Alexandra Minderop - Reinhold Neven Du Mont - E-Book

Alexandra Minderop E-Book

Reinhold Neven Du Mont

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Beschreibung

Ein einzigartiges Frauenporträt. Köln um 1900. Die junge Alexandra heiratet gutbürgerlich, sich ihrer Stellung bewusst führt sie ihre kinderreiche Familie mit sicherer Hand durch unruhige Zeiten. Ihr gesellschaftlicher Stand bedeutet für sie Verantwortung, sie setzt sich für Frauenrechte ein und engagiert sich sozial. Zwei Weltkriege und persönliche Verluste lassen sie nur noch disziplinierter werden, zeigen aber auch, was aufzugeben sie nicht bereit ist: Menschlichkeit, Fürsorge, Anstand. In eindringlichen Bildern erleben wir eine couragierte Frau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

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Reinhold Neven Du Mont

Alexandra Minderop

Roman

Meine Mutter Alexandra war eine Minderop. Ihre Familie stammte aus Antwerpen. Sie war eine Dame, eine Gestalt aus dem 19. Jahrhundert. Was sie auch tat, sie tat es mit der Würde einer Königin.

Ihr Geburtshaus stand am »Grote Markt« in Antwerpen, ein prächtiges Gebäude mit vergoldeten Stuckelementen auf dem schwarzen Grund der Fassade. Ihr Vater hatte es von dem stattlichen Erbe gekauft, das seine Frau mit in die Ehe brachte. Er hatte es in keinem guten Zustand übernommen, es hatte Jahre leer gestanden. Der Vorbesitzer, ein Mann mit ungewöhnlichen Neigungen, war darin unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen. Es hieß, er spuke als Geist in seinen alten Gemächern. Das glaubte niemand ernsthaft, aber es fand sich kein Käufer.

Alexandras Vater hatte Jurisprudenz studiert und ließ sich nach dreijährigem Anwärterdienst als Assessor zum Notar bestellen. Er galt als untadeliger Bürger, eine Haltung, die sich in seiner Kleidung und in der seiner Familie ausdrückte. Alexandra war als Kind und später als Mädchen immer nach dem Vorbild der königlichen Familie gekleidet. Sie blieb ohne Geschwister. Der Wunsch der Eltern nach einem Stammhalter wurde nicht erfüllt. Nach ihrer Geburt wurde Alexandra einer Amme, dann wechselnden Kinderfräuleins und schließlich einer Privatlehrerin überlassen. Sie lernte mühelos die Dinge, die man von einer Tochter aus gutem Hause erwartete. Was nicht im Lehrplan vorgesehen war, brachte sie sich selbst bei. Mit vierzehn Jahren besaß sie ein größeres Vokabular und war belesener als ihre Mutter. Ihre Eltern nahmen sie auf Reisen nicht mit, aber Alexandra kannte Europa aus der Literatur. »Sense and Sensibility« hatte sie mit Hilfe eines Diktionärs im Original gelesen, Romane von deutschen Autoren blieben ihre Pflichtlektüre, sie schwärmte aber verhalten für die Franzosen. Ihr Liebling war Maupassant, vielleicht gerade weil seine Frauengestalten so ganz anders waren als sie selbst.

Mein Vater Hermann Neuhaus war Kölner. Er konnte Kölsch, sprach es aber nicht. Er leitete einen Verein zur Pflege der romanischen Kirchen, war ein angesehenes Mitglied der Handelskammer und förderte den Zoologischen Garten. Aber die rheinische Gemütlichkeit war ihm suspekt. Den Karneval fand er schrecklich. Von Weiberfastnacht bis Aschermittwoch floh er mit einem Freund in eine Jagdhütte im Hunsrück. Auch auf Betriebsausflügen trank er kein Kölsch, sondern begnügte sich mit einem Glas Apfelschorle. An Wochenenden genehmigte er sich eine Flasche Mosel- oder Saarwein. Mein Vater war Katholik. Trotz grundlegender Zweifel war er nicht aus der Kirche ausgetreten. Am Heiligen Abend ging er mit Alexandra zur Christmette in den Dom und einmal im Jahr zur Beichte und zur Kommunion, und zwar zur österlichen Zeit.

Alexandra und Hermann lernten sich bei einer Dampferfahrt auf dem Rhein kennen. Es ist verbürgt, dass sie zu den Klängen der Bordkapelle Walzer tanzten. In den darauffolgenden Monaten wurden sie auf Museumsausstellungen und in Konzerten gesehen. Es wurde gemunkelt, da bahne sich etwas an. Und dem war auch so. Zu Ostern des nächsten Jahres wurde ein Treffen der Familien Neuhaus und Minderop arrangiert. Das verlangte diplomatisches Geschick. Die Minderops waren Protestanten. Auch unter den jüngeren Mitgliedern der Familie waren einige, die es als Schande empfanden, dass Alexandra zu den Papisten überlief. Ihrer Großmutter verschwieg man die Pläne der Enkelin aus Sorge, die fast Hundertjährige könnte der Schlag treffen.

Sie verlor nie ein Wort darüber, warum sie sich ohne zu zögern gerade Hermann wählte. Ihre Entscheidung für ihn und gegen andere Verehrer zu begründen, wäre ihr geschmacklos und würdelos gegenüber Hermann vorgekommen. »Ich glaube, er ist der Richtige«, sagte sie zu einer Freundin. Aus dem Glauben wurde in wenigen Wochen Gewissheit.

Pfingsten wurde Verlobung gefeiert. Sechzig Gäste wurden Zeugen, wie Hermann Alexandra den ersten Kuss gab. Nicht alle der aus Antwerpen Angereisten klatschten Beifall, als eine Vertreterin des Oberbürgermeisters der künftigen Braut einen Strauß aus roten und weißen Nelken überreichte, den Farben der Stadt.

Alexandra konvertierte unter der Bedingung, dass ihr Unterweisungen über die allein selig machende katholische Kirche erspart blieben. »Ich bin Christin und ich bleibe Christin«, sagte sie zu dem Pfarrer, der ihr die Beichte abnehmen wollte und von dem sie vermutete, dass sie das Neue Testament besser kannte als er. Sie glaubte an Jesus Christus, an die von ihm vollbrachten Wunder und an seine Mission als Gottes Sohn. Maria respektierte sie als Frau. Die jungfräuliche Empfängnis hielt sie für ein Märchen. In der Weihnachtskrippe stellte sie Jahr für Jahr die Figur des Joseph gleichberechtigt neben Mutter und Kind.

Den Bund der Ehe gingen sie in einer Seitenkapelle des Doms ein. Es war ein gesellschaftliches Ereignis. Alle Familien, die sich zu den Patriziern der Stadt zählten, waren vertreten. Für die Dauer der Feierlichkeiten vergaß man die Fehden, Eifersüchteleien, die kleinen und größeren Gemeinheiten, die in den besten Kreisen vorkamen. Alexandra lehnte es ab, in Weiß zu heiraten, und wollte nicht mit Reiskörnern als Symbol der Fruchtbarkeit beworfen werden. Für sie gründete die Beziehung zu dem Mann, für den sie sich entschieden hatte, auf Vertrauen und Achtung. Der Kardinal ließ ein Grußwort verlesen und segnete das Brautpaar »in absentia«. Der Pfarrer wählte für sie das Hochzeitsmotto »Die Liebe höret nimmer auf«. Aber Liebe, Lust und Leidenschaft wurden den Jungvermählten in den Reden während des Festessens im Hotel Excelsior nicht mit auf den Weg gegeben.

Alexandra war nicht bereit, den Namen Minderop abzulegen, den sie mit Stolz getragen hatte. Ihre Herkunft zu benennen, schien ihr das Recht einer jeden Frau zu sein. Sie hatte zwar einen Neuhaus geheiratet, das wollte sie nicht unterschlagen. So verband sie für die Heiratsurkunde ihren Mädchennamen durch einen Bindestrich mit dem ihres Mannes.

Sie bestand nicht auf einem notariellen Ehevertrag, aber sie formulierte handschriftlich ein paar Zeilen, in denen sie mit Hermann Gütertrennung vereinbarte. Aus ihrer Familie kannte sie die Wirkkraft des Geldes. Sie wollte allein über ihr Vermögen verfügen können, wollte sich ein Stück Unabhängigkeit bewahren.

Unabhängigkeit anzustreben war auch für die Frauen der Familie Minderop keine Tugend. Sie hatten im Haushalt ihren Platz. Nur unverheiratete und kinderlose Frauen durften mit Zustimmung des Familienoberhauptes berufstätig werden, meist in der Buchhaltung. Die Minderops waren Kaufleute. Sie importierten Waren aus dem Fernen Osten. Eigene Schiffe wie die großen Handelsherren hatten sie nicht. Sie galten als wohlhabend. Sie verdoppelten ihr Vermögen von Generation zu Generation und legten das erwirtschaftete Geld in Lagerhäusern am Hafen an. Dort gehörte ihnen fast ein ganzer Straßenzug in vorderster Reihe.

Kein Minderop musste Not leiden. Dafür sorgte eine Familienstiftung. Ein Onkel von Alexandra wollte Künstler werden, obwohl seine Eltern und Geschwister nur verständnislos den Kopf schüttelten. Er zog durch Holland und malte Stadtansichten. Von dem Erlös der wenigen Bilder, die er verkaufte, konnte er nicht leben. Er erhielt eine monatliche Zuwendung aus dem Fonds der Familienstiftung und den Posten eines Disponenten im kleinsten Lagerhaus, wo er vor allem damit beschäftigt war, seine Leber durch übermäßigen Alkoholgenuss zu schädigen. Auch ein Vetter von Alexandra hatte versucht, den Familienbanden zu entfliehen. Er kam auf dem Weg nach Amerika bis nach Southampton, geriet in schlechte Gesellschaft und wurde Opfer einer Messerstecherei.

Dass Alexandra sich einen Ehemann aus Köln und nicht aus den begüterten Kreisen Antwerpens gesucht hatte, wurde ihr nicht als Fluchtversuch, sondern eher als Extravaganz ausgelegt. Schon in jungen Jahren war sie durch Eigenwilligkeiten aufgefallen. Ihre Freundinnen sprachen und kleideten sich wie kleine Erwachsene. Kindliches Verhalten galt als unreif und musste den Mädchen abgewöhnt werden. Bei Alexandra waren derlei Erziehungsmaßnahmen überflüssig. Sie las populärwissenschaftliche Bücher aus der Bibliothek ihres Vaters und wusste über die Funktionen des menschlichen Körpers oder die Geschichte der Niederlande bald mehr, als für eine Heranwachsende als schicklich angesehen wurde. Zu ihrem zwölften Geburtstag wünschte sie sich nicht das obligate Organzakleidchen, sondern einen Trainingsanzug aus englischem Stoff, den sie auch sonntags trug. Schon früh stand fest, dass mit ihr ein besonderes, aber nicht einfaches Familienmitglied heranwuchs.

Die Gründe, warum es Alexandra an den Rhein zog, sind nicht überliefert. Es könnten Bestrebungen an der Kölner Universität gewesen sein, Frauen zum Studium zuzulassen. Köln besaß den Ruf, eine Bürgerstadt zu sein, die nie einen Adelsherrn als Regent geduldet hatte. Das mag der jungen Frau, die mit nur zwei Koffern in Antwerpen in den Zug stieg, gefallen haben.

Ihre Ankunft wurde von einem schrecklichen Eisenbahnunglück überschattet. In dem noch selbstständigen Mülheim stieß am frühen Nachmittag der Lloyd Express mit einem Militärzug voller Soldaten zusammen, die gerade aus dem Heimaturlaub kamen. Die Feuerwache des nahe gelegenen Carlswerks barg zweiundzwanzig Tote aus den zertrümmerten Waggons.

Alexandra ließ ihre Koffer unausgepackt. Ohne zu zögern, ohne auch nur den Reisemantel auszuziehen, tat sie, was sie als ihre Pflicht ansah. Zu Fuß lief sie bis zum Unfallort, drängte sich durch die Menge der Gaffer, hielt einem Wachmann, der sie am Ärmel fasste, ihren niederländischen Pass hin und schlüpfte durch die Absperrungen. Von Sanitätern des Städtischen Krankenhauses ließ sie sich eine Haube und eine Armbinde mit rotem Kreuz geben und lief über die Gleise, bis sie die ineinandergeschobenen Züge sah. Sie hatte keinen Erste-Hilfe-Kurs besucht, aber sie half, so gut sie konnte, bei der Versorgung der Verletzten. Deren Geschrei und Stöhnen stieß sie nicht ab. Sie verband Wunden an Armen und Beinen, umwickelte blutende Köpfe mit provisorischen Verbänden und verteilte schmerzmildernde Medikamente. Bis zum Abend war sie an der Seite eines jungen Sanitäters im selbstgewählten Einsatz. Als sie sich verabschiedeten, sagte er: »Hätten wir uns unter erfreulicheren Umständen kennengelernt, ich hätte Ihnen einen Heiratsantrag gemacht.«

Den beiden Schwiegermüttern, die sich ungeduldig erkundigten, wann denn mit Nachwuchs zu rechnen sei, verschwieg Alexandra, dass sie bei der Hochzeit bereits schwanger war. Als Vorbereitung auf ihre Mutterrolle entschloss sie sich, im kürzlich gegründeten Kinderschutzbund den Vorsitz zu übernehmen. In Vorfreude auf ein eigenes Kind wollte sie helfen, die Not anderer Kinder zu lindern. An ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag feierte sie kein Fest, sondern machte sich auf den Weg zu einer Frau, von der es hieß, dass sie ihre Kinder vernachlässige. Sie brachte Spielzeug und Kleidungsstücke mit, redete der Frau ins Gewissen und kündigte an, in Kürze wiederzukommen, um nach dem Rechten zu sehen. Am Abend legte ihr Hermann als Geschenk eine Perlenkette um den Hals, entkorkte eine Flasche Sekt und versprach ihr, dem Kind ein guter Vater zu werden.

Es gibt ein Foto von Alexandra mit ihrem Erstgeborenen im Arm. Beglückt drückt sie ihn an ihre Brust. Aber in ihrem Gesicht zeichnet sich auch die Entschlossenheit ab, aus ihm einen ordentlichen Menschen zu machen. Hermann steht hinter den beiden. Ihm ist anzusehen, wie stolz er ist. Er hat Pläne. Er will eine Firma gründen, und dieser Junge soll eines Tages sein Nachfolger werden.

Der Junge sollte Jan heißen. Alexandra stillte ihn, bis ihm die ersten Zähne wuchsen. Das war in ihrer Generation so üblich. Die weitere Betreuung des Jungen überließ sie einer Kinderschwester, die Maria gerufen wurde. Auch das war üblich. Hermann hielt den gebadeten und frisch gewickelten Säugling vor dem Abendessen zehn Minuten im Arm, strich ihm sanft über den Kopf und gab ihn dann der Kinderschwester zurück.

Zum Hausstand des jungen Paares gehörten eine Köchin und eine Putzfrau, die auch für die Wäsche und kleine Näharbeiten zuständig war. Mutter suchte aus dem »Kochbuch für die deutsche Familie« die Speisen aus, sie selbst wurde nie dabei gesehen, wie sie mit einem Topf oder einer Pfanne hantierte. Für die Putzfrau stellte sie einen Wochenplan zusammen, legte fest, wann die Betten bezogen und die Fenster geputzt werden mussten. Sie selbst fasste nie einen Besen oder eine Kehrschaufel an.

Die Absprache mit Maria musste bald verlängert werden. Alexandra und Hermann teilten auf einer Schmuckkarte ihren Verwandten und Bekannten ein »freudiges Ereignis« mit. Alexandra hatte nach beschwerlichen Wochen der Schwangerschaft Lore und Mona zur Welt gebracht. Dass es Zwillinge waren, fanden die Eltern wohl weniger »freudig«, als auf der Karte behauptet. Alexandra musste den Vorsitz im Kinderschutzbund aufgeben, und Hermann tätschelte die beiden Mädchen nur an Sonn- und Feiertagen.

Die von ihm neu geplante Firma sollte Regenschirme herstellen, die er im gesamten Deutschen Reich und angrenzenden Provinzen verkaufen, aber auch ins Vereinigte Königreich und nach Frankreich exportieren wollte. Die Modelle für Herren wären mit Stoffen in gedeckten Tönen bezogen, die für die Damen bunt, farblich der jeweiligen Hutmode angepasst. Er musste herausfinden, wo man Spannseide, Holzgriffe und das Material für das Gestänge am günstigsten beziehen konnte. Da blieb für Vatergefühle wenig Zeit.

Die Ärzte rieten Alexandra nach der Zwillingsgeburt von einer weiteren Schwangerschaft ab. Die Gründe hierfür blieben ihr Geheimnis. Ich weiß nur, dass mein Vater den Rat der Ärzte ernst nahm. »Wir haben drei gesunde Kinder«, sagte er. »Dafür müssen wir dankbar sein. Wir sollten kein weiteres Kind in die Welt setzen.« Halbherzig gab Alexandra ihm recht. Die andere Hälfte ihres Herzens schwieg lange Zeit. Nach siebeneinhalb Jahren sollte sie sich zu Wort melden.

Alexandra und Hermann führten eine Ehe gemäß ihren Vorstellungen und dem, was man in großbürgerlichen Kreisen für schicklich hielt. Dazu gehörte, einen gewissen Abstand voneinander zu wahren und auf diese Weise Konflikte zu vermeiden, die bei zu großer Nähe der Eheleute als unvermeidlich galten. Theaterpremieren und Ausstellungseröffnungen besuchten sie selbstverständlich gemeinsam, aber in den Pausen trank Alexandra ihr Gläschen Sekt mit den ihr bekannten Damen, Hermann das seine mit politisch gleichgesinnten Herren. Ähnlich verhielten sie sich zu Hause, wenn sie Gäste hatten. Bei Tisch saßen sie nicht nebeneinander, und nach dem Essen zog sie sich mit den Damen in den Salon und er sich mit den Männern ins Herrenzimmer zum Rauchen zurück. Das war allgemein so üblich.

Alexandra war es nicht gewöhnt, dass ihr jemand widersprach. Nur Hermann, ihr Mann, konnte ihr gegenüber Meinungen äußern, die nicht mit den ihren übereinstimmten. Wenn er es mit guten Argumenten tat, nahm sie es hin. Waren seine Argumente schwach, räusperte sie sich und ihre Nase wurde spitz.

Es kam nur einmal zu einer Meinungsverschiedenheit, die sich mit der Zeit zu einer mit Worten nicht beizulegenden Auseinandersetzung verhärtete. In ihrem Bekanntenkreis hatte es einen Skandal gegeben. Das Wenige, das man wusste, beflügelte zunächst die Phantasien der Damen. In einer Bridgerunde machte eine von Alexandras besten Freundinnen Andeutungen, natürlich unter dem Mantel äußerster Verschwiegenheit. Dennoch kam das Gerücht auch den Herren zu Ohren. Diese unterbrachen ihre geselligen politischen Diskussionen, stießen ihrem Nachbarn den Ellenbogen in die Seite und sagten: »Haben Sie denn schon gehört …?«

Im Arbeitermilieu und in Künstlerkreisen ging es drunter und drüber, das wusste man. In der besseren Gesellschaft galten Seitensprung und Ehebruch dagegen als unsittlich, kamen aber auch dort vor. Anlass hierfür gaben immer die Frauen. Sie waren es, die sich vergaßen. War ihr Liebhaber standesgemäß, so wurde der Vorfall behandelt wie ein Fieber, das kommt und wieder vergeht. War es der Postbote oder der Gemüsehändler, dann war der Person nicht zu helfen. Sie war Spott und Hohn preisgegeben und es war gerecht, wenn ihr Ehemann sie verstieß.

Der Skandal, über dessen Einschätzung sich Alexandra und Hermann nicht einigen konnten, war ein Sonderfall. Er betraf einen Anwalt, dessen Markenzeichen eine rote Fliege war, wenn er vor Gericht als Ankläger auftrat, und eine blaue, wenn seine Rolle die des Verteidigers war. Er beriet und vertrat alle Mitglieder der Zentrums-Partei, zu denen auch Hermann gehörte. Er war streitlustig und ein Kenner edler Weine. Seine Lebensführung war untadelig. Ihm konnte man sich anvertrauen und zwar auch dann, wenn ein Problem keinen juristischen Charakter hatte. Hermann schätzte ihn sehr.

Erst hinter vorgehaltener Hand, dann ganz offen wurden zwei Frauen aus gutbürgerlichen Kreisen genannt, die Gertrud S. und die Martha B., beide um die vierzig und verheiratet, die eine mit einem Fabrikanten, die andere mit einem Bankdirektor. Sie galten beide als vorbildliche Mütter und traten bei kulturellen Veranstaltungen dezent gekleidet und mit vornehmer Zurückhaltung auf.

Gertrud kannte Alexandra aus dem Kinderschutzbund recht gut. Sie trug eine große schwarzgeränderte Brille und verwaltete als Ehrenamtliche pfenniggenau die Kasse. Die Geschichte hatte sich wie folgt zugetragen: Der Anwalt mit der Fliege bestellte sie nach Dienstschluss zusammen mit Martha in seine Kanzlei. Dort empfing er sie, nur mit der Perücke und dem Talar eines Richters bekleidet. In einer Art Schauprozess verurteilte er die Frauen dazu, sich auszuziehen und nahm bei ihnen eine ins Detail gehende Leibesvisitation vor. Dann schenkte er Sekt aus.

In einer Diskussion, in der es darum ging, ob der ertappte Anwalt in Schimpf und Schande sein Amt niederlegen müsse, stellte sich Hermann hinter ihn. Er verteidigte ihn im Kreise der Zentrums-Mitglieder sowie in Diskussionen mit Alexandra. Durch das Treiben in der Kanzlei sei niemand zu Schaden gekommen, argumentierte Hermann. Die drei Beteiligten hätten gegen den guten Geschmack verstoßen, wären aber erwachsene Menschen und könnten tun und lassen, was sie wollten.

Alexandra widersprach heftig. Im Andenken an ihren untadeligen Vater empörte sie sich über den Rechtsanwalt auf Abwegen. Welcher Partei der Lüstling angehöre, sei ihr egal, äußerte sie. Er sei ihr schon immer unsympathisch gewesen. Er habe die nichtsahnenden Frauen in eine Falle gelockt, habe sie unter Alkohol gesetzt und dann schändlich missbraucht. Sie wäre bereit, Gertrud und Martha auf dem Weg zurück in ein tugendhaftes Leben zu helfen.

Es kam zu keiner Einigung. Allerdings lud Alexandra Gertrud nicht mehr in ihr Haus ein, und Hermann wechselte den Rechtsanwalt. Mit der Zeit wuchs Gras über die Geschichte, ein neuer Skandal sollte bald die Gemüter bewegen.

An einem Mittwoch im April des Jahres 1900, an dem sich die Wolken zu einem Gewitter in der Rheinebene stauten, kam ich zur Welt. Sechs Wochen zu früh. Mutter wollte gerade den Brief einer Cousine beantworten, als die Wehen mit solcher Heftigkeit einsetzten, dass ihr der Federhalter aus der Hand fiel. Sie stieß einen Schrei aus, den sie nicht unterdrücken konnte. Die Köchin hörte ihn und kam mit einer Schüssel voll warmem Wasser angelaufen. Mutter befahl ihr, die Hebamme zu rufen. Einen der Ärzte, die von der Schwangerschaft abgeraten hatten, wollte sie nicht sehen. An Hermann, den Vater des Kindes, das da auf die Welt kommen wollte, dachte sie nur kurz. Sie hatte ihn am Ende überlisten müssen, um noch einmal schwanger zu werden.