Hier wohnt das Glück - Dagmar Hansen - E-Book

Hier wohnt das Glück E-Book

Dagmar Hansen

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Beschreibung

Nach dem Tod ihrer Mutter, die sie jahrelang gepflegt hat, will Sylvi die eigene Mitte finden. Schweigen, Waldbaden, Achtsamkeit praktizieren. Kurz entschlossen tauscht sie über eine Haustauschbörse ihre Wohnung gegen einen umgebauten Zirkuswagen an der Flensburger Förde. Zirkuswagenbesitzer Arne zieht derweil bei ihr in Berlin ein. Doch in Angelsby angekommen, läuft nichts nach Plan. Arnes Nichte Jördis und ihre Kinder leben nur wenige Meter entfernt, dauernd ruft Arne aus Berlin an, weil er mal wieder etwas wissen will oder einfach nur plaudern. Und beim Waldbaden stört eine Rotte Wildschweine. Aber vielleicht gibt es mehr als einen Weg zur inneren Mitte? Und vielleicht ist Angelsby gar kein so schlechter Ort für einen Neuanfang?

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Seitenzahl: 313

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Dagmar Hansen

Hier wohnt das Glück

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Für das Glück ist es nie zu spät!

Schweigen, waldbaden, Achtsamkeit praktizieren – nach dem Tod ihrer Mutter, die sie jahrelang gepflegt hat, will Sylvi die eigene Mitte finden. Kurz entschlossen tauscht sie über eine Haustauschbörse ihre Wohnung gegen einen umgebauten Zirkuswagen an der Flensburger Förde. Zirkuswagenbesitzer Arne zieht derweil bei ihr in Berlin ein. Doch in Angelsby angekommen, läuft nichts nach Plan. Arnes Nichte Jördis und ihre Kinder leben nur wenige Meter entfernt, dauernd ruft Arne aus Berlin an, weil er mal wieder etwas wissen will oder einfach nur plaudern. Und beim Waldbaden stört eine Rotte Wildschweine. Aber vielleicht gibt es mehr als einen Weg zur inneren Mitte? Und vielleicht ist Angelsby gar kein so schlechter Ort für einen Neuanfang?

Vita

Dagmar Hansen wollte als Kind Ärztin, Schauspielerin, Tierärztin, Schriftstellerin oder Sängerin werden. Nach ihrem Studium der Angewandten Sprachwissenschaften arbeitete sie als Übersetzerin und Dolmetscherin, bevor sie die Schriftstellerei zum Beruf machte. Mehrere ihrer Romane wurden bereits für ARD und ZDF verfilmt.

Für meine Freundinnen

Im Grunde sind es doch die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben.

 

Wilhelm von Humboldt

Die gute Zeit fällt nicht vom Himmel, sondern wir schaffen sie selbst: Sie liegt in unseren Herzen eingeschlossen.

 

Fjodor Dostojewski

Ohne Blumen, ohne Träume,

ohne Spaß und Purzelbäume,

ohne Schinken, ohne Speck

hat das Leben keinen Zweck.

 

Volksgut

Kapitel 1

Es war Liebe auf den ersten Blick.

Ich hätte nie gedacht, dass mir das je passieren würde. Schon gar nicht nach den schweren Zeiten, die hinter mir lagen. Aber hier saß ich, starrte wie hypnotisiert auf den Monitor meines Laptops und hatte tatsächlich Herzklopfen.

Schockverliebt. Und das mit einundsechzig Jahren.

 

Er war aus Holz, sonnengelb angestrichen. Die Schlagläden, die Tür und das Geländer des Treppchens, das zu der kleinen Veranda hinaufführte, leuchteten orangefarben. Vor den Fenstern waren Blumenkästen angebracht, bepflanzt mit Kapuzinerkresse, Lobelien und gelb und orange blühenden Ringelblumen. Langsam, damit mir auch ja nichts entging, klickte ich mich durch die Fotogalerie. Zum wievielten Mal an diesem Abend? Ich wusste es nicht, und es war auch egal. Genauso egal wie die Tatsache, dass ich auf der Internetplattform der Haustauschferien-Börse SweetHolidayHomes unter etwa vierhunderttausend Domizilen in aller Welt hätte wählen können. Immer vorausgesetzt, dass sich im Gegenzug jemand für meine kleine Berliner Wohnung im Bergmannkiez interessierte … Was der Eigentümer des Schmuckstücks, an das ich mein Herz verloren hatte, hoffentlich tun würde. Von ihm gab es auch ein Foto, das entweder im Winter aufgenommen worden war oder darauf hindeutete, dass die Mai-Temperaturen in Norddeutschland zu wünschen übrig ließen. Viel war nicht zu sehen. Tief in die Stirn gezogene Wollmütze, dicker Schal, grauer Stoppelbart. Da er lächelte, konnte ich erkennen, dass er schöne Zähne hatte. Auf Zähne achtete ich. Immer. Wohl eine Berufskrankheit, wenn man zahnmedizinische Fachangestellte ist. War, verbesserte ich mich. Ich musste mich erst noch daran gewöhnen, dass ich seit ein paar Wochen im Ruhestand war.

Ich klickte weiter. Das nächste Foto zeigte den Wohnsalon des Zirkuswagens. Mein Herz schlug noch ein bisschen höher. Zirkuswagen … Wohnsalon … das klang einfach wunderbar romantisch. Und spannend. In diesem rollenden Zuhause aus dem Jahr 1938 waren Artisten einst durch Europa gezogen, hatten Abenteuer und eine Freiheit erlebt, von denen ich nur träumen konnte. Voller Entzücken betrachtete ich die fein gemaserte Holztäfelung, die dem Raum Behaglichkeit verlieh, und ließ meinen Blick über das altmodische, rot gepolsterte Sofa, die bunten Kissen und das Beistelltischchen mit den geschwungenen Beinen wandern, das auf einem grasgrünen Teppich stand. Laut Beschreibung des Besitzers handelte es sich um die gemütliche Fernsehecke. Der Fernseher war allerdings nicht auf dem Foto zu sehen.

Einen kleinen Küchenbereich gab es auch im Salon, mit Herd, Kühlschrank, Minibackofen und Kaffeemaschine. Geschirr und Küchenutensilien waren in einem hohen, offenen Regal und an praktischen Wandhaken untergebracht. Gegenüber standen ein Tischchen und zwei Stühle. Hier würde ich, wenn sich mein Traum erfüllen würde, also meine gesunden Mahlzeiten einnehmen … so richtig gesunde, die mir wirklich guttun würden … nur frisches Obst und Gemüse, Vollkornprodukte, Kräutertee …

Klick. Das nächste Bild erschien auf dem Monitor. Durch die geöffnete Schiebetür hinter dem Küchenbereich konnte man ins Schlafzimmer schauen. Ein breites, verschnörkeltes Metallbett, auf dem eine Patchworkdecke lag, und ein Nachttischchen waren der Mittelpunkt; flankiert von zwei Kleiderschränken. Hier würde ich also in der ländlichen Stille tief und fest schlafen.

Das angrenzende Duschbad war winzig, aber komplett ausgestattet.

Alles, was ich brauchte, steckte in diesem zwanzig Quadratmeter großen, zum Tiny House ausgebauten, ehemaligen Zirkuswagen. Sogar WLAN war vorhanden sowie eine Elektroheizung.

Klick. Das letzte Foto zeigte die Umgebung. Eine saftig grüne Wiese mit blühenden Obstbäumen, an die sich Wald anschloss.

Die Wiese mit dem Zirkuswagen befand sich irgendwo im Örtchen Angelsby, auf der Halbinsel Angeln in Schleswig-Holstein. Ein idyllischer Flecken zwischen der Flensburger Förde, der Ostsee und der Schlei, hatte der Besitzer des Zirkuswagens geschrieben. Bekannt durch sein Naturdenkmal auf dem Kirchplatz (dreizehn alte Eichen) und Marias Kleines Gästehaus mit Café.

Ich hatte noch nie etwas von der Region Angeln gehört, geschweige denn von Angelsby, den dreizehn Eichen und Marias Gästehaus. Aber die Flensburger Förde und die Schlei waren mir ein Begriff. Und die Ostsee war ein Sehnsuchtsort aus Kindertagen, als ich die Sommerferien bei meinen Großeltern in einem kleinen Dorf in der Nähe von Grömitz verbracht hatte.

Meer. Wind. Wellen. Wald, Wiesen und Felder. Einsamkeit und Stille. Schweigen. Lesen. Rad fahren. Mantras singen. Achtsam und zurückgezogen leben wie im Kloster. Gesunde Ernährung, die mich entgiften und von Kilos befreien würde, die ich nicht brauchte, gehörte auch zu meinem Plan. Und Waldbaden in der Tradition des japanischen Shinrin Yoku … mit allen Sinnen absichtslos eintauchen in das Energiefeld des Waldes. Darüber hatte ich neulich ein Buch gelesen und wollte es unbedingt ausprobieren. Die Sehnsucht nach all diesen Herrlichkeiten konnte ich in jeder Faser meines Körpers spüren.

Doch mein Körper sandte mir heute noch andere Botschaften. Meine Augen brannten, ich war müde, und die Schultern schmerzten, weil ich so lange vor dem Laptop gesessen hatte. Ich brauchte unbedingt eine kleine Pause, ehe ich Arne – so hieß der Besitzer des Zirkuswagens – eine private Nachricht via SweetHolidayHomes schreiben würde.

Gähnend stand ich auf und ging zum Fenster. Kühle Nachtluft wehte mir entgegen, nachdem ich es geöffnet hatte. Ich stützte mich mit den Unterarmen aufs Fensterbrett und schloss die Augen. Die vertrauten Geräusche umfingen mich: Autos brummten drei Stockwerke tiefer auf der Straße vorbei. Weiter weg heulte eine Polizeisirene – oder war es die Feuerwehr? Ich hatte die beiden Signale noch nie auseinanderhalten können. In diese Geräuschkulisse mischten sich Motorradlärm, menschliche Stimmen, Gelächter und Musik. Von der Anliegerstraße, in der ich seit über dreißig Jahren wohnte, war es nur ein Katzensprung bis zur berühmten Bergmannstraße, die Berliner und zahllose Touristen aus aller Welt anzog.

 

Die Bergmannstraße, hatte ich in Anlehnung an einen Reiseführer im Begleittext für meine Wohnung bei SweetHolidayHomes geschrieben, ist als Multikulti-Flaniermeile mit Gründerzeit-Charme äußerst reizvoll durch die vielen kleinen Läden, Restaurants, Cafés und coolen Bars. In der berühmten Markthalle XI am benachbarten Marheinekeplatz bieten rund fünfzig Einzelstände unter anderem frisches Obst und Gemüse, Käse, Fleisch und Fisch, südeuropäische und arabische Feinkost sowie regionale Spezialitäten aus Brandenburg an. Ein Weinhandel ist dort ebenfalls zu finden, außerdem Snacks aus aller Welt, Cafés und ein Restaurant mit Terrasse.

 

Ich atmete ein paarmal tief durch, um Sauerstoff zu tanken, und öffnete die Augen. Still war es plötzlich draußen. So still, dass ich den Gedanken, der mich durchzuckte, unwillkürlich laut aussprach: «Das ging jetzt aber alles verdammt schnell.»

Kapitel 2

Gestern hatte meine Welt noch ganz anders ausgesehen.

«Sylvi … du brauchst unbedingt Urlaub», hatte meine beste Freundin Cecilia über einem Apérol Spritz auf meinem Balkon zu mir gesagt. «Du bist völlig erschöpft, und das ist kein Wunder nach all den Jahren, in denen du dich um deine Mutter gekümmert hast. Und nun ist sie verstorben, und du musstest alles organisieren. Beerdigung, Wohnung auflösen, den ganzen Papierkram. Irgendwann steht mir das auch bevor bei meinen Eltern. Ich mag gar nicht dran denken. Du bist sehr traurig, stimmt’s?»

Ich merkte, dass mir die Tränen in die Augen stiegen bei Cecilias Worten, und blinzelte, um sie zurückzudrängen.

«Ja, ich bin sehr traurig, und ich vermisse sie», gab ich zurück. «Und ich bin im Frieden. Alles gleichzeitig. Mutter war zweiundneunzig. Du weißt ja, wie sehr sie gelitten hat in den letzten Jahren, obwohl alles für sie getan wurde. Zuletzt wollte sie nur noch zu Hause einschlafen und nicht mehr aufwachen. Und das ist ihr tatsächlich gelungen.»

Ich hatte Mutter gefunden, als ich vor der Arbeit bei ihr nach dem Rechten hatte sehen wollen. Sie sah friedlich aus, und um ihre Lippen spielte ein Lächeln. Wo immer sie jetzt war – es ging ihr gut, daran zweifelte ich nicht. Ich setzte mich neben sie auf die Bettkante und nahm still Abschied. Zehn Jahre lagen hinter mir, in denen es für mich wenig anderes gegeben hatte als meine Mutter und meine Arbeit. Ich hatte mich gerne um sie gekümmert, wir waren immer ein Herz und eine Seele gewesen. Als mein Vater vor fünfzehn Jahren gestorben war, schweißte uns der Verlust noch enger zusammen. Mutters Tod hinterließ eine große Leere, und ich fühlte mich verloren und kraftlos. Eine Ära war zu Ende gegangen, die Zukunft lag im Dunkeln. Dank des Erbes, das Mutter mir hinterlassen hatte, hatte ich vorzeitig in Rente gehen können. Was mir nun fehlte, war ein Plan, wie ich mein Leben gestalten würde.

Cecilia nickte. «So würde ich auch gern gehen, wenn es so weit ist.»

«Ich auch. Aber das lange Leiden vorher, das wünsche ich niemandem.»

«Du siehst elend aus. Fix und fertig», sagte Cecilia mitleidig, wodurch ich mich gleich noch ein bisschen elender fühlte. «Ich hab in der nächsten Woche Urlaub. Lass uns doch zusammen irgendwohin fliegen. Wie wär’s mit Kreta? Weißt du noch, wie viel Spaß wir früher in Plakias hatten? Wir haben die Nächte durchgetanzt und jede Minute am Strand genossen.»

Sie strahlte übers ganze Gesicht und war für einen Moment wieder die lebenslustige, junge Frau, die keinem Flirt aus dem Wege gegangen war.

Ich seufzte. Kreta und durchtanzte Nächte schienen sehr weit weg. «Das ist lange her. Ich …»

Cecilia, die mir bestimmt angesehen hatte, dass ich nicht begeistert war, unterbrach mich: « … wir müssen ja nicht jeden Tag an den Strand oder in die Disco. Kreta hat so viel mehr zu bieten.»

«Das weiß ich doch. Aber …»

«… ich bin nicht auf Kreta fixiert», fiel mir Cecilia wieder ins Wort. «Wir können auch gerne irgendwo anders hin, wo es schön ist. Hauptsache, wir gönnen uns einen Mädelsurlaub. Es wird dir sooo guttun, mal rauszukommen und neue Energie zu tanken. Es ist doch ewig her, seit du das letzte Mal in Ferien warst.»

Das stimmte. Mutter hatte in den letzten Jahren nicht mehr verreisen können, und ich hatte sie nicht allein lassen wollen.

Cecilia sah mich erwartungsvoll an. Und bittend. Es war ihr wichtig, dass ich ja sagte zu ihrem spontanen Einfall. So war Cecilia, seit ich sie vor dreißig Jahren auf einer Party bei Nachbarn kennengelernt hatte – voller Ideen, immer für eine Überraschung gut. Mit ihrer hennaroten, pfiffigen Kurzhaarfrisur, den bunten Kunststoffbrillen, von denen sie mehrere besaß, und der konsequent schwarzen Kleidung war sie ein aparter Typ, der jünger wirkte als sechsundfünfzig.

«Das ist lieb von dir gemeint, ich weiß das zu schätzen. Aber ich bleibe lieber zu Hause. Verreisen ist mir im Moment zu anstrengend.»

«Oh, ich kümmere mich um alles, keine Sorge! Tickets, Hotel … Du brauchst nur noch mit mir zum Flughafen zu fahren und in den Flieger zu steigen, versprochen!»

«Ein anderes Mal vielleicht. Ich muss jetzt erst mal in meinen eigenen vier Wänden zur Ruhe kommen und mich sortieren. Was ist mit Marcel? Kann er nicht mitkommen?»

Marcel war Cecilias Lebensgefährte, mit dem sie vor ein paar Monaten zusammengezogen war. Unkomplizierter war die Beziehung dadurch leider nicht geworden.

«Nein. Er muss arbeiten. Und … na ja … ich glaube, es tut uns beiden ganz gut, wenn wir uns ein paar Tage nicht sehen. Dann vermissen wir uns und freuen uns aufeinander.»

Mit einem Mal sah Cecilia so traurig aus, geradezu verloren, dass ich am liebsten doch noch ja zu Kreta und dem Mädelsurlaub gesagt hätte. Nur, um sie strahlen zu sehen. Aber ich beherrschte mich. Mein Harmoniebedürfnis und der Wunsch, es möglichst allen Leuten recht zu machen, hatten mich schon öfter dazu gebracht, mich auf Unternehmungen einzulassen, die mir nicht gutgetan hatten. Und das konnte ich mir nicht leisten. Nicht jetzt, wo ich das Gefühl hatte, mit meinen Kräften am Ende zu sein.

«Schade. Wirklich schade, dass du nicht mitkommen willst. Du verpasst einen Traumurlaub, lass dir das gesagt sein. Wenn du es dir anders überlegst – Ruf. Mich. An.»

«Okay», sagte ich und atmete erleichtert auf. Das Thema war erledigt, und Cecilia hatte meine Absage mit Fassung aufgenommen.

 

Bald darauf verabschiedeten wir uns mit einer Umarmung. Ich brachte Cecilia zur Tür und setzte mich wieder auf den Balkon. Er ging zum begrünten Hof hinaus, dessen Mittelpunkt eine alte Linde war. Im Juni würde sie blühen und die Luft mit süßem Duft erfüllen – jedes Jahr eine große Freude für mich. Es tat gut, einfach nur dazusitzen und die letzten Sonnenstrahlen zu genießen. Mit der Dämmerung stieg unvermittelt eine große Sehnsucht in mir auf, vielleicht geweckt durch die Unterhaltung mit Cecilia. Wie schön wäre es, wenn jetzt ein fliegender Teppich hier landen würde, der mich davontragen würde. Nur mich allein, niemanden sonst.

Raus aus Berlin.

Raus aus meinem Leben.

Damit ich zu mir selbst kommen konnte.

Kapitel 3

Ich bilde mir ein, dass es Schicksal war, dass mir heute Morgen dann ausgerechnet Frau Mertens im Drogeriemarkt in der Bergmannstraße über den Weg lief. Frau Mertens war eine langjährige Patientin in unserer Praxis, sehr sympathisch und immer zu einem kleinen Plausch aufgelegt. Sie sprudelte auch gleich los und erzählte von dem Traumurlaub, von dem sie und ihr Mann soeben zurückgekehrt waren.

«Wir haben zwei Wochen in einem wunderschönen Haus auf Sizilien verbracht», hörte ich. «Beinahe direkt am Meer! Und wir haben für die Unterkunft keinen Cent bezahlt, stellen Sie sich das mal vor!»

Ich lauschte gespannt, als Frau Mertens nun von der Home Exchange Börse SweetHolidayHomes im Internet berichtete. «Alles absolut sicher und seriös! Man registriert sich, füllt sein Profil aus, stellt Fotos von seinem eigenen Zuhause ein und zahlt eine kleine Jahresgebühr an die Plattform. Dann sucht man sich aus, wohin man reisen will, und kontaktiert direkt den Anbieter der jeweiligen Unterkunft. Sollte es wider Erwarten Probleme geben, hilft SweetHolidayHomes per Telefon und E-Mail.»

«Das hört sich ja wirklich toll an!»

Wie für mich gemacht, um genau zu sein. Für ein paar Wochen raus aus Berlin, quasi kostenlos, während meine Wohnung und meine Pflanzen in guten Händen waren. Das war’s doch! Plötzlich fühlte ich mich ganz kribbelig, voller Erwartung und Vorfreude. Und ich wusste auch schon genau, was ich wollte: mich ins Auto setzen und in ein paar Stunden am Ziel sein, in einer gemütlichen Wohnung oder einem Häuschen irgendwo in Ostseenähe. Einfach den Schlüssel ins Schloss stecken, ankommen und mich nur um mich selbst kümmern. Körper und Seele auftanken. Ballast abwerfen. Ich würde mich quasi neu erfinden und ganz bestimmt mit einem soliden Plan für meinen neuen Lebensabschnitt nach Hause kommen.

Frau Mertens nickte eifrig. «Das war der schönste und preiswerteste Urlaub meines Lebens. Und unsere Wohnung war picobello sauber und ordentlich, als wir zurückkamen. Die Katze und die Zimmerpflanzen haben die Giulianis auch bestens versorgt. Im Herbst wollen wir wieder los. Ins Allgäu diesmal, zum Wandern. Wenn man in Berlin wohnt, zumal in einem angesagten Kiez, findet man leicht Tauschpartner.»

«Das hoffe ich! Ich kann es kaum erwarten, mich bei SweetHolidayHomes zu registrieren!» Das war mir so laut herausgerutscht, dass ein Kunde, der gerade an uns vorbeiging, sich mit irritiertem Gesicht umdrehte.

Frau Mertens lachte. «Sie glühen ja richtig vor Begeisterung!»

Das stimmte tatsächlich. Meine Wangen fühlten sich heiß an, und ich wusste aus Erfahrung, dass sie gerötet waren. Und dass sich hektische rote Flecken an meinem Hals zeigten. Wie immer, wenn ich mit meinen Gefühlen dabei war, egal, um welche es sich handelte. Als ich jung war, hatte es mich immer geärgert, dass ich so leicht rot wurde. Inzwischen war ich gelassener – etwas dagegen tun konnte ich sowieso nicht.

Auf dem Heimweg, den ich in Rekordzeit zurücklegte, weil ich es so eilig hatte, mich an den Laptop zu setzen, staunte ich über mich selbst. Ich fühlte mich überhaupt nicht mehr elend und fix und fertig, sondern voller Energie.

Kapitel 4

Die kleine Pause hatte mir gutgetan. Ich schloss das Fenster und setzte mich wieder an den Schreibtisch. Nachdem ich mich ein weiteres Mal verzückt durch die Fotogalerie «meines» Zirkuswagens geklickt hatte, schrieb ich eine Nachricht:

Lieber Arne,

wenn man wie du so idyllisch auf dem Land wohnt, hat man dann nicht mal Sehnsucht nach den Vorzügen, die eine Weltstadt wie Berlin bietet? Nach Theater, Oper, Kino, Ballett, jeder Menge Museen, dem Fernsehturm auf dem Alex, dem Kaufhaus des Westens und einem aufregenden Nachtleben, das niemals schläft? Sowie dem Zoo mit seinem entzückenden Panda-Nachwuchs Pit und Paule? Um nur einige der unzähligen Attraktionen zu nennen.

Ich biete eine gemütliche, gepflegte 2-Zimmer-Wohnung mit Balkon (siehe Fotos und Text) in einem der angesagtesten Kieze der Hauptstadt, nämlich in Kreuzberg, mit hervorragender Verkehrsanbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel!

Ich hoffe inständig, dass du dich dafür begeistern kannst!!! Denn ich habe mich auf den ersten Blick in deinen bildschönen, originellen Zirkuswagen verliebt und würde schrecklich gerne für drei oder vier Wochen mit dir tauschen. Da ich in Rente bin, bin ich flexibel und würde am allerliebsten schon in der nächsten Woche losfahren. Es ist nämlich so, dass ich in der Stille und Einsamkeit von Angelsby ideale Voraussetzungen zur Durchführung meines speziellen Wellness-Programms sehe, auf das ich mich schon riesig freue.

Sehr gespannt auf deine Antwort, grüße ich sehr herzlich in den hohen Norden!

Sylvi Fuchs

Ich las meine Nachricht noch einmal durch und dachte: Also, an seiner Stelle wäre ich total von den Socken vor Begeisterung und könnte es kaum erwarten, mich ins Großstadtleben zu stürzen. Immer in der Einsamkeit hocken, auf zwanzig Quadratmetern, da muss er sich doch langweilen. Egal, wie schön sein Zirkuswagen ist. Kann natürlich sein, dass er nicht so lange Zeit hat, aus welchen Gründen auch immer …

Ach, ich lasse mich jetzt einfach mal überraschen und hoffe das Beste.

Klick. Abgeschickt. Ob er sofort antworten würde? Ein Blick auf die Uhr am unteren Bildschirmrand verriet mir, dass es nach Mitternacht war. Mit einer Antwort war also nicht mehr zu rechnen, auf dem Dorf ging man bestimmt früh schlafen. Wahrscheinlich war Arne schon seit Stunden im Land der Träume. Und dorthin würde ich mich jetzt auch begeben.

 

Ich trug noch mein Nachthemd, als ich mich am nächsten Morgen um acht bei SweetHolidayHomes einloggte. Da war sie, die ersehnte Nachricht!

Moin, Sylvi,

hübsche Wohnung. In Berlin war ich lange nicht mehr, kann mir schon vorstellen, ein paar Wochen in der Hauptstadt zu verbringen. Lass uns mal am Telefon schnacken.

Grüße aus Angelsby

Arne

Die Mail war knapp gehalten, das musste man schon sagen. Höchstwahrscheinlich war Arne ein Naturbursche, also einer, der nicht viel am Hut hatte mit der digitalen Welt. Aber er schien nicht abgeneigt, sich ins Großstadtleben zu stürzen, und das war wunderbar! Die Sache hatte nur einen Haken: Der Mann hatte vergessen, seine Handynummer anzugeben. Also schickte ich ihm meine und verschwand im Bad, um zu duschen.

Mein Smartphone klingelte, als ich nackt vor dem Kleiderschrank im Schlafzimmer stand und überlegte, was ich heute anziehen sollte. Die Telefonnummer war mir unbekannt. Ob das Arne war? Plötzlich schlug mein Herz bis zum Hals vor Aufregung.

«Ja? Hallo? Guten Morgen!»

«Sylvi Fuchs?» Eine ältere Baritonstimme, gänzlich unaufgeregt.

«Ja, genau … Arne?»

«Korrekt. Moin.»

«Moin …»

Mein Blick fiel auf meine nackten Brüste, wanderte den Bauch hinunter bis zu den Füßen. So konnte man unmöglich mit einem wildfremden Mann telefonieren, auch wenn er einen nicht sehen konnte. Also krabbelte ich schnell unter die Bettdecke und fühlte mich gleich sicherer.

«Sylvi? Bist du noch dran?»

Er sprach akzentfreies Hochdeutsch, was mich wunderte. Bei jemandem, der in einem winzigen Dorf in Schleswig-Holstein wohnte, hatte ich einen norddeutsch klingenden Zungenschlag erwartet.

«Ja, alles gut. Also, du hast Lust, ein paar Wochen in meiner Wohnung in Berlin zu verbringen?»

Arne räusperte sich erst mal ausgiebig. Ob er Raucher war und daher unter chronischer Bronchitis litt? Wenn der Zirkuswagen nach Rauch stank, hatte sich die Sache natürlich sofort erledigt.

«Rauchst du eigentlich?», platzte ich prompt heraus.

Pause. Dann: «Du möchtest wissen, ob ich Raucher bin?»

«Ja, genau. Ich bin nämlich Nichtraucherin.»

«Ich hab mal geraucht. Aber das ist lange her.»

Er hatte belustigt geklungen, mit dieser Frage zu diesem Zeitpunkt hatte er wohl nicht gerechnet. Aber damit konnte ich leben, ich war froh, dass ich nun wusste, dass ich keinen Zigarettenqualm zu befürchten hatte. Und wir klärten noch viel mehr in diesem Telefonat. Genau genommen beinahe alles. Bis auf das Schriftliche, das war ja nun mal nicht mündlich zu erledigen. Bei SweetHolidayHomes konnte man eine Haustausch-Vereinbarung herunterladen und ausdrucken. Das würden wir tun, uns über die Einzelheiten verständigen und uns dann gegenseitig die ausgefüllten und unterschriebenen Formulare per Post zusenden.

Nachdem das Gespräch beendet war, blieb ich noch einen Moment gemütlich im Bett liegen, um mein Glück in vollen Zügen zu genießen. Ganze drei Wochen würde ich im Zirkuswagen meiner Träume wohnen. Und es würde nächste Woche schon losgehen, genau wie ich es mir gewünscht hatte. Arne war zeitlich ebenso flexibel wie ich, also ging ich davon aus, dass er auch nicht mehr berufstätig war. Die Schlüsselübergabe würde persönlich stattfinden, das war nicht unbedingt üblich bei SweetHolidayHomes. Aber wir fanden es beide netter, wenn wir uns kurz kennenlernen würden.

Auf dem Weg zum Kleiderschrank legte ich einen kleinen Freudentanz hin. Alles lief genauso, wie ich es mir gewünscht hatte. Perfekt! Das war ein gutes Omen! Meine Auszeit stand unter einem guten Stern, kein Zweifel. Ich konnte es kaum erwarten, meinen Wellnessplan zusammenzustellen. Und natürlich würde ich ein paar Insider-Tipps für Arne hinterlassen. Die Betriebsanleitungen für die Elektrogeräte rauslegen und meinen Berlin-Reiseführer. Platz im Kleiderschrank schaffen. Sehr persönliche Dinge in den Keller räumen. Den Laptop würde ich mitnehmen, klar. Putzen war angesagt. Ein kleines Willkommensgeschenk würde ich besorgen, das war ein Tipp von SweetHolidayHomes, damit die Tauschpartner sich auf Anhieb willkommen fühlten. Und … und … und …

Tausend Gedanken stürmten auf mich ein, und ich schäumte geradezu über vor Elan. Mir war zumute, als sei der Frühling persönlich mit seiner Power in meinem Leben eingezogen, und das war ein herrliches Gefühl. So wie früher, als ich fast jedes Wochenende in irgendeinem Club Salsa tanzte. Ich hatte eigentlich immer unter Strom gestanden, als ich jung war, auch unter der Woche. Bloß keine Langeweile aufkommen lassen, das war meine Devise gewesen. Berlin mit seinem unerschöpflichen Angebot an Aktivitäten aller Art war die perfekte Spielwiese für mich gewesen.

Mit den Jahren war ich ruhiger geworden. Das Leben verändert einen, ob man will oder nicht. Salsa war nicht mehr die große Leidenschaft. Ich musste auch nicht mehr dauernd unterwegs sein, um mich wohlzufühlen, und sehnte mich nach einer beständigen Beziehung. Mit fünfunddreißig lernte ich Mark kennen und lieben, ein Jahr später war ich verheiratet und wünschte mir sehnlichst ein Baby. Dieser Wunsch erfüllte sich genauso wenig wie der Traum von der glücklichen Ehe, bis dass der Tod uns schied. Als ich sechsundvierzig war, traf Mark seine Jugendliebe wieder und verliebte sich Hals über Kopf. Mit achtundvierzig war ich geschieden. Es folgten ein paar Jahre, in denen ich wieder im Singleleben ankam und die Fühler nach einem Partner ausstreckte. Jemand, mit dem ich mir eine Zukunft vorstellen konnte, ließ auf sich warten. Als Mutter dann krank wurde, legte ich das Thema erst mal auf Eis, weil ich keinen Kopf dafür hatte und auch kaum Freizeit. Jetzt, mit einundsechzig, war es für mich endgültig abgeschlossen. Ich hatte absolut nicht das Gefühl, etwas zu verpassen, wenn ich für den Rest meines Lebens solo blieb.

Kapitel 5

Nach dem Frühstück schrieb ich eine Nachricht an meine WhatsApp-Gruppe Die Steilen Zähne. Die Steilen Zähne, das waren meine Kolleginnen Moni, Charlotte und Eva. Meine Ex-Kolleginnen, um korrekt zu sein. Aber eigentlich waren wir Freundinnen. Jedenfalls fühlte es sich für mich so an. Sowohl in der Praxis als auch in den Stunden, wenn wir uns ab und zu in unserem Stammlokal Sokrates auf ein Glas Wein und ein paar Häppchen trafen. Wir vier waren nicht so vertraut miteinander wie Cecilia und ich, aber wir konnten wunderbar miteinander lachen, und der Gesprächsstoff ging uns nie aus.

Sylvi: Hey, ihr Lieben! Ab nächsten Dienstag nehme ich mir für ganze drei Wochen eine Auszeit in einem klitzekleinen Dorf zwischen Flensburger Förde, Ostsee und Schlei. Ich werde in einem umgebauten Zirkuswagen wohnen, stellt euch das mal vor! Total romantisch, was?

Ich verschickte auch den Link zu SweetHolidayHomes, damit die drei sich ein Bild machen konnten. In der Mittagspause trudelten nach und nach die Antworten ein.

Eva: Allein???? Nix für mich. Ich würde sterben vor Angst. Was, wenn es da Wölfe gibt, so kurz vor der dänischen Grenze? Oder Bären?

 

Moni: Ich würde auch sterben. Aber vor Langeweile. Grüne Wiese und sonst nix. Hältst du doch nie aus, Sylvi.

 

Sylvi: Ich werde in vollen Zügen genießen. Ruhe. Natur. Einsamkeit. Das absolute Kontrastprogramm zu Berlin und genau das, was ich brauche.

 

Charlotte: In einer Woche bist du wieder da, weil du die Nase gestrichen voll hast von der Landluft. Wetten?

 

Moni: Garantiert! Da wette ich mit!

 

Charlotte: Super Idee. Ich bin auch dabei!

 

Sylvi: Wie seid ihr denn drauf?! Nie im Leben reise ich früher ab. Ginge ja auch gar nicht. Meine Wohnung ist besetzt.

 

Charlotte: Keine Sorge. Du kannst bei uns unterschlüpfen. Wir haben ein Gästezimmer.

 

Sylvi: Lieb von dir, aber so weit wird es nicht kommen.

 

Eva: Jetzt machen wir mal die Wette klar: Wenn du auch nur einen Tag früher zurückkommst, hast du verloren. Dann lädst du uns beim Griechen zu einem Glas Wein ein.

 

Sylvi: Pffft. Vergiss es. Ich gewinne. Was passiert also, wenn ihr verliert?

 

Moni: Dann laden wir dich ein. Und spendieren zusätzlich ein paar Vorspeisen. Damit wir was zu naschen haben.

 

Sylvi: Topp, die Wette gilt!

Ein bisschen enttäuscht war ich schon, dass mein Refugium so gar keine Gnade vor den Augen der Steilen Zähne fand. Ich hatte mit Begeisterung und sogar einem Hauch von Neid gerechnet. Aber die Realität sah so aus, dass Charlotte und ihr Mann das Mittelmeer und viel Trubel liebten. Moni und ihr Freund flogen am liebsten in ferne Länder. Und für Eva, ihren Mann und die drei Kinder wäre der Zirkuswagen schlicht zu klein. Kurzum, alle drei hatten komplett andere Bedürfnisse als ich, es war also kein Wunder, dass meine Pläne sie nicht vom Hocker rissen.

 

Abends rief ich Cecilia an. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube, denn sie würde nicht glücklich darüber sein, dass ich nach Angelsby verschwinden würde.

Es stellte sich heraus, dass Cecilia nicht nur nicht glücklich, sondern stinksauer war. Von Verrat an der Freundschaft war die Rede, von Lieblosigkeit, absichtlicher Kränkung.

«Zur Ruhe kommen in den eigenen vier Wänden. Das war der Plan! Schämst du dich eigentlich nicht, einen Urlaub einzufädeln, kaum dass ich dir den Rücken gedreht habe? Gemein finde ich das! Regelrecht hinterlistig!», fauchte sie.

«Tut mir leid, aber meine Pläne haben sich nun mal spontan geändert. Und ich muss mich dafür nicht rechtfertigen, Ceci», sagte ich ruhig.

Je besser man es schaffte, ruhig zu bleiben, desto schneller kam Cecilia erfahrungsgemäß wieder runter, wenn sie wütend war. Heute dauerte es, und ich merkte, wie sehr ihr Hang zum Drama an meinen Nerven zerrte. Am liebsten hätte ich einfach aufgelegt, aber das hätte sie mir nie verziehen. Stattdessen wartete ich, bis sie Luft holte, und sagte: «Nach allem, was hinter mir liegt, brauche ich Zeit für mich allein. Eine Auszeit. Und ich würde mir wünschen, dass du als meine Freundin dafür Verständnis zeigst.»

«Wer sagt denn, dass ich kein Verständnis habe? Es ist nur so, dass ich sehr, sehr enttäuscht bin», gab Cecilia zurück. «Du hättest ja auch später in dieses Kaff fahren können. Dann hätte es vorher noch geklappt mit unserem Mädelsurlaub.»

Ich war auch enttäuscht. Und wütend. Warum respektierte sie nicht, dass ich eigene Vorstellungen davon hatte, was mir guttat und was nicht? Mein Gesicht fühlte sich heiß an, und ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht laut zu werden.

«Sag mal … verstehst du es nicht, oder willst du es nicht verstehen? Ein Mädelsurlaub ist keine Auszeit.»

«Wieso denn nicht?» Cecilias Stimme klang kriegerisch. «Du hättest tun und lassen können, was du willst. Als ob ich dich an irgendwas gehindert hätte! Du wirst schon sehen, was du von dieser Schnapsidee hast. Ich geb dir eine Woche in der Einöde, dann bist du wieder in Berlin. Oder irgendwo anders, wo was los ist. In deiner Wohnung hockt ja dein Tauschpartner, die ist also erst mal besetzt.»

«Bist du jetzt endlich fertig?», sagte ich kühl, obwohl es in mir brodelte.

«Fürs Erste: ja. Die Enttäuschung bleibt natürlich. Aber was soll’s, Hauptsache, du findest die Erholung, die du suchst. Für mich wären das Kaff und eine Holzkiste auf Rädern ein Albtraum. Aber jeder Jeck ist anders.»

Nicht jeder hätte in diesem Kommentar ein Friedensangebot erkannt, aber Cecilia und ich waren ja schon ewig beste Freundinnen …

Halt. Stopp.

Waren wir wirklich noch beste Freundinnen? Die Jahre waren nicht spurlos an uns vorübergegangen, unser Kontakt war oberflächlicher geworden und fand viel seltener statt als vor Mutters Krankheit. Wir hatten uns voneinander entfernt, das spürte ich gerade jetzt so deutlich wie nie zuvor. Auch darüber würde ich in Ruhe nachdenken, wenn ich in meinem Refugium angekommen war.

«Genau», sagte ich. «Jeder Jeck ist anders.»

«Wenn du möchtest, kannst du deinem Tauschpartner meine Handynummer geben. Vielleicht braucht er mal einen Tipp, oder irgendwas funktioniert nicht. Ich kenne mich ja aus bei dir und hab auch einen Schlüssel.»

«Danke. Das ist sehr lieb von dir.»

Das war es wirklich, und wir hatten es geschafft, das Telefonat mit einer positiven Note ausklingen zu lassen. Trotzdem blieb bei mir ein bitterer Nachgeschmack zurück.

Kapitel 6

Der Dienstag begrüßte mich um sieben Uhr morgens mit Nachrichten von meiner WhatsApp-Gruppe Die Steilen Zähne.

Charlotte: Fahr vorsichtig! Und erhol dich gut!

 

Sylvi: Mach ich. Bin ganz schön aufgeregt, puh.

 

Eva: Das glaub ich. Hast du Pfefferspray besorgt?

 

Moni: Gute Idee mit dem Pfefferspray. Aber kommt ein bisschen spät, oder?

 

Eva: Gibt es auch im Drogeriemarkt. Die Zivilisation ist ja nicht sooo weit weg im hohen Norden – in Flensburg wird es einen geben, vermute ich mal.

 

Sylvi: Wozu sollte ich denn so ein Zeug brauchen?

 

Charlotte: Gegen Einbrecher?

 

Eva: Genau. Und bissige, frei laufende Hunde und wilde Tiere.

 

Moni: Wie wär’s, wenn wir Sylvi jetzt einfach gute Reise und eine schöne Zeit wünschen?

 

Eva: Von ganzem Herzen! Tschüssi!

 

Moni: Alles Liebe! Und melde dich mal.

 

Charlotte: Ja, bitte! Ich bin auch neugierig. Also, mach’s gut!

 

Sylvi: Danke, ihr Lieben. Bleibt gesund und munter! Jetzt brauche ich nur noch den Schlüssel zum Zirkuswagen, dann geht’s los.

Arne war unterwegs, auch er hatte eine WhatsApp-Nachricht geschickt. Leider hatte er es versäumt mitzuteilen, um wie viel Uhr er ungefähr eintreffen würde. Meine Nachfrage hatte er noch nicht gelesen. Ob ich ihn anrufen sollte? Nein, lieber nicht. Autofahrer soll man nicht stören. Nicht, dass er einen Unfall baute, nur weil ich Reisefieber hatte. So aufgeregt war ich, dass ich außer Kaffee nichts zum Frühstück herunterbekommen hatte.

Um mich vom Warten abzulenken, checkte ich noch mal meine blitzblank geputzte Wohnung. Zog die frisch gewaschene Tagesdecke zurecht. Schüttelte die Sofakissen auf. Polierte das Weinglas neben der Flasche mit Rotwein – das Gastgeschenk für meinen Tauschpartner. Las noch mal den Willkommensgruß durch, den ich dazugeschrieben hatte. Wechselte das Wasser in der Vase mit den Pfingstrosen. Überprüfte den Schnellhefter mit Tipps und Tricks zu Berlin im Allgemeinen und meiner Wohnung im Besonderen.

Um acht Uhr dreiundzwanzig klingelte es. Mein Herz machte einen Satz, und ich merkte, wie mir vor Aufregung die Röte ins Gesicht schoss. «Ja, bitte? Wer ist da?», sagte ich sicherheitshalber in die Gegensprechanlage. Ich rechnete zwar damit, dass Arne vor der Tür stand, aber in Berlin musste man auf alles gefasst sein.

«Arne. Moin, Sylvi.»

 

Mein Tauschpartner trug eine dunkelgrüne Wetterjacke, dazu eine schwarze Beanie aus Baumwolljersey. Das war insofern bemerkenswert, als dass draußen die Sonne von einem wolkenlos blauen Himmel schien bei angenehmen zwanzig Grad Celsius. An Gepäck hatte Arne einen Rucksack, einen Pilotenkoffer und einen kleinen Hartschalenkoffer mitgebracht.

Da stand er nun im Flur, nachdem wir uns zur Begrüßung die Hände geschüttelt hatten, und lächelte verlegen.

«Leg doch ab», sagte ich. «Falls du frühstücken möchtest, wenn ich mich auf den Weg gemacht habe – es ist alles da. Kaffee, Milch, Brot, Aufschnitt, Butter, Marmelade …»

«Danke schön. Das ist wirklich sehr nett … Den Schlüssel zum Wagen hab ich dabei, warte mal …»

Wieso, zum Teufel, nahm er nicht endlich mal die Mütze ab? Und wieso wühlte er so hektisch in den Taschen seiner Jacke und der Jeans herum? Fassungslos sah ich zu, wie er den Inhalt seines Rucksacks auf dem Boden auskippte und durchsuchte. Anschließend waren die beiden Koffer dran. Arne kniete noch auf dem Boden zwischen seinen Siebensachen, als unsere Blicke sich trafen. Ein Muskel zuckte nervös in seiner Wange, und seine Stimme zitterte ein bisschen, als er sagte: «Tja, der Schlüssel … also, es ist so … ich finde ihn nicht. Wie es scheint, habe ich ihn zu Hause vergessen. Tut mir sehr leid. Wirklich.»

Ich hatte geahnt, was Sache war, als er seine hektische Suchaktion gestartet hatte. Aber ein Funken Hoffnung war geblieben, der nun endgültig zerstört war.

«WIE BITTE?»

Arne war bei meinem Aufschrei zusammengezuckt. «Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört, Sylvi. Den Schlüssel bewahre ich unter dem großen Stein links neben dem Treppchen zum Wagen auf. Du kannst ihn gar nicht übersehen. Ich dachte, ich hätte ihn eingesteckt. Aber das war leider ein Irrtum.»

Es machte keinen Sinn, sich aufzuregen, das zauberte den Schlüssel auch nicht nach Berlin. Ich atmete also dreimal tief durch und sagte: «Okay, verstanden. Unter dem Stein neben dem Treppchen. Da ist er ja, hm, wirklich einfach zu finden.» Und fügte in Gedanken hinzu: für jedermann. Nicht nur für mich. Arne scheint ein vertrauensvoller Mensch zu sein. Oder passte leichtsinnig besser?

Ich nahm meine Ersatzschlüssel, die ordentlich an einem Anhänger aus Filz mit der Aufschrift I love Berlin befestigt waren, von der Kommode und drückte sie meinem Tauschpartner in die Hand. Bitte, bitte nicht verlieren, Auch nicht außen im Türschloss stecken lassen, flehte ich stumm und fragte laut: «Wollen wir jetzt durch die Wohnung gehen, damit ich dir alles zeigen kann?»

Arne war aufgestanden, schälte sich endlich aus seiner Jacke und hängte sie an den Garderobenhaken. «Nichts für ungut, aber ich sehe mich lieber nachher alleine in Ruhe um. Du kannst ganz entspannt losfahren, Sylvi.»

Er schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. Um seine Augen – die intensiv blau waren – kräuselten sich die Fältchen. So Mitte fünfzig wird er sein, dachte ich unwillkürlich und lächelte zurück. Aber entspannt war ich nicht. Was an der Sache mit dem Schlüssel lag. Und an der Tatsache, dass er immer noch seine Mütze aufhatte. Genierte er sich vor mir, weil er eine Glatze hatte? Oder litt er unter einer Erkrankung der Kopfhaut?

Bevor ich ins Auto stieg, wollte ich mir Klarheit verschaffen, also griff ich spontan in die Trickkiste. «Wenn du leicht frierst – die Heizung im Haus ist über den Sommer abgestellt. Aber im Wohnzimmer liegt eine Wolldecke.»

Arne zog erstaunt die Augenbrauen hoch. «Aha. Gut zu wissen. Aber wie kommst du darauf, dass ich leicht friere?»

«Na ja, du hast immer noch deine Mütze auf.»

Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, als er seinen Kopf betastete. «Stimmt. Ich hab ganz vergessen, dass ich sie aufgesetzt hatte.»

Was ihn nicht daran hinderte, dass Ding weiter anzubehalten. Vielleicht, dachte ich, war es in seinem Dorf Sitte, stets eine Kopfbedeckung zu tragen? In ein paar Stunden würde ich es herausfinden.

«Also, dann fahr ich jetzt mal los. Mach’s gut, Arne. Ich hab dir eine Mappe mit Wissenswertem zusammengestellt, sie liegt auf dem Couchtisch. Darin findest du auch die Bedienungsanleitungen für die Elektrogeräte. Ich hab dir auch ein paar wichtige Telefonnummern aufgeschrieben: Arzt, Zahnarzt, Hausmeister. Und meine Freundin Cecilia. Sie hilft dir gerne weiter, wenn es Probleme geben sollte. Ich bin natürlich auch erreichbar.»

«Super. Danke. Aber ich komm schon klar, denke ich. Darf ich dir mit dem Gepäck helfen? Es sind ja doch drei Stockwerke bis zur Haustür …»

«Gerne!» Mein strahlendes Lächeln kam von Herzen.

Tatkräftige Unterstützung beim Tragen konnte ich gut gebrauchen, mein Rucksack und die große Trolleyreisetasche waren ganz schön schwer. Und dann nahm ich ja auch noch den Laptop mit, meine Lieblings-Umhängetasche und einen Weekender, in dem ich unter anderem die Unterlagen für meinen Wellnessplan verstaut hatte. Und dann war da noch der Einkaufskorb mit Lebensmitteln. Zwei Sixpacks Mineralwasser und eine Kiste mit Obst hatte ich schon im Auto deponiert.

Kapitel 7

Mein Polo parkte drei Häuser weiter. Schnell und geschickt lud Arne mein Gepäck ein. Mir fiel auf, dass er breite Schultern hatte und sportlich wirkte. Die Ärmel seines karierten Hemdes waren hochgekrempelt und gaben den Blick auf kräftige Unterarme frei. Was er wohl mal von Beruf gewesen war? Vielleicht Gärtner? Oder Landwirt?