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Bist du bereit für das Abenteuer? Aleja ist überglücklich: Gemeinsam mit den Piratinnen des Schattenschiffs segelt sie über die Weltmeere – auf der Suche nach einer magischen Schatzkarte, die alle Rätsel der Welt offenbart. So ein abenteuerliches Leben hat sie sich immer erträumt! Als die Piratinnen von einem verborgenen Tempel voller Geheimnisse erfahren, hissen sie sofort die Segel. Könnte dort der zweite Teil der Schatzkarte versteckt sein? Die Zeit drängt, denn ein gefährlicher Piratenjäger ist ihnen dicht auf den Fersen … Band 1 wurde ausgezeichnet mit der "Ulmer Unke 2021" als Bestes Kinderbuch ab 10 Jahren! Voller Abenteuerlust hissen Aleja und die Piratinnen die Segel des Schattenschiffs, um den zweiten Teil der magischen Schatzkarte zu suchen. Die Spur führt sie zu einem geheimnisvollen Tempel. Doch ein Piratenjäger ist ihnen dicht auf den Fersen … *** Mit vollen Segeln ins Abenteuer – Band 2 der Piratinnen-Reihe! *** Entdecke alle Abenteuer rund um "Aleja und die Piratinnen": Band 1: Das Schattenschiff Band 2: Der Tempel der Wunder
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Seitenzahl: 309
Veröffentlichungsjahr: 2021
leja fluchte auf Kroatisch. Sie hatte sich Mund und Nase geschwärzt und Schnurrhaare aufgemalt, und jetzt juckte ihr Gesicht. Außerdem trug sie eine rot-goldene Augenmaske. Aleja war heute Abend ein Fuchs.
„Wie sollen wir in diesem Gedränge jemanden finden?“ Frances zupfte an der pechschwarz glänzenden Rabenmaske herum, die sie vor ihre Brille gezogen hatte. Ihr Kostüm war mit schwarzen Federn besetzt, und wenn sie die Arme bewegte, flatterten die Flügel.
Vor den beiden Freundinnen lag das alte, von einer Stadtmauer umschlossene Ragusa. In den Straßen drängten sich prachtvoll kostümierte Menschen, fröhliche Musik erfüllte die Luft. Der Karneval war in vollem Gange.
Eine ideale Gelegenheit für Langfinger.
Aleja und Frances waren zwar auch verkleidet, aber sie waren nicht zum Vergnügen hier. Sie waren keine gewöhnlichen Mädchen – sie waren Piratinnen und ein eingespieltes Team. Frances konnte mit ihren geschickten Fingern einer Frau die Kette vom Hals klauen, ohne dass die Bestohlene es merkte, und Aleja flogen dank ihrer Sprachkenntnisse die Geheimnisse anderer Leute nur so zu.
Heute sollten sie den Schlüssel zu einem Safe stehlen. Der Safe stand in der Villa eines Kartografen, die auf einer Anhöhe mit Aussicht auf das kristallklare Meer erbaut war. Dummerweise trug der Kartograf den Schlüssel stets bei sich.
„Komm“, sagte Aleja, und die beiden Mädchen stürzten sich ins Getümmel.
Aleja spähte durch die Augenschlitze ihrer Maske. Vorhin auf dem Schiff hatte sich das Ganze noch so einfach angehört: Wenn sie den Kartografen aufgespürt und ihm den Schlüssel stibitzt hatten, sollten sie mit Grietes Werkzeugen eine Kopie davon anfertigen und ihn dem Mann dann wieder in die Tasche steckten. Jetzt kam ihr diese Aufgabe unlösbar vor. Es waren viel zu viele Leute unterwegs! Sie stellte sich auf die Zehenspitzen. „Da!“ Sie packte Frances’ gefiederten Arm und zeigte auf einen kahlköpfigen Mann mit einer türkisen Pfauenmaske im venezianischen Stil.
„Pass doch auf – mein Flügel!“
„’tschuldigung.“
Sie schlüpften durch ein Tor auf den Stradun, eine breite Promenade, die mitten durch die Innenstadt führte. Auch hier wimmelte es von Menschen: Musikern, Geschichtenerzählern und Kaufleuten. Eine Parade aus Trommlern und Tänzern kam ihnen entgegen, und Aleja und Frances schlängelten sich zwischen ihnen hindurch. Gleich hätten sie den Kartografen eingeholt.
Da drehte sich der Mann plötzlich um, und Aleja zog Frances rasch hinter einen alten Brunnen.
„Was ist denn?“, fragte Frances gedämpft.
Aleja spähte um den Brunnen herum. Die Pfauenmaske schimmerte im Licht einer Straßenlaterne. „Er hätte uns beinahe gesehen.“
Ein Trommelwirbel ertönte, die Zuschauer applaudierten. Aleja und Frances hefteten sich wieder an die Fersen des Kartografen. Sie wichen einem Karren aus, an dem geröstete Mandeln verkauft wurden, und hielten auf den Sponza-Palast mit seinem sandfarbenen Bogengang zu, der im letzten Sonnenlicht buttergelb leuchtete.
„Los!“, zischte Aleja ihrer Freundin zu. „Du schnappst dir den Schlüssel, und ich lenke ihn notfalls ab.“
Doch als sie in der Menge untertauchen wollte, hielt Frances sie zurück. „O nein!“
„Was ist denn?“ Aleja ließ den Glatzkopf des Kartografen nicht aus den Augen.
„Sieh dir das an.“ Es klang so betroffen, dass Aleja sich doch umwandte. Frances zeigte auf eine Schar flauschiger Kätzchen. Die Tiere tapsten miauend durch den Bogengang, sprangen einander verspielt an und schlabberten die Milch, die ihnen jemand hingestellt hatte.
Aleja schüttelte verständnislos den Kopf. Der Kartograf hatte sich schon ein ganzes Stück entfernt. „Wir müssen weiter.“
„Aber sie quälen die Kleine!“ Frances war schon losgelaufen. Das Kätzchen, das sie meinte, war schmächtig und mager. Aus seinem Ohr war ein Stück herausgebissen.
Die Glatze verschwand im Gewühl, als hätte sich der Kartograf in Luft aufgelöst. Aleja wurde nervös. Wenn sie mit leeren Händen zurückkamen, würde die Kapitänin stinksauer sein, aber ohne Frances’ Diebeskünste konnte Aleja nichts ausrichten. Notgedrungen lief sie hinter ihrer Freundin her. Frances hatte früher in London als Straßenkind täglich ums Überleben kämpfen müssen. Kein Wunder, dass ihr das Schicksal des Kätzchens zu Herzen ging. Jetzt verscheuchte sie die größeren Tiere und bückte sich nach dem schmächtigen Ding, sprach beruhigend auf es ein und streichelte ihm das Köpfchen. Die kleine Katze hatte pechschwarzes Fell und neugierige grüne Augen. Frances nahm sie auf den Arm und strahlte Aleja glücklich an. „Ist sie nicht niedlich?“
„Ja – doch.“ Aleja musste sich zusammenreißen, um ruhig zu bleiben. „Sag mal …“
„Hm?“ Frances beobachtete hingerissen, wie das Kätzchen mit den Federn an ihrem Kostüm spielte.
„Was hast du denn jetzt mit der Katze vor?“
„Ich nehme sie mit an Bord.“
Katzen waren wasserscheu, doch das behielt Aleja für sich. Sie hatten Wichtigeres zu tun. Das fiel jetzt auch Frances wieder ein. „O je – der Kartograf! Wo ist er hin?“ Sie schaute sich suchend um, als müsste der Mann ganz in der Nähe warten.
Aleja schüttelte den Kopf. „Er ist weg.“
Frances wurde blass. „Das ist meine Schuld, stimmt’s?“
Aleja nickte betreten. Sie konnte jetzt schon die Standpauke der Kapitänin hören, wenn sie herausbekam, was passiert war.
Frances gab sich einen Ruck. „Wir finden ihn bestimmt wieder.“
Der Sonnenuntergang ließ den Himmel zuckergussrosa leuchten, die hohen Masten im Hafen hoben sich wie dunkle Striche davon ab. Dort waren sie hergekommen, und Aleja warf einen beklommenen Blick in Richtung ihres Schiffes. Von Weitem war das Einzige, wodurch es sich von den anderen Schiffen unterschied, der große Uhu, der über der Mastspitze kreiste. Die anderen Piratinnen zählten auf sie und Frances.
Sie liefen wieder den Stradun entlang, suchten Läden, Kirchen und Paläste ab. Zum Glück kannten sie die Gegend in- und auswendig, denn sie hatten Ragusa den ganzen Herbst über erkundet – vom Hafen bis zu dem wuchtigen alten Stadttor am anderen Ende. Unterwegs schnappte Aleja kroatische, venezianische und türkische Brocken auf, aber der Kartograf war und blieb verschwunden.
Sie durchkämmten das Karnevalstreiben, bis die letzten Sonnenstrahlen erloschen waren und das Meer so schwarz war wie der Nachthimmel. Doch ohne Erfolg.
Nun war es Frances, die auf Kroatisch fluchte.
„Du weißt, was jetzt kommt, oder?“, sagte Aleja.
Frances schluckte. „Wir müssen zum Schiff zurück und der Kapitänin beichten, dass wir es vermasselt haben.“
Als Aleja das Schattenschiff vor einer gefühlten Ewigkeit zum ersten Mal betreten hatte, hatte sie die grimmige Erste Offizierin Malika für die Kapitänin gehalten. Inzwischen verstand sie nicht mehr, wie sie sich so hatte irren können. Kapitänin Quint hatte sich breitbeinig und mit verschränkten Armen vor den beiden Freundinnen aufgebaut. Sie war eine hochgewachsene, Ehrfurcht gebietende Erscheinung. Auf ihrem Kopf thronte ein Dreispitz, an ihrer Hüfte baumelte ein Entermesser, und auf ihrer Schulter saß der große Uhu Penumbra und sah die Mädchen genauso durchbohrend an wie seine Herrin. Keiner von beiden zuckte mit der Wimper. Aleja zupfte an ihrem Kostüm herum und hätte sich am liebsten darin verkrochen, Frances versuchte sich an einer wenig überzeugenden Ausrede.
„… und wir sind ihm durch das Gedränge gefolgt, aber dann ist er stehen geblieben und hat mit einem Trupp soldati geredet, und sie haben ihm Geleitschutz gegeben, und dann sind auch noch die Stadtwachen auf ihrer Abendpatrouille vorbeimarschiert, und wir kamen einfach nicht mehr an ihn ran und …“
Frances brach ab. Schweigen trat ein. Das Schiff knarrte leise. „Ich bin sehr enttäuscht“, sagte die Kapitänin schließlich. „Ich hätte euch mehr zugetraut. In diesem Safe liegt ein Schatz – die Pläne. Wenn wir die nicht an uns bringen können, war unser ganzer Aufenthalt in Ragusa umsonst.“
Aleja wurde noch unbehaglicher zumute. Sie selbst hatte den Kartografen seinerzeit ausgespäht und herausgefunden, dass er Pläne von der Festung Lovrijenac gezeichnet hatte – einschließlich aller Geheimgänge. Die Piratinnen mussten unbemerkt in die Festung gelangen, und Aleja hatte sich schon so darauf gefreut, der Kapitänin die Pläne zu überreichen und damit zu beweisen, dass sie ein würdiges Mitglied der Besatzung war.
Sie gab sich Mühe, nicht zu Frances hinüberzuschielen, deren Kostüm sich vorn leicht wölbte. Das Kätzchen war zwar klein und das Gefieder des Kostüms dicht, trotzdem zappelte es darunter – und miaute.
„Davon abgesehen seid ihr nicht ehrlich“, fuhr die Kapitänin fort und blickte dabei Frances an. Um ihre blauen Augen kräuselten sich feine Fältchen. „Ist das etwa eine Katze?“
„Nein!“, erwiderte Frances wie aus der Pistole geschossen.
Das Kätzchen miaute lauter.
Aleja hätte beinahe losgelacht, täuschte aber stattdessen rasch einen Hustenanfall vor.
Penumbras Interesse war geweckt. Seine leuchtend orangefarbenen Augen waren gebannt auf das Gezappel unter Frances’ Kostüm gerichtet. Jetzt streckte das Tierchen auch noch den Kopf aus dem Kragen. „Äh … na ja … aber nur eine ganz kleine. Ich musste sie retten.“ Frances bewahrte Haltung, wurde aber unter ihrer Rabenmaske knallrot.
Als Penumbra mit dem Schnabel klapperte, drückte Frances das Kätzchen beschützend an sich. „Ihr habt den Mann laufen lassen … wegen einer Katze?“, fragte die Kapitänin ungläubig.
Wieder trat Schweigen ein, zäh wie Sirup. Aber wenn irgendwer eine Schwäche für heimatlose Geschöpfe hatte, dann war es die Kapitänin. Schließlich bestand ihre gesamte Besatzung aus klugen, tüchtigen Mädchen und Frauen aus aller Welt, die sie an Bord ihres magischen Schiffes aufgenommen hatte. Während Aleja darauf wartete, dass sie weitersprach, huschten schemenhafte Gestalten über das Deck. Diese Schatten waren die Seele des Schiffes, aus ihnen speiste sich seine Magie.
In diesem Augenblick erschien Malika. Sie trug ein prächtiges smaragdgrünes Kleid und hatte ein dazu passendes Tuch um den Kopf gewunden. Im Laternenschein zeichneten sich die langen Narben ab, die sich über ihre rechte Gesichtshälfte zogen. Außerdem fehlte ihr eine Hand. Noch auffallender war jedoch, dass die Erste Offizierin keinen Schatten warf. Der Erzfeind des Schiffes hatte ihn geraubt – der berüchtigte Rächer.
Malika blieb stehen und schaute in die Runde. Sie war die schönste Frau, der Aleja je begegnet war – und die Furcht einflößendste. „Wie ich sehe, habt ihr uns nichts mitgebracht“, wandte sie sich dann mit seidenweicher Stimme an Aleja und Frances. „Und dabei hattet ihr euch vorher so vielversprechend angestellt.“ Sie bedachte die beiden mit einem verächtlichen Blick und ging weiter.
Aleja war ganz schlecht.
„Meinetwegen behalte die Katze“, wandte sich Kapitänin Quint an Frances. „Bring ihr Mäusefangen bei. Aber wir brauchen die Pläne. Sobald es morgen Abend dunkel wird, schleicht ihr beide euch in die Villa des Kartografen und holt sie. Ihr müsst den Safe eben aufbrechen. Ideal ist das nicht, aber wir können nicht so lange warten, bis die nächste günstige Gelegenheit kommt. Und diesmal kehrt ihr nicht unverrichteter Dinge zurück. Haben wir uns verstanden?“ Ihr Ton war schneidend wie eine Dolchklinge.
„Aye, Käpt’n!“, erwiderten Aleja und Frances wie aus einem Mund.
„Gut. Außerdem erwarte ich, dass dieses Deck bis zum Waffentraining morgen früh blitzblank ist.“ Sie ging mit langen Schritten davon.
„Bis zum Waffentraining?“, stöhnte Frances. „Wenn ich die Planken geschrubbt habe, kann ich doch kein Entermesser mehr halten!“
„Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du das Kätzchen gerettet hast“, gab Aleja zurück. Dass die Kapitänin so von ihnen enttäuscht war, machte ihr schwer zu schaffen.
„Sonst hätten die anderen Katzen es totgebissen!“, verteidigte sich Frances. Sie war sichtlich genauso unglücklich, und Aleja bekam ein schlechtes Gewissen.
Schweigend kletterten sie die Leiter hinunter, die unter Deck führte.
ie unteren Decks des Schiffes glichen einem geheimnisvollen Labyrinth. Ein düsterer, nur von ein paar Laternen erhellter Gang verband die Kajüten der Besatzung mit der Kombüse, aus der es verlockend duftete. In die Wände des Ganges waren Eulen geschnitzt. Ihre Augen, die aus Smaragden bestanden, glitzerten grün und schienen einem zu folgen, wenn man an ihnen vorbeikam. Die Decke war mit Sternbildern aus Saphiren geschmückt, die genauso funkelten wie echte Sterne.
Als Frances über eine mit Ketten gesicherte Luke sprang, zappelte das Kätzchen in ihren Armen und wollte sich befreien. „Halt … still!“
„Glaubst du, wir haben es uns endgültig mit der Kapitänin verdorben?“, fragte Aleja.
„Nö, die beruhigt sich schon wieder. Hoffentlich … Fällt dir vielleicht etwas ein, wie wir sie besänftigen können?“
Aleja nickte eifrig. „Wenn wir eins der Rätsel in Thomas James’ Buch lösen, ist sie uns bestimmt nicht mehr böse. Ich hole es!“ Sie machte sich auf den Weg zu ihrer Kajüte.
„Ich ziehe nur rasch mein Kostüm aus!“, rief Frances ihr nach. „Wir treffen uns oben an Deck.“ Sie reckte schnuppernd die Nase in Richtung Kombüse, und ihre Brillengläser glitzerten wie die Augen der geschnitzten Eulen. „Riecht lecker. Soll ich uns was stibitzen?“
„Gute Idee“, gab Aleja lachend zurück.
In der Kajüte wartete Tinta schon auf sie. Der kleine Schatten hatte passend zu Alejas Kostüm Fuchsgestalt angenommen. Tinta gehörte zu der Schattentruppe, die das Schiff bevölkerte, und hatte sich Aleja eines Tages angeschlossen. Tinta hieß auf Spanisch „Tinte“, und weil der Schatten manchmal Mädchengestalt annahm, hatte Aleja beschlossen, dass Tinta eine „Sie“ war. Wenn sie einsam war, munterte Tinta sie auf, und obendrein war Aleja die einzige Piratin an Bord, die zwei Schatten hatte. Sonst erwartete Tinta sie immer schon an Deck, aber die schlechte Laune der Kapitänin hatte sie vertrieben.
„Woher weißt du eigentlich immer, wann ich Ärger kriege?“, fragte Aleja streng. „Wie wär’s, wenn du mich nächstes Mal vorher warnst, hm?“ Als der Schattenfuchs eingeschüchtert mit den durchscheinenden Pfoten scharrte, musste sie lachen. „Ich mache nur Spaß.“ Sie kraulte den Fuchs, auch wenn sie sein Fell nicht spüren konnte, und Tinta genoss die Liebkosung sichtlich.
Aleja nahm ihre Maske ab und legte sie neben einen Stapel Bücher auf das Wandbord. Das Bord hatte ihr Farren gezimmert, die als Bootsfrau des Schiffes für Einbauten und Reparaturen zuständig war. Bücher waren Schätze aus Papier und Tinte, und Aleja sammelte sie auf ihren Reisen. Am liebsten las sie Berichte über legendäre Entdecker, vor allem natürlich über Thomas James. Die Wandlaterne neben dem Bullauge schwang hin und her, als sich das Schiff knarrend auf dem Wasser wiegte, und Aleja ließ den Blick durch ihre Kajüte wandern. Im Sommer war der kleine Raum noch ziemlich kahl gewesen, aber während der Monate in der Republik Ragusa war sie endlich dazu gekommen, sich einzurichten. Auf dem Tisch stand ein Glas mit Muscheln und Schneckenhäusern, die sie mit Griete am Strand gesammelt hatte, die Tüten mit Süßigkeiten daneben hatte sie sich mit Frances auf dem Markt gekauft. Unter einer losen Bodenplanke war ein Häufchen Rubine und Diamanten versteckt (die Edelsteine durften nicht offen herumliegen, weil Tinta in Trance fiel, wenn sie etwas Glänzendes sah), und auf der schmalen Koje türmten sich weiche Decken und Kissen. Hier und dort standen auch Gewittergläser. Jedes enthielt ein Minigewitter mit schwarzen Wolken und zuckenden Blitzen. Aleja hatte die Gefäße in einem der Räume entdeckt, die immer mal wieder unter Deck auftauchten. Sie entstanden durch die Legenden, die sich um das Schiff rankten. Hauptsächlich waren die Schatten für die Magie an Bord verantwortlich, aber die Legenden trugen ebenfalls dazu bei. Sie blieben durch die Gerüchte in den Hafenkneipen lebendig, und so tauchte ab und zu im Bauch des Schiffes ein neuer Raum auf. Allerdings wusste Aleja von Frances, dass manche Räume auch wieder verschwanden, wenn sie kein Gesprächsstoff mehr waren. Selbst hatte sie das aber noch nicht erlebt.
Nachdem sie aus ihrem Kostüm geschlüpft war und es in ihrer Truhe verstaut hatte, zog sie Jacke und Hose an und sah sich nach Thomas James’ goldenem Buch um. Es lag auf dem pflaumenblauen Teppich mit dem Sternenmuster, der den ganzen Boden der Kajüte einnahm. Frances hatte den Teppich in Marokko gekauft – während des ersten Abenteuers, das Aleja mit den Piratinnen erlebt hatte. Sie hob das Buch auf und verließ die Kajüte. Tinta folgte ihr als Fuchs. Draußen stieg Frances schon wieder die Leiter hoch, und das Kätzchen kletterte hinterher.
Nachdem Frances im Bug eine Decke ausgebreitet und einen Teller Baklava draufgestellt hatte, legte Aleja das goldene Buch daneben und schlug die Widmung auf:
Für meine Familie, falls mir etwas zustößt. Thomas James
Tinta verwandelte sich in eine Schattenmaus, und das Kätzchen jagte die Maus rund um das Deck. Frances stützte sich auf die Ellbogen, futterte ein Stück Baklava und schaute den beiden zu.
„Welche Seite wollen wir uns als Erstes vornehmen?“, erinnerte Aleja ihre Freundin wieder daran, weswegen sie eigentlich hier waren.
„Robin-Hood-Piratinnen“ hatte Frances die Besatzung des sagenhaften Schattenschiffes genannt, als sie Aleja im Sommer in das Leben an Bord eingeführt hatte. Piratinnen mit moralischen Grundsätzen, die nur Schurken oder andere Piraten bestahlen – und sich dabei die eigenen Taschen füllten. Thomas James’ Karte war eine Ausnahme. Um sie an sich zu bringen, schreckte Kapitänin Quint vor nichts zurück.
Die Karte war nämlich magisch. Ihre vier Teile waren versteckt, und wenn man sie wieder zusammensetzte, offenbarten sich einem alle Geheimnisse der Welt: versunkene Städte, vergrabene Schätze, in Vergessenheit geratene, sagenhafte Orte … Der berühmte Entdecker Thomas James war der erste Eigner des Schattenschiffes und Kapitänin Quints Urgroßvater gewesen. Er hatte die Karte einst selbst zerrissen und die Teile versteckt. Auch das goldene Buch stammte aus seinem Besitz. Es bestand aus nur sechs vergilbten Blättern und enthielt verschlüsselte Hinweise auf die vier Kartenstücke. Allerdings wurden diese Hinweise nur an Bord des Schiffes sichtbar. Leider war es Aleja bis jetzt nur gelungen, eine einzige Seite des Buches zu entschlüsseln, nämlich die letzte.
Diese Seite zeigte eine Weltkarte, außerdem war darauf mit Geheimtinte ein Anagramm geschrieben. Wenn man die Buchstaben anders anordnete, ergaben sie die Aufforderung: Sag, was du suchst. Legte man das aufgeschlagene Buch auf den Tisch in der Schiffsbibliothek, in dessen Platte ebenfalls eine Weltkarte geschnitzt war, erwärmte sich derjenige Kontinent, auf dem sich das Gesuchte befand. Auf diese Weise hatte Aleja herausgefunden, wo die vier Einzelteile der Karte versteckt waren: das erste in Amerika, das zweite in Europa, das dritte in Afrika (dieses Teilstück hatten sie schon gefunden) und das vierte in Asien. Doch dabei war es leider geblieben. Die Symbole und Zeichen auf den übrigen vier Seiten stellten immer noch ein ungelöstes Rätsel dar. Das Buch war wie ein Dorn, der Aleja pikte und sie ständig daran erinnerte, dass es weiter entschlüsselt werden wollte.
„Was sagst du dazu?“, wandte sie sich ungeduldig an Frances, die ihre Frage nicht beantwortet hatte.
„Ich sage, dass die Kleine das süßeste Kätzchen der Welt ist.“ Frances kraulte dem Tierchen den Bauch.
„Frances!“
„Ist ja gut, ist ja gut.“ Frances setzte sich neben Aleja und nahm ihren Schützling auf den Schoß. Zusammen betrachteten sie die Seite mit dem großen Symbol darauf. Dann die beiden Seiten mit den seltsamen Schriftzeichen. Und schließlich die Seite mit den vielen Punkten. Als das Kätzchen mit der Pfote nach dem Buch schlug, zog Aleja es schnell weg, damit es nicht beschädigt wurde. Dann betrachtete sie wieder die Punkte und zermarterte sich das Hirn.
Vor lauter Konzentration bekam sie nicht gleich mit, dass Frances redete. „Und dann würgte die Schlange den Sultan so lange, bis ihm die Augen aus dem Kopf quollen …“
Aleja verpasste ihr einen Knuff. „Das hilft uns jetzt wirklich nicht weiter. Ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass in allen deinen Geschichten ein Sultan vorkommt?“
„Ehrlich?“
„Ehrlich.“
„Hmmm …“ Frances kratzte sich die lange Nase. „Dann handeln meine nächsten Geschichten eben von einem König.“
„Oder du erzählst zur Abwechslung mal wahre Geschichten“, schlug Velka mit ihrem melodischen schwedischen Akzent vor und nahm zusammen mit Farren auf der Decke Platz. Als Frances ein beleidigtes Gesicht machte, prustete Aleja los. Der Schein der Deckslaterne ließ Velkas Armreifen und ihre kurzen grünen Haare aufleuchten. Passend dazu waren auch ihre Arme von oben bis unten mit grünen Blättern und Ranken tätowiert.
„Das kannst du vergessen“, sagte Farren grinsend, streckte die langen Beine aus und nahm sich ein Stück Baklava. Sie steckte es in den Mund, schob die kurzen roten Haare hinter die Ohren und schlug ein Bein über das andere, sodass ihr spitzer, knöchelhoher violetter Stiefel gegen das Deck polterte.
Eigentlich wollte sich Aleja nicht die Finger klebrig machen, weil sie ja das kostbare Buch auf dem Schoß hatte, aber dann konnte sie der süßen Versuchung doch nicht widerstehen. Der Hafen von Ragusa war ein beliebter Anlaufpunkt für Handelsschiffe. Sie waren mit Gewürzen, Früchten und anderen exotischen Lebensmitteln aus aller Welt beladen. Nachdem die Bordköchin Ermtgen einen Großeinkauf getätigt hatte, war sie in einen wahren Schaffensrausch verfallen. Aleja nahm sich mit spitzen Fingern ein Stück Baklava und schob es in ihren Mund, wobei sie den Blick weiter auf das Buch gerichtet hielt. Dann drehte sie das Buch um und hielt es Frances hin, doch die war schon wieder abgelenkt.
„Na, wen haben wir denn da?“, gurrte Velka und streichelte das Kätzchen, das mit leuchtend grünen Augen zu ihr aufblickte.
„Ich habe sie Kralle getauft“, verkündete Frances stolz. „Sie ist eine wilde, gefährliche Straßenkatze.“
Velka musterte das Kätzchen, das sich jetzt schnurrend auf den Rücken legte, skeptisch.
„Deine Sie ist ein Er“, sagte Farren mit ihrem französischen Akzent und deutete mit ihrem Baklava auf das Tier.
Frances wurde rot und wechselte das Thema. „Wie wär’s mit einer wahren Geschichte?“ Sie beugte sich vor und begann mit grabestiefer Stimme: „Es war in einer Nacht wie dieser …“
Aleja blickte über den Rand des Buches auf den Hafen. Die Deckslaternen und die funkelnden Sterne spiegelten sich im stillen Wasser, was sehr hübsch aussah.
„Einer trügerisch ruhigen Nacht“, fuhr Frances mit unheilvoller Betonung fort. „Auf einmal schlug das Wasser hohe Wellen und spie ein gewaltiges Schiff aus. Es hieß Schrecken der Meere und war ein legendäres Geisterschiff, das aus den Knochen seiner Opfer gezimmert war.“ Frances machte eine Kunstpause.
Aleja blätterte seufzend um. Was kann dieses große Symbol bloß bedeuten? Tinta hüpfte erst als Katze über die Seite und verwandelte sich dann in ein kleines Schiff, das über das Deck glitt. Sofort nahm Kralle die Verfolgung auf. Aleja dachte im Stillen, dass ihr Schattenkätzchen lieber waren. Wäre Kralle nur ein Schatten, ließe sich Frances vielleicht nicht so leicht von ihm ablenken.
„Ich habe noch nie ein Geisterschiff gesehen.“ Velka schnappte sich den kleinen Kater und kraulte ihn. Trotzdem ließ Kralle die auf und ab segelnde Tinta nicht aus den Augen.
„Ich habe auch nur Gerüchte darüber gehört“, pflichtete Farren ihr bei. „Bis jetzt ist Geoffrey der einzige Geist, dessen Bekanntschaft ich machen … äh … durfte.“ Sie drehte sich rasch um, doch der griesgrämige Schiffsgeist ließ sich zum Glück nicht blicken.
„Das Oberdeck war mit leeren Augenhöhlen gepflastert!“, ergriff Frances wieder das Wort. Anscheinend war sie entschlossen, ihre Geschichte zu Ende zu erzählen.
„Klar. Gruselige Geister haben immer leere Augenhöhlen“, sagte Farren ironisch.
Frances warf ein Baklava nach ihr, aber Farren fing es geschickt auf, steckte es in den Mund und ignorierte Frances’ vernichtenden Blick. Velka lachte, und Aleja verbarg ihr Lächeln hinter dem Buch.
Doch Frances ließ sich nicht beirren. „Das Allergrässlichste, Allergrausigste an dem Knochenschiff war jedoch, dass jeder, der es zu Gesicht bekam, eines qualvollen Todes sterben musste.“
In dem anschließenden Schweigen wandte sich Aleja wieder ihrem Buch zu.
„Oh, ein Kätzchen!“ Griete erschien an Deck und bückte sich nach dem kleinen Fellknäuel. Die hochgewachsene Holländerin war ein paar Jahre älter als Aleja. Sie hatte blaue Augen, blondes Haar und eine füllige Figur. Jetzt hob sie Kralle hoch und neckte ihn: „Na, wer bist du denn?“
Aleja ließ sich nach hinten sinken und legte sich das Buch übers Gesicht. „Ich gebe auf!“
och ehe die Sonne über den Horizont lugte, knieten Aleja und Frances schon auf dem Deck und scheuerten die Planken mit Meerwasser. Penumbra hockte dösend auf dem Mast. Aleja stützte sich auf ihre Wurzelbürste und schaute zu, wie Kralle die Takelage hochkletterte.
Frances sprang auf. „Runter da, Kralle!“, rief sie.
Doch der kleine Kater hörte nicht auf sie. Er streckte die Pfote aus und schlug nach dem Flügel des großen Uhus. Daraufhin klappte Penumbra die Augen auf und kreischte so laut, dass der erschrockene Kralle rücklings in die Takelage purzelte. Penumbra machte die Augen wieder zu, und Frances kletterte ebenfalls nach oben, um ihren Liebling, der sich in den Tauen verheddert hatte, zu befreien. Aleja lachte, dann hielt sie nach Tinta Ausschau. Ein paar andere Schatten tanzten um ihre Füße, aber Aleja spürte, dass Tinta nicht unter ihnen war. Woran, konnte sie nicht sagen, aber sie wusste es so sicher, wie dass die Sonne jeden Morgen aufging.
Die Schatten verzogen sich unter die Plane, mit der die Krakenglocken verhüllt waren. Diese Glocken waren mit Krakenblut und alter Magie graviert und läuteten, wenn sich eins der Seeungeheuer näherte. Doch sobald Ragusa am Horizont erschienen war, hatten die Piratinnen die Glocken versteckt – so wie alles andere, was darauf hindeutete, dass das Schattenschiff kein gewöhnliches Handelsschiff war. Die Schatten und die allgegenwärtige Magie ließen sich allerdings nicht verbergen.
Wo steckte Tinta bloß? Als Aleja aufstand und sich nach ihr umschaute, sah sie am anderen Ende des Schiffes ein sonnengelbes Kleid leuchten. Jemand kam an Bord. Jemand, den sie nicht kannte.
„Wer ist das, Frances?“, fragte sie gedämpft.
Frances sprang mit dem zappelnden Kralle unterm Arm aus der Takelage. „Keine Ahnung.“ Die beiden Mädchen wechselten einen verunsicherten Blick. „Ich hole Malika.“
„Nein … warte“, sagte Aleja, aber Frances kletterte schon die Leiter zum Unterdeck hinunter.
Auf einmal war Tinta wieder da. Sie verwandelte sich in einen großen Schattenwolf und stellte sich schützend neben Aleja. Als die fremde Frau auf die beiden zukam, griff Aleja an ihren Stiefel, in dem sie ihren Dolch mit der Eulengravur versteckte.
„Ich habe einen Brief für Aleja“, sagte die Frau freundlich.
Aleja sah sie erstaunt an. Die Fremde hatte feuerrotes Haar und ihre wachen braunen Augen blickten durch eine Brille. Wenn sie Alejas Namen kannte und sich von der Magie an Deck nicht abschrecken ließ, konnte das nur eines bedeuten. „Bist du unser Schatten in Ragusa?“
Die Frau nickte. „Richtig.“ Als sie Aleja einen Umschlag hinhielt, erkannte Aleja sofort die Handschrift ihres Lieblingsbruders Miguel. Sie nahm den Umschlag mit zitternder Hand entgegen, und Tinta kuschelte sich tröstend an sie.
„Caterina! Du warst ja schon ewig nicht mehr hier.“ Malika war zusammen mit Frances an Deck gekommen. „Trinkst du einen Tee mit Elizabeth und mir?“ Die beiden Frauen gingen zur Kapitänskajüte.
„Was hast du da?“ Frances musterte den Brief neugierig.
„Mein großer Bruder hat sich gemeldet. Als wir in Ragusa angekommen sind, habe ich ihm an die Adresse unseres Schattens hier vor Ort geschrieben. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass wir so lange hierbleiben und er mir antwortet.“ Noch im Sommer hatte Aleja überlegt, ob sie zu ihrer Familie nach Sevilla zurückkehren sollte, doch inzwischen konnte sie sich das nicht mehr vorstellen. Natürlich war ihr klar, dass sich ihr Vater, ihre abuela und ihre beiden Brüder Sorgen machten, aber inzwischen waren ihr das Schattenschiff und seine Besatzung ans Herz gewachsen. Schon immer hatte sie von Expeditionen und Weltumsegelungen geträumt, hatte sie die Wunder und die Magie dieser Welt selbst erkunden wollen. Als Piratin konnte sie das – und so waren sie nach Ragusa gesegelt, ohne in Sevilla Halt zu machen.
„Glaubst du, er schreibt, dass du zurückkommen sollst?“ Bei Frances’ besorgtem Ton machte Alejas Herz einen Satz. „Mal sehen.“
Sie öffnete den Umschlag und zog den Brief heraus. Das Papier roch wie Miguel: nach Mehl, Zucker und Zitronen. Der Gedanke, dass sie ihn zurückgelassen hatte, gab ihr einen Stich. Seit dem Tod ihrer Mutter vor sechs Jahren war er ihr bester Freund und der Mensch, der ihr auf See am meisten fehlte.
„Willst du beim Lesen lieber allein sein?“, fragte Frances rücksichtsvoll.
Aleja schüttelte den Kopf und fing an, den Brief laut vorzulesen. Die spanischen Wörter schmeckten süß wie Honig. Seit Monaten kamen nur fremde Sprachen über ihre Lippen: Englisch, Französisch und Arabisch. Als sie nun die Neuigkeiten über die Hafenschenke ihrer Familie und die Kuchen, die Miguel backte, vorlas, packte sie plötzlich das Heimweh. Dann kam die entscheidende Stelle:
Uns geht es gut. Pablo fährt jetzt auch zur See. Padre und abuela haben sich Sorgen um dich gemacht, aber ich habe mir schon gedacht, dass du eines Tages in ein Abenteuer verwickelt wirst. Du hast immer mehr gewollt als das Leben in unserer Schenke, und anscheinend hast du jetzt das Richtige gefunden.
Aleja atmete auf. „Alles ist in Ordnung“, sagte sie auf Englisch, worauf Frances sie erleichtert anstrahlte und ihre Hand drückte. Sie war Alejas beste Freundin, die Schwester, die sie nie gehabt hatte, und ein wichtiger Grund, auf dem Schattenschiff zu bleiben. Zumindest so lange, bis sie die übrigen drei Teile der magischen Karte entdeckt hatten.
„Dann können wir ja weiterscheuern“, sagte Frances.
Kaum waren sie fertig, kam Malika zurück und holte sie zum Waffentraining mit den anderen Mädchen. Diesmal fand der Unterricht aber nicht in der Waffenkammer statt, sondern in der Takelage. „Bei einer richtigen Schlacht gibt es keine festen Regeln“, erklärte Malika. „Man muss jederzeit auf böse Überraschungen gefasst sein, und dann muss man überall und mit allem kämpfen können, was man gerade zur Hand hat.“
Die Erste Offizierin hatte die Waffentruhen an Deck geschleppt und warf den Mädchen jetzt die verschiedensten Waffen zu. Aleja bekam einen schweren Säbel, schlang die Beine um ein Tau und wehrte Grietes erbarmungslose Entermesserhiebe ab.
Als das Training zu Ende war, hatte sie kaum noch die Kraft, nach unten zu klettern, und ließ sich neben Frances rücklings aufs Deck fallen.
Velka, Farren und Griete holten ein Tablett mit Obst und Gebäck aus der Kombüse, und sie frühstückten unter dem strahlend blauen Morgenhimmel. Aleja lauschte dem Geplauder der anderen und schaute den Wolken nach. Dabei fasste sie nach der glänzenden Münze, die sie an einer Schnur um den Hals trug. Ihre abuela hatte sie ihr geschenkt – kurz bevor Aleja unversehens in ein Abenteuer mit Piratinnen, versunkenen Städten und magischen Karten geraten war.
Als sie anschließend in ihre Kajüte ging, musste sie gähnen. Tinta trabte als Panther hinter ihr her, als plötzlich Frances wieder auftauchte.
Sie hatte den schlafenden Kralle auf dem Arm und stieß Aleja mit dem Ellbogen an. „Guck mal!“
Hinter einer Tür stand ein durchscheinendes Mädchen und blickte ihnen mit leeren Augen nach. „Das ist bloß irgendein Schatten“, sagte Aleja, sah dann aber noch einmal hin. „Oder ist das etwa …?“
„Das ist Ravens Schatten!“, flüsterte Frances aufgeregt.
„Die anderen dürfen sie auf keinen Fall sehen“, sagte Aleja rasch, denn sie hörte die älteren Mädchen schon die Leiter herunterkommen. „Sie wissen ja nicht …“
„… dass Raven gar nicht zum Rächer übergelaufen ist, meinst du? Dass sie sich als Spionin in seine Besatzung eingeschlichen hat?“ Frances schluckte. „Wenn die anderen ihren Schatten entdecken, ist ihnen sofort klar, dass etwas nicht stimmt. Die Schatten nehmen ja nur die Gestalt von Personen an, die unserem Schiff treu ergeben sind. Was machen wir denn jetzt?“
Aleja fand es schrecklich, dass sie nicht einmal Griete, die Ravens beste Freundin gewesen war, die Wahrheit sagen durften. Ihr Blick fiel auf Tinta. „Kannst du das Mädchen verscheuchen?“, fragte sie und streichelte den Schattenpanther.
Im selben Augenblick begann sich das Schiff zu drehen – schneller und immer schneller, bis Aleja schwindlig und schlecht wurde. Sie schrie erstickt auf und kniff die Augen zu. Als sie die Augen wieder aufmachte, befand sie sich auf einem anderen Schiff.
or ihr stand Raven. Und François Levasseur, der Rächer. Aleja wich erschrocken zurück. Schon der Anblick seiner gepuderten blonden Haare und der schwarzen Augenklappe (Malika hatte sich damals gerächt und ihm ein Auge ausgestochen) ließ sie zittern.
„¿Qué?“, entfuhr es ihr, und sie umklammerte ihre Glücksmünze. Wasistdennjetztlos? Sie schaute sich nach Tinta um, doch die war nirgends zu sehen. Dann fiel ihr auf, dass weder Raven noch François Levasseur Notiz von ihr nahmen, sondern sich einfach weiter unterhielten. Aleja spitzte die Ohren, aber die Stimmen klangen so dumpf und undeutlich wie unter Wasser. Dann wandte sich François zum Gehen und kam direkt auf sie zu, sah sie sogar an. Sie wollte weglaufen, konnte sich aber nicht rühren.
François stapfte einfach durch sie hindurch. Das kann nicht sein!
Raven sah jetzt sehr unglücklich aus. Ihr langes rabenschwarzes Haar wehte im Wind, die Augen in ihrem blassen Gesicht glichen zwei Monden. Aleja wollte sie eben ansprechen, als ihr abermals schlecht wurde. Im nächsten Augenblick stand sie wieder auf dem Unterdeck des Schattenschiffes.
Frances sah sie groß an. „Ist dir nicht gut?“
Aleja war immer noch so schwindlig, dass sie sich auf den Boden sinken ließ. Tinta drückte sich an ihre Beine.
„Was ist los, Aleja?“ Griete, Velka und Farren kamen angelaufen.
„Ich … Keine Ahnung. Aber ich war plötzlich auf dem Schiff des Rächers.“
„Unsinn. Du warst die ganze Zeit hier, aber du hast ausgesehen, als wärst du in Trance oder so etwas.“
„Aber ich war wirklich dort!“ Andererseits war François durch sie hindurchgegangen …
„Vielleicht halluziniert sie.“ Velka kniete sich hin und sah Aleja erst prüfend in die Augen, dann befühlte sie ihre Stirn. „Fieber hat sie aber nicht.“
Aleja ließ sich von Farren hochziehen. „Mir geht’s gut“, sagte sie abwehrend, und ihr fiel auf, dass der Raven-Schatten verschwunden war.
„Du hast den ganzen Morgen geschuftet. Leg dich lieber ein bisschen hin“, meinte Farren. „Wenn sich die Schatten hier an Bord überanstrengen, werden sie ganz kraftlos, und du hast gleich zwei davon. Vielleicht geht es dir ja genauso. Leg dich aufs Ohr, und wenn so etwas noch mal vorkommt, verständigen wir die Kapitänin.“
Aleja nickte, aber ihre Gedanken überschlugen sich. Als sie ihre Kajütentür hinter sich geschlossen hatte, sah sie Tinta an. „Was war das denn?“ Doch der Schattenpanther legte nur den Kopf schief und antwortete nicht – so wie immer.
Ein paar Stunden später fand sich Aleja im Meer wieder.
„Jetzt hast du den Bogen raus! Schlag kräftig mit den Beinen – noch kräftiger! – und leg die Hände zusammen. Und, ach ja … schluck kein Wasser.“
Aleja prustete kaltes Salzwasser aus, und Frances lachte.
Das Meer vor Ragusa war ein Traum. Es war kristallklar, und über dem felsigen Grund schossen kleine Fische hin und her. Eigentlich ideal zum Schwimmen, aber erstens war es Winter, und zweitens konnte Aleja nicht schwimmen. Als Frances das herausgefunden hatte, hatte sie beschlossen, ihr Unterricht zu geben, denn, wie sie kategorisch verkündet hatte: „Eine Piratin muss schwimmen können.“
Beim Anblick der azurblauen, spiegelglatten Wasserfläche um Ragusa herum hatte Aleja eingewilligt, doch sie tat sich unerwartet schwer. Dass Frances mit überheblichem Grinsen neben ihr herschwamm, machte es nicht besser. Wieder strampelte sie mit den Beinen.
„Du strengst dich viel zu sehr an.“ Frances drehte sich um und ließ sich mühelos auf dem Rücken treiben.
Aus Rache spritzte Aleja sie nass, aber sie konnte sich sowieso nicht mehr richtig konzentrieren. „Ich wusste gar nicht, dass die Schatten ihre Kraft verlieren können“, sagte sie, denn das beschäftigte sie immer noch.
„Wenn sie besonders viel Magie aufbieten müssen, laugt sie das aus“, gab Frances zurück. „Einmal sind wir aus Versehen vor Schweden in eine Seeschlacht geraten, und die Schatten mussten das ganze Schiff tarnen! Sonst sind wir das schnellste Schiff der Weltmeere, aber danach sind wir nur noch im Schneckentempo vorangekommen.“
Ob das eine wahre Geschichte war? Und wenn ja – hieß das, dass Aleja selbst etwas Magisches vollbracht hatte?
Nach dem Schwimmen wrangen sie ihre nassen Kleider aus und liefen über den steinigen Strand in Richtung Hafen.
„Was macht Griete denn hier?“, fragte Aleja verwundert. Die junge Holländerin spazierte in einem leuchtend rosafarbenen Kleid ebenfalls am Strand entlang.
Als sie Frances und Aleja sah, hielt sie eine perlmuttern schimmernde, gedrehte Meeresschnecke in die Höhe. „Das ist reine Mathematik!“, sagte sie begeistert. „Jede Windung entspricht der Fibonacci-Folge.“ Damit legte sie das Schneckenhaus in den Korb, den sie am Arm trug. Frances und Aleja wechselten einen verständnislosen Blick. „Außerdem sieht es hübsch aus, wenn man sich so etwas ans Kleid näht.“ Griete war eine Erfinderin und hatte nicht nur eine Vorliebe für Mathematik, sondern auch für Mode.
Zu dritt gingen sie zum Hafen zurück. Frances und Griete unterhielten sich angeregt, doch Aleja war abgelenkt. Das Sprachengewirr der Seemänner und Kaufleute am Kai faszinierte sie jedes Mal. In Ragusa kamen Menschen aus allen möglichen Ländern und Kulturen zusammen. Hier erregte ein legendäres Piratenschiff, dessen Besatzung aus Frauen und Mädchen aus aller Welt bestand, kein großes Aufsehen.
„… angeblich ist es voller Schatten, die sich wie Menschen benehmen.“
Aleja zog Frances und Griete hinter ein Fass mit Waltran. „Hört mal!“
Ein anderer englischer Seemann erwiderte: „Also, mir hat jemand erzählt, dass das Piratenschiff statt Kanonen Gewitterstürme an Bord hat.“
„Aye, und es heißt auch, es kann nicht sinken …“
Die beiden Männer entfernten sich. Aleja dachte an die Gewittergläser in ihrer Kajüte, die sie als Leselampen benutzte, und lachte in sich hinein. „Kommt, wir gehen ihnen nach.“
Die drei Mädchen hakten einander unter und schoben sich im Gedränge dicht an die beiden Engländer heran. „Habt ihr schon gehört, dass es auf dem Schattenschiff sogar ein Badehaus gibt?“, fragte Griete laut, als sie an den Männern vorbeischlenderten. Ihre Augen funkelten mutwillig.
Den beiden Seeleuten fiel die Kinnlade herunter. „Du immer mit deinem Baden!“, schimpfte Frances gedämpft.