Alle Farben meines Lebens - Cecelia Ahern - E-Book
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Alle Farben meines Lebens E-Book

Cecelia Ahern

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Beschreibung

Das Leben strahlt in unendlich vielen Farben.  Gold ist die Farbe der Unschuld, Grün steht für Stabilität und ein bestimmtes Blau für Traurigkeit. Schon als Kind entdeckt Alice, dass sie den Gemütszustand anderer Menschen in Farbe sehen kann. Die Auren verraten Alice, ob ihr Gegenüber die Wahrheit sagt oder lügt, glücklich ist oder heimlich den Tränen nah. Ihr eigenes Leben in die Farben des Glücks zu tauchen, das gelingt ihr zunächst dennoch nicht. Ausgerechnet die Natur liefert der Großstadtpflanze, die bisher jeden Kaktus kleinkriegt, einen ersten Hinweis. Ihre lebenskluge Nachbarin zeigt ihr die Richtung. Und die Begegnung mit einem Mann, dessen Farben sie überraschenderweise nicht erkennen kann, leitet Alice auf ihrer Suche nach all den bunten, leuchtenden Facetten des Lebens. »Ich kann gar nicht anders, als über die Gefühle meiner Figuren zu schreiben«, sagt Bestseller-Autorin Cecelia Ahern. So entstehen anrührende Bücher voller Tiefe und Empathie über das, was im Leben wirklich zählt. Cecelia Aherns Romane erobern nicht nur weltweit die Bestsellerlisten, sie treffen ihre Leserinnen und Leser mitten ins Herz. Denn ihre Bücher gehen Fragen nach, die jedermann bewegen: Was ist Glück? Wer bin ich? Was gibt meinem Leben Sinn? Deshalb sind Cecelia Aherns Geschichten immer eine wunderbare Mischung aus Dunkelheit und Licht, Trauer und Humor, Unterhaltung und Tiefe.  »So klug und anregend! Cecelia Ahern ist eine unserer inspirierendsten Autor*innen überhaupt.« John Boyne  In »Alle Farben meines Lebens« präsentiert Cecelia Ahern mit Alice eine Figur, die sich den besonderen Herausforderungen ihres Lebens mutig stellt, neue Stärken in sich findet und erkennt, dass ihre Gabe ein Geschenk ist und der Schlüssel zu ihrem Glück. Eine Geschichte, die auffordert, an sich selbst zu glauben und Träume zu leben.

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Für Blossom

Aus dem Englischen von Ute Brammertz und Carola Fischer

© Greenlight Go Limited Company 2022

Originaltitel der englischen Ausgabe:

»A Thousand Different Ways«

HarperCollins Publishers 2023

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Hanna Bauer

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Claire Desjardins

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Blau

Rost

Grün

Roségold

Weiß

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Blau

Ich marschiere im Takt des herumkullernden Apfels, der sich in meiner Brotdose befindet. Roll, boing, roll, boing. Seit Montag schon habe ich ihn in meiner Schultasche, damit das Pausenbrot gesünder wirkt, allerdings werde ich ihn auch die restliche Woche über nicht anrühren, er bekommt von Tag zu Tag einfach nur mehr braune Stellen. Mein kleiner Bruder Ollie trottet mit gesenktem Kopf hinter mir her und kickt gelegentlich Steine zur Seite, die es wagen, ihm im Weg zu liegen. Unser Haus kommt in Sicht, und ich verlangsame meine Schritte; am Morgen ist die Schule zu weit weg, am Nachmittag nicht weit genug.

Ich blicke zu ihrem Schlafzimmerfenster hoch. Die Vorhänge sehen unordentlich aus, als hätte man sie mit Gewalt zugezogen. Ein paar Klammern haben sich von den Gardinenringen gelöst, sodass oben Lücken klaffen. Die Gangulys von nebenan haben elegant geraffte Vorhänge, genau wie die, die man als kleines Kind malt, weil man glaubt, dass genau so ein Haus aussehen sollte. Der Rasen im Vorgarten der Gangulys ist frisch gemäht, hübsche bunte Blumen säumen den Rand, und das rote Tor passt zur Farbe der Fensterrahmen. Ganz anders als bei uns.

Unser Gras müsste gemäht werden, es reicht bis über die Gartenmauer, so als wollte es unbedingt hinüberschauen, vielleicht entkommen, aber wenigstens verbirgt der Dschungel zumindest teilweise die überquellenden Mülltonnen. Die Tonnen auf die Straße hinauszustellen und den Rasen zu mähen waren Dads Aufgaben.

Ich schiebe unser quietschendes, klappriges Tor auf und gehe an dem stinkenden Müll vorbei auf die blaue Tür zu. Bei der 47 aus Messing hängt die Sieben ein wenig schief. Ich bücke mich nach der warmen Milch auf der Eingangsstufe und nehme die Flasche mit hinein. Es ist fast schon drei Uhr nachmittags, aber das Haus ist still und dunkel, und es herrscht ein abgestandener Morgengeruch. Den Küchentisch zieren Zuckerfährten, unsere Müslischüsseln stapeln sich in der Spüle, und aufgeweichte Cornflakes treiben in zuckrig-gelblicher Milch. Stühle stehen unordentlich um den Tisch, die eingefrorene Szene von 8:30 Uhr am Morgen.

Ollie wirft seine Schultasche auf den Boden und fällt vor der Spielzeugkiste, die hauptsächlich mit kaputten, räderlosen Autos von meinem großen Bruder Hugh und meinen geköpften Puppen ohne Gliedmaßen gefüllt ist, auf die Knie. Er spielt mit seinen Soldaten und Ringkämpfern und formt lautlose Bumm-zack-bumm-Geräusche mit den Lippen, als die Figuren einen unterbrochenen Kampf wieder aufnehmen. Ich kenne kein anderes Kind, das beim Spielen flüstert, aber er sagt fast nie etwas, ist nur immer da und wartet, wie das Gras und die Mülltonnen, wächst lautlos und quillt über.

Ich stelle meine Schultasche neben den Stuhl am Küchentisch, wo ich die Hausaufgaben machen werde. Erst wische ich den Tisch sauber und kratze die verkrusteten Cornflakes von den Rändern der Schüsseln, ehe ich sie in den Geschirrspüler räume. Als ich die Vorhänge aufziehe, flirren die in der Luft schwebenden Staubpartikel im grauen Tageslicht. Ich beobachte ihr Treiben, ein Ohr auf die Stille gerichtet. Bald wird mein Bruder Hugh nach Hause kommen. Er ist älter und hat erst um vier Uhr Schulschluss. Mit ihm zu Hause ist immer alles in Ordnung. Aber jetzt ist er nicht da. Ein pulsierendes Pochen in meiner Schläfe will mir etwas sagen, wie Morsezeichen. Eigentlich ist alles wie immer, aber irgendetwas stimmt nicht.

Zaghaft spähe ich nach oben, aus Angst, was ich dort vorfinden werde. Auf der obersten Treppenstufe sieht unser ansonsten brauner Teppich blau aus. Es wirkt wie Bodennebel, der tief und ruhig oben auf der Treppe wabert. Ich schnuppere, ob es Rauch ist, aber er ist geruchlos. Als ich auf die unterste Stufe steige, bewegt die blaue Wolke sich langsam auf mich zu. Ollie hält im Spiel inne, um mir zuzusehen. Es ist eine unausgesprochene Regel, dass wir nicht nach oben gehen, wenn sie schläft.

»Geh nach draußen«, sage ich.

Er gehorcht, und dann laufe ich durch das Blau nach oben, so schnell, dass ich es in Fetzen aufwirble. Die blaue Farbe strömt unter ihrer Tür hervor, als stünde in ihrem Zimmer eine Nebelmaschine. Mit klopfendem Herzen lege ich die Hand auf die Türklinke. Sie wird nicht gern gestört, hat Schlafprobleme. Wenn sie also einmal schläft, weckt man sie nicht. Normalerweise ist man froh, dass sie schläft, aber heute ist kein normaler Tag.

Ich schiebe die Tür auf. Das Zimmer ist völlig blau und liegt in einem seltsamen Dämmerlicht da, das Schmerzen hinter meinen Augen verursacht. Ich sehe mich nach der Lichtquelle um, vielleicht ein neues Gerät, das sie in den Schlaf lullen soll, aber ich kann keines finden, außerdem wirkt es auch gar nicht beruhigend. Der Nebel fühlt sich dicht an, als würde ich darin feststecken, und er ist kalt. Im nächsten Moment fühle ich mich so traurig, so allein, leer und mutlos, als wollte ich mich auf der Stelle ergeben und zum Sterben hinlegen.

Ihre Gestalt zeichnet sich unter der Bettdecke ab. Sie liegt auf der Seite in Richtung der zugezogenen Vorhänge, einzelne Strahlen aus grauem Licht dringen durch die Lücken, wo die Vorhänge nicht mehr an den Ringen hängen. Ich gehe leise ums Bett zu ihrer Seite, das Haar hängt ihr ins Gesicht, strähnig und fettig. Mit zitternden Fingern streiche ich es behutsam zur Seite.

»Notrufzentrale. Bitte beschreiben Sie Ihren Notfall.«

»Sie ist blau. Sie ist … sie ist … blau.«

»Mit wem spreche ich?«

»Ihr Gesicht … Ihre Arme … b-b-blau.«

»Wie heißt du?«

»Alice Kelly.«

»Okay, Alice, wie lautet deine Adresse?«

»Sie ist blau, sie ist ganz blau.«

»Kannst du mir deine Adresse sagen, Liebes?«

»Briarswood Road. Ballygall. Die 47 hängt schief.«

»Ich schicke sofort einen Krankenwagen. Von wem sprichst du, Alice? Wer ist blau?«

»Lily Kelly.«

»Ist das deine Mum?«

»Ja.«

»Bist du jetzt bei ihr?«

Ich schüttle den Kopf.

»Alice, bist du jetzt bei deiner Mum?«

»Nein.«

»Kannst du für mich zu ihr gehen?«

Ich schüttle den Kopf.

»Wie alt bist du, Alice?«

»Acht.«

»Okay. Hatte deine Mum einen Unfall, Alice?«

»Ich weiß es nicht, ich bin gerade eben von der Schule nach Hause gekommen.«

»Und wo ist deine Mom jetzt?«

»Im Bett. Sie ist blau.«

»Kannst du für mich zu deiner Mum gehen, Alice?«

Ich schüttle ein letztes Mal den Kopf und lege auf.

Ein Hämmern an der Haustür. Ich kann mich nicht bewegen. Ich zittere. Schließlich stecke ich den Kopf nach unten zwischen die Knie und schlinge die Arme um meine Beine. Es läutet ein paarmal. Wieder Hämmern, und dann höre ich Schritte die Treppe hoch. Meine Zimmertür fliegt auf, ich halte die Luft an, jetzt herrscht Stille, und sie gehen wieder. Sie versuchen es im nächsten Zimmer. Ihrem Zimmer.

Erst ein Klopfen, dann Schritte. Dann …

Schreie. Ihre Schreie?

Ich halte mir die Ohren zu und kneife die Augen zusammen, drücke das Gesicht fester an meine Knie. Ich kann dort das Gras von den Flecken riechen, als Hajra mich in der Schulpause zu Boden gerungen hat. Ich atme den Geruch ein und erschaudere, weil es mir nicht gelingt, genug Luft in meinen engen Brustkorb einzusaugen. Das Geschrei hört auf, und ich vernehme ein Gespräch. Laute Stimmen. Ich verharre so reglos wie möglich. Jemand bleibt in ihrem Zimmer und murmelt etwas, während ein anderer nach unten geht. Es kommt mir sehr lang vor. Ich war noch nie gut im Versteckenspielen und muss dabei jedes Mal aufs Klo. Meine Blase ist jetzt voll und droht zu platzen. Die Schritte sind wieder auf der Treppe, und kurz darauf öffnet sich meine Tür.

»Alice«, sagt eine Frau, nicht wütend. »Alice, bist du hier drin?«

Sie betritt das Zimmer.

»Mein Name ist Louise, ich bin Rettungssanitäterin. Ich bin mit dem Krankenwagen gekommen, den du gerufen hast.«

Ich kann mich nicht bewegen. Wenn sie die Tür zu meinem Versteck aufmacht, so befürchte ich, erwischt mich das Blau, es muss sich mittlerweile im ganzen Haus ausgebreitet haben. Meine Schuhe habe ich ausgezogen, um das Blau loszuwerden, aber als ich ihre Haare berührt habe, hat meine Hand ein wenig abbekommen. Ich strecke sie weg von meinem Körper, als wäre sie voller Blut. Auf keinen Fall will ich es noch weiter verschmieren, aber als Sanitäterin kann sie mir vielleicht helfen.

»Hier drinnen«, sage ich.

Die Schranktür öffnet sich, und Tageslicht strömt herein.

Ein freundliches Gesicht senkt sich zu mir herunter. Sie trägt Grün und Neongelb.

»Hallo, du da drinnen.«

Verwirrt spähe ich in mein Zimmer. Ich hatte mir vorgestellt, das Blau habe sich im ganzen Haus verteilt, habe sich wie Lava durch alle Räume gewälzt. Ich war froh, dass Ollie draußen war. Aber jetzt ist kein Blau zu sehen.

»Hi.«

»Willst du rauskommen? Deine Mum macht sich Sorgen um dich. Es geht ihr gut, aber sie hat sich erschreckt, als sie uns in ihrem Schlafzimmer gesehen hat. Deshalb musste sie so laut schreien. Sie hat geschlafen. Magst du uns erzählen, warum du angerufen hast?«

»Das Blau«, sage ich, durcheinander.

»Welches Blau?«

Ich betrachte meine Hand. Sie glaubt, ich würde sie ihr entgegenstrecken, und ergreift sie. Jetzt ist etwas von dem Blau auf sie übergesprungen, und sie bemerkt es noch nicht einmal.

»Na, komm raus, dann können wir uns unterhalten«, sagt sie und führt mich aus dem Schrank. Wir setzen uns aufs Bett. »Hier, mümmeln wir dich erst mal ein.«

Sie zieht meine Bettdecke hoch und legt sie um meine Schultern.

»Ollie ist klasse, er ist unten und spielt Ringkampf mit Tommy, meinem Partner. Er macht ihn glatt fertig.« Sie lächelt.

Ich entspanne mich ein wenig.

»Deine Mum hat gesagt, sie habe vergangene Nacht nicht gut geschlafen und sich deshalb hingelegt, als ihr in der Schule wart. Sie hat nicht gehört, wie ihr hereingekommen seid.«

Unten wird Mums Schimpfen laut. Jetzt habe ich aus anderen Gründen Angst. Was zum Teufel sollte dies, was zum Teufel das? Louise blickt zur Tür, sie hört es auch.

»Ist dein Dad bei der Arbeit?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Du weißt nicht, wo er ist?«

»Er wohnt nicht hier. Wir sehen ihn nicht mehr.«

»Gehst du jeden Tag allein nach Hause?«

»Mit Ollie. Ich hole ihn am Schultor ab, und wir gehen gemeinsam.«

»Braves Mädchen. Und wartet eure Mum hier auf euch?«

Ich nicke. Manchmal.

Noch ein Blick zur Tür, bloß sicherheitshalber, aber es ist klar, dass sie nicht dort steht, denn wir können sie unten schreien hören. Es ist nicht nur das Ringen, das Tommy fertigmacht.

»Schläft deine Mum schlecht?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Wenn sie sich tagsüber hinlegen muss.«

Ich nicke.

»Und du hast dir Sorgen um sie gemacht?«

»Sie war blau.«

»Aha, ich verstehe.« Als würde es endlich Sinn ergeben. »Wann ist dein Dad fortgegangen?«

»Vor einer Weile.«

»Und sie ist wohl traurig, seit dein Dad weg ist«, sagt sie sanft.

Da es keine Frage ist, gebe ich auch keine Antwort. Sie ist nicht so, seit er weg ist, sondern er ist deswegen abgehauen. Er sagte, er könne nicht mehr mit ihr leben, dass sie Hilfe brauche. Doch das behalte ich für mich.

»Nun, es war richtig, dass du uns gerufen hast.«

Aber das stimmt nicht. Ich sehe es an Lilys Gesicht, als Louise mich nach unten bringt. Ich stecke in Schwierigkeiten. Ich will nicht, dass sie fortgehen, solange sie so sauer auf mich ist, aber sie gehen doch, winken zum Abschied und nehmen ihre glücklichen, fröhlichen Stimmen und meine Sicherheit mit sich. Wenn doch Hugh jetzt zur Tür hereinkäme, aber vielleicht hat er nach der Schule Fußball, was bedeutet, dass er erst nach dem Abendessen heimkommt. Bis dahin sind es noch Stunden.

Am Fenster beobachtet Lily, wie der Krankenwagen wegfährt, und zieht den Gürtel ihres Bademantels so fest um ihre Taille, dass es aussieht, als würde sie sich in zwei Hälften schneiden. Sobald der Krankenwagen die Straße hinunter verschwunden ist und die Nachbarn nicht mehr herüberstarren, dreht sie sich um, kommt auf mich zu und verpasst mir eine schallende Ohrfeige.

Hugh und Ollie sitzen schon beim Frühstück, als ich nach unten komme. Nach den gestrigen Ereignissen war ich erschöpft und habe verschlafen. Ich fühle mich immer noch nicht ganz wach. Am Fuß der Treppe bleibe ich stehen.

Um Hugh und Ollie sind Farben.

»Was?«, fragt Hugh, die Stimme gedämpft von dem Toast in seinem Mund, während er den Schuh auf den Stuhl stellt, um ihn zuzubinden.

Einen Moment lang stockt mir der Atem, und ich bekomme keine Luft. Doch dann geht es wieder.

»Ist es wieder das Blau?«

Ich schüttle den Kopf. Das mit der Farbe in ihrem Zimmer gestern habe ich ihm anvertraut. Er lachte nicht oder nannte mich einen Freak, sondern nahm mich ernst, aber Antworten hatte er keine.

»Was stimmt denn dann nicht?«

»Nichts.«

Er betrachtet mich eine Weile und widmet sich dann wieder seinen Schnürsenkeln.

»Toast?«, fragt er.

»Ja.«

Mit pochendem Herzen zwinge ich mich dazu, etwas zu essen, und versuche, die beiden nicht anzusehen, aber das ist schwer, denn meine Augen werden immer wieder von ihnen angezogen. Ich beobachte sie, als sähe ich sie zum ersten Mal, zwei exotische Geschöpfe, die in der grauen Küche leuchten.

Sie ist in der Küche, mit zwei Frauen vom Jugendamt, die unangemeldet vor der Tür standen. Hugh, Ollie und ich sind mit Mrs Ganguly, unserer Nachbarin mit dem gepflegten Garten und den perfekten Vorhängen, im Fernsehzimmer. Die Flügeltür zwischen uns und der Küche ist geschlossen, aber wir können durch die Türscheiben mit dem Kringelmuster sehen, wie sie herumgehen, als wären sie unförmige Außerirdische. Wir hören zwar, was sie sagen, doch ich verstehe es nicht. Erwachsenensätze.

»Habt ihr das Jugendamt angerufen?«, fragt Mrs Ganguly.

»Nein. Alice hat vor ein paar Tagen einen Krankenwagen gerufen«, sagt Hugh fröhlich und eilt wie immer zu meiner Rettung. »Sie dachte, Mum sei krank. Die beiden wollen bestimmt bloß sichergehen, dass alles in Ordnung ist.«

Mrs Ganguly verengt die Augen zu Schlitzen, während sie die Informationen abwägt. »Mit diesen Leuten ist nicht zu spaßen. Wenn sie glauben, dass etwas nicht stimmt, werden sie euch eurer Mutter wegnehmen, sie werden euch drei voneinander trennen. Euch in unterschiedliche Pflegefamilien stecken.«

Ollie blickt vom Boden auf, seine Ringkämpfer sind mitten im Angriff erstarrt.

Ich weiß nicht, warum Mrs Ganguly so verärgert ist. Vielleicht weil sie keine Lust hat, auf uns aufzupassen, während die drei sich unterhalten, und sie das Biryani mit Hähnchen auf dem Herd hat, weil Biryani-Abend ist, und sie zurückgehen und danach sehen muss, ehe es anbrennt und Mr Ganguly meckert. Eigentlich war sie nur herübergekommen, um sich wegen der stinkenden Mülltonnen und dem Gras zu beschweren. Mitten in dem Streit trafen die beiden Frauen ein und fragten, ob unsere Nachbarin bei uns Kindern bleiben könne, während sie sich mit Lily unterhielten. Mr Ganguly ist nett, er lächelt viel und spricht mit jedem, aber Mrs Ganguly hat immer ein verkniffenes Gesicht, böse, als traue sie niemandem über den Weg.

Ängstlich schaue ich Hugh an. Von Lily fortzukommen würde mir nichts ausmachen, aber ich will nicht, dass wir drei voneinander getrennt werden. Wenn das passieren sollte, dann ist es einzig und allein meine Schuld, weil ich den Krankenwagen gerufen habe.

»Keine Sorge, niemand wird uns voneinander trennen«, sagt Hugh gut gelaunt und zwinkert mir zu.

In der Küche beginnt Lily herumzuschreien, und Mrs Ganguly stellt EastEnders lauter. Ich kann nicht mehr hören, was in der Küche gesprochen wird, aber das ist schon in Ordnung, denn es bedeutet, dass Mrs Ganguly auch nicht mitbekommt, was Hugh und ich sagen.

»Hast du seit Montag Blau an ihr gesehen?«, erkundigt er sich.

Ich nicke und halte den Blick fest auf meine Schuhe gerichtet. Ich kann Lily kaum ansehen, ertrage es nicht, im selben Zimmer wie sie zu sein. Allerdings ist das nichts Neues. Neu hingegen ist, dass ich anfange, mich anders zu fühlen, wenn ich der Farbe zu nahe komme, und das gefällt mir nicht.

»Warum hast du es nicht gesagt?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Kannst du um mich herum Blau sehen?«, will er wissen.

Ich schüttle den Kopf. »Bei dir ist es eine andere Farbe.«

Er hatte bloß einen Witz machen wollen, also überrascht ihn meine Antwort. »Echt? Welche Farbe habe ich denn?«

Bei Hugh fürchte ich mich nicht davor, ihn anzusehen und seine Farbe zu betrachten. Seine jagt mir keine Angst ein, sie versucht nicht, sich an mich zu heften, sie folgt mir nicht durchs Zimmer, wie ihre es tut, als wäre sie ein großes Netz, das mich fangen und zu sich ziehen will.

»Rosa«, sage ich.

»Rosa?!« Er rümpft die Nase.

Eigentlich dachte ich, dass Ollie gar nicht zuhört, aber er lacht auf.

»Igitt, Ollie, Rosa ist was für Mädchen«, sagt Hugh, und Ollie lacht. Ollie ist die ganze Zeit so feierlich und ernst, nur Hugh schafft es, ihn zum Lachen zu bringen.

Die Stühle scharren über den Küchenboden, als die drei aufstehen und die Angelegenheit, worum auch immer es geht, zu einem Ende kommt.

»Wahrscheinlich werden sie als Nächstes mit uns sprechen wollen«, sagt Hugh und sieht ein wenig ernster als gewöhnlich aus. »Die Sache mit den Farben erwähnst du vielleicht besser nicht.«

Anfangs sehe ich die Farben nur bei den Menschen, mit denen ich zusammenlebe, und jeden Morgen frage ich mich, welche Farbtöne mich dieses Mal begrüßen werden. Bei Hugh ist es meistens dieses warme Rosarot, das wie ein leichter Dunstschleier um ihn herumschwebt. Wie der Zigarettenrauch, der in der Luft hängt, nachdem sie geraucht hat. Seine Farbe wirkt ruhig, gelassen, glücklich, fürsorglich, und sie verharrt dicht an verschiedenen Körperstellen und folgt ihm überallhin, als bestünde eine magnetische Anziehungskraft.

Wenn ich die Angst vor dem, was mit mir geschieht, ausblenden kann, gelingt es mir manchmal, das Schöne daran zu sehen. Wie bei einem rosaroten Abendhimmel oder einem rosa Sonnenaufgang.

Hugh ertappt mich dabei, wie ich ihn ansehe.

»Welche Farbe jetzt?«, fragt er dann gelassen, kein bisschen erschrocken.

»Wieder Rosa.«

Er lächelt, es amüsiert ihn jedes Mal.

»Gib mir Bescheid, wenn es mal etwas Männliches und Starkes wie Schwarz oder Blau oder …«, er überlegt, »oder Rot ist.« Er lässt die Muskeln spielen und spannt sie so fest an, dass sich sein Gesicht rot verfärbt und es so aussieht, als würde in seinem Hals gleich eine Ader platzen.

Ich lächle, aber jene anderen Farben, von denen er gesprochen hat, will ich gar nicht für ihn. Rosa passt zu ihm, und irgendwie macht es ihre Farben weniger wütend, wie der TV-Werbespot für das Säure blockende Mittel, in dem die weiße Medizin die rote Flamme in der brennenden Brust löscht. Seine Farbe löscht überall Brände.

»Und Ollie?«, fragt er.

Ich betrachte Ollie. Er sitzt am Küchentisch – Coco Pops in einer Schüssel, Strubbelfrisur nach dem Aufstehen und schläfrige Augen – und lässt seine Actionfiguren miteinander kämpfen. Ich will es nicht sagen und schüttle den Kopf.

Seine Farbe ist üblicherweise mit ihrer identisch. Sie gibt sie an ihn weiter.

»Eine Migräne mit Aura«, liest Hugh von seinem Computer vor. »Hast du manchmal Migräne?«

»Was ist eine Migräne?«

»Richtig schlimme Kopfschmerzen.«

Ich nicke. »Mittlerweile dauernd.« Seitdem diese Farben zum ersten Mal aufgetaucht sind, kann ich mich an keinen Tag erinnern, an dem mein Kopf nicht wehtat. Am liebsten würde ich in mein Zimmer gehen, die Vorhänge zuziehen und im Dunkeln daliegen, aber das mache ich nicht, denn ich will nicht wie sie werden.

»Es sind ständig wiederkehrende Kopfschmerzen, die nach oder gleichzeitig mit Wahrnehmungsstörungen auftreten, die man Aura nennt. Dazu gehören Lichtblitze, blinde Flecken, Zickzacklinien, die über das Sehfeld treiben, flirrende Punkte oder Sterne oder ein Kribbeln in der Hand oder im Gesicht. Kommt dir das bekannt vor?«

»Ja, doch.«

»Es ist wie eine elektrische oder chemische Welle, die optische Reize verarbeitet und diese – wie du sie nennst – Farben hervorruft.«

»Oh.«

»Du musst zu einem Neurologen gehen«, sagte er, während er scrollt und liest. »Dann bekämst du eine Augenuntersuchung, ein CT des Kopfes oder ein MRT. Sie empfehlen Medikamente oder das Vermeiden stressiger Situationen. Man sollte lernen, wie man sich entspannt. Mehr schlafen, gesünder essen. Viel Wasser trinken.«

»Mehr Wasser trinken kann ich«, sage ich.

Wir lächeln beide, weil es eigentlich gar nicht so lustig ist.

»Also.« Er dreht sich in seinem Stuhl zu mir um. »Darum handelt es sich wahrscheinlich.«

Ich nicke zustimmend. Migräne mit Aura. Wahrscheinlich.

Ich trinke eine schier endlose Reihe Gläser mit Wasser und versuche, es auszuspülen, als wäre es eine Erkältung, aber zu helfen scheint das nicht. Stattdessen werden die Farben mit jeder verstreichenden Woche immer intensiver.

Lily sagt, dass wir wegen Kopfschmerzen nicht zum Arzt gehen, und drückt mir eine Schachtel Paracetamol in die Hand.

Die Farben wandern von meiner Familie zu allen anderen Leuten. Bald will ich niemanden mehr ansehen. Die herumwirbelnden Farben, die in unterschiedlichem Tempo und Rhythmus tänzeln, kreisen, aufblitzen und flackern, sind verwirrend. Mir wird schlecht davon, manchmal auch schwindelig. Die Leuchtkraft, das ständige Licht strengen meine Augen an und verursachen mir Kopfschmerzen. Es ist, als würden Hunderte Menschen um mich herum ihren eigenen Radiosender ausstrahlen. Die Luft um sie her knistert, breitet sich dann aus und stößt mit meiner zusammen, wenn sie mir nahe kommen.

Es fängt bei meiner besten Freundin Emma an. Mit ihr ist es eigentlich immer lustig, und ihr Leichtsinn war früher ansteckend, aber nun strengt es mich an, mit ihr zusammen zu sein. Ihre Farben sind wild und schnell, aufleuchtende Gelb- und hyperaktive Grüntöne, die manchmal Zickzacklinien wie gegabelte Blitze bilden, als hätte man Emma in etwas Giftiges getunkt. Das zusammen mit ihrer schnellen Sprechweise, wie sie immer über unsere Spiele bestimmen will, darüber, was ich sagen und tun soll, finde ich erschöpfend.

»Komm schon, Alice«, sagt sie und zieht mich unsanft am Arm. »Steh auf. Gehen wir zum Spielen nach draußen.«

»Aber wir sind doch gerade erst hereingekommen.«

Ist sie schon immer alle drei Minuten von einem Spiel zum nächsten übergesprungen? Für mich müsste sie sich unbedingt auf eine Sache konzentrieren, einfach nur still sitzen und leise sein. Ich brauche Ruhe. Ich brauche auch eine Freundin. Aber ich kann nicht mehr, entferne mich immer weiter von ihr. Als sie zu einer anderen Mädchengruppe überläuft und ich qualvollen Nachmittagen mit ihr und ihren Kopfschmerzen hervorrufenden Farben entkomme, versetzt es mir zwar einen Stich, aber eigentlich bin ich erleichtert.

Ich sehe eine dunkle, trübe, grünlich-schwarze Farbe, die neben einem Gebüsch in der Luft schwebt. Als ich zu der Stelle gehe und mit dem Fuß Unkraut beiseiteschiebe, stoße ich auf eine sterbende Ratte mit einem zuckenden Bein, an dem noch feuchtes Blut klebt.

Auf dem Schulweg bin ich allein. Hugh ist mit seinen Freunden vorausgegangen, und Ollie trödelt hinter mir. Seit dem Besuch vom Jugendamt ist er mir gegenüber sogar noch distanzierter als sonst. Ich glaube, dass er mir nicht traut; er denkt, ich versuche, die Familie zu zerstören. Die Schule wird immer mehr zum Albtraum. Überall um mich herum sind Farben, die ganze Zeit, von jedem einzelnen Lebewesen. Von dreißig Leuten in meiner Klasse. Von Hunderten draußen während der Pause. Ganz zu schweigen von den Menschen, an denen ich auf dem Schulweg vorbeilaufen muss. Ich weiche ihnen allen aus, damit ich nichts von ihren Farben abbekomme. Es ist ermüdend. Die Farben sind so intensiv und unruhig, dass ich mich manchmal nicht darauf konzentrieren kann, was die Lehrkräfte sagen. Farben sind geräuschlos, aber sie fühlen sich so laut und störend an, dass mir das Zuhören schwerfällt. Es ist, als würde mich jemand in einem Gespräch ständig unterbrechen und mir nervtötend an die Schulter tippen.

Auf dem Schulweg beginne ich eine Sonnenbrille zu tragen. Anfangs machen manche Kinder Bemerkungen, hören dann aber auf, als sich herumspricht, mit mir stimme etwas nicht oder ich sei sehbehindert. Dann gewöhne ich mich so sehr an die Sonnenbrille, dass ich sie auch in der Mittagspause im Freien trage. Das lässt die Farben nicht verschwinden, aber alles wird trüber und weniger intensiv. Ich sitze im Ruhebereich, der für Kinder reserviert ist, die sich nicht wohlfühlen, die sich einen Arm oder ein Bein gebrochen oder irgendwelche besonderen Bedürfnisse haben. Mein besonderes Bedürfnis besteht darin, dass ich weit weg von allen sein muss. Von jedem einzelnen Menschen.

»Die Pause ist vorbei, Alice. Sonnenbrille ab und in die Tasche damit«, sagt Ms Crowley. Sie stammt aus Cork und singt beim Sprechen. Jeden Tag hat sie ein anderes halblanges Kleid mit Strickjacke an und eine riesige rote Brille mit dazu passendem Lippenstift. Vielleicht trägt sie so bunte Kleidung, um die Eintönigkeit aufzulockern, die sie umgibt.

»Das geht nicht«, sage ich.

Heute schaffe ich es einfach nicht, ich kann die Sonnenbrille im Klassenzimmer nicht absetzen. Mein Kopf tut so weh, dass der Schmerz bis in die Schläfen pocht. Es fühlt sich an, als könnte ich das Pochen mit bloßem Auge im Spiegel sehen.

»Warum nicht?«

»Hier drinnen ist es zu grell.«

Ein paar aus der Klasse lachen, was meiner Verteidigung nicht gerade hilft. Es ist ein bedeckter Tag, und alles, einschließlich der Schulfassade, ist grau, aber das lässt die Farben der Menschen nur noch heller oder zumindest für mich sichtbarer hervortreten.

Ms Crowley verdreht die Augen. »Runter damit.«

Und sie fährt mit dem Unterricht fort.

Ich behalte die Brille auf. Sie schreibt an die Tafel, und als sie sich umdreht und sieht, dass ich die Brille immer noch trage, rastet sie aus. Eine überraschende Wutexplosion, die aus dem Nichts zu kommen scheint, entzündet sich über ihrem Kopf. Während sie mich abermals anbrüllt, ich solle die Sonnenbrille absetzen, flackert ein helles, metallisches Rot, so hell wie ihr Lippenstift, um sie herum. Es erinnert mich an eine dieser elektrischen Fliegenfallen im Dönerladen um die Ecke, in die Insekten hineinfliegen, und dann – zack! – einen Schlag versetzt bekommen und sterben.

Ich spüre Lily, ehe ich sie höre oder sehe. Sie besitzt die Fähigkeit, die Luft zu verändern, und zwar im Gegensatz zu Hugh auf keine gute Art. Beim Geräusch des Schlüssels im Türschloss springt Ollie freudig vom Sofa auf. Seit wir nach Hause zurückgekommen sind und sie nicht hier war, ist er nervös. Es ist ungewohnt für uns, dass sie nicht da ist, aber im Gegensatz zu ihm fand ich es schön. Ich weiß nicht, warum ihn dieser Wunsch beseelt, mit ihr zusammen zu sein und ständig um sie herum.

»Mum«, sagt er und eilt zur Tür.

Bei der Gewalt, mit der sie die Tür aufstößt, überrascht es mich, dass Ollie nicht gegen die Konsole geknallt wird. Er weicht rasch vor ihr zurück und setzt sich wieder aufs Sofa. Ich versuche, mich so klein wie möglich zu machen. Je kleiner ich bin, desto weniger wütend wird sie vielleicht sein.

»Wegen Hugh musste ich bisher nie in die Schule gehen«, erklärt sie stinksauer. »Noch kein einziges Mal in meinem Leben. Du bist elf Jahre alt und führst dich auf wie ein kleines Gör. Für so was fehlt mir wirklich die Zeit«, ruft sie, und ich verkneife mir die Bemerkung, die mir auf der Zunge liegt. Sie hat alle Zeit der Welt. Sie macht nie etwas, man erkennt sie kaum wieder, wenn ihr Hinterteil nicht mit dem Sofa verwachsen ist. Es ist nicht das erste Mal, dass sie wegen mir in die Schule gerufen worden bin. Nachdem ich zweimal vom Unterricht ausgeschlossen wurde, war sie gezwungen, die Briefe nicht mehr zu ignorieren, sondern so zu tun, als wäre sie eine verantwortungsvolle Mutter.

Metallisch-rotes Flackern über ihr, während sie mich anbrüllt. Zack. Noch eine tote Fliege. Vielleicht hat sie es sich bei Ms Crowley eingefangen und den ganzen Weg nach Hause mit sich herumgetragen. Ich beobachte das Flackern fasziniert, ohne ihr richtig zuzuhören.

Es ist nun drei Jahre her, seit die Sache mit den Farben anfing. Mittlerweile verstehe ich, dass die Farben in Verbindung mit den Stimmungen der Menschen stehen, auch wenn ich immer noch versuche, die Zusammenhänge vollständig zu ergründen. Manchmal ist zum Beispiel eine Farbe um jemanden, obwohl er sich gar nicht so verhält, wie sich jemand mit dieser Farbe normalerweise verhalten sollte. Es gibt da einen Algorithmus, den ich nicht erkenne. Wie Ms Harris im Sekretariat, die jeden anlächelt, heiter und optimistisch ist, lacht und Witze macht, aber über ihrem Bauch, direkt unter dem Busen ist ein misstrauisches Senfgelb zu sehen. Wer sie zu sein scheint und wer sie tatsächlich ist, passen nicht zusammen. All das geht mir durch den Kopf, während Lily mich anschreit. Die Haustür steht immer noch sperrangelweit offen, und jeder wird das Geschrei jetzt hören, die ganze Straße. Dass ich schrecklich ungehorsam und dumm bin. Dass ich durch sämtliche Prüfungen fallen werde, dass nie etwas aus mir werden wird.

Ich reagiere nicht so, wie sie es sich vorstellt. Ich weine nicht, bitte nicht um Verzeihung oder widersetze mich. Sie will, dass ich mich auf ihr Theater einlasse, dass ich wie sie die Fassung verliere und enttäuscht bin. Das Rot um sie herum verdunkelt sich und wird größer, wie bei einer Schusswunde, aus der Blut strömt und ein weißes T-Shirt durchtränkt. Ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll, denn sie ist völlig außer Kontrolle und unberechenbar. Ihre Farben sind nicht wie die von Hugh; ihre verändern sich ständig und wechseln schnell von kalten Blautönen zu heißen, wütenden Rottönen. Außerdem haben sie eine andere Form. Hugh umgibt ein ruhiger Dunst, ihre Farben kreisen spritzend herum. Ihr roter Wirbel bewegt sich auf Ollie zu, der fernsieht, als wäre sie nicht da, als würde sie nicht gerade vor unseren Augen explodieren. Ich habe noch nie gesehen, wie die Farbe sich auf eine solche Weise bewegt, als wäre sie lebendig und auf der Suche nach jemandem, an den sie sich heften kann.

»Ollie, verschwinde«, sage ich warnend, inmitten ihres Geschreis.

Das Rot ist überall. Sprüht Funken wie ein Feuer. Am liebsten würde ich meine Augen abschirmen. Ich schließe sie. Lily brüllt lauter, und ich spüre ihre Hitze. Ich öffne die Augen wieder, aber das Rot ist heiß und fühlt sich wie Flammen an, also halte ich mir die Hände vor das Gesicht.

Ich höre ein Krachen. Sie steht auf einem offenen Eierkarton, den sie gerade vom Einkaufen mitgebracht hat. Tritt die Eier in Stücke, das Gesicht von Zorn erfüllt, alles an ihr vor Wut verzerrt. Warum ich nicht einfach die Brille im Klassenzimmer abgesetzt hätte, als ich darum gebeten worden sei? Jeder habe mal Kopfweh, das sei keine große Sache, ich solle endlich aufhören, nach Aufmerksamkeit zu heischen. Und dann ist sie fort.

Der rote Nebel folgt ihr wie die Schleppe eines Kleids. Ein Teil bleibt im Zimmer zurück, hängt in der Luft wie schaler Zigarettenrauch. Gierig treibt er auf Ollie zu. Ich beobachte den Nebel mit klopfendem Herzen. Dieses lebendige, atmende Etwas auf der Suche nach jemandem, an dem es sich laben kann. Es hängt sich sofort an Ollie. Er steht auf, ein Bündel aus purem Zorn. Mit seinen acht Jahren ist er schon ganz zerfressen von so viel Wut.

»Ich hasse dich!«, brüllt er mich an. In seiner Brust und seiner Kehle sitzt Zorn fest. Er klingt gar nicht wie er selbst, sondern eher wie ein besessener kleiner Dämon. »Du machst alles kaputt!«

Dann wirft er die Fernbedienung nach mir, und ich bin so unvorbereitet, so verblüfft, dass ich zu spät ausweiche. Sie trifft mich im Gesicht, direkt unter dem Auge. Im Laufe des Nachmittags verfärbt sich die Stelle unschön lila.

»Hat sie das getan?«, will Hugh wissen, später, als er wieder zu Hause ist.

Ich schüttle den Kopf. »Es war ein Unfall.«

Wenn ich Ollie schütze, so dachte ich, würde das sein Vertrauen in mich stärken, aber es ist, als sei die Leichtigkeit, mit der ich es tue, für Ollie nur der Beweis, dass ich eine Lügnerin bin.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist mein Auge halb zugeschwollen, wie ein Pfirsich, den ich zu lange am Boden meiner Schultasche liegen gelassen habe. Ich erzähle einer besorgten Ms Crowley, dass ich Migräne habe, und sie lässt mich an dem Tag meine Sonnenbrille in der Schule tragen.

»Ich werde einen Foodtruck eröffnen und Pfannkuchen verkaufen«, sagt Lily mit geröteten Wangen, einem gesunden Teint, die Stirn schweißnass von dem ganzen Eierschlagen.

Ich weiß nicht, wer diese Frau ist, die behauptet, meine Mutter zu sein, aber sie gefällt mir. Voll Energie und Elan, Geschäftsideen und Hoffnung.

»Ich werde auf Festivals Pfannkuchen machen, Crêpes. Crêpes lassen sich füllen, wisst ihr«, erklärt sie. »Sie sind vielfältiger. Das vergrößert den Markt und die Profitchancen.« Auf ihrer Brust und unter ihren Armen hat sich Schweiß gebildet. Sie rührt und rührt ihre dritte Schüssel mit Teig.

Sie macht mir einen Pfannkuchen, der so dünn ist, dass ich beinahe hindurchsehen kann. Dann faltet sie ihn in Viertel. Er schmeckt köstlich.

»Die Auswahl an Füllungen ist grenzenlos.« Sie bläst sich das Haar aus dem verschwitzten Gesicht. »Herzhaft oder süß. Oder einfach mit Puderzucker. Banane, Karamell, Erdbeer, Nutella … Dann die herzhaften: Schinken-Käse, mexikanisch … Hier, probier den mal.«

Sie legt noch einen vor mich hin und beginnt schon mit dem nächsten. Auch dieser Pfannkuchen ist köstlich, aber beim vierten angelangt, bekomme ich keinen Bissen mehr hinunter. Sie landen ständig auf meinem Teller, einer nach dem anderen, und ich reiche sie an Ollie weiter. Sie zerschlägt immer weiter Eier, misst Milch ab, siebt Mehl, fügt Salzprisen hinzu. Jetzt benutzt sie vier Pfannen, um mehrere parallel zu machen, und berechnet, wie viel Kundschaft sie an einem ganzen Tag oder Abend gleichzeitig bedienen kann.

Ich kann nichts mehr essen, und als sie sich umdreht, um noch einen Pfannkuchen oben auf dem Stapel abzulegen, bereite ich mich auf einen Wutausbruch vor, aber der neue Pfannkuchen landet wortlos auf dem alten. Es geht weiter: ein achtstöckiger Pfannkuchenturm auf meinem Teller. Schnell wird mir klar, dass es egal ist, ob ich etwas sage oder nicht, ob ich mich an dem Gespräch beteilige oder nicht. Es ist egal, ob ich da bin oder nicht. Sie redet, aber sie unterhält sich nicht, sie ist in irgendeinem Schaffensrausch, etwas läuft in ihrem Kopf ab, etwas Großes und Wunderbares und Lebensveränderndes. Meine freudige Erregung verflüchtigt sich ein wenig. Ihre Gedanken und Bewegungen haben etwas Manisches, in ihren Augen kann ich sehen, dass sie mich gar nicht wahrnimmt.

Ihre Farben sind faszinierend: satte Violett- und Indigotöne scheinen ihre Bewegungen nachzuahmen. Sie kreisen und vermischen sich, verändern ihre Konsistenz, als wären sie mit den Eiern, dem Mehl und der Milch in der Rührschüssel.

Sie zählt die Festivals auf, zu denen sie fahren kann, spricht über die verschiedenen Arten von Lieferwagen, welche Gerätschaften sie darin benötigen wird, wo sie einen herbekommen kann, wen sie kennt. Lieferwagenkosten plus Zutatenkosten, die Anzahl an Eiern, die Menge an Mehl und Zucker. Das Ganze mit den Einnahmen gegengerechnet. Sie redet und redet wie ein Wasserfall. Schlägt mehr Eier auf, rührt mehr Teig, fettet weitere Pfannen ein.

Ich habe aufgehört, die Schüsseln auszulecken, ich habe aufgehört, die Pfannkuchen zu probieren. Es ist Mitternacht an einem Freitag; Hugh ist unterwegs und arbeitet, Ollie ist dank des Zuckerflashs völlig aufgekratzt. Sie fängt einen neuen Schwung an und öffnet den nächsten Eierkarton. Mein Bruder und ich ziehen uns aus der Küche zurück. Ollie hat Bauchschmerzen und schläft auf dem Sofa ein. Ich sitze neben ihm, während sie weitermacht, Selbstgespräche führt und laut Listen erstellt. Doch so schnell der Rausch scheinbar Besitz von ihr ergriffen hat, legt er sich auch wieder. Sie lässt alles stehen, Küchengeräte und Pfannen, und geht um drei Uhr morgens zu Bett.

Ich rechne damit, dass sie lange ausschlafen wird, aber da täusche ich mich.

Am Samstagmorgen werden Ollie und ich in den Garten hinausgeschickt, und sie sperrt die Tür hinter uns zu. Wenn wir uns wie die Tiere aufführen, werden wir auch so behandelt, lautet ihre Begründung. Es hätte mir nichts ausgemacht, nach draußen zu müssen, wenn ich erst auf die Toilette hätte gehen können. Ich setze mich auf die kalte Betonstufe, mit dem Rücken zur Tür, die Beine untergeschlagen, und versuche, es mir zu verkneifen.

Ollie schießt immer wieder einen Fußball gegen die Hauswand.

»Kann ich mitspielen?«, frage ich Ollie, weil ich irgendetwas tun muss, um mir nicht in die Hose zu machen.

»Nein. Das ist alles deine Schuld.«

Er denkt das, weil sie es gesagt hat und er alles glaubt, was sie sagt.

Welche Elfjährige wisse denn nicht, wie man sich nützlich macht, hatte sie mich wirr beschimpft. Sie war verärgert, weil ich nicht die Küche für sie aufgeräumt hatte. Die stehen gelassenen Teigschüsseln in der Spüle, die teigverkrusteten Schneebesen, die Eierschalen, das überall verstreute Mehl, die Teigmischung auf dem Boden und an den Wänden, als hätte ein brutales Pfannkuchenmassaker stattgefunden.

Dabei hatte ich vorgehabt, am Vormittag aufzuräumen. Sie steht nie früh auf, besonders nicht an Samstagen, und schon gar nicht nach einer Nacht wie der vergangenen. Ich dachte nicht, dass sie sich überhaupt blicken lassen würde. Doch plötzlich kam sie aus der Versenkung hervor und überrumpelte mich völlig. Jetzt hantiert sie geräuschvoll in der Küche herum, und eine Menge Rottöne drehen sich wie Waschmaschinentrommeln und Trockner um sie, während sie etwas vor sich hin murmelt und in ihrem Kopf ein Streitgespräch mit jemandem führt. Hausarbeit macht sie immer zornig. Bügeln, wenn sie es überhaupt einmal tut, lässt sie hitzig und erbost werden, und sie sondert dann Rot wie Dampf ab. Rot, Rot, Rot: die Küchenteufelin.

Die Pfannkuchen wirft sie zusammen mit dem komplizierten Geschäftsplan, den sie ausgeheckt hatte, einfach in den Abfall.

Ollie hat ihre glühend roten, wütenden Farben mit sich ins Freie gebracht, also halte ich mich zurück und lasse ihn sich abreagieren, in der Hoffnung, dass der Wind alles mit sich fortträgt. Zunehmend wird ihr Hass zu seinem Hass, ihre Ängste werden zu seinen Ängsten, ihr Zorn wird sein Zorn. Ihre Traurigkeit seine Traurigkeit. Es überträgt sich immer auf ihn, und er saugt es begierig auf und verzehrt noch das letzte Stückchen. Ihr Verlust heute ist sein Riesenverlust. Gestern Abend hatte sie ihm einen Traum verkauft, hatte einen geheimen Vorhang aufgezogen und ihm einen flüchtigen Ausblick auf ein neues Leben gegeben, eine neue Welt, wo er in einem Pfannkuchen-Truck an ihrer Seite stehen würde, auf Musikfestivals, am Meer. Er würde Schokostreusel verteilen, Erdbeeren klein schneiden, Sahne sprühen und Käse auf heißen Pfannkuchen schmelzen und das Geld kassieren. Kaufmannsladen spielen ist eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, und er wäre ganz in seinem Element gewesen. In einem freudigen Zuckerrausch hatte er sich das Ganze in seinem achtjährigen Kopf ausgemalt und war völlig aufgedreht gewesen, ehe er auf dem Sofa zusammensackte. Wahrscheinlich hat er davon geträumt und ist aufgeregt und voller Vorfreude aus dem Bett gesprungen. Doch stattdessen ist der Traum fort, man hat ihn ihm genommen, einfach so in den Abfall geworfen, denn jene Frau vom gestrigen Abend hat sich mitten in der Nacht, während er schlief, aus dem Haus gestohlen. Ich gestehe ihm seinen Zorn zu.

Zusammen mit Hugh und Ollie gehe ich in den Park. Ollie liebt den Spielplatz, könnte stundenlang auf einem dieser Karussells sitzen und sich im Kreis drehen, mit dem Gesicht nach unten beobachten, wie der Boden in einem Affenzahn vorüberwirbelt. Mir wird schon vom Hinsehen schlecht. Ich bin froh, dass ich jetzt bei Hugh bin. Froh, dass ich mit ihm abhänge; überall um uns herum Rosatöne. Wir sprechen nicht darüber, dass Ollie und ich am Morgen ausgesperrt waren, oder über die Idee mit dem Pfannkuchen-Truck vom Vorabend. Es ist zwecklos. Wir sprechen kaum je über Dinge, die zu Hause vorfallen, denn darüber zu sprechen löst kein einziges Problem. Wir sind einfach erleichtert, draußen zu sein und weit weg. Ollie dreht sich immer noch im Kreis, Kopf nach unten, und stößt sich mit einem Fuß immer wieder am Boden ab, da hören wir ein »Hey«.

Ich blicke auf. Ein hübsches Mädchen kommt lächelnd auf Hugh zu.

»Hey«, sagt er, und in seiner Stimme schwingt ein neuer Ton mit. »Alice, das hier ist Poh. Poh, das ist meine Schwester Alice.«

Sie steht dicht bei ihm, ihre Schultern sind in seinem rosafarbenen Bereich, als würden sie sich einen flauschigen Mädchenpulli teilen.

»Ich habe schon viel von dir gehört«, sagt sie. »Die Schulrebellin.«

Sie sagt es nett. Beinahe wie ein Kompliment.

»Wenn sie nicht aufpasst, fliegt sie noch von der Schule«, sagt Hugh. »Noch ein Vorfall, und sie ist weg vom Fenster.«

Ich verdrehe die Augen und sehe wieder zu Ollie, aber insgeheim gebe ich immer noch genau auf Hugh und Poh acht. Das hier ist keine Zufallsbegegnung, es ist geplant. Sie halten Händchen. Dann fangen sie an, sich zu küssen. Sie geniert sich ein wenig vor mir, aber er sagt ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, dass ich nicht hinschaue, was wohl so etwas wie ein ausdrücklicher Befehl an mich ist. Und dann bemerke ich eine neue Art von Farbe an Hugh, die ich nie mehr ungesehen machen kann. Ein tiefroter Wirbel um seine Leistengegend, der mir peinlich ist. Der Ton verstärkt sich zu einem pulsierenden, glühenden Rot.

Ich muss wegsehen. Die Farben der Menschen zu sehen ist manchmal, als sähe man sie nackt.

Ich beobachte, wie sich Mr und Mrs Mooney auf dem Parkplatz unterhalten. Er unterrichtet Geschichte, sie Englisch. Jeden Morgen fahren sie zusammen zur Schule. Sie sind verheiratet. Alles um Mrs Mooney herum ist rosa, sie ist ein netter Mensch. Sie schickt beim Reden das ganze Rosa von ihrer Brust zu ihm und bildet mehr für sich selbst nach. Es bremst vor ihm ab und verharrt dort, als gäbe es um ihn herum ein Kraftfeld, das nichts durchlässt. Da das Rosa nirgendwohin kann, hängt es zwischen ihnen in der Luft. Er gibt ihr einen flüchtigen Kuss und lässt sie auf dem Parkplatz stehen, während eine Wolke aus verschmähtem Rosa sich einen Weg zu ihr zurück bahnt.

Im Sommer fahren wir mit meinem Onkel Ian, Tante Barbara und meinen Cousins nach Wexford. Ich sitze im warmen Sand, grabe Füße und Zehen hinein, lausche den brechenden Wellen und beobachte glückliche, fast nackte Menschen, heller und bunter ohne ihre Kleidung und die Last der Probleme der Welt auf den Schultern.

Sie atmen Licht ein und stoßen Dunkelheit aus.

Sie ist mit Ollie in der Küche. Ich kann die beiden lachen hören. Das Geräusch zieht mich an, ein merkwürdig fremder Klang in diesem Haus. Unverfrorenes Glück. Ich beobachte die beiden von der Tür aus, sie soll mich nicht sehen, sonst hört sie vielleicht auf, weil dann der Bann gebrochen ist. Sie backen. Keine manische Pfannkuchen-Session, dies ist ein ruhiger Moment.

»Klopf es einfach an den Rand, und zieh es auseinander«, erklärt Lily sanft.

Er schlägt das Ei auf und rührt um. Verstohlen steckt er einen Finger in den Teig und leckt ihn ab.

»Hey, du Teigdieb!« Sie tunkt den Finger ein und schmiert ihm einen Klecks auf die Nase.

Er kichert.

Beide sind rosarot.

Sobald die Farben um sie herum in Erscheinung treten, nimmt er sie in sich auf, sein Körper wie ein Staubsauger, und er zieht alles von ihr an sich und hält es um sich herum, wickelt sich darin ein wie in eine Decke.

Sie hat Momente der Güte, aber sie ist nicht gütig. Sie hat Momente voll Mitgefühl, aber sie ist nicht mitfühlend. Ein guter Moment mit ihr macht sie noch nicht zu einer guten Mutter, und deshalb werde ich sie auch niemals so nennen.

»Wie ich höre, hast du eine Freundin«, sagt Lily eines Tages zu Hugh, und Ollies Ohren laufen rosa an, also weiß ich, dass er es ihr erzählt hat. Hugh ist es bestimmt auch klar. Zwar war es kein Geheimnis, aber es macht das Leben leichter, ihr nichts anzuvertrauen, damit sie es nicht gegen einen verwenden kann. »Nachbarn haben gesehen, wie ihr herumgeknutscht habt. Muss wohl ausgesehen haben, als wolltest du ihr den Kopf abbeißen.«

Das ist nicht wahr. Ihr schiefes Lächeln verrät es mir, nicht nur ihre Farben.

Während Hugh sie ansieht, schaufelt er Marmelade auf eine Toastscheibe, drückt die andere Scheibe darauf und beißt dann ein gewaltiges Stück ab, mindestens das halbe Sandwich.

»Wann wolltest du mir von ihr erzählen?«

Er deutet auf seinen vollen Mund. Sprechen unmöglich.

»Hast du Angst davor, dass sie mich kennenlernt? Schämst du dich für mich? Für dein Zuhause?«

Immer noch kauend, schüttelt er den Kopf.

»Ich muss sichergehen, dass sie in Ordnung ist, da sich dein Dad ja aus dem Staub gemacht hat. Jemand muss ihr doch zeigen, wer hier das Sagen hat.«

Bei diesen Worten beißt er noch ein Stück ab.

»Wann kann ich ihre Bekanntschaft machen?«

Er schluckt, und ich frage mich, was er sagen wird, aber er hat sich etwas zurechtgelegt. Ihm ist anzusehen, dass er sich alles durch den Kopf gehen lässt.

»Wann willst du denn?«

Das überrascht mich. Sie ebenfalls. Eigentlich wollte sie einen Streit vom Zaun brechen. Immer will sie streiten und verteidigt sich gegen eingebildete Angriffe, und wenn die ausbleiben, ist es so, als würde sie das erst recht zu Fall bringen.

»Darüber muss ich erst nachdenken«, antwortet sie unvorbereitet.

»Wann immer es dir passt«, sagt er.

»Wie heißt sie?«

»Poh.«

»Poh?« Das schiefe Lächeln ist wieder zurück. »Was ist sie, ein Teletubby?«

Ein metallisch-rotes Flackern quer über Hughs Brust, wie ein gezackter Blitz, dann ist es wieder weg. »Ich wusste, dass du das sagen würdest«, erwidert er mit einem Lächeln.

Wieder gerät sie ins Hintertreffen. Selbst ihre Beleidigungen sind vorhersehbar. Er ist immun, jede seiner Antworten ist wie ein Eimer Wasser auf ihre Flammen. Ich kann das Zischen hören, das von ihr ausgeht.

Er schiebt den letzten Bissen in seinen Mund, und das Sandwich ist aufgegessen, drei Männerhappen, alles weg. Im nächsten Moment holt er seine Schulordner heraus und breitet sie auf dem Küchentisch aus. »Gib mir Bescheid, sobald du sie treffen möchtest.«

Natürlich nennt sie ihm nie einen Termin.

Hugh und seine Strategien.

Hugh geht jetzt regelmäßiger als sonst mit Ollie und mir in den Park, nur damit er sich mit Poh treffen kann. Ich habe mich immer gefragt, wie es wohl wäre, eine ältere Schwester zu haben, und sie ist nett. Wir beklagen uns nie, aber obwohl ich Zeit mit Hugh verbringe, habe ich im Grunde gar nichts von ihm. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt Poh. Alle Rosarottöne gehen in ihre Richtung, und die glühenden Rottöne befinden sich immer noch um seine Hose. Ich bin zu alt zum Schaukeln oder zum Rutschen, und Ollie ist mittlerweile auch fast für alles zu groß. Er zieht los und fährt mit dem Karussell, während ich allein auf einer Bank oder einer Schaukel sitze und zusehe.

Ich versuche, Hugh und Poh nicht anzustarren, aber es fällt mir schwer.

Ich kenne nicht viele Verliebte. Obwohl ich das bis jetzt dachte. Zwar habe ich schon viele Menschen gesehen, die eigentlich verliebt sein sollten, aber sie wirken überhaupt nicht so wie Hugh und Poh, die ständig Farben miteinander austauschen. Die gleiche Menge, keiner hat mehr, keiner wehrt etwas ab, es ist ein Geben und Nehmen. Ich finde es entspannend, ihnen zuzusehen. Manchmal reicht es schon, dazusitzen und andere dabei zu beobachten, wie sie glücklich sind.

Ollie und ich spielen Fangen im Park, und Ollie ärgert sich, weil er mich nicht zu fassen bekommt und immer der Fänger ist. Er ist frustriert und sauer, und ich kann es ihm nicht verdenken. Hugh und Poh spielen nun auch mit. Ich mag es, wenn sie mit dem Küssen aufhören und sich mit uns beschäftigen. Ollie wird immer wütender, während wir ihm ausweichen, und die freudigen Rosatöne verwandeln sich in blutiges Zornesrot. Ich kann es kommen sehen. Bevor es metallisch aufblitzt und das Spiel verdirbt, lasse ich mich von ihm fangen. Bei seiner Verfolgung trete ich versehentlich hinten auf seinen Schuh. Ollie verliert ihn und läuft in seinem Strumpf weiter durchs feuchte Gras, sodass er nass wird. Er zieht auch den Strumpf aus und hüpft auf einem Bein zu seinem Schuh zurück. Unterdessen schreit er mich die ganze Zeit über an, weil ich ihn am Knöchel erwischt habe. Als er das Gleichgewicht verliert, landet sein nackter Fuß auf der Wiese. Der zornige rote Nebel bewegt sich von seinem Kopf nach unten, seinen Körper entlang, doch als er den Boden erreicht, verfärbt sich der Nebel braun. Dann beginnt das Braun, sich von seinen Füßen zurück nach oben zu bewegen, und überdeckt das Rot. Ich stehe da und sehe mit offenem Mund zu, während sich vor meinen Augen dieser schöne Balayage-Effekt vollzieht. Das Braun ergießt sich wie eine Flutwelle über das Rot, es ist beinahe die gleiche Farbe wie die Erde unter dem Gras, als hätte Ollie im Boden Wurzeln geschlagen. Sobald das Braun seinen Kopf erreicht, schaut mein Bruder hinunter zu seinem Fuß im nassen Gras. Er wackelt im Dreck mit den Zehen. Und lacht.

Als er das nächste Mal einen Wutanfall bekommt, beziehungsweise sich einer anbahnt, ermuntere ich ihn, nach draußen zu gehen und die Schuhe auszuziehen. Er stapft barfuß durch das hohe Gras, mit gesenktem Kopf, und beobachtet, wie seine Zehen darin verschwinden und in der Erde quatschen, bevor sie wieder auftauchen.

Sie sieht vom Fenster aus zu, es ist offen, und raucht. Ich hoffe, dass sie etwas Nettes sagen wird, aber sie wirft die Zigarette nach draußen und knallt das Fenster zu. Der Stummel landet auf dem nassen Gras und verlöscht zischend.

Glücksgefühle ziehen mich unwillkürlich an. Nicht die offensichtlichen, ich meine nicht einen Raum voller lauthals lachender Menschen – nein, das sind mir zu viele Körper und zu viel, was unterhalb des Gelächters vor sich geht. Was ich meine, sind die stilleren, intimeren Momente. Ich schwänze oft die Schule, gehe in den nahe gelegenen Park und beobachte, wie eine Mutter ihre Tochter auf der Schaukel anschubst und dabei Lieder singt, scherzt, das Herumsausen der reinsten Glücksfarben, die Ebbe- und Flutbewegungen zwischen der einen und der anderen. Das zu sehen ist so entspannend, ganz so, als würde man den Gezeiten zusehen. Oder ein kleines Mädchen mit seinem Spielzeug, die rosa und goldene Liebe zu seinem Schnuller, den es nicht hergeben will. Ich möchte mich an sie heranschleichen, meine Füße genau wie sie in dem schmutzigen Sand vergraben und in ihr Licht eintauchen.

Bis mir eines klar wird.

Wenn ich das tue, bin ich eine Diebin. Und das Glück eines anderen darf man nicht stehlen.

Man muss sich selbst welches erschaffen.

Aufgrund meines unannehmbaren Betragens in der Grundschule gibt es Probleme mit der Aufnahme in die weiterführende Schule. Nur eine der vier Schulen in unserem Einzugsgebiet erklärt sich – vorbehaltlich eines verhaltenspsychologischen Gutachtens – bereit, mich aufzunehmen.

Ich bin höflich zu dem Gutachter und finde, dass ich meine Sache ordentlich mache, indem ich mich freundlich nach seiner Familie erkundige und frage, ob er im Sommer in den Urlaub fährt. Hugh hat mir gesagt, die Angelegenheit sei wirklich wichtig und ich solle mich unbedingt gut benehmen. Nicht, dass ich die Ermahnung gebraucht hätte. Ich benehme mich nur daneben, wenn mich jemand ärgert, wenn die Kopfschmerzen schlimm sind oder wenn andere ihre Farbe an mich abgeben, ohne dass ich etwas dagegen tun kann.

»Meinst du, dass deine Mum noch kommt?«, erkundigt der Gutachter sich.

»Nein. Ich wusste nicht, dass sie dabei sein soll.«

»Die Unterlagen wurden ihr zugeschickt. Na schön, dann fangen wir eben mit deiner Seite an.«

Er zieht ein paar Blätter hervor. Der echte Verhaltenstest findet auf dem Papier statt, mit Kästchen, die man ankreuzen muss. Es ist nicht fair. Immerhin bin ich erschienen und sie nicht.

»Wo wart ihr?«

Es fängt an, sobald wir das Haus betreten. Ich war mit Hugh und Poh unterwegs, wie ein Anstandswauwau, habe das Zusammensein mit ihnen aber in vollen Zügen genossen und mich gar nicht wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt. Sie sitzt auf dem Sofa, zu ruhig, und blickt zur Tür, hat auf uns gewartet. Die Freude, der Spaß, die Unbeschwertheit eines ganzen Samstags nur mit Hugh und Poh gehen abrupt zu Ende, sobald wir die Tür aufmachen.

Roter Nebel um ihren Kopf, wie ein Lava spuckender Vulkan.

Das Rot fliegt auf Hugh zu, und ich setze mich in Bewegung, um ihn abzuschirmen, ihn zu beschützen, aber es ist blitzschnell, und ehe ich Hugh erreiche, prallt es an seiner Brust ab, als hätte er ein Kraftfeld um sich herum, und fliegt direkt über seinen Kopf hinweg.

Wie hat er das gemacht?