Alleingelassen - Patricia Vandenberg - E-Book

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Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Für Dr. Norden ist kein Mensch nur ein 'Fall', er sieht immer den ganzen Menschen in seinem Patienten. Er gibt nicht auf, wenn er auf schwierige Fälle stößt, bei denen kein sichtbarer Erfolg der Heilung zu erkennen ist. Immer an seiner Seite ist seine Frau Fee, selbst eine großartige Ärztin, die ihn mit feinem, häufig detektivischem Spürsinn unterstützt. Auf sie kann er sich immer verlassen, wenn es darum geht zu helfen. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. »Wo ist mein Sohn?« Schwer atmend stand Dr. Daniel Norden am Empfang der Uniklinik, in die Felix eingeliefert worden war. Seine Frau Felicitas war bei ihm. Seit sie mit dem Flugzeug aus München aufgebrochen waren, hatte sie kein Wort gesprochen. Kalkweiß im Gesicht stand sie neben ihrem Mann und starrte blicklos vor sich hin. Die Empfangsdame lächelte Daniel freundlich an. »Wie heißt Ihr Sohn?« »Felix. Felix Norden. Ich bin Dr. Daniel Norden aus München.« Die Dame nickte und wendete sich ab, um den Namen in ihren Computer einzutippen. Langsam verschwand das Lächeln von ihren Lippen. »Ihr Sohn liegt auf Unfallchirurgie, ITS.« Sie hob den Kopf. Der betroffene Ausdruck in ihren Augen war nicht zu übersehen. »Chefarzt Professor Uhlich erwartet Sie schon«, erwiderte sie und beschrieb dem Ehepaar den Weg. Als Daniel seine Frau wegführte, sah sie dem Ehepaar nach.

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Dr. Norden – 20 –

Alleingelassen

April weiß nicht mehr weiter

Patricia Vandenberg

»Wo ist mein Sohn?« Schwer atmend stand Dr. Daniel Norden am Empfang der Uniklinik, in die Felix eingeliefert worden war. Seine Frau Felicitas war bei ihm. Seit sie mit dem Flugzeug aus München aufgebrochen waren, hatte sie kein Wort gesprochen. Kalkweiß im Gesicht stand sie neben ihrem Mann und starrte blicklos vor sich hin.

Die Empfangsdame lächelte Daniel freundlich an.

»Wie heißt Ihr Sohn?«

»Felix. Felix Norden. Ich bin Dr. Daniel Norden aus München.«

Die Dame nickte und wendete sich ab, um den Namen in ihren Computer einzutippen. Langsam verschwand das Lächeln von ihren Lippen.

»Ihr Sohn liegt auf Unfallchirurgie, ITS.« Sie hob den Kopf. Der betroffene Ausdruck in ihren Augen war nicht zu übersehen. »Chefarzt Professor Uhlich erwartet Sie schon«, erwiderte sie und beschrieb dem Ehepaar den Weg.

Als Daniel seine Frau wegführte, sah sie dem Ehepaar nach. Sie beneidete die beiden nicht.

Nur wenige Minuten später öffnete sich die automatische Tür. Timo Uhlich kam ihnen mit wehendem Kittel auf dem Flur entgegen. Er erkannte sie sofort.

»Da sind Sie ja schon. Ich hatte Sie noch gar nicht erwartet.« Er reichte zuerst Fee und dann Daniel die Hand, ehe er ihnen einen Platz in seinem Büro anbot. Doch keiner der beiden hatte die Ruhe zu sitzen. So blieb auch der Professor stehen.

»Wie geht es Felix?« Es war Fee, die diese Frage stellte. Daniel sah sie von der Seite an, griff nach ihrer Hand und drückte sie.

Professor Uhlich wiegte den Kopf.

»Ihr Sohn und sein Freund sind mit dem Flugzeug abgestürzt. Dabei haben sich beide so schwer verletzt, dass wir operieren mussten.« Er machte eine Pause und sah kurz hinunter auf seine ineinander verschlungenen Hände. »Allerdings hat es Felix wesentlich schlimmer erwischt. Wir gehen davon aus, dass er der Pilot war.«

»Die Verletzungen?«, erkundigte sich Dr. Norden.

»Rippenserienfraktur rechts, schweres Thoraxtrauma, Pneumothorax, instabiles Becken. Dazu ein schweres Schädel-Hirn-Trauma.«

Felicitas schlug sich die Hand vor den Mund. Aber kein Laut kam über ihre Lippen.

»Wird er wieder gesund?« Es war ihr Mann, der diese Frage stellte.

»Das wissen wir nicht«, gestand der Professor wahrheitsgemäß. »Im Augenblick ist er zumindest stabil.«

Daniel wusste, was das bedeutete.

»Die nächsten 24 Stunden entscheiden über sein weiteres Schicksal.«

»Aber auch dann kann niemand sagen, ob wir nicht mit Folgeschäden zu rechnen haben. Ich kann nur versuchen, Ihnen Trost zu spenden. Falsche Hoffnungen will ich aber nicht wecken.« Es war Timo Uhlich anzusehen, wie schwer ihm diese Worte über die Lippen kamen. »Wir haben Ihren Sohn in ein künstliches Koma versetzt, damit der Körper sich beruhigen kann. Alles andere müssen wir abwarten.«

Mit regloser Miene hatte Felicitas die Ausführungen des Professors angehört.

»Können wir ihn sehen?«

»Natürlich.« Er ging zur Tür. Daniel ließ seiner Frau den Vortritt. Er folgte als Letzter und schloss die Tür hinter sich. »Allerdings möchte ich Sie warnen.«

»Nicht nötig. Ich bin selbst Ärztin. Kinderärztin. Ich weiß, wie Unfallopfer aussehen.«

»Wie Sie wollen.« Professor Uhlich nickte und bog in eines der Zimmer ab, die rechts und links vom Gang abzweigten.

Obwohl das Ehepaar auf den Anblick vorbereitet war, atmeten sowohl Fee als auch Daniel tief durch. Felix lag im Bett. Von seinem zerschundenen Körper und dem Gesicht war nicht viel zu sehen. Verbände, Kabel und Schläuche bedeckten ihn fast gänzlich. Das Beatmungsgerät zischte und saugte in regelmäßigen Abständen, die Überwachungsgeräte piepten. Timo Uhlich überprüfte die Werte. Für den Moment war er zufrieden.

»Gut. Dann lasse ich Sie jetzt mit Ihrem Sohn allein. Falls Sie Fragen haben oder etwas brauchen, finden Sie mich in meinem Büro.«

Erst als der Professor gegangen war, rann Fee eine einsame Träne über die Wange. Sie stand am Bett und streichelte Felix‘ Hand, bedacht darauf, die Infusionsnadel nicht zu verschieben.

»Bitte, Felix! Bitte komm zurück«, flüsterte sie. »Wir brauchen dich doch.«

Die Hände auf ihren Schultern stand Daniel Norden hinter seiner Frau, bereit, sie jederzeit aufzufangen, falls ihr die Beine versagen sollten. Mehr konnte er im Augenblick nicht tun, und es war mehr als schwer, dieses Gefühl auszuhalten.

*

»Was soll das heißen? Du weißt nichts Genaueres?«, schimpfte Lenni, als sich der Rest der Familie Norden am Abend wie immer um den Esstisch versammelt hatte. Trotzdem war diesmal alles anders. Die Stimmung schwankte zwischen Angst und Verzweiflung.

»Wozu bist du denn Arzt?«, fragte ihr Gefährte Oskar und stellte eine Schüssel Kartoffelgratin auf den Tisch. Obwohl es köstlich duftete, hatte niemand Hunger. Alle waren krank vor Sorge um Felix. Auch Danny. Dementsprechend gereizt fiel seine Antwort aus.

»Meine Güte! Ich war doch bei der OP nicht dabei.«

»Schon gut. Es tut mir leid.« Entschuldigend hob Oskar die Hände. »Jemand Gratin?«

Alle schüttelten den Kopf.

»Ich weiß gar nicht, warum Lenni überhaupt gekocht hat«, murmelte Anneka. Sie war leichenblass und saß mit gesenktem Kopf am Tisch. Ihr Freund, der Rettungsassistent Noah, saß neben ihr. Seine Augen hingen an dem Gratin. Doch angesichts der getrübten Stimmung wagte er nicht zu gestehen, wie hungrig er war.

»Weil es gerade in so einer Situation wichtig ist zu essen«, hallte Lennis energische Stimme aus der Küche. »Die Nerven brauchen Nahrung. Sonst haben wir hier innerhalb kürzester Zeit den schönsten Streit.« Sie kam ins Esszimmer und stellte gebratene Austernpilze und eine Schüssel Salat auf den Tisch.

Dannys Freundin Tatjana betrachtete die Köstlichkeiten.

»Na ja, Essen hat noch nie geschadet«, beschloss sie schließlich. Über den Tisch hinweg sah sie Noah an. Trotz ihres eingeschränkten Sehvermögens wusste sie, wie hungrig er war.

Schlagartig fühlte er sich ertappt. Das Blut schoss ihm in die Wangen.

»Woher weißt du das denn schon wieder?«

Tatjana lachte, wenn auch nur leise.

»Ich hab gehört, wie dein Magen geknurrt hat.«

»Diese Frau ist ein Phänomen.« Ungläubig schüttelte Danny den Kopf.

Bei einem Verkehrsunfall hatte Tatjana vor vielen Jahren das Augenlicht verloren. Doch statt die Flinte ins Korn zu werfen, hatte sie sich kopfüber ins Leben gestürzt, war mit ihrem Vater in den Orient gereist und hatte schließlich einige Jahre dort gelebt. In dieser Zeit hatten sich ihre übrigen Sinne auf fast mystische Weise geschärft. Davon profitierte sie immer noch, selbst wenn sie durch eine Operation inzwischen wieder halbwegs sehen konnte.

»Also los. Teller her!«, verlangte sie unbeeindruckt und häufte Noah Gratin auf.

Zögernd hoben alle anderen ihre Teller, und bald danach verriet das Klappern des Bestecks, dass Lennis Plan aufgegangen war. Eine Weile herrschte das, was der jüngste Sohn der Familie gern als gefräßiges Schweigen bezeichnete.

»Wie konnte das bloß passieren?« Janni war schließlich auch als Erster fertig und lehnte sich zurück. Nachdenklich blickte er in die Runde. »Ich meine, so eine Cessna ist ja nicht wie eine Drohne, bei der die Software versagt.«

»Man könnte meinen, du sprichst aus Erfahrung«, kam seine Zwillingsschwester Dési nicht umhin, ihn aufzuziehen.

»Bei Jan hatte die Sache wenigstens einen Sinn.« Anneka versuchte, das Gespräch zu entschärfen. »Ohne den Unfall wäre Melinas Krankheit viel zu spät entdeckt worden. So wird sie höchstwahrscheinlich wieder gesund. Felix’ Absturz dagegen ist völlig unnötig.«

»War doch klar, dass das eines Tages passieren würde«, stellte Danny bitterfest. »Bei seinen Fahrkünsten … Mum und Dad hätten ihm die Fliegerei von vornherein verbieten müssen.«

»Ach ja?« Tatjana schenkte ihm einen funkelnden Blick. »Hättest du dir etwa verbieten lassen, Arzt zu werden?«, stellte sie eine provokante Frage. »Und apropos Fahrkünste … Ich erinnere mich da zufällig an eine Beule in deinem Wagen …«

Danny verdrehte die Augen.

»Meine Güte! Was kann ich denn dafür, dass dieser Betonpfosten am Straßenrand so niedrig war, dass ich ihn nicht sehen konnte?«, gab er ärgerlich zurück.

Trotz der Sorge um Felix lachten alle, als sich ein Schlüssel im Schloss drehte.

»Drei Dinge helfen, die Mühseligkeiten des Lebens zu tragen.« Pathetisch hallte Aprils Stimme durchs Haus. »Die Hoffnung, der Schlaf und das Lachen.« Ganz und gar nicht pathetisch wirbelte sie ins Esszimmer. Die Ketten um ihren Hals klapperten leise. Ihr wirres, lockiges Haar wehte mit dem Tuch um die Wette, das sie zum Schutz vor der Kühle des Abends um die Schultern geschlungen hatte. Ein übergroßes, gemustertes Männerhemd diente als Minikleid. Um die Hüften hatte sie einen Zopfpulli als Gürtelersatz geknotet. Ihre Füße steckten in Stoffturnschuhen. In diesem Aufzug sah sie aus wie ein Hippie und wirkte frisch und unschuldig wie ein Mädchen vom Land. So hatte Felix sie auf einer Silvesterparty kennengelernt, und auf genauso verrückte Weise war sie in seinem Elternhaus gelandet und geblieben, während er in einer anderen Stadt seine Ausbildung zum Verkehrspiloten machte. Beide wussten nicht, was genau es war, was sie verband. Zumindest nicht bis zu dem Augenblick, als April in die betretenen Gesichter ihrer Wahlfamilie blickte.

»Was ist? Warum glotzt ihr mich alle so komisch an?«, fragte sie in ihrer schnoddrigen Art. »Stimmt was nicht mit meiner Mutter?«

»Wieso deine Mutter?«, fragte Dési verständnislos.

»Ach, die hat mich neulich angerufen und mir die Ohren vollgeheult von wegen wie schlecht’s ihr geht und dass ich mich ruhig mal um sie kümmern könnte.«

»Was? Aber sie war doch diejenige, die dich im Stich gelassen hat.« Für einen kurzen Augenblick traten die Sorgen um Felix in den Hintergrund.

»Stimmt auffallend. Aber ihr Alter hat sie sitzen gelassen, und irgendwie hat Vera spitzgekriegt, dass ich bei euch das goldene Los gezogen hab. Jetzt will sie auch was abhaben vom Kuchen. Aber das kann sie sich abschminken.« Mit einem Plumps ließ sich April auf den freien Stuhl am Tisch fallen und strich sich eine wirre Strähne aus dem Gesicht. Ihr forschender Blick wanderte über die Runde. »Ich seh schon: Darum gehts wohl grad nicht. Also raus mit der Sprache! Was geht ab? Wo steckt überhaupt die Frau Mama-Doktor? Und der Papa?«

Es war schließlich Dési, die April die Wahrheit sagte.

»Sie sind bei Felix. Er ist gestern Abend mit dem Flugzeug abgestürzt.«

Entgeistert starrte April sie an. Es war offensichtlich, dass sie die Bedeutung dieser Worte nicht sofort begriff. Erst nach und nach wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. Ihr Magen fühlte sich an wie ein Stück Blei.

»Ach du heilige Scheiße!« Eine einzige, furchtbare Frage taumelte ihr durch den Sinn. Sie wagte kaum, sie zu stellen. »Ist er tot?«

Danny schüttelte den Kopf.

»Er wurde in der Uniklinik operiert und liegt jetzt auf der Intensivstation.«

April starrte durch ihn hindurch.

»Intensiv? Dann ist es schlimm, oder? Mein armer, kleiner Pupsbär …«

Im Normalfall amüsierte sich die ganze Familie köstlich über Aprils ungepflegte Ausdrucksweise, die immer dann herausbrach, wenn sie aufgeregt, nervös oder traurig war. Doch diesmal lachte niemand. Es war mucksmäuschenstill, während sie Danny aus tränenblinden Augen anstarrte.

»Wann? Warum? Ich meine … warum hat mir keiner Bescheid gesagt?«

»Du warst doch in der Abendschule und hattest dein Handy nicht an«, erinnerte Dési sie.

April presste die Lippen aufeinander.

Schlagartig wurde der ganzen Familie wieder bewusst, welches Unglück wie ein Damoklesschwert über ihnen schwebte. Diesmal konnte auch Lennis Nachtisch die Stimmung nicht mehr retten, und mit Leichenbittermienen saßen sie am Tisch, bis Danny seine Freundin schweren Herzens zum Aufbruch mahnte.

*

Wie durch ein Wunder war Felix‘ Freund und Mitschüler auf der Verkehrsfliegerschule mit ein paar Knochenbrüchen, Prellungen und Quetschungen davongekommen. Nach der Operation und der Aufwachphase im Wachraum war er in ein normales Zimmer umgezogen.

»Hast du was von Felix gehört?«, fragte Manuel seinen Vater, der am Krankenbett stand und eine Nachricht in sein Handy eintippte.

»Er wurde operiert und liegt auf der Intensivstation«, erwiderte Roland lapidar und ohne aufzusehen.

Manuel schnappte nach Luft.

»Lebensgefahr?« Seine Stimme war verwaschen von den Prellungen, die er sich im Gesicht zugezogen hatte. Schmerzmittel und Reste der Narkose erledigen das Übrige.

»Keine Ahnung.« Roland zuckte mit den Schultern. Noch immer tippte er auf seinem Mobiltelefon herum.

»Handys sind in der Klinik verboten«, tadelte Manuel ihn, erntete aber nur ein abfälliges Lachen.

»Ich bin mein eigener Chef und kann machen, was ich will.«

»Aber …«

»Halt die Klappe!«, fuhr Roland seinen einzigen Sohn an. Für einen Moment vergaß er sein Handy und funkelte Manuel wütend an. »Wegen dir steht mein guter Name auf dem Spiel. Das muss ich verhindern.«

Manuel versuchte, den Kopf zu heben. Vergeblich. Stöhnend sank er zurück in die Kissen.

»Was hast du damit zu tun? Ich war es, der ohne Lizenz geflogen ist. Ich hab den Flieger in den Wald gesetzt, weil ich zum ersten und letzten Mal in meinem Leben eine Rolle fliegen wollte. Das ist alles auf meinem Mist allein gewachsen.«