Herzenswege - Dagmar Hansen - E-Book

Herzenswege E-Book

Dagmar Hansen

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Beschreibung

Dem Leben entgegen Susannas Leben verlief immer in ruhigen Bahnen. Bis vor einem Jahr ihre Tochter starb. Marie war der fröhliche Mittelpunkt der Familie, furchtlos, eine Reisende. Ganz anders als Susanna. Von ihrer letzten Rucksacktour hat Marie den Eltern Postkarten geschrieben. Die erste zeigt die Sibylle von Cumae, auf der Rückseite hat Marie tief bewegt ein paar Gedanken notiert. Kurzentschlossen bucht Susanna einen Flug nach Neapel. Sie will den Ort mit eigenen Augen sehen, der ihre Tochter so berührt hat. Eine Pilgerreise quer durch Europa beginnt. Eine Reise, die Susanna an ihre Grenzen bringt, sie ihre Tochter neu entdecken lässt – und überraschend auch sich selbst.

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Seitenzahl: 291

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Dagmar Hansen

Herzenswege

Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Dem Leben entgegen

 

Susannas Leben verlief immer in ruhigen Bahnen. Bis vor einem Jahr ihre Tochter starb. Marie war der fröhliche Mittelpunkt der Familie, furchtlos, eine Reisende. Ganz anders als Susanna. Von ihrer letzten Rucksacktour hat Marie den Eltern Postkarten geschrieben. Die erste zeigt die Sibylle von Cumae, auf der Rückseite hat Marie tief bewegt ein paar Gedanken notiert. Kurzentschlossen bucht Susanna einen Flug nach Neapel. Sie will den Ort mit eigenen Augen sehen, der ihre Tochter so berührt hat. Eine Pilgerreise quer durch Europa beginnt. Eine Reise, die Susanna an ihre Grenzen bringt, sie ihre Tochter neu entdecken lässt – und überraschend auch sich selbst.

Über Dagmar Hansen

Dagmar Hansen veröffentlichte bereits erfolgreich zahlreiche Romane, von denen mehrere für ARD und ZDF verfilmt wurden. Mit «Herzenswege» widmet sie sich einem sehr emotionalen Thema und schreibt für Frauen, die das Leben mit allen Höhen und Tiefen kennen und den Mut haben, sich mit ihren Gefühlen und den großen Fragen des Lebens zu beschäftigen.

Für Tally

Wenn du über dein Kind nachdenkst

 

Wenn du über dein Kind nachdenkst,

bleibe nicht bei den einzelnen Erinnerungen stehen.

Frage dich vielmehr, was es dir

mit seinem Leben eigentlich vermitteln wollte,

was die Botschaft ist, die es dir sagen möchte.

Welche Spur hat es in diese Welt eingegraben?

Dabei ist es völlig gleichgültig,

wie alt dein Kind war, als es gegangen ist,

ob es vielleicht schon im Mutterleib gestorben ist.

Es geht nicht darum, das Kind loszulassen,

welche Mutter, welcher Vater

könnte sein geliebtes Kind loslassen!?

Es geht darum herauszufinden,

was die Botschaft dieses Kindes für dich war,

wie hat es dich verändert,

wie viel Liebe ist in dir gewachsen,

was hat also dein Kind aus dir herausgeliebt?

Wie viel neue Liebe ist in dir gewachsen?

Dein Suchen wird dir helfen,

die Spur deines Kindes

in dich aufzunehmen und weiter zu tragen.

Anselm Grün

Prolog

Zu dritt stehen wir am Meer: Frieda, das Connemarapony Colin und ich. Der Strand von Fanore ist blassgolden und verläuft wie eine Straße aus Sand zwischen Wasser und Dünenlandschaft. Es ist kühl, und der scharfe Wind wühlt den Atlantik auf. Colin scharrt mit dem Vorderhuf und schnaubt.

«Er will rennen», sagt Frieda und zieht ihre Mütze tiefer ins Gesicht. «Steig auf.»

Ich zögere. Es ist lange, lange her, seit ich zum letzten Mal auf einem Pferd gesessen habe. Was, wenn Colin mich abwirft? Oder stolpert, und wir stürzen beide?

Über Friedas faltiges, vom Wind gerötetes Gesicht breitet sich ein Grinsen aus. Offenbar ahnt sie, dass ich gerade mit meinem inneren Angsthasen beschäftigt bin, denn sie sagt: «Vertrau dem Leben, Susanna. Auf dieses Pony ist Verlass.»

Kurz darauf sitze ich im Sattel. Sofort bin ich ganz ruhig, Angst und Aufregung sind wie weggeblasen. Und dann galoppieren wir am Strand entlang. Das Wasser spritzt unter Colins donnernden Hufen, der Wind pfeift uns um die Ohren. «Lauf!», rufe ich, und der Pferdekörper streckt sich noch mehr, wir jagen durch den Herbstmorgen, ich muss schreien vor Glückseligkeit, ich kann einfach nicht anders.

Von diesem wilden Ritt habe ich geträumt. Und plötzlich bin ich nicht mehr allein. Wir rennen auf der Straße der Erinnerung, an einem anderen Strand, auf einer Nordseeinsel, als Marie noch zur Schule ging. Meine Tochter galoppiert vorneweg, ich hinterher, wir fliegen beinahe, und ich muss lachen und weinen, und weinen und lachen; und da ist nichts außer den trommelnden Hufen, dem Meer und dem Himmel.

Kapitel 1

«Die Liebe ist das Einzige, das wir am Ende mitnehmen können, und sie macht das Ende so einfach.»

Louisa May Alcott

Ich hatte mir gewünscht, dass es heute in Strömen regnete. Am liebsten wäre mir ein Gewitter gewesen, Donner und Blitz, eisige Kälte, Sturm, Kaskaden von Regen, Hagel, ein Unwetter, dem ich mich hätte ausliefern können. Aber kein Wölkchen war am tiefblauen Himmel zu sehen, die Septembersonne schien warm auf Martin und mich herab und tauchte Maries letzte Ruhestätte in ein goldenes Licht. Ein Jahr ohne mein Kind, auf den Tag genau, war vergangen. Ein Herbst, ein Winter, ein Frühling, ein Sommer; Geburtstage, Weihnachten, Ostern, Pfingsten ohne meine einzige Tochter.

Einmal, in einer schlaflosen Nacht, hatte ich ein Bild gezeichnet. Es zeigt eine Frauengestalt, die in einer trostlosen Wüstenlandschaft an einen großen Felsen gekettet ist. Dazu hatte ich in mein Notizbuch geschrieben: «Es gibt einen Planeten in einem anderen Universum, auf dem Menschen stranden, die ihr Liebstes auf dieser Welt verloren haben. Er hat viele Namen: Trauer, Schmerz, Leid, Verlassenheit, nicht enden wollender Kummer, Verzweiflung, Trostlosigkeit, Finsternis. Nachdem ich dorthin geschleudert worden war, merkte ich, dass dort nichts, nicht einmal mein eigenes Spiegelbild, vertraut schien. Alles ist anders, unwiderruflich. Ich bewege mich wie in einem Nebel durch das, was von meinem Leben auf der Erde übrig geblieben ist, doch meine Realität spielt sich Tag für Tag auf diesem Planeten mit den vielen Namen ab.»

Wir hatten Sonnenblumen für Marie mitgebracht und eine neue Kerze für die Laterne. Wir waren nicht die Einzigen, die sie heute besuchten. In dem «kleinen Garten», den ich, den Jahreszeiten folgend, immer wieder neu für unsere Tochter bepflanzte, entdeckte ich einen Engel, der gestern noch nicht da gewesen war, eine Rose im Topf, einen Blumenkranz in Herzform; in Folie eingeschweißte Karten, die erzählten, wie sehr Marie vermisst wurde, und ein Foto. Ich musste es immer wieder anschauen, während mir die Tränen die Wangen hinunterliefen. Es zeigte Marie im Kreis ihrer Freunde in unserem Garten, als sie ihren dreißigsten Geburtstag ganz groß feierte.

Auch Martin und ich hatten Post bekommen, herzliche Zeilen von Menschen, die an uns und unser Leid gedacht hatten. Freunde hatten angerufen, liebe Worte gefunden und angeboten, uns zum Friedhof zu begleiten. Ich war dankbar, aber ich wollte heute mit Martin und Marie allein sein – Vater, Mutter, Kind, nur wir drei, so wie in glücklichen Zeiten. Auch im grauenhaftesten Jahr unseres Lebens, dem acht Wochen vorausgingen, in denen unsere Tochter von einer in rasendem Tempo fortschreitenden, heimtückischen Krankheit aus dem Leben gefegt worden war, ging es um uns drei. Um Marie, die wir verloren hatten. Um ihren Vater, der auch auf dem Planeten mit den vielen Namen unterwegs war – allein, wie alle Exilanten. Wir gehen alle unseren eigenen Weg mit unserem Schmerz und unserer Trauer. Ich hatte Martin nur ein einziges Mal weinen sehen: Als wir an Maries Bett im Hospiz saßen und sie aufhörte zu atmen. Er hatte sie in seine Arme genommen und geschluchzt wie ein Kind.

Und es ging um mich, Susanna Weber, die einmal mit viel Elan und Freude Englisch und Französisch an einem Gymnasium unterrichtet hatte. In einem anderen Leben, in einem anderen Universum. Ich war völlig zusammengebrochen nach Maries Beerdigung und musste mich vom Schuldienst beurlauben lassen. Es hatte Monate gedauert, bis ich im Alltag einigermaßen funktionieren konnte. Dass ich je wieder berufstätig sein würde, lag außerhalb meines Vorstellungsvermögens.

Martin stellte die Kerze in die Laterne und zündete sie an. Die Sonnenblumen leuchteten, selbst durch meinen Tränenschleier hindurch. Als Kind hatte Marie Sonnenblumen in ihrem eigenen kleinen Beet gesät und sich an den freundlichen Blütengesichtern gefreut und darüber, dass die Kerne ein Leckerbissen für die Vögel waren. Martins Gesicht war wie versteinert, er hatte den Mund so fest zusammengepresst, dass sich die Kiefermuskeln abzeichneten. Plötzlich fiel mir auf, wie grau seine Haare waren und dass er müde aussah und dünner als früher. Ich wünschte mir, er würde einen Arm um mich legen, damit ich mich an ihn lehnen könnte, aber weder er noch ich machten den einen Schritt aufeinander zu, der uns trennte. Lieber Gott, dachte ich, wenn es dich gibt, bitte hilf mir: Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Es tut so weh. Ich will dort sein, wo mein Kind ist. Ich schloss die Augen und wartete – wider besseres Wissen – auf ein Wunder, das jetzt gleich mein Leben beenden würde.

Es war still auf dem Friedhof, nur der Wind raschelte in den Blättern der Bäume. Ich hatte Martin nie erzählt, dass ich jeden Tag über meinen eigenen Tod nachdachte und ihn herbeisehnte. Alles, was hinter uns lag, hatte uns so weit voneinander entfernt, dass wir nur wenig miteinander redeten. Wie zwei Schatten glitten wir nebeneinanderher durch den Alltag: Möchtest du lieber Spaghetti oder Steak am Wochenende essen? Holst du bitte meinen Anzug aus der Reinigung ab? Der Rasen muss gemäht werden. Es wird spät heute, ich habe noch ein Meeting. Es regnet schon wieder. Ja, aber für morgen haben sie Sonne angesagt.

Ich weiß nicht, wie lange ich mit geschlossenen Augen in der Stille stand. Vielleicht ein paar Minuten, vielleicht waren es auch nur Sekunden, bis ich etwas hörte. Ein Zwitschern, sehr nah, eine auf- und absteigende Melodie, die wie eine Erzählung klang; lieblich und eindringlich. Mein Herz klopfte auf einmal heftig. Diese Vogelstimme kannte ich besser als alle anderen!

Das Rotkehlchen hatte sich auf Maries Grabstein niedergelassen. Wir hatten einen Findling aus rosa schimmerndem Granit ausgesucht, in einer angedeuteten Herzform. Ein stilisierter Vogel, der in die Sonne fliegt, war darin eingraviert, darunter Maries Name und die Daten. Der kleine Kerl schaute mich aus dunklen Perlaugen an, während er mit weit geöffnetem Schnabel sein Lied sang.

«Martin! Schau! Ein Rotkehlchen!» Vor lauter Aufregung hatte ich seinen Arm gepackt. «Maries Lieblingsvogel!»

«Ja. Stimmt.» Er sagte es so, als wäre es nichts Besonderes, dass ausgerechnet heute, während wir hier standen, einer von Maries Lieblingen auf ihrem Grabstein gelandet war und sich die Seele aus dem Leib sang.

«Das ist bestimmt ein Zeichen! Eine Botschaft! Von Marie. Sie ist bei uns, jetzt, in diesem Augenblick. Ich spüre das … hier.» Ich legte eine Hand auf mein Herz.

«Susanna, bitte. Marie ist tot. Sie kann nicht bei uns sein, und nichts und niemand kann sie uns zurückbringen. Ich glaube nicht an Zeichen und Wunder und Vögel, die angeblich Botschaften überbringen. Ich … ich möchte so etwas nicht hören.»

Er hatte leise gesprochen, aber den Ausdruck in seinem Gesicht kannte ich gut. Egal, womit ich argumentieren würde, ich würde ihn nicht erreichen. Ich versuchte es trotzdem. Für Marie. Für ihr Geschenk an uns.

«Aber es KANN kein Zufall sein, dass ausgerechnet heute dieser Vogel für uns singt», sagte ich.

Abwehr blitzte in seinen Augen auf, blau wie die seiner Tochter. «Doch. Natürlich kann es sein. Das Leben steckt voller Zufälle. Du möchtest es nur anders sehen, und du hast ganz bestimmt deine guten Gründe dafür. Aber ich bin durch und durch Realist, und ich weiß, dass Rotkehlchen sehr häufig vorkommen und recht zutraulich Menschen gegenüber sind. Wir kommen da einfach nicht zusammen.»

Ich wusste, er meinte es nicht böse. Er war von Natur aus einfach jemand, der sich auf Fakten und seinen Verstand verließ, wohingegen ich eher meiner Intuition vertraute. Trotzdem tat es weh. Das Rotkehlchen hatte sich von unseren Stimmen nicht stören lassen. Es zwitscherte und trillerte noch ein paar Strophen, dann flog es auf und verschwand in einer großen Eibe.

 

Kurz darauf machten wir uns auf den Heimweg. Martin fuhr. Ich fühlte mich so müde und erschöpft, dass ich mich am liebsten in Maries Zimmer aufs Bett gelegt hätte, mit ihrem kleinen Plüschlöwen Simba im Arm. Aber ich wusste, wenn ich einmal lag, würde ich heute die Kraft zum Aufstehen nicht mehr aufbringen, und ich hatte doch noch etwas geplant. Es war mir wichtig, so wichtig, dass ich zu Hause gleich in die Küche ging, während Martin sich, wie so oft, in sein Arbeitszimmer zurückzog. Ich wollte Maries Leben feiern. Der Tod, der sie uns vor einem Jahr entrissen hatte, sollte heute nicht das letzte Wort haben.

Wenn Marie ihren Besuch bei uns ankündigte, fragte ich immer, was sie sich als Begrüßungsessen wünschte. In neun von zehn Fällen war es Schnitzel Wiener Art mit Kartoffelsalat nach meinem Spezialrezept. Das war Maries Leibspeise als Kind gewesen, und sie war ihr treu geblieben. «Mamas Schnitzel mit Kartoffelsalat macht glücklich.» Davon war sie fest überzeugt, und wer sie bei einem gemütlichen Essen bei uns erlebte, glaubte ihr aufs Wort. Sie hatte die Gabe zu genießen, ob es sich nun um ein leckeres Essen, ein Treffen mit Freunden oder einen Sonnenuntergang handelte.

Immer noch legte ich zu jeder Mahlzeit ein Gedeck für sie auf, so, als könnte sie sich jeden Augenblick zu uns setzen. «Warum tust du das, Susanna?», hatte Martin kurz nach Maries Tod gefragt, als ich vor lauter Weinen nichts essen konnte und wie hypnotisiert auf den leeren Teller gegenüber starrte. «Es quält dich doch.» Müde hatte er sich die Stirn gerieben, als habe er Kopfschmerzen. «Es hat keinen Sinn, den Tisch für sie zu decken. Sie kommt nicht. Nie mehr. Sieh es doch ein.»

Etwas explodierte in mir, und ich schrie ihn an: «Marie hat ihren Platz hier! Für immer und ewig! Ist das klar?»

Martin schwieg, aber sein Gesicht sprach Bände, ganz offensichtlich hielt er mich für verrückt. Und es stimmte ja, ich war verrückt vor Schmerz, so sehr, dass ich, die selten die Stimme erhob, ihn anbrüllte, und ein Teller, Besteck und eine weiße Serviette in einem Serviettenring aus Silber mir wie ein Anker im Chaos vorkamen.

 

Ich hatte die Decke mit dem bunten Rosenmuster aufgelegt, die mir Marie einmal zum Geburtstag geschenkt hatte. Rote Rosen und Kerzen schmückten den Tisch. Die Schnitzel waren perfekt, genau wie der Kartoffelsalat, den ich bereits am Vorabend zubereitet hatte. Dazu gab es eiskaltes Bier, Maries Lieblingssorte mit dem Bügelverschluss. Ich hatte den ganzen Tag über kaum etwas hinunterbekommen, und auch jetzt hatte ich keinen Appetit. Aber ich zwang mich zu essen, Marie zu Ehren. Das Bier rutschte deutlich besser, und ich fühlte mich schon nach ein paar Schlucken ein bisschen beschwipst. Als Martin aufstand, um Nachschub zu holen, bat ich ihn, mir auch noch eine Flasche mitzubringen. Er zog erstaunt die Augenbrauen hoch, weil ich Bier eigentlich nicht besonders mochte, sagte aber nichts.

«Möchtest du noch Kartoffelsalat?», fragte ich, nachdem er am Tisch Platz genommen hatte.

«Nein, danke. Er hat aber sehr gut geschmeckt», gab er zurück, obwohl auch er kaum etwas gegessen hatte. Sorgfältig rollte er seine Serviette zusammen und schob sie in den Serviettenring. Er saß am Kopfende, ich rechts neben ihm. Wir saßen nebeneinander, aber ich fühlte mich allein. Der Schmerz in meinem Herzen zerriss mich fast, als ich auf Maries leeren Teller schaute. Der Tod hatte doch das letzte Wort, wie immer.

«Ich halte das nicht mehr aus», hörte ich mich plötzlich sagen. Meine Stimme klang erstaunlich ruhig.

Martin, der gerade nach seinem Glas griff, hielt mitten in der Bewegung inne. Er wirkte überrascht, was ich ihm nicht verdenken konnte. Es war das erste Mal seit langem, dass ich meine Gefühle aussprach. Schließlich sagte er: «Du hättest etwas anderes kochen sollen. Nicht … ihr Begrüßungsessen. Nicht … heute.»

«Gerade heute. Es ist eine Freude für Marie, wo immer sie auch sein mag.»

Einen Moment sah es aus, als wolle er widersprechen, aber dann fragte er sachlich: «Was ist es dann? Was hältst du nicht mehr aus?»

«Alles. Jeder Tag ist die Hölle.»

«Ja. Ich weiß. So ist mir auch zumute», sagte Martin. Er atmete tief ein und stieß die Luft mit einem Seufzen wieder aus. «Und trotzdem muss es weitergehen. Irgendwie. Für uns und Millionen anderer Eltern, die ihr Kind verloren haben. Wer am Leben ist, hat Aufgaben zu erfüllen. Es ist eine Sache der Disziplin, nicht aufzugeben. Arbeit und Struktur sind wichtig. Die Zähne zusammenbeißen und versuchen, so gut wie möglich zu funktionieren, Tag für Tag, das ist wichtig.»

«Disziplin. Die Zähne zusammenbeißen. Funktionieren. Arbeit. Du klingst wie dein Vater.»

Das war nicht als Kompliment gemeint. Mein Schwiegervater, der vor zwanzig Jahren verstorben war, war ein schwieriger Mann gewesen, der bei seiner Frau, die ihn nur um wenige Jahre überlebt hatte, und seinem einzigen Sohn ein strenges Regiment geführt hatte. Der einzige Mensch, der ihm immer ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte, war Marie gewesen.

Martin zuckte mit den Schultern. «Vieles, was ich von ihm gelernt habe, hat sich als nützlich erwiesen. Besonders in beruflicher Hinsicht.»

Als ich nichts dazu sagte, fügte er mit dem Anflug eines Lächelns hinzu: «Ich weiß, immer wenn er von seinen ‹goldenen Regeln› angefangen hat, hättest du ihn am liebsten sofort abgewürgt.»

«Weil er keine anderen gelten ließ. Er war ein Sturkopf.»

«Wem sagst du das. Ich weiß besser als jeder andere, dass es nicht einfach war mit ihm.»

Wir schauten uns an, zum ersten Mal während dieses Abendessens. Er hatte sich ein wenig geöffnet, endlich ausgesprochen, dass auch für ihn jeder Tag die Hölle war. Plötzlich war er nicht mehr ganz so weit weg – und ich fühlte mich nicht mehr ganz so verlassen. Dass ausgerechnet sein Vater dazu beigetragen hatte, entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Auf einmal konnte ich aussprechen, was ich bisher nicht über die Lippen gebracht hatte, obwohl ich schon länger darüber nachgrübelte.

«Martin?»

«Ja?»

«Weißt du, ich frage mich oft: Wie wird es weitergehen mit uns? Mit unserer Ehe?»

«Wie meinst du das?» Er wirkte ehrlich verblüfft, als ob ihm noch nie in den Sinn gekommen war, dass mit unserer Ehe etwas nicht stimmen könnte.

«Wir sind seit über dreißig Jahren verheiratet, wir haben unsere einzige Tochter aufwachsen und sterben sehen, und wir gehen miteinander um wie zwei flüchtige Bekannte, die zufällig unter einem Dach wohnen. Ich fühle mich so … verlassen. So traurig. Es tut mir weh, und ich wünschte, wir wären uns näher. So wie früher.»

Mit «früher» meinte ich die Zeit vor Maries Krankheit, die Zeit, die ich mit allem verband, was heil und gut und schön gewesen war, auch wenn ein Teil von mir sich eingestand, dass unsere Ehe schon seit vielen Jahren eher ein freundschaftlicher Umgang miteinander und ein angenehmer Alltag gewesen war als ein lebendiger Austausch; von Leidenschaft und Intimität ganz zu schweigen. So ist das eben, hatte ich «früher» gedacht, wenn man lange verheiratet ist und älter und ruhiger, und ja, auch bequemer wird. Anderen Paaren geht es nicht besser, im Gegenteil, etliche sind bereits geschieden oder streiten sich ständig. Manchmal dachte ich mit Wehmut und Sehnsucht an die stürmischen, verliebten Anfangsjahre, aber ich war nicht unglücklich, ich akzeptierte, dass die Dinge waren, wie sie waren. Es gab ja genug Gutes, jeden Tag – und Marie, die Sonne in unserem Leben. Als diese Sonne erloschen war, war da nichts mehr, was uns trug. So kam es mir jedenfalls vor.

Schweigen breitete sich aus, wir waren in unsere Gedanken versunken. Schließlich sagte Martin: «Ich wünschte, ich hätte Marie vor dieser Krankheit beschützen können. Oder sie ihr abnehmen können. Es wäre in Ordnung gewesen, wenn ich gestorben wäre, wenn es ihr Leben gerettet hätte. Eltern gehen normalerweise vor ihren Kindern, das ist der Lauf der Dinge. Aber ich bin noch da, und ich kämpfe mich durch jeden Tag. Ich habe einfach nicht die Kraft, mich auch noch mit unserer Ehe zu beschäftigen. Es tut mir leid, wenn ich dir weh tue, das ist bestimmt nicht meine Absicht.»

«Okay», brachte ich heraus. «Ich versteh schon.» Das stimmte, ich wusste ja selbst, wie viel Energie allein der Alltag kostete. Trotzdem füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich versuchte, sie zurückzudrängen, aber es klappte nicht. Martin nahm meine Hand und drückte sie sanft. «Hab Geduld mit uns beiden. Gib uns Zeit.»

Zeit. Es war eine Binsenweisheit, dass sie launisch und unberechenbar war und einem davonlief, wenn man sich der Illusion hingab, sie stünde ausreichend zur Verfügung. Aber sie stimmte trotzdem. Ich weiß noch, wie ich eines Nachmittags in Maries Zimmer an ihrem Bett saß, nachdem die Palliativärztin gegangen war, und versuchte, die Zeit zu beschwören «Sie ist erst einunddreißig», flehte ich sie in Gedanken an. «Bitte, bitte, schenk ihr wenigstens noch ein einziges Jahr! Das ist doch nicht zu viel verlangt!»

«Hast du immer noch nicht verstanden, wie schnell alles vorbei sein kann?», sagte ich zu Martin. «Wer weiß, wie viel Zeit uns noch bleibt.»

«Ich glaube, es ist gut, dass wir es nicht wissen», sagte er.

Ich wischte mir die Tränen ab und nickte.

 

Er half mir, den Tisch abzuräumen und die Küche in Ordnung zu bringen. Wir waren ein gut eingespieltes Team, jeder Handgriff saß. Als wir fertig waren, fragte Martin: «Möchtest du eine Runde spazieren gehen? Ich muss noch etwas für die Sitzung morgen früh vorbereiten, aber ich würde gerne eine halbe Stunde mit dir an die frische Luft.»

Mir wurde ein bisschen wärmer ums Herz. Es war lange her, seit wir nach dem Abendessen noch zusammen um die vier Ecken geschlendert waren. Auch wenn er gesagt hatte, es fehle ihm die Kraft, etwas für unsere Ehe zu tun – sein Angebot wertete ich als einen Anfang. Als ein Zeichen, dass ihn meine Sorgen nicht kaltließen.

«Ja, gern», antwortete ich lächelnd. «Ich hole nur schnell meine Strickjacke.»

 

Draußen war es noch warm, sodass ich mir die Jacke nur locker über die Schultern legte. Ich hängte mich bei Martin ein, und für einen Augenblick war alles wie früher, als unsere Welt noch in Ordnung war. Wir wohnten im Südwesten von Berlin, in einer ruhigen Straße mit gepflegten, alten Häusern, Kopfsteinpflaster und Gaslaternen und viel Grün. Füchse und Eichhörnchen waren häufige Besucher in den Gärten. Diese Welt mit den freundlichen Leuten, wo jeder jeden kannte, war immer noch in Ordnung – nur passten wir nicht mehr hinein. Unser Kind war gestorben, wir konnten uns nie mehr einreden, dass der Tod nur bei anderen Häusern anklopfte und Katastrophen nur anderen Leuten zustießen. Wir hatten unsere Unschuld verloren, und unser Verlust und unsere Trauer machten manchen Leuten Angst, sie hatten sich zurückgezogen. Vielleicht fürchteten sie auch, dass der Tod ansteckend sein könnte.

Zum Glück gab es auch andere. Gute Freunde und Bekannte, die immer wieder Einladungen aussprachen, die wir nur selten annahmen. Die zugehört hätten, wenn wir über unser Leid hätten sprechen wollen. Die wochenlang mit Suppen, Aufläufen, Blumen und Kuchen geklingelt hatten, als ich zu gar nichts fähig gewesen war und mit Medikamenten zugedröhnt auf dem Sofa gelegen hatte.

 

Die Bewegung tat mir gut, und es tat gut, Arm in Arm mit Martin zu gehen, so wie früher. In diesem Viertel fühlte ich mich zu Hause. Wir waren hierhergezogen, als Marie acht gewesen war. Unser Haus war alles, was ich mir für unsere Familie gewünscht hatte: ein gemütliches Heim mit einem schönen Garten, in dem wir drei glücklich gewesen waren.

«Ich will nach Hause. Zu euch», hatte Marie gesagt, nachdem uns die Ärzte in der Hamburger Klinik die Diagnose mitgeteilt hatten. CUP-Syndrom – Cancer of Unknown Primary, weit gestreute Metastasen mit unbekanntem Primärtumor. Nicht therapierbar, weil die Krankheit schon viel zu weit fortgeschritten war. Während Martin und ich wie erschlagen waren, unfähig, auch nur ansatzweise klar zu denken, stellte Marie präzise Fragen und duldete keine Ausweichmanöver. «Wie viel Zeit habe ich noch? Die Wahrheit, bitte!»

Einige Monate. Vielleicht auch nur Wochen, lautete die Antwort. Marie wusste genau, was sie wollte: ihre Wohnung in Hamburg auflösen, den Arbeitsvertrag als Hotelmanagerin kündigen. Alles regeln. Mit uns leben, so lange es sich richtig für sie anfühlte.

Ihre letzten zwölf Tage verbrachte sie im Hospiz, einer von alten Bäumen beschützten Villa aus der Gründerzeit. Noch heute bin ich voller Ehrfurcht über ihren Mut, mit gerade einmal einunddreißig Jahren ihr Schicksal anzunehmen. Sie hoffte nicht auf ein Wunder, und sie verdrängte die Tatsache nicht, dass sie nicht mehr lange leben würde. Was auch bedeutete, sich immer wieder aus Phasen tiefster Verzweiflung herauszuarbeiten. Um – ganz Marie – immer wieder den Moment zu genießen: den Besuch eines lieben Menschen. Eine Kugel Zitroneneis. In unserem Garten im Schatten zu sitzen und den Vogelstimmen zu lauschen. Das Rotkehlchen, das in der Hecke sein Nest hatte, hörten wir immer heraus, und oft ließ es sich ganz in der Nähe nieder, sodass wir es beobachten konnten.

Mit Marie war ein Stück von Martin und mir gestorben, und ein Teil der Atmosphäre unseres Hauses. Auch jetzt, als wir nach unserem Spaziergang in der Diele die Schuhe auszogen, fiel es mir auf.

Martin zog sich gleich ins Arbeitszimmer zurück. Ich brühte mir einen Kräutertee auf und ging ebenfalls nach oben. Für Marie war es wie eine Zeitreise gewesen, wieder in ihr altes Zimmer einzuziehen: Sie fühlte sich geliebt und geborgen wie als Kind. Ich verbrachte viel Zeit in diesem Raum mit dem honigfarbenen Dielenboden. Die wenigen Möbel waren schlicht und weiß, bis auf einen gelben Sessel und den bunten Bettüberwurf, den Marie aus Indien mitgebracht hatte. Martin hatte auf ihren Wunsch hin die Wände in einem hellen Blau gestrichen, eine Farbe, die sie Himmel und Meer spüren ließ. Er hatte auch Bilder aufgehängt: Fotos von Familie und Freunden sowie eine gerahmte Ansichtskarte, die einen Megalith-Steinkreis unter dem Sternenhimmel zeigt, darunter ein Zitat von Albert Einstein: «Das schönste Erlebnis ist die Begegnung mit dem Geheimnisvollen.»

Kapitel 2

Ich zündete die Kerzen neben dem großen Foto auf der Kommode an. Es zeigte eine übers ganze Gesicht strahlende Marie an ihrem einunddreißigsten Geburtstag. Das Bild hatte Martin geschossen, und obwohl er, genau wie ich, die Gabe besaß, meistens im falschen Moment auf den Auslöser zu drücken, war es so schön und lebensecht wie kein anderes.

Dann wandte ich mich der Tafel zu, die über der Kommode angebracht war. Sechs Ansichtskarten waren mit farbigen Magneten daran befestigt. Marie hatte sie uns aus dem letzten Urlaub ihres Lebens geschickt. Sie hatte es geliebt, unterwegs zu sein, in fremde Länder einzutauchen; Kulturen und Menschen kennenzulernen. Woher sie dieses Reise-Gen hatte, war uns ein Rätsel. Als sie klein war, hatten wir die Ferien ganz unspektakulär an der Ostsee verbracht. Später fuhren wir im Sommer nach Amrum oder Langeoog, waren im Frühjahr und Herbst mal am Chiemsee oder an der Müritz. Auch als Marie längst erwachsen und aus dem Haus war, zog uns nichts in die Ferne. Wir waren keine Entdecker so wie unsere Tochter, die alle fünf Kontinente bereist hatte. Ihren dreißigsten Geburtstag hatte sie nicht nur mit einer großen Party gefeiert, sondern auch mit einer Reise durch Thailand.

Ein Jahr später – ihrem letzten Jahr – flog sie nach Neapel und besuchte ihre Freundin Angela in Sorrent. Von Italien ging es in die Bretagne, weiter nach Südengland, anschließend in den Westen von Irland und nach Galizien in Spanien. Schließlich zu uns, nach Berlin.

Nach Maries Tod fingen die Postkarten an, zu mir zu sprechen. Wenn ich sie anschaute und las, was Marie geschrieben hatte, hörte ich deutlich ihre Botschaften: Es war ihre letzte Reise, sie war mehrere Wochen in Europa unterwegs. Wieso hatten es ihr ausgerechnet diese Orte und Menschen so angetan, dass sie Martin und mich daran teilhaben lassen wollte? Was ist der tiefere, verborgene Sinn hinter allem?

Mir war klar, dass der einzige Mensch, der diese Karten für mich entschlüsseln könnte, mir nichts mehr erzählen konnte, und sei es auch nur, dass es gar keinen verborgenen, tieferen Sinn gab. Manchmal hörte ich förmlich Maries Lachen und ihre Stimme: «Ach, Mamsi. Da steckt doch nichts dahinter, ehrlich nicht. Du hast wirklich eine blühende Phantasie.» Doch das änderte nichts an meinem Gefühl, dass ich einem Geheimnis auf der Spur war.

Auch heute kam ich nicht weiter. Nachdem ich die Karten wieder in chronologischer Reihenfolge an der Magnettafel befestigt hatte, legte ich mich mit Simba im Arm aufs Bett.

Den kleinen Löwen hatten wir Marie vor ihrer ersten großen Reise geschenkt, einer Safari in Kenia. Seither war er ihr treuer Begleiter gewesen. Ganz selbstverständlich hatte ich das Plüschtier auf ihre Decke gelegt, als der Krankentransport sie ins Hospiz bringen sollte. Aber sie hatte den Kopf geschüttelt. Simba sollte zu Hause bleiben. «Ich schenke ihn dir.»

«Ich passe gut auf ihn auf.» Das war der Moment, in dem sich die Tränen, die ich mühsam zurückgehalten hatte, weil ich Marie nicht damit belasten wollte, selbständig machten und über meine Wangen rollten. Auch Marie hatte Tränen in den Augen gehabt, aber sie brachte es fertig, dabei zu lächeln. «Tsss. Mums. Er soll doch auf dich aufpassen. Und dich immer daran erinnern, wie sehr ich dich liebhabe.»

 

Martin hatte sich an dem Tag nicht frei nehmen können. Er kam erst abends ins Hospiz, als wir uns in dem freundlichen, hellen Zimmer schon ein wenig häuslich eingerichtet hatten. Er brachte rote Rosen mit, einen riesigen Strauß, und eine Auswahl von Maries Lieblingsantipasti und Baguette. Sie aß fast nichts, freute sich aber über das «Familien-Picknick», wie sie es nannte. «Wie sonntags auf der Pfaueninsel. Wisst ihr noch?»

«Ja, Süße. Natürlich», gab Martin zärtlich zurück und strich ihr eine widerspenstige Locke aus der Stirn. «Es war immer wunderschön mit dir.»

 

Ich musste eingenickt sein, denn als mein Handy klingelte, schreckte ich hoch und wusste im ersten Moment nicht, wo ich war. Dann griff ich nach dem Telefon, das auf dem Nachttisch vor sich hin läutete.

«Ja? Hallo?»

«Susanna! Hier ist Angela.»

«Angela! Wie schön, deine Stimme zu hören …»

Eine junge Stimme, freundlich, mit einem unwiderstehlichen italienischen Akzent. Die mir erzählte, wie gerne sie Martin und mich jetzt umarmen würde, und dass sie in Gedanken den ganzen Tag bei uns und Marie gewesen sei. «Ein ganzes Jahr ohne sie. Ich bin so traurig.»

Mir kamen die Tränen, und ich griff hastig nach den Kleenex auf dem Nachttisch. «Entschuldigung … Ich muss mir nur eben die Nase putzen …»

«Aber ja», sagte Angela weich, und so seltsam es klingen mag, ich fühlte mich tatsächlich umarmt von Maries Freundin und ehemaliger Kollegin, die mir ans Herz gewachsen war, als sie ein Praktikum in einem Hotel in Berlin absolviert und drei Monate bei uns gewohnt hatte.

«Wir haben ihr Sonnenblumen gebracht», sagte ich, etwas zusammenhanglos, als ich meine Stimme wieder unter Kontrolle hatte. «Und ich habe ihr Lieblingsessen gekocht. Du weißt schon, Schnitzel mit Kartoffelsalat.»

«Delizioso. Die besten Schnitzel der Welt», hörte ich prompt und musste lächeln. Auch Angela liebte diesen deutschen Klassiker und meinen Kartoffelsalat. Ich sah sie vor mir, kurvig, mit langen dunklen Locken und braunen Augen, ein schöner Kontrast zu Maries zierlichem, blondem, blauäugigem Typ. Während Marie in Hamburg ihren Traumjob gefunden hatte, konnte Angela in die Frühstückspension ihrer Tante einsteigen. In ihrer Heimatstadt Sorrent. Ein großes Glück für sie, denn sie hatte immer von einem eigenen kleinen Hotel geträumt.

«Ich wünschte, du wärst jetzt hier», sagte ich sehnsüchtig. Angela hatte uns während Maries Krankheit besucht, um Abschied zu nehmen, und sie war zur Beerdigung gekommen und ein paar Tage geblieben. Auch in dieser Zeit hatte ich mich in ihrer Nähe in Wärme eingehüllt gefühlt.

«Das wäre wirklich schön. Und ich komme immer wieder gerne nach Berlin. Erzählst du mir etwas von dir?»

«Ich gehe viel im Grunewald spazieren und kümmere mich um den Garten und das Grab. Und du, Angela? Wie geht es dir und deiner Familie?»

Während sie Gutes berichtete – alle waren gesund und munter, und das Bed & Breakfast Viola erfreute sich wachsender Beliebtheit –, fiel mein Blick wieder auf die Postkarten an der Magnettafel. Genau genommen auf die erste. Auf der Vorderseite war die berühmte Sibylle von Cumae, gemalt von Michelangelo, abgebildet.

«… und ich bin verlobt. Mit einem wunderbaren Mann», schloss Angela ihren Bericht.

«Ach, wie schön. Wer ist denn der Glückliche?»

Er hieß Pietro, war IT-Spezialist, neu aus Rom zugezogen, und sie hatten sich kurz nach Maries Besuch in Sorrent kennengelernt. «In einem Café an der Piazza Tasso. Alle Tische waren besetzt. Er fragte, ob bei mir noch frei sei … wie gut, dass ich ja gesagt habe.» Angelas kleiner Seufzer am Ende des Satzes klang sehr verliebt.

Kurz nach Maries Besuch … Gänsehaut pur. Mein ganzer Körper prickelte, die feinen Härchen im Nacken hatten sich aufgerichtet. «Angela, erinnerst du dich an die Karte, die ihr uns geschrieben habt, du und Marie? Ihr wart zusammen in Cuma und hattet die Höhle der Sibylle besichtigt.»

«Naturalmente erinnere ich mich! Ich habe dem Orakel eine Frage gestellt, es hat mir geantwortet, und es ist genauso gekommen. Che magico … Tante Viola meint, la Sibilla hat nur zu mir gesprochen, weil ich den talismano getragen habe, den sie mir zur Geburt geschenkt hat. Sie hat immer viele Ideen.»

«Wer weiß, vielleicht stimmt es ja. Was ist das für ein Talisman?»

«Ein kleines Horn – un corno. Meins ist aus roter Koralle, und ich trage es an einer Goldkette. Immer. Corni schützen vor dem bösen Blick, dem malocchio, und bringen Glück. Aber man darf sie nicht selbst kaufen, man muss sie geschenkt bekommen, sonst wirken sie nicht.»

«Der Anhänger ist mir nie aufgefallen.»

«Wenn du möchtest, schicke ich dir ein Foto auf dein Handy.»

«Ja. Gern. Wer von euch beiden kam eigentlich auf die Idee, diese Höhle zu besichtigen?»

«Marie wollte unbedingt hin, sie hatte in der Zeitung über Cuma gelesen und im Internet geschaut. Sie liebte ja besondere Orte. Und diese alten Ruinen haben eine ganz spezielle Atmosphäre, trotz der vielen Touristen.»

«Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen», sagte ich traurig. «Ich wünschte, ich hätte die Tage mit euch zusammen verbringen können.»

Genau das war damals Maries Vorschlag gewesen, ein paar gemeinsame Tage in Sorrent. Aber es hatte vom Zeitplan her für mich nicht gepasst, ich konnte ja nicht einfach die Schule schwänzen.

«Warum kommst du nicht jetzt? Am besten schon nächste Woche? Du fliegst nach Neapel, ich hole dich vom Flughafen ab, du wohnst bei uns im Bed & Breakfast, und ich fahre mit dir nach Cuma zur Grotta della Sibilla! Das ist eine wunderbare Idee, no?»

Ich war gerührt. Aber eine Reise? Fort von allem, was mir vertraut war? Italien schien schrecklich fremd und weit weg von Maries stillem Zimmer. «Das ist sehr süß von dir, vielen Dank. Aber nein. Ich bleibe lieber hier. Ich … ich brauche mein Zuhause um mich. Ich lebe sehr zurückgezogen, weißt du. Mir wird ganz schnell alles zu viel.»

«Das verstehe ich», gab Angela zurück. «Aber ich hoffe, du denkst in Ruhe nach und sagst dir dann: ‹Oh, bei Angela und Tante Viola ist es beinahe wie zu Hause!› Es wird dir hier gefallen. Das Meer und die Landschaft sind wunderschön. Und auch die Dörfer und Städte. Tutto è bellissimo.»

Wie konnte ich ihr erklären, dass Schönheit keine Rolle spielte? Dass nur der Schmerz real war? Ich wusste es nicht, und ich wollte sie nicht vor den Kopf stoßen. Also sagte ich nur: «Ich denke darüber nach. Versprochen.»

«Es wäre wundervoll, wenn Martin mitkommt», sagte Angela eifrig. «Aber ich weiß, er arbeitet sehr, sehr viel.»

«Das stimmt. Und es ist wichtig für ihn.»

«Aber du redest mit ihm, ja? Und gibst ihm un bacio, einen Kuss von Angela. Ich bin so glücklich, wenn ihr kommt.»

Das hörte sich an, als hätten Martin und ich schon die Koffer gepackt. Ich hatte nicht das Herz, Angela darauf hinzuweisen, dass ich zwar nachdenken würde, mein Nein aber bereits feststand.

Kapitel 3

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