sie immer mehr Verfolger durch die schmalen Gassen trampeln. Alle wollten die ladrona fassen.
Es wurde immer heißer, und von der Kathedrale hallte Glockengeläut zu ihnen herüber.
„Das war toll!“, keuchte Aleja im Laufen, auch wenn sie nicht wusste, ob die Fremde sie verstand. Ihr Spanisch schien so mangelhaft zu sein wie ihre Ortskenntnis.
Sie überquerten die von prächtigen Gebäuden gesäumten Straßen, die zum Königspalast führten. Zahlreiche Kutschen und Reiter waren hier unterwegs, aber Aleja hörte schon die Möwen kreischen und roch das Salzwasser. Sie war gespannt auf das legendäre Schiff von Thomas James – hatte aber auch Angst. Gleich würde sie das Schattenschiff, das jetzt ein Piratenfahrzeug war, mit eigenen Augen sehen! Bestimmt war der Kapitän einer so mordwütigen Besatzung ein furchterregender Anblick … narbenbedeckt, kostbar gekleidet und bis an die Zähne bewaffnet.
Hinter ihnen ertönte ein neuer Schwall Rufe, und die Frau sprang mit einem Satz in ein kleines Ruderboot. „Spring!“, rief sie auch Aleja zu und löste schon das Haltetau.
Aleja gehorchte. Die Frau griff zu den Rudern und lenkte das Boot geschickt zwischen den größeren Schiffen und den Marktbooten hindurch, bis sie hinter Menschen und Segeln vor den Blicken ihrer Verfolger verborgen waren. Was hatte Juan doch gleich gehöhnt? Einen kümmerlichen Zwerg wie dich würden sie sowieso nicht mitnehmen.
„Warum hilfst du mir eigentlich?“, rutschte es Aleja heraus.
Die Frau blickte kurz auf. „Du erinnerst mich an … jemanden. Du bist ein mutiges kleines Ding. Die Abenteuerlust steht dir ins Gesicht geschrieben.“
Erst als sie den Teil des Hafens erreicht hatten, wo das Piratenschiff vor Anker lag, fiel Aleja auf, dass die Frau in ihrer eigenen Muttersprache geantwortet hatte, nämlich auf Englisch. Und Aleja hatte jedes Wort verstanden.
as geheimnisvolle Segelschiff war größer, als es von Weitem ausgesehen hatte, und Aleja konnte es nicht erwarten, an Bord zu gehen. Dann waren sie so nah heran, dass Aleja den Rumpf hätte anfassen können. Die Frau klopfte zweimal kräftig dagegen, worauf ihnen von oben zwei Taue zugeworfen wurden.
„Beherrschst du Knoten?“, fragte die Frau auf Englisch.
„Äh … hab’s noch nie probiert“, antwortete Aleja ebenfalls auf Englisch. Sie hatte immer noch Schwierigkeiten mit der ungewohnten Aussprache, aber die Frau nickte, also hatte sie Aleja anscheinend verstanden. Vielleicht würde sie sich nur ein paar Stunden auf dem Piratenschiff verstecken müssen, aber sie wollte unbedingt einen guten Eindruck machen – vor allem, da sie offenbar tatsächlich sprachbegabt war. Vielleicht konnte sie ja noch einmal auf das Angebot der Frau zurückkommen, auf dem Schiff mitzufahren.
Aleja sah zu, wie die Frau das Boot an beiden Enden sachkundig vertäute. Dann klopfte sie wieder an den Schiffsrumpf, und ein kräftiger Ruck ging durch das Boot, sodass Aleja sich an ihrer Sitzbank festklammerte. Als das Boot hochgezogen wurde, konnte Aleja die Bordwand näher in Augenschein nehmen. Auf dieser Seite wies der Rumpf kein Einschussloch auf, trotzdem stank das ganze Schiff nach Schießpulver. Aleja wurde wieder mulmig zumute, als sie sich die Besatzung vorstellte, der sie gleich gegenübertreten würde. Ungebetene Bilder von blutrünstigen Piratinnen drängten sich ihr auf. Womöglich würde man sie gar nicht an Bord lassen, sondern sofort ins Wasser werfen. Aleja drehte sich nach dem schmutzigen, aufgewühlten Fluss um, auf dem sich die Boote drängten. Vielleicht wäre sie nicht so ängstlich gewesen, wenn sie schwimmen könnte, aber anderseits wollte ja wohl niemand in dieser Brühe schwimmen, oder? Sie biss sich auf die Unterlippe und sah verstohlen zu der Frau hinüber, die ihr gegenübersaß. Wenigstens sie wirkte nicht allzu blutrünstig.
Als sie auf gleicher Höhe mit dem Schiffsdeck waren, stand die Frau auf. Sie balancierte das Schwanken des Bootes mühelos aus und schwang sich gelenkig über die Heckreling. Aleja staunte. Sie war es nicht gewohnt, dass eine Frau, die so alt sein mochte wie ihr Vater, solche Kunststücke vollbrachte. Doch Aleja war entschlossen mitzuhalten. Sie sprang an der Bordwand hoch und suchte mit den Füßen Halt auf dem feuchten Holz. Es war schwerer, als eine Mauer hochzuklettern, denn die Planken waren glatt und Alejas Arme waren nicht kräftig genug, um es genauso wie die Frau zu machen. Doch sie stemmte die flachen Sohlen gegen den Schiffsrumpf und krabbelte wie ein zu groß geratenes Insekt Stück für Stück nach oben. Dann bekam sie die Reling zu fassen und hievte sich hinüber. Als sie auf das Deck plumpste, rutschte ihr das Buch aus der Tasche, und ein sonderbares Beben überlief das Schiff. Die Segel wellten sich, das Steuerruder drehte sich von allein, und die Planken ächzten und knarrten.
Aleja rappelte sich sofort hoch, hob das Buch auf und starrte ungläubig auf das Ruder, das wieder zum Stillstand kam. Dann erst merkte sie, dass drei Frauen vor ihr standen: die Engländerin, die sie schon kannte, und zwei Fremde.
„Was war das denn?“, sagte eine der Frauen und musterte Aleja argwöhnisch.
Im Gegensatz zu der Engländerin waren die beiden anderen eindeutig als Piratinnen zu erkennen. Ihre Kleidung war von Salzwasser und Sonne verblichen, sie hatten Gefechtsnarben und waren schwer bewaffnet.
„Ich wüsste eine Erklärung …“ Die Engländerin unterbrach sich und schmunzelte, als Aleja die beiden Piratinnen nicht minder argwöhnisch musterte. „Wie ich euch schon erzählt hatte, ist sie ein mutiges kleines Ding.“
Die eine Frau nickte wortlos, und Aleja reckte trotzig das Kinn. Auch diese Frau trug eine Pluderhose und ein weites Hemd. An ihrer Hüfte baumelte ein krummes Entermesser, und auf ihrer dunkelbraunen Lockenmähne thronte ein schwarzer Schlapphut. Sie hatte ein rundes Gesicht mit hohen Wangenknochen und langen Wimpern und einen Höcker auf der Nase. Auch sie hatte die Ärmel hochgekrempelt, sodass Aleja die Eulentätowierung auf ihrer tief gebräunten Haut erkennen konnte.
„Schleppst du uns die nächste Hafengöre an?“, fragte die dritte Frau mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie sprach Englisch mit südländischem Akzent. Um den Kopf hatte sie ein schwarz-golden besticktes Tuch gebunden, ihr langärmliges Gewand war aus dem gleichen Stoff. Nur aus einem Ärmel schaute eine Hand hervor, der andere war über einem Stumpf zugeknotet. Es war aber nicht die fehlende Hand, an der Alejas Blick hängen blieb, und auch nicht die beiden langen Narben, die sich brutal über das Gesicht der Frau zogen, sondern ihre atemberaubende Schönheit. Noch nie war es Aleja in den Sinn gekommen, dass Schönheit auch gefährlich sein konnte, aber diese Frau trug ihre Schönheit wie eine Waffe. Ihre Augen funkelten wie der Krummsäbel an ihrer Hüfte, und obwohl sie jünger als die beiden anderen war, schüchterte ihre Erscheinung Aleja ein: die stolze Haltung, der kalte Blick, die prunkvolle Kleidung. Sie wirkte wie die geborene Anführerin. Das musste die Kapitänin sein.
„Die Kleine hat etwas entdeckt, das geheim bleiben sollte, und jetzt wird sie von der halben Stadt gesucht“, klärte die Engländerin ihre Gefährtinnen auf. „Sie braucht für ein paar Stunden eine Zuflucht, bis sich die Lage wieder beruhigt hat.“
Warum erwähnt sie das Buch mit keinem Wort? Aleja packte den Einband fester.
Aus dem Augenwinkel sah sie etwas flackern und hätte das Buch vor Schreck beinahe fallen lassen. Auf einmal waren sie von einem Heer schemenhafter grauer Gestalten umringt: Frauen und Mädchen, dem Anschein nach alles Piratinnen, die mit leeren Blicken über das Deck starrten.
Aleja machte große Augen. „Sind das Gespenster?“
„Es sind die Schatten ehemaliger Besatzungsmitglieder“, antwortete die Engländerin. „Sie sind noch am Leben und über die ganze Welt verteilt. Am Anfang sind die Schatten ein bisschen beunruhigend, aber man gewöhnt sich an sie.“
„Unser Schiff ist einzigartig“, verkündete die Kapitänin stolz, als die Geistergestalten wieder in den Decksplanken verschwanden. Aleja hatte schon immer an Geister und Magie geglaubt, und das hier war der unbestreitbare Beweis.
„Danke, dass ich an Bord durfte“, wandte sie sich respektvoll an die Kapitänin.
Die drei Frauen wechselten einen Blick.
„Vielleicht habe ich meine Rolle in Sevilla ein bisschen zu gut gespielt“, sagte die Engländerin dann belustigt.
„Ihr seid die Kapitänin?“ Aleja wurde klar, dass die Frau sie schon die ganze Zeit einer Prüfung unterzogen hatte.
„Kapitänin Elizabeth Quint, zu Diensten“, sagte die Frau. Sie deutete auf ihre Gefährtin mit der Pluderhose und der entblößten Eulentätowierung. „Das ist meine Quartiermeisterin Olitiana.“ Dann nickte sie der Frau mit den funkelnden Augen und dem Krummsäbel zu. „Und meine Erste Offizierin Malika.“ Malika grinste jetzt schadenfroh, weil Aleja sie für die Kapitänin gehalten hatte.
Olitiana reichte der Kapitänin einen großen Dreispitz, den diese sogleich aufsetzte, dann zog sie einen ledernen Armschutz aus der Hosentasche und band ihn um. Man hörte Flügelschläge, und hinter dem Mast kam eine große Eule hervorgesegelt, landete auf dem Unterarm der Kapitänin und grub die Krallen in das Leder. Es war ein braunweiß gefleckter Uhu, der die mächtigen Schwingen noch einmal ausbreitete, sie dann anlegte und Aleja mit starren, leuchtend orangefarbenen Augen anblickte.
„Penumbra kommt und geht ganz nach Belieben“, sagte die Kaptänin und kraulte ihm liebevoll das Brustgefieder, „aber er kehrt immer wieder zu mir zurück.“
Aleja musste an den großen Vogel von letzter Nacht denken, der mit seinen Schwingen kurz den Mond verdeckt hatte, bevor sie das qualmende Schiff gesehen hatte.
„Wie heißt du, Kind?“, wollte Olitiana wissen.
Aleja musste sich zwingen, den Blick von dem Uhu abzuwenden. „Aleja.“
„Und was hast du entdeckt, dass jetzt die halbe Stadt hinter dir her ist?“, kam es von Malika.
Aleja schaute sie an. Ihre Arroganz war so unübersehbar wie die beiden Narben in ihrem Gesicht. „Ich habe aus Versehen einen Geldfälscherring entlarvt“, antwortete sie achselzuckend.
„Falschgeld herzustellen, ist ein gutes Geschäft“, sagte die Kapitänin, dann wandte sie sich an Malika. „Komm mit. Wir haben etwas zu besprechen.“
„Ich hätte mehr davon einstecken sollen“, sagte Aleja zerknirscht.
Olitiana lachte. „Du kannst mit mir mitkommen, Aleja. Wenn nach dir gesucht wird, bleibst du besser unter Deck. Ich stelle dich den anderen vor.“
„Hinterher bringst du sie zu mir“, ordnete Kapitänin Quint an, betrachtete Aleja noch einmal kurz und schlenderte dann mit Malika davon. Beide waren sofort in ein lebhaftes Gespräch vertieft, aber seltsamerweise warf nur eine von ihnen einen Schatten, nämlich die Kapitänin. Aleja fiel die Kinnlade herunter. Malika hatte keinen Schatten!
Doch Olitiana war schon losmarschiert. Als Aleja hinter ihr herlief, hätte sie den Kopf am liebsten so weit herumgedreht wie eine Eule, um nur ja nichts zu verpassen. Vor ihnen lag das Achterdeck. Es war erhöht und beherbergte das glänzend polierte Steuerruder. Bestimmt stand hier sonst die Kapitänin und steuerte das Schiff in unbekannte Ferne. Zwei kurze Treppen führten zum Achterdeck hoch, dazwischen war eine kleine Tür.
„Die Kapitänskajüte“, erklärte Olitiana. „Zutritt verboten.“