Alle Tage, die wir leben - Dagmar Hansen - E-Book

Alle Tage, die wir leben E-Book

Dagmar Hansen

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Beschreibung

Ausgerechnet vor ihrem 60. Geburtstag verliert Tilda ihren Job, und auch ihre Beziehung scheitert. Das hatte sie sich anders vorgestellt. Mit Sechzig nochmal ganz auf Anfang? Als sie eine Anzeige liest, in der eine «Frau im besten Alter (84)» eine Privatsekretärin sucht, bewirbt sie sich kurzerhand. Obwohl Arbeitgeberin Ruth fit und lebenslustig ist, will sie nach dem Vorbild des schwedischen «death cleaning» ihre Angelegenheiten ordnen. Dabei soll Tilda helfen. Anfangs findet die das ziemlich morbide, doch durch Ruth lernt sie, dass das Leben - egal in welchem Alter - immer für eine Überraschung gut ist.

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Dagmar Hansen

Alle Tage, die wir leben

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Das Leben ist ein Abenteuer

 

Ausgerechnet vor ihrem 60. Geburtstag verliert Tilda ihren wichtigsten Auftraggeber – ihr Schreibbüro steht vor dem Aus. Und auch ihre Beziehung zu Freund Günter scheitert, da ihm seine Freiheit wichtiger ist als eine Partnerin an seiner Seite. Das hatte Tilda sich anders vorgestellt. Mit sechzig noch mal ganz auf Anfang? Als sie eine Anzeige liest, in der eine «Frau im besten Alter (84)» eine Privatsekretärin sucht, bewirbt sie sich kurzerhand. Obwohl Arbeitgeberin Ruth fit und lebenslustig ist, will sie nach dem Vorbild des schwedischen «Death Cleaning» ihre Angelegenheiten ordnen. Dabei soll Tilda helfen. Anfangs findet die das ziemlich morbide, doch durch Ruth lernt sie, dass das Leben – egal in welchem Alter – immer für eine Überraschung gut ist.

Vita

Dagmar Hansen veröffentlichte bereits erfolgreich zahlreiche Romane, von denen mehrere für ARD und ZDF verfilmt wurden. Mit «Herzenswege», ihrem ersten Roman bei Rowohlt, wandte sie sich den emotionalen Themen zu und schreibt für Frauen, die das Leben mit allen Höhen und Tiefen kennen und den Mut haben, sich mit ihren Gefühlen und den großen Fragen des Lebens zu beschäftigen.

Für meine Enkelkinder

Henry und Marlene

In Liebe

Charlie Brown und Snoopy sitzen auf einem Bootssteg und schauen hinaus aufs Meer.

«Ach, Snoopy. Eines Tages müssen wir alle sterben», sagt Charlie traurig.

«Stimmt. Aber an allen anderen Tagen leben wir», erwidert Snoopy.

Prolog

Die Buchenscheite in der Feuerschale brennen lichterloh. Funken sprühen in den Abendhimmel, es knackt und knistert. Der Duft des Rauchs erinnert mich an die Lagerfeuer meiner Kindheit auf der Wiese am Fluss. Wie hypnotisiert starre ich in die Flammen. Neben mir steht ein großer schwarzer Plastiksack. So viele Jahre meines Lebens stecken in seinem Inneren. Jetzt gleich werde ich alles zu Asche verbrennen, denn ich brauche es nicht mehr. Alles, was wirklich wichtig ist, finde ich in mir selbst.

Oder?

Was, wenn ich diese Aktion hier für den Rest meines Lebens bitter bereuen werde?

Es ist heiß am Feuer, der Schweiß läuft mir übers Gesicht. Ich reiße mich vom Anblick der Flammen los und schaue hinüber zu Ruth. Sie sitzt vornübergebeugt auf ihrem Gartenstuhl und macht sich an einem Gegenstand zu schaffen, den sie im Schoß hält.

Plötzlich erschüttert dröhnende Rockmusik die Ruhe des Gartens. Ich bin so erschrocken, dass ich einen Satz zur Seite mache.

«It’s my life!», schmettert Jon Bon Jovi so laut, dass sämtliche Nachbarn auch etwas davon haben. «It’s now or never! I ain’t gonna live forever! I just want to live while I’m alive!»

Es ist mein Leben! Jetzt oder nie! Ich leb nicht für immer! Ich will einfach leben, solange ich am Leben bin!

Gänsehaut pur, die raue Stimme und der kraftvolle Sound. Meine Füße bewegen sich wie von selbst im Rhythmus der Musik, die Hüften und Arme schwingen mit. Ruth hat sich aufgerichtet und sitzt nun kerzengerade, wie eine Königin auf ihrem Thron. In der Tat sieht sie der Queen ähnlich, was auch an ihren weißen, sorgfältig frisierten Locken liegt. Eine Hand hat sie auf den Mund gepresst, wie sie es immer tut, wenn sie sich ausschüttet vor Lachen.

Sie hat es faustdick hinter den Ohren, diese Königin.

Kapitel 1

Wir saßen auf «unserer» Bank an unserem Lieblingssee, Günter und ich. Es war ein schwüler Sonntagnachmittag im August, die Sonne glitzerte auf dem Wasser, und auf den Uferwegen und am Badestrand war die Hölle los. Radfahrer, Spaziergänger mit und ohne Hund, Jogger, Nordic Walker, Familien mit Kindern, Gruppen von lautstarken Jugendlichen und händchenhaltende Liebespaare beanspruchten diesen idyllischen Flecken im Grunewald für sich.

Die von Eichen beschattete Bank stand ein bisschen versteckt, an einer Stelle, an der man nicht ins Wasser konnte, aber einen guten Blick über den See hatte. Günter war schon auf dem Hinweg untypisch schweigsam gewesen, was wohl an der Hitze lag, Temperaturen über fünfundzwanzig Grad machten ihm sehr zu schaffen. Auch jetzt schien ihm nicht nach Reden zumute zu sein. Es dauerte eine Weile, bis er sich ein paarmal räusperte, wie um Anlauf zu nehmen, und schließlich sagte: «Es tut mir leid, Mathilde.»

Ich hatte ein Schwanenpaar beobachtet, das mit seinen grau gefiederten, halbwüchsigen Küken am Schilfgürtel vorbeischwamm. Jetzt schaute ich verblüfft Günter an. Warum in aller Welt entschuldigte er sich aus heiterem Himmel? Und warum sah er so verlegen und unglücklich aus?

Ich öffnete den Mund, um nachzufragen, aber Günter kam mir zuvor. «Ich wollte dir eigentlich einen Brief schreiben. Vielleicht mach ich das auch noch, vieles klärt sich ja erst so richtig, wenn man es aufschreibt. Morgen geht es los, die Jungs und ich, wir fliegen nach Vancouver, wir freuen uns wie Bolle, schon seit Wochen … Und vorher möchte ich reinen Tisch machen, damit ich unbeschwert auf die Reise gehen kann.»

Seine Stimme erstarb, und er holte tief Luft, bevor er fortfuhr: «Also, es ist so: Ich habe sehr viel nachgedacht in den letzten Wochen, als der Abflugtermin immer näher rückte. Über mich, mein Leben und wie ich mein letztes Lebensdrittel gestalten möchte. Daher zwangsläufig auch über uns beide. Es tut mir wirklich leid, dich enttäuschen zu müssen. Aber ich möchte unsere Beziehung beenden.»

Im ersten Moment glaubte ich, mich verhört zu haben. Schluss machen? Hier? Jetzt? Aus heiterem Himmel? Einen Tag bevor er mit seinen Freunden für drei Wochen nach Kanada flog? Mir war auf einmal kalt, so kalt, wie es einem nur sein kann bei dreißig Grad im Schatten, wenn einem gerade Eiswürfel ins Herz gestreut werden.

«Aber … aber warum denn?» Meine Stimme klang fremd in meinen Ohren. Viel höher als sonst und ausgesprochen kläglich. «Es ist doch schön mit uns? Auch wenn wir manchmal an Kompromissen arbeiten müssen?»

So hatte es meine Freundin Anke ausgedrückt, als ich ihr nach einer Auseinandersetzung mit Günter mein Herz ausgeschüttet hatte.

Günter zog die Stirn in nachdenkliche Falten. Dass er das oft tat, seit vielen Jahren, sah man an den vielen waagerechten Linien, die sich eingegraben hatten. «Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Wir sind jetzt seit sieben Monaten zusammen, und ich möchte einfach keine Kompromisse mehr aushandeln und Verpflichtungen haben. Das hatte ich alles lange genug, als ich verheiratet war. Seit ich glücklich geschieden bin und die Kinder groß sind, genieße ich eine ganz neue Freiheit. Solo geht es mir besser als zu zweit, das ist der Schluss, zu dem ich nach mehreren Beziehungsversuchen gekommen bin.»

«Mir nicht», sagte ich traurig. «Ich finde es schön, einen Partner zu haben.» In Gedanken fügte ich hinzu: Jemanden fürs Herz. Jemanden, bei dem ich mich zu Hause fühlen kann.

Hatte ich mich zu Hause gefühlt bei Günter? Nicht wirklich. Dafür steckte alles zwischen uns, einschließlich meiner Gefühle für ihn, noch zu sehr in den Anfängen. Ich hatte das Bild einer jungen Pflanze vor Augen gehabt, wenn ich an «uns» dachte: etwas, das bei guter Pflege, viel Zuneigung und Verständnis füreinander mit der Zeit zu einem Baum mit starken Wurzeln heranwachsen würde. Vielleicht hätte er mich dann auch Tilda genannt, wie alle Lieben, die mir nahestanden, anstatt darauf zu bestehen, dass Mathilde ein schöner alter Vorname sei, der viel besser zu mir passte.

Zwei Kormorane flogen mit schnellen Flügelschlägen über den See. Vielleicht hatten sie meine Träume mitgenommen, meine Sehnsüchte von einem Leben zu zweit. Zusammen alt werden in einer gemeinsamen Wohnung. Freud und Leid miteinander teilen. Leben, lieben, lachen. Ein harmonisches Familienleben mit Günters Kindern und Enkeln, die ich bis jetzt nur von Fotos und Videos kannte. Ich hatte uns schon alle zusammen Weihnachten feiern sehen, mit Tannenbaum und Gänsebraten und ganz viel Zeit mit den Kleinen. Und nun war ich wieder allein und kämpfte mit den Tränen.

«Gefühle kann man nicht erzwingen», sagte Günter jetzt. «Ich hab gedacht, es könnte funktionieren mit uns. Ich war wirklich verliebt in dich …»

«Aber jetzt bist du’s nicht mehr.» In meinem Hals hatte sich ein Kloß gebildet, ich konnte kaum schlucken. Meine Augen brannten, aber ich gewann den Kampf gegen die Tränen. Ich würde nicht vor Günter weinen, sondern zu Hause. Denn dort gab es jemanden, der versuchen würde, mich zu trösten.

Günter schaute mich mitleidig an und räusperte sich verlegen, bevor er antwortete. «Ich mag dich nach wie vor. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass wir befreundet bleiben und uns ab und zu ganz zwanglos auf ein Glas Wein treffen.»

Unvermittelt beugte er sich zu mir herüber und strich mir übers Haar. Eine väterliche, ein bisschen ungeschickte Geste.

«Lass das bitte», sagte ich und rückte ab.

Er zog die Hand zurück und seufzte. «Ich kann es nur wiederholen, Mathilde: Es tut mir wirklich leid. Aber besser ein Ende mit Schrecken als …»

«… ein Schrecken ohne Ende?», unterbrach ich ihn. «Na danke schön! Das ist wirklich unverschämt.» Ich funkelte ihn an. Wie gut die Wut tat, die plötzlich durch meinen Körper pulsierte. Mir war nicht mehr kalt, kein bisschen.

Günter sah ehrlich entsetzt aus. «So war es nicht gemeint! Natürlich war es nicht schrecklich mit dir! Wir hatten auch schöne Zeiten, keine Frage. Aber ich bin einfach nicht der Mann, den du dir gewünscht hast. Ich habe zu viele Interessen und Hobbys, die du nicht teilst. Ich bin oft mit meinen alten Freunden zusammen. Und ich möchte deswegen kein schlechtes Gewissen haben.»

«Hab ich dir je Vorwürfe gemacht?»

«Es war schon klar, dass du gern mehr Zeit mit mir verbracht hättest.»

«Das ist wohl wahr. Ein Kapitalverbrechen, das ich begangen habe, wie sich jetzt herausstellt. Also tschüs dann. Alles Gute. Und viel Spaß im Urlaub mit den Jungs. Ich gehe jetzt nach Hause.» Das hatte lässig klingen sollen und ironisch und selbstbewusst, aber leider konnte ich nicht verhindern, dass meine Stimme zitterte.

Günter griff nach meiner Hand, aber ich trat rechtzeitig einen Schritt zurück. «Ich melde mich, wenn ich wieder da bin. Dann können wir vielleicht noch mal in Ruhe reden. Du bist wütend und gekränkt, ich kann’s dir nicht verdenken. Ich fände es schade, wenn das so bliebe.»

Jetzt hatte ich endgültig genug. «Mach du einfach dein Ding und lass mich in Ruhe», fauchte ich ihn an.

Und dann war ich auf dem Uferweg unterwegs und tauchte ein in das Gewimmel von Spaziergängern, Hunden, Joggern, Radfahrern und wünschte, ich hätte Flügel wie die Kormorane, um auf dem schnellsten Weg nach Hause zu fliegen.

Kapitel 2

In meiner kleinen Wohnung war es angenehm kühl. Ich hatte früh am Morgen gut durchgelüftet und dann die Jalousien im Wohnarbeitszimmer heruntergelassen, das nach Südwesten hinausging. Ich zog meine Sandalen aus, legte mich aufs Sofa und starrte im Halbdunkel auf das gerahmte Foto an der Wand gegenüber. Bis auf ein angedeutetes Lächeln ist mein Gesicht ernst auf dem Bild, aber meine Augen leuchten und verraten, wie glücklich ich bin. Ich trage einen Kranz aus künstlichen weißen Rosen und Perlen im kurzgeschnittenen, dunklen Haar. Dazu ein weißes Kleid, von dem nur das langärmelige Oberteil aus Spitze sichtbar ist. Ich schmiege mich an meinen Bräutigam, der über das ganze Gesicht strahlt.

Kai. Meine große Liebe.

Sechsundzwanzig Jahre waren vergangen, seit wir uns das Ja-Wort gegeben hatten. Eine halbe Ewigkeit, die wie im Flug vorübergehuscht war.

Kennengelernt hatten wir uns auf der Silvesterparty einer Freundin, deren Mann ein Kollege von Kai war. «Das ist ein richtig Netter. Und er ist solo, genau wie du», zischte mir die Freundin ins Ohr, bevor sie mich dem großen, breitschultrigen Mann vorstellte, der mich anstrahlte, als sei ich eine ganz besondere Kostbarkeit. Sofort hatte ich vergessen, dass ich eigentlich ein bisschen schüchtern war. Ich strahlte zurück, und ehe ich mich’s versah, holte Kai mir ein Glas Sekt, und wir redeten und lachten, als würden wir uns schon ewig kennen. Und wir tanzten, als wären wir dafür geboren worden, miteinander zu tanzen. Um Mitternacht küssten wir uns leidenschaftlich auf dem vollgepackten Balkon, und ich weiß noch, dass ich Herzflattern hatte und weiche Knie und dachte: So schmeckt also die Liebe …

 

Drei glückliche Jahre wurden Kai und mir geschenkt. Eines davon verheiratet. Dann kam der Morgen, an dem er auf dem Weg zum Bäcker auf einer Landstraße in Schleswig-Holstein aus ungeklärter Ursache gegen einen Baum raste, während ich in unserer Ferienwohnung das Frühstück richtete.

Er starb noch am Unfallort. Einige Tage später verlor ich in der zwölften Schwangerschaftswoche unser Baby.

 

Nicht nur äußerlich bin ich nicht mehr die Frau, die ich damals war. Die Braut auf dem Foto kommt mir sehr jung, naiv und Lichtjahre entfernt von meinem heutigen Ich vor. Ich erinnere mich, dass ich einen Plan für mein Leben hatte, von dem ich ganz selbstverständlich annahm, dass er sich erfüllen würde. Ich würde für immer glücklich mit Kai sein. Wir würden zwei wunderbare Kinder zusammen bekommen. In meinem Beruf als Bürokauffrau würde ich Teilzeit arbeiten, solange die Kinder klein waren. Mittelfristig hatten wir aus Berlin wegziehen wollen, in eine Stadt, in der sich unser Traum von einem eigenen Häuschen mit Garten verwirklichen ließ. Dort würden wir ein weitgehend sorgenfreies Dasein bei bester Gesundheit genießen, später (hoffentlich) mit den inzwischen erwachsenen Kindern und den Enkeln in der Nähe, und mit ungefähr neunzig dann eines Abends gemeinsam zu Bett gehen, um nie mehr aufzuwachen.

Das Leben hatte sich nicht an meine Entwürfe gehalten. Es spielte sich weiterhin in Berlin ab, hatte mir gute und nicht so gute Zeiten beschert und Partner, Bekannte, Kollegen, Nachbarn, Freunde und Freundinnen. Manche, wie Anke und Dani, waren geblieben. Mit Mitte fünfzig arbeitslos zu werden, weil der langjährige Arbeitgeber Insolvenz anmelden musste, war eine Erfahrung, die ich niemandem wünsche. Ich hatte es Kai zu verdanken, dass ich den Mut aufbrachte, mich mit einem Schreibservice selbständig zu machen. Die Idee flog mich an, nachdem ich ihm nach unzähligen Absagen auf meine Bewerbungen voller Verzweiflung mein Herz ausgeschüttet hatte. Er hatte mich immer dafür bewundert, wie fix ich im Zehnfingersystem schreiben konnte. Mir hingegen hatte es imponiert, wie leicht ihm als Tischler alles Handwerkliche fiel. Wir waren nicht nur ein Ehepaar, sondern beste Freunde gewesen, die sich gegenseitig bewunderten und blind aufeinander verlassen konnten. Die innere Gewissheit, dass seine Liebe noch immer für mich da war, dass ich mit ihm reden konnte, als säße er neben mir, war etwas, das mir selbst in den schwärzesten Stunden Trost schenkte.

«Ich bin traurig», sagte ich laut zu Kai. Auf dem Bild war er sechsunddreißig. Ich hatte oft versucht, ihn mir als älteren Mann vorzustellen. Mit grauen Haaren oder Glatze, Lesebrille, Falten, einem Bäuchlein. Es war mir nie gelungen. Während ich mich veränderte, blieb er so, wie ich ihn für immer in Erinnerung behalten würde.

Was würde Kai antworten, wenn er hier neben mir auf dem Sofa liegen würde, das breit genug zum Kuscheln war, wenn man sich eng aneinanderschmiegte?

«Wein ruhig, das tut dir bestimmt gut. Ich bin bei dir.»

«Ich kann nicht», gab ich zurück. «Vielleicht später.»

«Du wirst einen anderen Mann kennenlernen. Einen, der dich verdient hat und von ganzem Herzen liebt.»

«Darf ich ehrlich sein?»

Die Frage war rhetorisch, denn Kai war der Einzige, zu dem ich immer rückhaltlos ehrlich war. Sein strahlendes Lächeln auf dem Foto war eine einzige Ermutigung loszulegen.

«Nächsten Monat werde ich sechzig. Sechzig! Weißt du, was das heißt? Die BahnCard bekomme ich dann deutlich günstiger. Aber das kann mich nicht trösten. Genauso wenig wie der Firlefanz von wegen Best Ager, Generation Gold, Generation 50plus, Silver Ager, Golden Ager oder Third Ager. Wenn du jetzt denkst, dass ich zum Thema gegoogelt habe, liegst du richtig. Weil mich dieser Geburtstag wirklich umtreibt. Alle wollen jung oder zumindest jugendlich sein. Denn das wird gleichgesetzt mit sportlich, dünn, gesund, attraktiv, voller Energie, superaktiv und gutsituiert. Niemand will als ‹Senior› oder als ‹alt› bezeichnet werden, das klingt nach klapprig, kränklich, knapp bei Kasse, einsam, mit einem Fuß schon im Grab. Daher all diese euphemistischen Phantasieumschreibungen, auch noch hip auf Englisch, die dir suggerieren sollen … ja, was eigentlich? Doch nichts anderes, als dass du die Realität ignorieren sollst.»

Ich hatte mich so in Eifer geredet, dass ich unbedingt etwas trinken musste. Also rappelte ich mich vom Sofa auf, tappte barfuß zum Kühlschrank und goss mir ein Glas eiskaltes Mineralwasser mit einem Schuss Apfelsaft ein. Nachdem ich die Schorle durstig hinuntergestürzt hatte, schenkte ich mir noch ein Glas ein und trat hinaus auf den kleinen, mit Ringelblumen, Kapuzinerkresse und Kräutern bienenfreundlich bepflanzten Balkon. Die schwüle Hitze schlug mir mit Wucht entgegen, sicher würde es heute noch ein Gewitter geben.

Kai war mir gefolgt, ich spürte deutlich seine tröstliche Gegenwart.

«Und was ist die Realität?», erkundigte er sich sanft.

Ich presste das kalte Glas gegen meine plötzlich schmerzende Stirn. «Dass ich natürlich sehr wohl alt bin mit sechzig. Keine hochbetagte Greisin, aber eine Seniorin, ganz offiziell, mit Brief und Siegel. Siehe BahnCard. Und das fühlt sich einfach … grässlich an. Denn mir ist klar, dass nichts mehr vorwärtsgeht. Ich bin in der Endstation gelandet. Alle Räder stehen still, und wenn sie sich dann wieder in Bewegung setzen, geht es nur noch rückwärts und bergab in jeder Beziehung, bis das Leben in ein paar Jahren vorbei ist.»

Kai schwieg. Aus gutem Grund. Er wusste, dass ich recht hatte und es keinen Sinn machte, mir Sand in die Augen streuen zu wollen, um mich über mein Alter und Günter hinwegzutrösten. Eine neue Liebe war genauso unerreichbar wie meine Jugend. Ich war wieder allein, und ich würde es bleiben und immer mehr Falten bekommen und weiße Haare und andere Alterserscheinungen und Beschwerden, von denen ich vor dreißig Jahren nicht mal wusste, dass es sie gab, und irgendwann, eines nicht mehr fernen Tages, würde mein Herz für immer aufhören zu schlagen.

«Ich bin so traurig», sagte ich leise zu der Buche vor meinem Balkon.

Kein Ast, kein Blatt bewegte sich, die Luft stand still. Als mir die Tränen kamen, wie ein Gewitterregen, setzte ich mich auf den Gartenstuhl und schlug die Hände vors Gesicht.

Kapitel 3

In dieser Nacht schlief ich schlecht. Immer wieder schreckte ich aus wirren Träumen auf. In Erinnerung blieb mir eine Szene, in der ich verzweifelt eine Transportmöglichkeit zum Flughafen suchte, um rechtzeitig einen Ferienflieger nach Mallorca zu erwischen. Akustisch untermalt wurde die seltsame Odyssee durch ein heftiges Gewitter über Berlin, das den ersehnten Regen brachte. Es regnete immer noch, als ich mich kurz nach Sonnenaufgang mit einem Block, einem Stift und einem Becher Kaffee an den Küchentisch setzte. Die Balkontür stand weit offen, und ich war dankbar für die kühle, nach nasser Erde duftende Luft, die der Wind hereintrug.

Ich war immer noch traurig und sehr müde, weil ich gefühlt kaum ein Auge zugemacht hatte. Am liebsten hätte ich mich wieder hingelegt und den Tag mit dem spannenden Krimi, den ich gerade las, im Bett verbracht. Auch Bücher waren immer ein Trost für mich, weil sie mich in andere Welten eintauchen ließen. Aber es wartete Arbeit auf mich, und verschiedene Dinge mussten erledigt werden, und eine To-do-Liste war genau das, was ich jetzt brauchte, um Ordnung in mein Gehirn zu bringen.

To do:

Schriftsätze für Kanzlei Simon und Gutachten erledigen.

Mich auf unseren Kochabend am Freitag mit Dani und Anke freuen.

Blumen kaufen. Blumen sind gut für die Seele.

Außerdem: Käse, Toast, Wein, Gemüse, Nektarinen, Zahnbürsten.

Nicht an Günter denken.

Nicht an meinen Geburtstag denken.

Am besten gar nicht denken. Hahaha. Humor hilft immer.

Anstatt hier noch länger im Nachthemd herumzutrödeln: ab unter die Dusche, um dynamisch und frisch in den neuen Tag zu starten.

Drei Stunden später saß ich auf meinem Schreibtischstuhl am Rechner und starrte auf den Monitor. Blind, weil mir die Tränen die Wangen herunterliefen. Die sympathische Stimme von Rechtsanwalt Bernhammer, mit dem ich gerade telefoniert hatte, klang mir noch im Ohr. Mein erster und größter Auftraggeber hatte nach einem Herzinfarkt spontan beschlossen, sich aus dem Berufsleben zurückzuziehen. Und sich aufrichtig dafür entschuldigt, dass unsere Zusammenarbeit damit beendet war.

«Es ist mir wichtig, dass Sie es von mir persönlich erfahren. Sie haben sich doch bestimmt gewundert, dass in den letzten Wochen nichts von uns kam.»

«Schon. Aber ich dachte, vielleicht sind Sie auf Reisen. Es ist ja Sommer», gab ich zurück. Meine Stimme klang erstaunlich gefasst, aber mein Herz raste, und meine Gedanken überschlugen sich. Mein wichtigster Auftraggeber! Auf den ich mich immer verlassen konnte! Wie soll ich bloß über die Runden kommen? Es ist so unglaublich schwierig, neue Kunden zu gewinnen, es gibt so viele Schreibbüros, und die Zeit läuft mir davon, ich hab ja keine Ersparnisse … Miete. Strom, Telefon, Lebensmittel. Krankenversicherung … das muss jeden Monat bezahlt werden; und immer, immer ist es knapp, seit ich selbständig bin. Was, wenn ich jetzt alles verliere und zum Sozialfall werde und meine Wohnung nicht mehr halten kann?

Herr Bernhammer seufzte schwer. «Ich war im Krankenhaus. Und dann in der Reha. Mit Anfang sechzig ist das nicht ungewöhnlich. Und ein Warnschuss. Die Kanzlei war immer mein Leben, Stress meine Droge. Aber jetzt ist es an der Zeit, mich um meine Gesundheit zu kümmern. Und Spaß zu haben. Golf spielen, in Urlaub fahren, viel mit der Familie unternehmen, solche Sachen. Das sagt jedenfalls meine Frau.»

Das klang eher schicksalsergeben als begeistert.

«Sie hat ganz sicher recht», gab ich zurück und dachte: Anfang sechzig. Mein Alter, ungefähr jedenfalls. Was, wenn ich auch krank werde? Nicht mehr arbeiten kann? Herr Bernhammer ist bestimmt gut abgesichert. Ich nicht. Nur nicht dran denken!

Über mein wild klopfendes Herz hinweg hörte ich wie aus weiter Ferne, wie Herr Bernhammer sich für die gute Zusammenarbeit bedankte und mir alles Gute für die Zukunft wünschte. Ich bedankte mich ebenfalls und wünschte ihm eine gesunde und glückliche Zeit als Privatier. Dann war das Gespräch zu Ende, und nichts, gar nichts war gut. Noch vor vierundzwanzig Stunden hatte ich einen Partner an meiner Seite gehabt und die Überzeugung, dass ich zwar kein Vermögen mit meinem Schreibservice verdiente, es aber zum Leben reichte. Ich hatte sogar gehofft, im nächsten Jahr mal Urlaub an der Ostsee machen zu können. Vielleicht auf dem Darß mit seinem großen Naturschutzgebiet. Kraniche beobachten im Herbst, davon hatte ich geträumt.

Und jetzt?

Akquise. Gezielte Briefmailings. Und ich lege wieder Flyer und Visitenkarten aus. Berlin ist groß. Es gibt unzählige Arztpraxen und Kanzleien und Gutachter. Und ich habe eine ansprechend gestaltete Homepage. Kunden werden mich finden. Ich schaffe das. Irgendwie.

Das alles jagte durch meinen Kopf, während ich Rotz und Wasser heulte. Und das Schlimmste war, dass ich mir zwar gut zuredete, aber tief in meinem Inneren eine andere Stimme alles übertönte. Mach dir doch nichts vor, höhnte sie. Die Realität sieht anders aus. Das, was dir in den letzten vierundzwanzig Stunden passiert ist, ist nichts anderes als der Anfang vom Ende.

Kapitel 4

Freitag. Endlich. Der Tag, der mich die ganze grässliche Woche über aufrecht gehalten hatte, während ich meine Aufträge abgearbeitet und mich um die Gewinnung neuer Kunden gekümmert hatte. Gemeldet hatte sich noch niemand. Mit Anke und Dani hatte ich kurz telefoniert wegen unseres Kochabends. Ich hatte überlegt, ob ich ihnen von meinem Kummer berichten sollte, aber beide waren in Eile gewesen, wie üblich, und dann machte es ja auch keinen Sinn, die Geschichte zwei Mal am Telefon zu erzählen, wenn wir einen Abend gemeinsam verbringen würden. Den ich allerdings auch nicht mit einer Jammergeschichte verderben wollte.

Wir hatten uns vor fünf Jahren bei einem Spanischkurs an der VHS kennengelernt und uns über dem gemütlichen Glas Rotwein nach dem Unterricht in der Bodega um die Ecke angefreundet. Als der Kurs zu Ende war, blieben wir in Kontakt und trafen uns ein paarmal in einer Tapas-Bar, bis Dani auf die geniale Idee kam, dass wir doch mal gemeinsam kochen könnten. Spanisch oder lateinamerikanisch, als Erinnerung an unseren Kurs. Der Abend in ihrer Altbauwohnung in Friedenau war ein voller Erfolg. Anke brachte alles mit, woraus sie eine köstliche spanische Tortilla zaubern konnte. Ich kümmerte mich um die Vorspeise – Gazpacho, eine kalte Gemüsesuppe –, und Dani bereitete zum Nachtisch Flan zu, die berühmte Karamellcreme.

«Das machen wir öfter, ja?», sagte Dani, als wir uns zum Abschied leicht beschwipst an ihrer Wohnungstür umarmten.

Auch Anke und ich waren Feuer und Flamme gewesen, und so kam es, dass wir uns fortan einmal im Monat freitags reihum zum Kochen trafen. Für die Getränke war die Gastgeberin zuständig, es gab immer drei Gänge, und vorher sprachen wir ab, wer welchen Gang zubereiten würde. Manchmal schafften wir es zeitlich nicht, dann fiel in einem Monat der Abend aus. Ab und zu brachte eine von uns auch etwas Fertiges mit, weil sie lieber mit einem Glas Wein am Küchentisch sitzen und den anderen beim Kochen zusehen wollte, anstatt selbst am Herd zu stehen. Wir waren da völlig entspannt, hatten auch keinerlei Sterne-Menü-Ambitionen, und das war wohl auch ein wichtiger Grund, warum unser Koch-Trio schon so lange Bestand hatte.

Heute Abend war ich fürs Dessert zuständig. Es würde einen Auflauf mit Himbeeren, Pfirsichen und Heidelbeeren geben, der noch warm aus dem Ofen serviert wurde. Fruit Cobbler nannte sich die Köstlichkeit, und ich hatte das Rezept von einer netten Nachbarin bekommen, die Amerikanerin war. Den Teig hatte ich bereits zusammengerührt, die Früchte vorbereitet, alles in Tupperdosen gefüllt und auch ein Stück Butter eingepackt.

Das Rezept hatte ich für uns drei ausgedruckt:

Kochabend bei Anke im August Dessert: Tilda
Fruit Cobbler

125 g Butter

4 Tassen frisches Obst, z.B. Beeren, Pfirsiche, Pflaumen, Kirschen

ca. 1 Tasse Zucker

1 Tasse Mehl

2 TL Backpulver

1 Prise Salz

1 Tasse Milch

Zubereitung:

Butter in eine Ofenform geben und bei 180 Grad schmelzen lassen. Gut im Auge behalten, sie sollte nicht braun werden. Inzwischen das Obst mit einem Stabmixer grob zerkleinern, damit es Saft zieht.

Die anderen Zutaten in einer Schüssel zu einem Teig verrühren.

Die Butter aus der Ofenform in den Teig gießen und untermischen.

Dann den Teig in die heiße Form gießen, es sollte so ein bisschen brutzeln beim Einfüllen.

Anschließend das Obst mit dem Saft in die Mitte der Form füllen.

35–40 Minuten bei 180 Grad backen.

 

PS: Dieses Rezept hat mir meine nette Nachbarin Sheryl aus Amerika verraten.

Meinen Ausdruck heftete ich in dem pinkfarbenen Ordner ab, der für unsere Rezepte bestimmt war. Ich schmökerte ein bisschen herum und musste lächeln. Im Mai hatte Anke Dani und mir Ansichtskarten aus ihrem Wanderurlaub in der Lüneburger Heide geschickt. Auf der Vorderseite tummelte sich eine Herde Heidschnucken in lila blühendem Heidekraut.

MoinMoin! Hier das sehr aufwendige Hauptgericht für Freitag: Ich bade Heidespargel und Heidekartoffeln in kochendem Wasser, bis alles gar ist, schmelze Butter in einem Töpfchen und streue gehackte Petersilie hinein. Dazu serviere ich Katenschinken aus der Heide. Das genaue Rezept folgt selbstverständlich. Total verheidjerte Grüße von eurer Anke

Dani und ich hatten es uns nicht nehmen lassen, ebenfalls Post zu versenden. Berliner Bären lieben Erdbären mit Vanilleeis und Schlagsahne zum Dessert, hatte Dani passend zum Motiv ihrer Karte geschrieben, auf der ein mit einem Krönchen geschmückter Bär zu sehen war. Ich schickte ein Foto von Audrey Hepburn im kleinen Schwarzen und Perlenkette los, die einen Cocktail durch einen Strohhalm schlürfte. Eine Runde Mini-Spargeltartes für alle vorneweg! Liebste Grüße aus dem Feinkostladen von der frühlingsfaulen Tilda, lautete der Text.

Als Anke mir an diesem Freitag die Tür öffnete, riss sie die Augen weit auf und japste: «Oh mein Gott! AUDREY! Welch ein Glanz in meiner Hütte! Ich glaube, ich muss vor Glück schreien.»

«Bitte nicht!», flehte ich. Wenn Anke vor Glück schreit, hört man es bis nach Potsdam. Mindestens.

«Na gut», sagte Anke lachend. «Komm rein, Audrey. Du siehst umwerfend aus.»

«Danke!» Ich drehte mich einmal um die eigene Achse, damit sie mein schwarzes Kleid, die Pumps, die dreimal um den Hals geschlungene Perlenkette von Woolworth und die riesige schwarze Sonnenbrille noch mal in aller Ruhe bewundern konnte. Der Versuch, meine zu einem stufigen Bob geschnittenen Haare Audrey-mäßig aufzustecken, war kläglich gescheitert, und so hatte ich sie unter einem Strohhut versteckt.

An diesem Freitag im Mai war es abends zum ersten Mal so warm gewesen, dass wir draußen essen konnten. Fliederduft hing in der Luft, gute Laune, ein Hauch von Glamour, den ich auf Audrey Hepburns Einfluss zurückführte, unser Lachen und die Vorfreude auf den Sommer.

Nun war der Sommer dabei, sich zu verabschieden, wie er das im August immer tat, mit kürzeren Abenden und müdem Laub, das sich an etlichen Bäumen schon gelb verfärbte. Die Wolkendecke, die für einen grauen Tag gesorgt hatte, riss auf, während ich mit meinem Korb zur U-Bahn ging. Als ich nach drei Stationen ausstieg, schien die Sonne und tauchte die alten Häuser in ihren gepflegten Gärten in ein goldenes Licht.

Anke und ihr Mann hatten kurz nach der Hochzeit ein Haus in einer Reihenhaussiedlung aus den zwanziger Jahren gekauft, die sich um einen von Ahornbäumen eingefassten Platz gruppierte. Die Fassaden waren in warmen Rot- und Creme- und Ockertönen gestrichen, und schmiedeeiserne Zäune trennten die kleinen Vorgärten von den katzenkopfgepflasterten Gehwegen. Es war eine ruhige Gegend, so gar nicht urban, sondern wie ein verschlafenes Überbleibsel aus einer längst vergangenen Epoche. Wenn ich meine Phantasie ein bisschen anstrengte, sah ich altmodische Automobile über die holprige Straße rollen und Damen im Stil der zwanziger Jahre gekleidet am Arm von Herren in Knickerbockern und Schiebermützen im Schatten der Ahornbäume flanieren.

Wenn mich eine gute Fee gefragt hätte, wie denn mein Traumhaus aussähe, hätte ich geantwortet: genau wie das von Anke und Matthias. Geräumig, aber nicht zu groß; gemütlich eingerichtet; mit einer Terrasse und einem Gärtchen hinter dem Haus, in dem zu jeder Jahreszeit etwas besonders schön blühte. Im Mai war es der Flieder gewesen, jetzt im August würden es süß duftender Phlox und Fette Henne und der Hibiskusstrauch sein. Natürlich passte das Haus nur in meinen Träumen zu mir. In der Realität war es viel zu groß für mich allein. Für Kai und mich wäre es die Erfüllung all unserer Sehnsüchte gewesen, ein Wunder, das wir uns in Berlin niemals hätten leisten können.

Anke und ihr Mann hatten in der Villa Maulwurf, die ihren Spitznamen den pelzigen Dauergästen im Garten verdankte, zwei Söhne großgezogen, die die Räume mit Leben erfüllt hatten. Die Jungs waren schon lange erwachsen, verheiratet und inzwischen selbst Eltern von insgesamt drei Kindern. Ein viertes Enkelchen war unterwegs. Und die ganze Familie wohnte in Berlin, sodass man sich oft sehen konnte. Meine Mutter, die Märchen geliebt hatte, sagte gern: «Manche Leute werden von den Feen bei ihrer Geburt mit einem unsichtbaren vierblättrigen Kleeblatt beschenkt. Einfach so, sie müssen nichts dafür tun. Das sind die Glückspilze dieser Welt.»

Anke und Matthias gehörten in diese Kategorie, da war ich ganz sicher.

 

Als ich beim Gartentor angekommen war, kam mir Matthias entgegen. An unseren Kochabenden sorgte er dafür, dass wir «Mädels sturmfrei» hatten, wie er es ausdrückte.

«Und, was hast du heute Schönes vor?», erkundigte ich mich, nachdem wir uns begrüßt hatten.

Matthias schwenkte die schwarze Tasche, die er dabeihatte. «Zum Fitness. Anschließend besuche ich meine Geliebte», sagte er lässig, wie immer, wenn wir uns freitags über den Weg liefen, und zwinkerte mir zu, um zu betonen, dass seine Bemerkung nicht ernst gemeint war.

Manchmal fragte ich mich, ob es nicht doch stimmte, dass er es mit der Treue nicht genau nahm. Matthias war auch mit vierundsechzig ein attraktiver Mann, immer wie aus dem Ei gepellt und sehr charmant und kam durch seinen Beruf als Unternehmensberater viel herum. Er warf mir eine Kusshand zu, bevor er in seinen BMW stieg und ein bisschen schneller als nötig davonbrauste.

Kaum war er um die Ecke verschwunden, tauchte Dani auf und winkte mir schon von weitem lachend zu. Sie sah aus wie der personifizierte Sommer in einem grün-weiß gepunkteten Wickelkleid mit weit schwingendem Rock, das ihre schmale Taille betonte. Mit dreiundfünfzig war sie das Küken in unserem Trio und konnte mit ihren blonden, kurz und fransig geschnittenen Haaren und der mädchenhaften Figur gut und gerne für zehn Jahre jünger gehalten werden.

Wie immer küssten wir uns auf beide Wangen zur Begrüßung. «Ich hab mich SO auf heute Abend gefreut!», sprudelte Dani, als wir zur Haustür gingen. «Ich hab euch SO viel zu erzählen!» Sie strahlte übers ganze Gesicht.

«Ich bin gespannt!», sagte ich lächelnd. Danis Begeisterungsfähigkeit war beinahe grenzenlos, und sie hatte das Talent, immer Neues und Interessantes für sich zu entdecken. Beim letzten Kochabend hatte sie vom Stand-up-Paddling auf der Havel geschwärmt, von Süßkartoffelpommes und einem geplanten Wochenend-Retreat in einem buddhistischen Kloster. Alles sozusagen in einem Atemzug.

Ich weiß noch, wie verblüfft ich war, als Dani Anke und mir erzählte, dass sie als Beamtin in der Steuerverwaltung tätig war. Sie hatte gegrinst, als sie unsere ungläubigen Gesichter gesehen hatte: «Da staunt ihr, was? Das hättet ihr mir nicht zugetraut. Normalerweise denken Leute, die mich kennenlernen, ich wäre Yogalehrerin oder Heilpraktikerin oder würde irgendwas mit Werbung oder Mode machen. Ich bin auch schon für eine Schauspielerin und – haltet euch fest – einmal sogar für eine Pfarrerin gehalten worden.»

Sie kicherte, und Anke und ich kicherten mit.

«Du wirkst eben sehr – vielschichtig», sagte ich.

«Genau», ergänzte Anke. «Wobei ich mir unter einer Beamtin in der Steuerverwaltung einen superkorrekten Zahlenmenschen vorstelle. Eine strenge Erbsenzählerin im wadenlangen dunkelblauen Kostüm.»

«Es geht doch nichts über ein gesundes Vorurteil», meinte Dani mit einem breiten Grinsen im Gesicht. «Natürlich würde ich niemals in so einem spießigen Kostümchen rumlaufen. Ein Zahlenmensch bin ich tatsächlich. Aber eben nicht nur, das wäre ja gruselig. Der Sinn des Lebens liegt doch darin, ständig seinen Horizont zu erweitern.»

Das hatte mich damals sehr beeindruckt, auch wenn ich nicht sicher war, ob es so etwas wie den Sinn des Lebens überhaupt gab.

 

Eine Amsel, die auf dem schmiedeeisernen Zaun gesessen hatte, flatterte davon, als Dani und ich durch das Gartentor schritten. Ich hatte kaum geklingelt, als die Haustür auch schon aufgerissen wurde.

«Tilda! Dani! Kommt rein! Schön, dass ihr da seid.»

Anke, einen Kopf größer als Dani und ich, hatte die dunkelblonden, silbrig gesträhnten Haare im Nacken zusammengebunden und trug eine mit Gemüse bedruckte Schürze über Jeans und einer blau-weiß gestreiften Bluse. Wie immer umarmten wir uns zur Begrüßung, und heute taten mir die Herzlichkeit und die Wärme der beiden Freundinnen besonders gut.

Wenig später stießen wir mit einem Glas Prosecco in der Küche an. Wie immer auf uns, die Köchinnen, und einen schönen Abend. Dann, nachdem Anke uns ebenfalls mit Schürzen aus ihrer Sammlung ausgerüstet hatte (auf meiner prangte eine Gans, die mit ihren Küken über eine Wiese watschelte; Danis war über und über mit Wassermelonenschnitzen garniert), legten wir los. Während mein Fruit Cobbler im Ofen vor sich hin buk, schnippelte Dani Gurken, Tomaten und Schafskäse und rührte eine Vinaigrette zusammen, in die noch schwarze Oliven und gehackte Petersilie wanderten.

«Hast du das Rezept mitgebracht?», fragte Anke, die für das Hauptgericht zuständig war und gerade letzte Hand an den Hackfleischteig für die türkischen köfte legte. Als Beilage hatte sie mit Zwiebeln und Tomaten geschmorte grüne Bohnen in Olivenöl vorgesehen.

«Ups. Nein. Hab ich vergessen. Aber wir wissen doch alle, wie man einen griechischen Salat mit Schafskäse zubereitet. Oder?»

«Na ja», meinte Anke mit strengem Blick. «Das ist schon ein bisschen individuell. Ich würde zum Beispiel noch Zwiebelringe und gelbe Gemüsepaprika dazugeben.»

«Ich hasse Paprika», warf ich ein und trank einen Schluck Prosecco. Ich saß am Küchentisch, der bereits liebevoll gedeckt und mit Kerzen und rosa Hortensienblüten aus dem Garten dekoriert war. Die Traurigkeit und Angst vor der Zukunft, die mich die ganze Woche begleitet hatten, waren ein Stück zurückgewichen. Ich war in eine heile Welt eingetaucht, wenn auch nur für einen Abend, und dafür war ich dankbar.

«Ich weiß», sagte Dani. «Deswegen kochen wir ja auch nie damit.»

«Das Rezept für die köfte und die Bohnen könnt ihr nachher mitnehmen. Es liegt auf der Kommode im Flur, wie immer. Was ist mit deinem Auflauf, Tilda?»

«Ich habe alles aufgeschrieben», sagte ich und fing an, in meiner Handtasche zu kramen, die über der Stuhllehne hing.

«Super!» Anke schenkte mir ein strahlendes Lächeln. «Am besten legst du die Unterlagen gleich auf die Kommode, damit sie hinterher nicht vergessen werden. Außerdem sind sie da sicher aufgehoben. Wir wollen ja keine Flecken auf dem Papier haben.»

Anke hatte – wie immer – alles im Griff, keine Frage, und sie hatte bestimmt recht. Also tat ich ihr den Gefallen und las bei der Gelegenheit auch schnell ihre Rezepte durch:

Kochabend bei Anke im August Hauptgericht: Anke
Köfte (Hackbällchen nach türkischer Art)

Zutaten für 4 Personen:

500 g Rinderhack (wer mag, mischt 50/50 mit Lammhack)

1 mittelgroße Zwiebel

4 EL Olivenöl nativ extra

½ TL Cumin (Kreuzkümmel)

2–3 Scheiben Weißbrot oder Toastbrot, oder Paniermehl nach Bedarf

1 Ei

Salz, schwarzer Pfeffer aus der Mühle

1 Knoblauchzehe

½ Bund glatte Petersilie

Zubereitung:

Fein gehackte Zwiebel, Hackfleisch, Ei, Gewürze, gehackten Knoblauch und Petersilie, 1 EL Olivenöl und das in kleine Stücke zerzupfte Brot und / oder das Paniermehl in eine Schüssel geben. Alles gut miteinander vermischen, bis ein geschmeidiger, aber nicht zu feuchter Teig entsteht.

Kleine Kugeln formen und in dem restlichen Olivenöl knusprig braten.

Grüne Bohnen in Olivenöl nach türkischer Art

500 g frische grüne Bohnen

1 fein gehackte Zwiebel

4 mittelgroße Tomaten, enthäutet und gewürfelt

1 EL Tomatenmark

1 TL Zucker

150 ml Wasser

Salz

5 EL Olivenöl nativ extra

Zubereitung:

Bohnen waschen. Die Enden kappen, Gemüse in ca. 4 cm lange Stücke schneiden. In einem Topf die Zwiebel in etwas Olivenöl und dem Zucker glasig braten. (Nicht braun werden lassen.) Dann Tomatenstücke, Tomatenmark, Wasser und Bohnen zugeben. Aufkochen lassen, dann bei niedriger Hitze ca. 20 Minuten leise köcheln lassen, bis sie gar sind. Zwischendurch den Topf schwenken, das Gemüse aber nicht umrühren.

 

PS: Die türkische Küche lieben gelernt habe ich während unserer Flitterwochen in Antalya. Ganz schön lange her … Ich wünsche uns guten Appetit – afiyet olsun!

Eure Anke