Alice im Wunderland & Alice hinter den Spiegeln (2in1-Bundle) - Lewis Carroll - E-Book

Alice im Wunderland & Alice hinter den Spiegeln (2in1-Bundle) E-Book

Lewis Carroll

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Beschreibung

Mit »Alice im Wunderland« und der Fortsetzung »Alice hinter den Spiegeln« hat Lewis Carroll zwei Klassiker der Weltliteratur geschaffen, die Leserinnen und Leser jeden Alters seit über 150 Jahren verzaubern. Zu Recht setzte sie The Guardian 2009 auf die Liste der 1000 Romane, die jeder lesen sollte. Neben herrlich schrägen Figuren wie dem verrückten Hutmacher oder der Grinsekatze, machen vor allem Carrolls genialer Sprachwitz und die ganz eigene Logik seiner Fantasiewelten diese Texte so einzigartig. Unsere Ausgabe vereint beide Romane in neuen Übersetzungen, ergänzt durch die berühmten Illustrationen von John Tenniel.

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Seitenzahl: 279

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Lewis Carroll

Alice im WunderlandundAlice hinter den Spiegeln

Aus dem Englischen vonAngelika Beck und Jan Strümpel

Vollständige Ausgabe mit sämtlichenIllustrationen von John Tenniel

Anaconda

 

Titel der englischen Originalausgaben:

Alice’s Adventures in Wonderland (London: Macmillan 1865) und Through the Looking-Glass and What Alice found there (London: Macmillan 1871). Die Illustrationen von John Tenniel wurden den jeweiligen Ausgaben in der Reihe »Oxford World’s Classics« entnommen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: Wonderland Items Illustration by Travel Drawn / Adobe Stock

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K., Heiligenhaus

ISBN 978-3-641-31152-0

www.anacondaverlag.de

Alice im Wunderland

(Übersetzt von Angelika Beck)

INHALT

1. Hinab in das Kaninchenloch

2. Der Tränenteich

3. Ein Versammlungs-Wettlauf und ein ellenlanger Schwank

4. Das Kaninchen schickt einen kleinen Bill hinein

5. Rat von einer Raupe

6. Schweinchen und Pfeffer

7. Eine verrückte Teegesellschaft

8. Auf dem königlichen Croquetfeld

9. Die Geschichte der Falschen Schildkröte

10. Die Hummer-Quadrille

11. Wer hat die Törtchen gestohlen?

12. Alice sagt aus

Glossar

O schöner, goldner Nachmittag,

Wo Flut und Himmel lacht!

Von schwacher Kindeshand bewegt,

Die Ruder plätschern sacht –

Das Steuer hält ein Kinderarm

Und lenkt so unsre Fahrt.

So fuhren wir gemächlich hin

Auf träumerischen Wellen –

Doch ach! Die drei vereinten sich,

Den müden Freund zu quälen –

Sie trieben ihn, sie drängten ihn,

Ein Märchen zu erzählen.

Die Erste gab’s Kommandowort;

O schnell, o fange an!

Und mach es so, die Zweite bat,

Dass man recht lachen kann!

Die Dritte ließ ihm keine Ruh

Mit wie? und wo? und wann?

Jetzt lauschen sie vom Zauberland

Der wunderbaren Mähr;

Mit Tier und Vogel sind sie bald

In freundlichem Verkehr,

Und fühlen sich so heimisch dort,

Als ob es Wahrheit wär.

Und jedes Mal, wenn Fantasie

Dem Freunde ganz versiegt:

»Das Übrige ein andermal!«

O nein, sie leiden’s nicht.

»Es ist ja schon ein andermal!« –

So rufen sie vergnügt.

So ward vom schönen Wunderland

Das Märchen ausgedacht,

So langsam Stück für Stück erzählt,

Beplaudert und belacht,

Und froh, als es zu Ende war,

Der Weg nach Haus gemacht.

Alice! O nimm es freundlich an!

Leg es mit gütger Hand

Zum Strauße, den Erinnerung

Aus Kindheitsträumen band,

Gleich welken Blüten, mitgebracht

Aus liebem, fernem Land.

ERSTES KAPITEL

Hinab in das Kaninchenloch

Alice wurde es langsam leid, so neben ihrer Schwester am Ufer zu sitzen und nichts zu tun zu haben. Ein- oder zweimal hatte sie einen verstohlenen Blick in das Buch geworfen, das ihre Schwester las, doch es waren weder Bilder noch Gespräche darin. »Und was lässt sich schon mit einem Buch anfangen«, dachte Alice, »in dem es weder Bilder noch Gespräche gibt?«

Daher überlegte sie gerade (so gut es eben ging, denn von der Hitze des Tages war sie schon ganz träge und dösig), ob das Vergnügen, eine Kette aus Gänseblümchen zu flechten, die Mühe lohnte, aufzustehen und Gänseblümchen zu pflücken, als plötzlich ein Weißes Kaninchen mit roten Augen dicht an ihr vorbeilief.

Daran war an sich nichts gar so Merkwürdiges; auch fand Alice es nicht gar so außergewöhnlich, dass das Kaninchen zu sich sagte: »Herrjemine! Herrjemine! Ich werde mich sicher verspäten!« (Als sie später darüber nachdachte, kam ihr in den Sinn, dass sie sich eigentlich hätte wundern sollen; doch in jenem Augenblick erschien ihr das alles ganz natürlich.) Aber als dann das Kaninchen tatsächlich eine Uhr aus seiner Westentasche zog, einen Blick darauf warf und weitereilte, sprang Alice auf, denn es wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie noch nie zuvor ein Kaninchen mit einer Westentasche gesehen hatte, geschweige denn eines mit einer darin befindlichen Uhr, und so lief sie ihm, brennend vor Neugier, quer übers Feld hinterher und konnte gerade noch beobachten, wie es in ein großes Kaninchenloch unter der Hecke flitzte.

Augenblicks sprang Alice ihm nach, ohne auch nur kurz darüber nachzudenken, wie in aller Welt sie da wohl wieder herauskäme.

Eine Weile lang führte der Gang geradeaus, wie in einem Tunnel, dann aber ging es so jählings abwärts, dass Alice gar keine Zeit hatte, ans Anhalten zu denken, ehe sie merkte, dass sie in etwas hinunterfiel, das ein sehr tiefer Brunnen zu sein schien.

Entweder war der Brunnen wirklich überaus tief oder sie fiel nur sehr langsam, denn sie hatte dabei reichlich Zeit, sich umzusehen und sich zu fragen, was wohl als Nächstes geschehen mochte. Zuerst versuchte sie, hinunterzuschauen und zu erspähen, wo sie landen würde, aber es war zu dunkel, um etwas zu erkennen; dann betrachtete sie die Wände des Brunnens und bemerkte, dass sie mit Küchenschränken und Bücher - regalen bedeckt waren; hier und da sah sie Landkarten und Bilder, die an Haken hingen. Im Vorbeisausen nahm sie von einem der Bretter ein Einmachglas mit der Aufschrift »Orangenmarmelade« herunter, doch zu ihrer großen Enttäuschung war es leer. Einfach fallenlassen wollte sie es nicht, aus Angst, jemanden unter ihr damit zu erschlagen, und sie schaffte es, das Gefäß in einen der anderen Schränke zu schieben, an denen sie vorbeikam.

»Also«, dachte Alice bei sich, »nach einem solchen Sturz sollte es mir nichts mehr ausmachen, die Treppe hinunterzupurzeln. Für wie tapfer mich zu Hause alle halten werden! Und selbst wenn ich vom Dach unseres Hauses fiele, ich würde kein Sterbenswörtchen darüber verlieren!« (Womit sie sehr wahrscheinlich recht hatte.)

Hinab, hinab, hinab. Würde dieser Sturz denn nie ein Ende nehmen? »Wie viele Meilen ich wohl inzwischen schon gefallen bin?«, sagte sie laut. »Allmählich dürfte ich fast am Erdmittelpunkt angekommen sein. Schauen wir mal: Das wären viertausend Meilen abwärts, glaube ich …« (Alice hatte nämlich, müsst Ihr wissen, derlei Dinge in der Schule gelernt, und auch wenn dies keine besonders gute Gelegenheit war, ihr Wissen vorzuführen, da ihr ja niemand zuhörte, so war das Hersagen doch eine gute Übung) »… ja, das ist ungefähr die Entfernung – aber dann frage ich mich, bis zu welchem Längen- und Breitengrad ich wohl gekommen bin?« (Alice hatte nicht die leiseste Vorstellung, was ein Längen- oder ein Breitengrad ist, aber in ihren Augen waren es schöne, imposante Wörter zum Aufsagen.)

Sofort begann sie von Neuem: »Ob ich wohl schnurstracks durch die Erde hindurchfallen werde? Wie komisch das sein wird, wenn ich bei den Leuten herauskomme, die mit dem Kopf nach unten laufen! Den ›Antipathien‹, glaube ich …« (diesmal war sie ganz froh, dass niemand ihr zuhörte, denn dieses Wort klang ganz und gar nicht richtig) »… aber ich werde sie doch fragen müssen, wie das Land heißt. Bitte, gnädige Frau, ist dies Neuseeland oder Australien?« (Und bei diesen Worten versuchte sie zu knicksen – stellt Euch vor, zu knicksen, während Ihr durch die Luft saust! Glaubt Ihr, dass Euch das gelänge?) »Aber wegen meiner Frage wird sie mich für ein dummes kleines Mädchen halten! Nein, das geht wirklich nicht an, dass ich frage; vielleicht sehe ich es ja irgendwo angeschrieben.«

Hinab, hinab, hinab. Da es nichts anderes zu tun gab, fing Alice bald wieder an zu sprechen. »Dinah wird mich heute Abend bestimmt sehr vermissen!« (Dinah war die Katze.) »Ich hoffe, sie vergessen nicht, ihr zur Teestunde ihr Milchschälchen hinzustellen. Dinah, mein Liebes! Ich wünschte, du wärst hier unten bei mir. Leider gibt es in der Luft keine Mäuse, aber du könntest ja vielleicht eine Fledermaus fangen; und die ist einer Maus sehr ähnlich, weißt du. Aber ob Katzen wohl Fledermäuse fressen?« Hier wurde Alice allmählich recht schläfrig und sagte immer wieder halb wie im Traum vor sich hin: »Fressen Katzen Fledermäuse? Fressen Katzen Fledermäuse?«, und manchmal auch: »Fressen Fledermäuse Katzen?«, denn, müsst Ihr wissen, da sie keine der beiden Fragen beantworten konnte, kam es nicht darauf an, wie herum sie fragte. Sie merkte, wie sie in einen sanften Schlummer fiel, und hatte gerade zu träumen begonnen, sie ginge Hand in Hand mit Dinah spazieren und fragte sie ganz ernsthaft: »Los, Dinah, sag mir die Wahrheit: Hast du schon jemals eine Fledermaus gefressen?«, als sie plötzlich – plumps! diplumps! – auf einem Haufen von trockenem Laub und Reisig landete und der Sturz zu Ende war.

Alice hatte sich kein bisschen wehgetan, und sogleich sprang sie auf; sie schaute nach oben, doch über ihr war alles dunkel. Vor ihr lag ein weiterer langer Gang, und das Weiße Kaninchen war gerade noch auszumachen, wie es durch ihn davoneilte. Nun zählte jeder Augenblick, und so raste Alice los wie der Wind und hörte es eben noch sagen, bevor es um eine Ecke bog: »Oh, bei meinen Ohren und Schnurrhaaren, so spät schon!« Sie war ihm bereits dicht auf den Fersen, als sie die Ecke erreichte, aber plötzlich war das Kaninchen nicht mehr zu sehen. Sie fand sich in einem langen, niedrigen Saal wieder, der durch eine Reihe Lampen erleuchtet wurde, die von der Decke herunterhingen.

An den Seiten des Saals gab es lauter Türen, aber sie waren alle verschlossen; und nachdem Alice auf der einen Seite hin- und auf der anderen wieder zurückgelaufen war und an jeder der Türen vergeblich gerüttelt hatte, ging sie schließlich mitten durch den Saal und fragte sich, wie sie hier jemals wieder herauskommen sollte.

Plötzlich stand sie vor einem dreibeinigen Tischchen, ganz aus dickem Glas; darauf lag nichts weiter als ein winziger goldener Schlüssel, und Alices erster Gedanke war, dass er zu einer der Türen des Saals gehören müsse. Aber ach! Entweder waren die Schlösser zu groß oder der Schlüssel war zu klein, jedenfalls würde sich damit keine von ihnen öffnen lassen. Allerdings entdeckte sie bei ihrem zweiten Rundgang einen niedrigen Vorhang, den sie zuvor nicht bemerkt hatte, und hinter diesem verbarg sich eine kleine, etwa fünfzehn Zoll hohe Tür. Sie steckte das goldene Schlüsselchen ins Schloss, und zu ihrer großen Freude passte es!

Alice öffnete die Tür und sah, dass sie in einen schmalen Gang führte, nicht viel größer als ein Mauseloch. Sie kniete sich hin und blickte durch den Gang in den schönsten Garten, den Ihr Euch vorstellen könnt. Wie gern wäre sie dem düsteren Saal entkommen und zwischen den bunten Blumenbeeten und kühlen Springbrunnen umherspaziert, doch sie bekam nicht einmal den Kopf durch die Tür. »Und selbst wenn mein Kopf hindurchpasste«, dachte die arme Alice, »wäre er ziemlich nutzlos ohne meine Schultern. Ach, könnte ich mich doch nur zusammenschieben wie ein Fernrohr! Ich glaube, das ginge, wenn ich nur wüsste, wie man damit anfängt.« Denn es waren ja in letzter Zeit so viele merkwürdige Dinge geschehen, dass Alice allmählich fast gar nichts mehr für unmöglich hielt.

Da es zwecklos schien, bei der kleinen Tür zu warten, ging sie zu dem Tisch zurück und hoffte dabei ein wenig, einen zweiten Schlüssel darauf zu finden, oder doch zumindest ein Buch mit Anleitungen, wie man sich wie ein Fernrohr zusammenschiebt. Diesmal fand sie ein Fläschchen darauf (»das vorhin ganz sicher nicht hier stand«, sagte Alice), und um den Hals des Fläschchens war ein Zettel gebunden, auf dem in großen Lettern die Worte »Trink mich« prangten.

Das ließ sich ja nun leicht sagen, »Trink mich«; aber die kluge kleine Alice wollte sich nicht damit übereilen, es auch zu tun. »Nein, ich werde erst nachsehen«, sagte sie, »ob wohl Gift darauf steht oder nicht.« Denn sie hatte schon mehrere hübsche kleine Geschichten von Kindern gelesen, die sich verbrannten oder von wilden Tieren gefressen wurden oder sich anderen unangenehmen Dingen gegenüber - sahen, nur weil sie partout die einfachen Regeln nicht beherzigen wollten, die ihre Freunde ihnen mit auf den Weg gegeben hatten, wie zum Beispiel: Wenn du einen rotglühenden Schürhaken zu lange anfasst, wirst du dich verbrennen; und wenn du dir mit einem Messer ordentlich tief in den Finger schneidest, blutet es für gewöhnlich. Und so hatte sie selbst niemals wieder vergessen, dass, wenn man zu viel aus einer Flasche mit der Aufschrift Gift trinkt, es einem mit ziemlicher Sicherheit früher oder später nicht gut bekommt.

Diese Flasche jedoch trug keine solche Aufschrift, also wagte es Alice, davon zu kosten, und da sie den Inhalt sehr schmackhaft fand (er schmeckte nämlich etwa wie ein Gemisch aus Kirschkuchen, Vanillesoße, Ananas, gebratenem Truthahn, Sahnekaramell und heißem Buttertoast), hatte sie das Fläschchen schon bald ausgetrunken.

»Was für ein komisches Gefühl!«, sagte Alice. »Ich glaube, ich schiebe ich mich gerade zusammen wie ein Fernrohr!«

Und so war es in der Tat: Sie maß jetzt nur noch zehn Zoll und strahlte übers ganze Gesicht bei dem Gedanken, dass sie nun die richtige Größe hatte, um durch die kleine Tür in den reizenden Garten zu gehen. Zunächst aber wartete sie noch einige Minuten, ob sie nicht noch weiter schrumpfen würde; über diesen Punkt war sie nämlich ein wenig beunruhigt, »weil es ja sein könnte«, sagte sich Alice, »dass ich am Schluss völlig ausgehe, wie eine Kerze. Ich frage mich, wie ich dann wohl aussähe?« Und sie versuchte sich vorzustellen, wie die Flamme einer Kerze aussieht, wenn sie erloschen ist, denn sie konnte sich nicht erinnern, so etwas jemals gesehen zu haben.

Als sie nach einer Weile merkte, dass nichts weiter passierte, beschloss sie, sofort in den Garten zu gehen; doch leider – arme Alice! – als sie zu der Tür kam, fiel ihr auf, dass sie das goldene Schlüsselchen vergessen hatte, und nachdem sie zum Tisch zurückgekehrt war, um es zu holen, wurde ihr klar, dass sie es unmöglich mehr erreichen konnte. Durch die Glasplatte hindurch war es ganz deutlich zu sehen, und sie versuchte nach Kräften, an einem der Tischbeine hinaufzuklettern, aber es war zu glatt; und von all den vergeblichen Versuchen völlig erschöpft, setzte sich das arme kleine Ding auf den Boden und weinte.

»Komm, das hat doch keinen Sinn, so zu heulen!«, ermahnte Alice sich ziemlich schroff, »ich rate dir, sofort damit aufzuhören!« Meistens gab sie sich sehr gute Ratschläge (die sie allerdings nur selten befolgte), und zuweilen schimpfte sie sich selbst dermaßen heftig aus, dass ihr die Tränen kamen; und sie konnte sich noch erinnern, wie sie einmal versucht hatte, sich eine Ohrfeige zu geben, weil sie gemogelt hatte, als sie gegen sich selbst Croquet spielte; denn dieses eigenartige Kind liebte es, so zu tun, als wäre es zu zweit. »Aber jetzt hilft es gar nichts«, dachte die arme Alice, »so zu tun, als ob ich zu zweit wäre. Ach! Von mir ist ja kaum noch genug übrig für eine anständige Person!«

Bald danach fiel ihr Blick auf ein gläsernes Kästchen, das unter dem Tisch lag; sie öffnete es und fand darin einen winzigen Kuchen, auf dem in schönster Rosinenschrift die Worte »Iss mich« geschrieben standen. »Na gut, ich esse ihn«, sagte Alice. »Wenn ich davon größer werde, kann ich den Schlüssel erreichen, und wenn ich davon kleiner werde, kann ich unter der Tür durchkriechen – so oder so werde ich in den Garten kommen, und es ist mir völlig einerlei, wie herum das geschieht!«

Sie aß einen kleinen Bissen und fragte sich gespannt: »Wie herum? Wie herum?« Dabei legte sie sich eine Hand auf den Kopf, um zu erfühlen, wie herum sie wohl wuchs; und sie stellte höchst überrascht fest, dass ihre Größe sich nicht veränderte. Nun, das ist zwar meistens der Fall, wenn man Kuchen isst; aber Alice hatte sich schon so sehr an das Eintreten sonderbarer Ereignisse gewöhnt, dass ihr der übliche Gang der Dinge ganz fade und dumm vorkam.

Und so machte sie sich denn über den Kuchen her und hatte ihn im Nu verspeist.

ZWEITES KAPITEL

Der Tränenteich

»Das wird ja immer kuriöser!«, rief Alice (vor lauter Verblüffung vergaß sie völlig, wie man sich richtig ausdrückt). »Jetzt schiebe ich mich auseinander wie das längste Fernrohr, das es jemals gegeben hat! Macht’s gut, ihr Füße!« (Denn als sie auf ihre Füße hinuntersah, konnte sie diese kaum mehr erkennen, so weit entfernt waren sie schon.) »Oh, meine armen kleinen Füße, wer wird euch jetzt wohl eure Schuhe und Strümpfe anziehen, ihr Lieben? Ich jedenfalls kann das bestimmt nicht mehr! Ich bin viel zu weit weg, um mich mit euch abzugeben; ihr müsst nun sehen, wie ihr allein zurechtkommt – aber ich muss nett zu ihnen sein«, überlegte Alice, »sonst gehen sie vielleicht nicht mehr dorthin, wohin ich gehen möchte. Lass mich mal sehen: Ja, ich werde ihnen jedes Jahr zu Weihnachten ein Paar neue Stiefel schenken.«

Und sofort schmiedete sie Pläne, wie sie das bewerkstelligen würde. »Sie müssen von einem Boten überbracht werden«, dachte sie sich; »wie seltsam das sein wird, seinen eigenen Füßen Geschenke zu schicken! Und wie eigenartig erst die Adresse aussehen wird!

An

Alices rechten Fuß, Wohlgeboren

Auf dem Kaminvorleger beim Ofenschirm

(mit herzlichen Grüßen von Alice)

Du meine Güte, was rede ich da für einen Unsinn!«

Just in diesem Augenblick stieß ihr Kopf gegen die Decke des Saals: Sie war jetzt nämlich schon über neun Fuß groß, und so schnappte sie sich sogleich das goldene Schlüsselchen und eilte hinüber zur Gartentür.

Arme Alice! Alles was sie dort tun konnte, war, sich auf die Seite zu legen und mit einem Auge in den Garten zu linsen; doch dorthin zu gelangen war hoffnungsloser als je zuvor, also setzte sie sich auf und fing erneut an zu weinen.

»Du solltest dich wirklich schämen«, sagte Alice, »ein großes Mädchen wie du« (da hatte sie wohl recht) »immer noch so zu weinen! Hör auf damit, und zwar sofort!« Aber sie weinte trotzdem weiter und vergoss solche Mengen von Tränen, dass sich um sie her ein großer Teich bildete, der ungefähr vier Zoll tief war und den halben Saal bedeckte.

Nach einer Weile hörte sie von ferne das Trippeln von Füßen, und so wischte sie sich hastig die Augen, um zu sehen, wer da gelaufen kam. Es war das Weiße Kaninchen, das, prächtig gekleidet, zurückkehrte und in der einen Hand ein Paar weißer Glacéhandschuhe und in der anderen einen Fächer trug. In großer Eile trabte es den Saal entlang und murmelte dabei vor sich hin: »Herrje, die Herzogin, die Herzogin! Oh, sie wird bestimmt außer sich sein, wenn ich sie warten lasse!« Alice war so verzweifelt, dass sie jeden um Hilfe gebeten hätte. Als das Kaninchen näher kam, begann sie daher mit leiser, zaghafter Stimme: »Ach bitte, mein Herr …« Das Kaninchen fuhr heftig zusammen, ließ die weißen Glacéhandschuhe und den Fächer fallen und flitzte, so schnell seine Beine es trugen, in die Dunkelheit davon.

Alice hob den Fächer und die Handschuhe auf, und da es im Saal sehr heiß war, fächelte sie sich zu, während sie weiterredete: »Du liebe Zeit! Wie verquer heut alles ist! Und gestern lief noch alles wie gewöhnlich. Ob ich wohl in der Nacht ausgewechselt worden bin? Lass mich mal überlegen: War ich wirklich dieselbe, als ich heute Morgen aufstand? Es kommt mir fast so vor, als hätte ich einen kleinen Unterschied gespürt. Aber wenn ich nicht mehr dieselbe bin, stellt sich doch die Frage: Wer um alles in der Welt bin ich dann? Ja, das ist das große Rätsel!« Und sie begann, alle Kinder ihres Alters, die sie kannte, in Gedanken durchzugehen, um zu sehen, ob sie vielleicht gegen eines von ihnen ausgetauscht worden sein könnte.

»Ada bin ich bestimmt nicht«, sagte sie, »denn ihr Haar hat solche langen Ringellocken, und meins ist überhaupt nicht lockig; und Mabel kann ich auch nicht sein, denn ich weiß ziemlich viele Sachen, und sie, oh, sie weiß ja fast gar nichts! Außerdem ist sie sie und ich bin ich und – du meine Güte, wie verwirrend das alles ist! Ich will doch mal sehen, ob ich noch all die Dinge weiß, die ich sonst immer wusste. Schauen wir also: Vier mal fünf ist zwölf, und vier mal sechs ist dreizehn, und vier mal sieben ist – ach herrje, auf diese Art komme ich nie bis zwanzig! Aber das Einmaleins hat nichts zu bedeuten; versuchen wir es mit Geografie: London ist die Hauptstadt von Paris, und Paris ist die Hauptstadt von Rom, und Rom – nein, ich wette, das ist alles falsch! Dann bin ich also doch gegen Mabel ausgewechselt worden! Ich versuche mal, Bei einem Wirte … aufzusagen«, und sie faltete die Hände im Schoß, wie wenn sie ihre Hausaufgaben vortragen müsste, und fing an, die Verse aufzusagen, aber ihre Stimme klang heiser und sonderbar, und die Worte kamen nicht so heraus wie sonst:

»Bei einem Wirte, wunderwild,

Da war ich jüngst zu Gaste,

Ein Bienennest, das war sein Schild

In einer braunen Tatze.

Es war der grimme Zottelbär,

Bei dem ich eingekehret;

Mit süßem Honigseim hat er

Sich selber wohl genähret!«

»Nein, das sind bestimmt nicht die richtigen Worte«, sagte die arme Alice, und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen, während sie fortfuhr: »Ich muss also doch Mabel sein, und ich werde in diesem winzig kleinen Haus wohnen müssen und so gut wie gar keine Spielsachen haben und – oje! – haufenweise lernen müssen! Aber nichts da, eins ist beschlossene Sache: Falls ich wirklich Mabel bin, dann bleibe ich hier unten! Es wird ihnen nichts nützen, wenn sie ihre Köpfe herunterbeugen und mir von oben zurufen: ›Komm doch wieder herauf, Herzchen!‹ Ich werde einfach zu ihnen hochschauen und sagen: ›Wer bin ich denn dann? Das verratet mir erst einmal, und wenn ich diese Person sein möchte, werde ich kommen; wenn nicht, bleibe ich hier unten, bis ich wer anders bin‹ – aber ach, wie sehr«, schluchzte Alice plötzlich auf, »wie sehr wünschte ich, sie würden ihre Köpfe herunterbeugen! Ich bin es wirklich leid, hier ganz allein zu sein!«

Während sie das sagte, sah sie auf ihre Hände hinunter und bemerkte erstaunt, dass sie beim Reden einen der kleinen weißen Glacéhandschuhe des Kaninchens angezogen hatte. »Wie kann ich das nur geschafft haben?«, dachte sie. »Ich muss wieder geschrumpft sein.« Sie stand auf und ging zu dem Tisch, um sich daran zu messen, und sie stellte fest, dass sie nach ihrer Schätzung jetzt nur noch etwa zwei Fuß groß war und zusehends immer noch weiterschrumpfte; schnell erkannte sie, dass der Grund dafür der Fächer war, den sie in der Hand hielt, und hastig ließ sie ihn fallen, gerade noch rechtzeitig, um sich vor dem restlosen Hinwegschrumpfen zu bewahren.

»Das war wirklich knapp!«, sagte Alice, ziemlich erschrocken über die plötzliche Veränderung, aber sehr froh, dass sie immer noch da war. »Und jetzt ab in den Garten!« Und so schnell sie konnte, rannte sie zu der kleinen Tür; aber ach, die kleine Tür war wieder verschlossen, und das goldene Schlüsselchen lag nach wie vor auf dem Glastisch. »Und alles ist noch schlimmer als je zuvor«, dachte das arme Kind, »denn so winzig wie jetzt bin ich überhaupt noch nie gewesen! Und das ist doch aber nun wirklich zu dumm, ist das!«

Bei diesen Worten glitt sie aus, und im nächsten Augenblick – platsch! – stand sie bis zum Kinn in Salzwasser. Als Erstes glaubte sie, irgendwie ins Meer gefallen zu sein, »und wenn es so ist«, sagte sie sich, »kann ich ja mit der Eisenbahn zurückfahren.« (Alice war ein Mal in ihrem Leben am Meer gewesen und hatte daraus den allgemeinen Schluss gezogen, dass überall an der englischen Küste zahlreiche Badekarren im Wasser stehen, Kinder mit hölzernen Spaten den Sand aufgraben, dann eine Reihe von Ferienhäusern kommt und dahinter schließlich ein Bahnhof zu finden ist.) Doch schnell wurde ihr klar, dass sie in jenem Tränenteich schwamm, den sie zusammengeweint hatte, als sie noch neun Fuß groß gewesen war.

»Hätte ich doch nur nicht so viel geweint!«, sagte Alice, als sie umherschwamm und wieder herauszukommen versuchte. »Jetzt werde ich vermutlich dafür bestraft, indem ich in meinen eigenen Tränen ertrinke! Das wäre wirklich eine seltsame Angelegenheit! Aber heute ist ja alles so seltsam.«

Da hörte sie nicht weit entfernt etwas im Teich herumplätschern, und sie schwamm näher heran, um zu sehen, was es war: Zuerst meinte sie, es sei ein Walross oder ein Nilpferd, doch dann fiel ihr wieder ein, wie klein sie jetzt war, und sie erkannte schnell, dass es sich nur um eine Maus handelte, die ebenso wie sie ins Wasser gefallen war.

»Ob es wohl etwas nützen wird«, dachte Alice, »diese Maus anzureden? Hier unten ist alles so sonderbar, dass es mich nicht wundern würde, wenn sie sprechen kann; nun, jedenfalls schadet es nicht, mal zu fragen.« Also fing sie an: »O Maus, weißt du, wie man aus diesem Teich herauskommt? Ich habe es ziemlich satt, hier herumzuschwimmen, o Maus!« (Alice meinte, das wäre die rechte Anrede für eine Maus; zwar hatte sie etwas Derartiges noch nie getan, doch sie erinnerte sich recht gut, in der lateinischen Grammatik ihres Bruders gelesen zu haben: »Eine Maus – einer Maus – einer Maus – eine Maus – o Maus!«) Die Maus sah sie etwas forschend an und schien ihr mit einem ihrer Äuglein zuzublinzeln, sagte aber nichts.

»Vielleicht versteht sie meine Sprache nicht«, dachte Alice. »Sie ist bestimmt eine französische Maus, die mit Wilhelm dem Eroberer herüberkam.« (Denn trotz ihrer Kenntnisse in Geschichte hatte Alice keine sehr klare Vorstellung davon, wie lang ein Ereignis zurücklag.) So versuchte sie es denn erneut: »Où est ma chatte?«, denn das war der erste Satz in ihrem Französischbuch. Da machte die Maus einen Satz aus dem Wasser und schien vor Angst am ganzen Leib zu zittern. »Oh, ich bitte um Verzeihung!«, rief Alice schnell, weil sie fürchtete, das arme Tier gekränkt zu haben. »Ich hatte ganz vergessen, dass du Katzen nicht magst.«

»Katzen nicht magst!«, schrie die Maus mit schriller, zorniger Stimme. »Würdest du Katzen mögen, wenn du ich meiner Haut stecktest?«

»Nun ja, vielleicht nicht«, sagte Alice besänftigend, »sei nicht böse deswegen. Und trotzdem würde ich dir gern unsere Katze Dinah zeigen. Ich glaube, du fändest Gefallen an Katzen, wenn du sie nur sehen könntest. Sie ist ein so liebes ruhiges Wesen«, fuhr Alice, halb zu sich selbst gewandt, fort, während sie langsam im Teich umherschwamm, »und sie sitzt so hübsch schnurrend vor dem Kamin, leckt sich die Pfoten und putzt sich das Schnäuzchen – und sie ist ein so niedliches, weiches Ding zum Schmusen – und eine famose Mäusefängerin – oh, ich bitte um Verzeihung!«, rief Alice aufs Neue, denn diesmal sträubte sich der armen Maus das Fell, und Alice war sicher, dass sie nun wirklich beleidigt sein musste. »Wir wollen nicht mehr von ihr sprechen, wenn dir das lieber ist.«

»Wir, natürlich!«, entgegnete die Maus, die bis in die Schwanzspitze zitterte. »Als ob ich jemals von so etwas sprechen würde! Unsere Familie hat Katzen immer schon verabscheut: garstige, niedrige, gemeine Geschöpfe! Erwähne dieses Wort nie wieder!«

»Nein, bestimmt nicht!«, sagte Alice schnell und beeilte sich, das Gesprächsthema zu wechseln. »Magst du – magst du vielleicht – gern Hunde?« Die Maus antwortete nicht darauf, weshalb Alice eifrig fortfuhr: »Es gibt nämlich ein ganz niedliches Hündchen, nicht weit von unserm Haus, das würde ich dir gerne zeigen! Ein kleiner Terrier, weißt du, mit strahlenden Augen und oh, so wuscheligem braunen Fell! Und wenn man etwas wirft, dann bringt er’s zurück, und er macht Männchen und bettelt um sein Fressen und kann noch ganz andere Sachen – so viele, ich hab schon die Hälfte vergessen –, und er gehört einem Bauern, weißt du, und der sagt, er sei so nützlich und hundert Pfund wert! Er sagt, er vertilge sämtliche Ratten und – ach, du meine Güte!«, rief Alice bekümmert. »Ich fürchte, ich hab sie schon wieder gekränkt!« Denn die Maus schwamm von ihr weg, so schnell sie konnte, und versetzte dabei den Teich in gehörigen Aufruhr.

So rief sie ihr besänftigend nach: »Liebe Maus! Komm wieder zurück, und wir wollen weder von Katzen noch von Hunden mehr reden, wenn du sie nicht magst!« Als die Maus das hörte, machte sie kehrt und schwamm langsam zu ihr zurück; ihr Gesicht war ganz blass (vor Zorn, dachte Alice), und sie sagte mit leiser, bebender Stimme: »Lass uns ans Ufer schwimmen; dort will ich dir meine Geschichte erzählen, und dann wirst du verstehen, warum ich Katzen und Hunde verabscheue.«

Es war auch höchste Zeit zu verschwinden, denn im Teich wimmelte es nun von allerlei Getier und Vögeln, die hineingefallen waren: Da gab es eine Ente und einen Dodo, einen Papageienvogel und einen jungen Adler und verschiedene andere kuriose Geschöpfe. Alice schwamm voran, und die ganze Gesellschaft paddelte zum Ufer.

DRITTES KAPITEL

Ein Versammlungs-Wettlauf und ein ellenlanger Schwank

Es war in der Tat eine wunderliche Gesellschaft, die sich da am Ufer versammelte – die Vögel mit triefigen Federn, die übrigen Tiere mit klebrig anliegendem Fell, und alle waren tropfnass, mürrisch und fühlten sich unwohl.

Die erste Frage lautete natürlich, wie sie wieder trocken werden würden: Sie hielten darüber eine Beratung ab, und nach wenigen Minuten schien es Alice schon völlig selbstverständlich, so vertraulich mit ihnen zu plaudern, als wäre sie schon ihr Leben lang mit ihnen bekannt. Ja, sie stritt sich sogar eine ganze Weile mit dem Papagei herum, der schließlich schmollte und nur noch sagte: »Ich bin älter als du und muss es also besser wissen.« Dies wollte Alice nicht gelten lassen, ehe sie erfuhr, wie alt er war, und als der Papagei sich regelrecht weigerte, sein Alter zu verraten, erübrigte sich damit jedes weitere Wort.

Schließlich rief die Maus, die anscheinend eine Art Respektsperson in der Gruppe darstellte: »Setzt euch alle mal hin und hört mir zu! Ich werde euch bald trocken kriegen!« Sogleich setzten sich alle in einen großen Kreis nieder, in seiner Mitte die Maus. Gespannt ließ Alice sie nicht aus den Augen, denn sie war überzeugt, sich eine tüchtige Erkältung zu holen, wenn sie nicht schleunigst wieder trocken würde.

»Hmhm!«, sagte die Maus mit wichtiger Miene, »seid ihr alle bereit? Dies ist das Trockenste, das ich kenne. Ruhe ringsum, wenn ich bitten darf! – ›Wilhelm der Eroberer, dessen Sache vom Papst begünstigt wurde, fand bald Anhang unter den Engländern, die einen Anführer brauchten und die sich in letzter Zeit an Usurpation und Eroberung sehr gewöhnt hatten. Edwin und Morcar, die Grafen von Mercia und Northumbria …‹«

»Bah!«, sagte der Papagei und schüttelte sich.

»Ich bitte um Verzeihung!«, sagte die Maus stirnrunzelnd, aber ausnehmend höflich. »Sagtest du etwas?«

»Ich? Nein!«, erwiderte der Papagei hastig.

»Es kam mir so vor«, sagte die Maus. »Ich fahre fort: ›Edwin und Morcar, die Grafen von Mercia und Northumbria, erklärten sich für ihn; und selbst Stigand, der patriotische Erzbischof von Canterbury, fand es ratsam …‹«

»Fand was?«, fragte die Ente.

»Fand es«, antwortete die Maus ziemlich patzig; »du wirst doch wohl wissen, was ›es‹ bedeutet.«

»Ich weiß sehr gut, was ›es‹ bedeutet, wenn ich etwas finde«, sagte die Ente. »›Es‹ ist gewöhnlich ein Frosch oder ein Wurm. Die Frage ist, was fand der Erzbischof?«

Die Maus achtete nicht auf diesen Einwand, sondern fuhr rasch fort: »›… fand es ratsam, im Verein mit Edgar Atheling Wilhelm entgegenzugehen und ihm die Krone anzubieten. Wilhelms Benehmen war zunächst maßvoll, doch die Unverfrorenheit seiner Normannen …‹ Wie fühlst du dich inzwischen, meine Liebe?«, wandte sie sich dann fragend an Alice.

»Ebenso nass wie zuvor«, sagte Alice bedrückt; »ich scheine davon kein bisschen trocken zu werden.«

»In diesem Fall«, erklärte der Dodo feierlich und richtete sich auf, »stelle ich hiermit den Antrag, dass die Versammlung sich vertage, um zur unmittelbaren Anwendung wirksamerer Arzneien zu schreiten …«

»Sprich klar und verständlich!«, sagte der Adler. »Von der Hälfte dieser langen Wörter verstehe ich den Sinn nicht, und ich glaube, du auch nicht!« Und der Adler senkte den Kopf, um ein Lächeln zu verbergen; einige der anderen Vögel kicherten hörbar.

»Was ich sagen wollte«, versetzte der Dodo beleidigt, »war, dass das beste Mittel, um wieder trocken zu werden, ein Versammlungs-Wettlauf wäre.«

»Was ist denn ein Versammlungs-Wettlauf?«, fragte Alice; nicht dass sie es unbedingt wissen wollte, aber der Dodo hatte eine Pause eingelegt, als erwartete er, dass irgendjemand sich hierauf zu Wort melden müsse, nur keiner in der Runde schien dazu geneigt zu sein.

»Nun«, meinte der Dodo, »er lässt sich am besten erklären, indem man ihn durchführt.« (Und da Ihr ihn vielleicht an irgendeinem Wintertag selbst ausprobieren möchtet, will ich Euch erzählen, wie der Dodo zu Werke ging.)

Als Erstes legte er die Rennstrecke fest, eine Art Kreis (»es kommt nicht auf die genaue Form an«, sagte er), und dann wurde die ganze Gesellschaft irgendwie darauf verteilt. Es gab aber kein: »Eins, zwei, drei – los!«, sondern alle fingen an zu laufen, wann sie wollten, und hörten ganz nach Belieben auf, sodass sich nicht leicht entscheiden ließ, wann der Wettlauf zu Ende war. Als sie jedoch etwa eine halbe Stunde gerannt und wieder vollständig trocken waren, rief der Dodo plötzlich: »Der Wettlauf ist zu Ende!«, und alle drängten sich keuchend um ihn und fragten: »Aber wer hat gewonnen?«

Diese Frage konnte der Dodo nicht beantworten, ohne gehörig nachzudenken, und er saß lange Zeit da und drückte einen Finger gegen die Stirn (die Pose, in der man üblicherweise Shakespeare abgebildet sieht), während die Übrigen schweigend warteten. Endlich sagte der Dodo: »Alle haben gewonnen, und jeder muss einen Preis bekommen.«