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Liebesglück auf Capri Nach außen hin lebt Letizia den Traum: Sie wohnt im Herzen der wunderschönen Insel Capri und verdient ihren Lebensunterhalt als Sängerin. Dabei reicht das Geld hinten und vorne nicht, um ihre kranke Schwester zu versorgen. Als sie auf einer Hochzeit in Capri singt, trifft sie in einem nahezu magischen Moment Graziano, den Konditor aus der Via dell'Amore. Doch sie verschwindet, noch bevor er ihren Namen erfährt. Als sie ein paar Tage später vor ihm steht und mit ihm gemeinsam einen Werbefilm über die romantischste Gasse Neapels drehen soll, scheint es wie ein Wink des Schicksals … Wird sie ihm und der Liebe dieses Mal eine Chance geben? Charmant, bunt und typisch süditalienisch
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Alles Glück beginnt auf Capri
ROBERTA GREGORIO wurde 1976 in Fürstenfeldbruck in Bayern geboren und ist dort direkt an der Amper aufgewachsen. Auch heute lebt sie mit ihrer Familie am Wasser, nur nicht mehr am Fluss, sondern am Meer, genauer – in Süditalien. Gleich geblieben ist ihre große Leidenschaft für Worte, Texte und Manuskripte. Wenn sie nicht schreibt oder liest, übersetzt sie.
Von Roberta Gregorio sind in unserem Haus bereits erschienen:Die kleine Eismanufaktur in AmalfiDer zauberhafte Papierladen in AmalfiDie Zitronenblüten von AmalfiCapri bedeutet für immer
Roberta Gregorio
Roman
Ullstein
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Epilog
Leseprobe: Capri bedeutet für immer
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Cover
Titelseite
Inhalt
Kapitel 1
Es war ein wundervoller, sonniger Morgen auf Capri. Von Letizias Balkon aus war das Meer zu sehen. Es hatte auch an diesem Tag eine ganz besondere Farbe. So eine Mischung aus allen Schattierungen von Blau und Grün.
Türkis?
Ja und nein.
Letizia wusste selbst nicht so recht, welche Bezeichnung am besten passte. Sie wusste nur, dass ein Blick darauf wie Balsam für ihre Seele war. Noch mehr, da das Meer sich an diesem Tag so hübsch bewegte, dass es den Wellen weiße Krönchen aufsetzte. Krönchen bis zum Horizont, Krönchen ins Unendliche. Ein Anblick, der sie immer wieder aufs Neue erfüllte. Sie war mit dem Meer groß geworden. Daran sattsehen konnte sie sich aber nicht.
»Meraviglioso!«, sagte Liberato, ihr Nachbar, der mit seiner Familie den Sommer über das Häuschen ihr gegenüber bewohnte. Anders als Letizia hatte er eine Dachterrasse, die zu dieser Uhrzeit exklusiv von ihm genutzt wurde. Seine Frau Anna und die beiden Söhne frühstückten lieber in der Küche, wie er Letizia mal erzählt hatte. Nicht so Liberato, der mit seinem ersten caffè an diesem Tag dasaß und verträumt den Ausblick genoss.
Letizia war ein bisschen stolz, dass ihr Meer für so viel Entzücken sorgte. Sie verstand ihn gut …
Nun nickte sie und winkte ihm. Der Wind rüttelte sanft an ihrem Rock, schob ihr ein paar lose Locken ins Gesicht und transportierte hoffentlich auch ihren Gruß direkt zu Liberato.
Letizia gab sich schließlich einen Ruck, pflückte eine noch unreife Zitrone von dem Bäumchen, das schon seit mindestens sechs Jahren im großen Terrakotta-Topf auf ihrem Balkon wuchs. Sie musste es aus Platzgründen immer wieder stutzen, und irgendwann würde sie sich schweren Herzens davon trennen müssen. Bäume waren nicht geschaffen für ein Leben auf Balkonen.
Sie schlüpfte durch das Balkonfenster zurück in die Küche und warf ihrer Schwester die Zitrone zu, um die sie sie gebeten hatte. Angelina trank ihren Tee morgens immer mit einer Scheibe davon. Doch jetzt blickte sie nur gelangweilt der Frucht hinterher, die durch die Luft flog und mit einem dumpfen Aufprall gegen die Küchenwand schlug, auf den Boden plumpste und sich noch ein paarmal auf den hellen Fliesen mit farbenfrohem Muster im Kreis drehte, bevor sie liegen blieb.
»Fangen wäre keine schlechte Idee gewesen«, bemerkte Letizia, bückte sich ächzend, um die noch grüne Zitrusfrucht aufzuheben und zu waschen. Das Waschbecken war noch aus Nonnas Zeiten, ein großes, tiefes Ding aus weißer Keramik, für das Leute heutzutage ein Vermögen ausgeben würden. Es trug Spuren der Zeit, war fleckig, aber auch eines der Stücke, die sie an Nonna sowie an ihre geliebte Mamma erinnerten. Letizia schluckte.
Mamma …
»Du hättest sie mir auch einfach überreichen können«, antwortete Angelina, holte damit Letizia aus ihren tristen Gedanken, blickte sie dabei aber gar nicht an. Angelina war jetzt vertieft in ihre Lektüre, saß mit angewinkelten Beinen am ausladenden Küchentisch in ihrem übergroßen Schlafshirt und der obligatorischen Strickjacke, die sie sich stets um den Körper wickelte. Ganz egal, zu welcher Jahreszeit. Ihre langen schwarzen Haare waren locker in einem hohen, unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Im Gegensatz zu Letizias Locken war Angelinas Haarpracht so glatt wie schillernde Seide.
Blass und dürr war Angelina. Manchmal konnte Letizia gar nicht hinsehen, so krank sah sie aus. Sie drehte sich auch an diesem Morgen weg, wie sie es immer tat, schnitt die Zitrone auf, legte eine Scheibe in Angelinas Tee und reichte ihr die Tasse.
»Hast du …«, setzte Letizia an.
Angelina legte sofort ihr Buch weg und zeigte mit dem Zeigefinger auf Letizia, die vorsichtshalber die Tasse doch lieber wieder abstellte.
»Nein. Nein, nein, nein …«, wiederholte Angelina mit einem genervten, aber auch drohenden Ton. »Du wirst mich jetzt nicht schon wieder fragen, ob ich meine Tabletten genommen habe!« Sie stand sogar auf und wedelte mit den Händen. Eine Angewohnheit, die sie schon als Kind gehabt und nie abgelegt hatte.
Letizia ging mit beschwichtigenden Armbewegungen auf sie zu. »Schon gut, tut mir leid.«
»Ich wünschte, ich könnte sie vergessen, diese bescheuerten Tabletten. Aber meinst du, ich kann das? Hm?« Die Wut hatte Angelinas Wangen eine hübsche Röte verliehen.
Doch obwohl es lebendig aussah, sorgte Letizia sich nur noch mehr. Sie stellte sich nah zu ihrer Schwester, nahm deren Hände in ihre, blickte ihr in die Augen. Angelina war einen Kopf kleiner, jünger und Letizias einzige Familie. »Es tut mir leid. Kannst du dich jetzt beruhigen?«, fragte sie sanft.
Ein paar Sekunden lang sahen sie sich stumm an. Letizia hatte einen Hundeblick aufgesetzt, und Angelina versuchte, nicht zu lachen. Sie wussten natürlich beide, dass alles gut werden würde. Kein Streit würde sie auseinanderbringen. Nie im Leben.
Als Angelina gerade etwas erwidern wollte, klopfte es an der Tür. Letizia bot sich an, aufzumachen, musste dafür über eine steile Treppe mit hohen Stufen in das Erdgeschoss. Dort hingen im kleinen Eingangsbereich unzählige Mobiles, die Angelina aus Strandgut anfertigte. Sie behauptete immer, dass sich darin die Seelen der guten Geister verfingen. Und manchmal, wenn ein Windhauch in der Nacht daran rüttelte, fragte Letizia sich, ob ihre Schwester nicht recht hatte.
Unten öffnete sie die schwere Holztür, die sie erst im letzten Sommer hellblau gestrichen hatte. Donatello stand vor ihr. Einer von Liberato und Annas Söhnen, der in etwa so alt war wie Angelina. Er kam immer mal wieder vorbei. Oft brachte er Angelina seine gelesenen Bücher. Sie kannte ihn zwar schon, seit er ganz klein war, aber die Freundschaft war erst in diesem Sommer so richtig aufgeblüht. Letizia hätte sich nicht mehr darüber freuen können. Ihre Schwester brauchte genau das: einen normalen Umgang mit Gleichaltrigen.
»Buongiorno!«, grüßte er mit einem Grinsen und hielt ihr ein zerfleddertes Buch entgegen – als wäre es seine Eintrittskarte. Letizia nahm es und konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Er sah ein bisschen wie ein Teenager aus, der sich durch einen Zauber in einen Erwachsenen verwandelt hatte, dabei aber noch immer etwas Schelmisches an sich hatte. Donatello hatte die Zerstreutheit seines Vaters und die Schönheit seiner Mutter geerbt. Mit seinen dunklen Haaren, feinen Gesichtszügen und den beinahe schwarzen ernsten Augen war er ein Hingucker, auch wenn er es gar nicht zu merken schien.
»Komm rein, Angelina ist in der Küche oben«, bot sie ihm an. Und schon war er weg. Mitsamt Buch, das er sich wieder geschnappt hatte.
Letizia schloss die Tür und verharrte einige Augenblicke lang so, angelehnt an den Türrahmen. Manchmal war ihr alles zu viel, manchmal wünschte sie sich ein einfacheres Leben. Aber dieses Gefühl, komplett ausgelaugt zu sein, dauerte zum Glück immer nur wenige Sekunden an. Auch an diesem Tag schüttelte Letizia alle Sorgen von sich, rief ihrer Schwester ein »bis später« zu, nahm die Handtasche vom Haken und machte sich auf zu Mario, dem Lebensmittelverkäufer, dessen Piccola Bottega gleich an Capris berühmter Piazzetta in der Via Roma lag und der dort allerhand Leckeres und Landestypisches verkaufte. Es war nur ein Katzensprung von ihrem Haus zur Piazzetta, aber ein Tourist würde sich vermutlich verirren. Zumindest die ersten paar Mal. Das Wirrwarr an Gassen, treppauf, treppab, war nicht einfach zu durchschauen. Außer man war wie Letizia in der mittelalterlichen Altstadt geboren.
Ja, sie war ein Inselkind, und sie liebte Capri. Doch manchmal, und in letzter Zeit immer öfter, wurde es ihr zu eng.
Der Kontrast, sobald Letizia aus dem Teil der Insel, der eher von den Einheimischen frequentiert wurde, auf die komplett touristische Piazzetta trat, war meist sehr stark. Wie ein bebender Applaus nach einem Ave-Maria. Nicht unangenehm, eher überraschend, laut und bewegend. Der Andrang hatte in den letzten Jahren sogar noch zugenommen, sodass der kleine Marktplatz manchmal so voll war, dass man nur stehen oder schieben konnte. Noch war es überschaubar, weil die Tagestouristen so früh am Morgen erst allmählich an Land kamen. Die Piazza war natürlich trotzdem bereits gut besucht, die Tische vor den Bars rundherum besetzt mit heiteren Menschen aus aller Welt, die unentschlossen schienen, ob sie sich von der Sonne wärmen lassen oder sich lieber vor ihr schützen wollten. Und je mehr Letizia sich umblickte, umso besser wurde ihre Laune. Sonnenbrillen, Sommerkleider, Sonnenhüte. Lachen, Singen, Tanzen. Sonnencreme, Parfum, Zitronenduft. Wie glücklich sie alle aussahen! Und was für eine Lebensfreude! Diesem locker-leichten Sommergefühl konnte selbst Letizia sich nicht entziehen. Sommer auf Capri war der Moment, in dem alles möglich erschien, alles strahlte, die Magie sich entfaltete.
Angesteckt von der guten Laune, erreichte Letizia Marios Lebensmittelladen. Rechts davor hingen getrocknete Peperoncini, feuerrot, links davon wuchs ein Bougainvillea-Strauch das Gebäude empor und sah mit seinen prächtigen pinkfarbenen Blättern aus wie ein nie erlöschendes Feuerwerk. Etwas schlichter, aber ganz der Persönlichkeit des Besitzers angepasst, hing ein Schild über der Eingangstür. Einfaches Holz mit der Aufschrift Piccola Bottega.
Letizia trat ein in den eher kleinen Raum, in dem sich so viel Schmackhaftes befand, dass selbst sie, die sich auskannte, oft von den Eindrücken übermannt wurde. Es roch nach frischem Brot und gleichzeitig nach Zitronen und irgendetwas Würzigem. Sie bekam augenblicklich Hunger, obwohl sie eben erst gefrühstückt hatte. Alles war ordentlich angeordnet, besonders das Pasta-Sortiment war groß und hübsch aufgereiht in einem offenen Küchenschrank aus den Sechzigerjahren, den Letizia besonders mochte. Mario hatte dem Möbel einen neuen, sanftgrünen Anstrich verpasst, sodass es zur restlichen Einrichtung passte. Ein echter Augenschmaus.
Und in der Tat steuerte Letizia direkt auf die Ecke zu, in der es von Packungen mit kunstvoll zubereiteten Nudeln wimmelte. Sie nickte auf dem Weg dorthin Mario zu, der sofort seine übliche Kopfbedeckung – einen uralten, zerfledderten Strohhut mit dunkelblauem Stoffband – abnahm, um sie herzlich zu begrüßen. Er saß wie immer an seinem alten Holztisch, auf dem eine kleine, jedoch durchaus moderne Kasse stand.
»Bellezza, buongiorno. Tutto bene?«, fragte er freundlich, während er einer anderen Kundin Zitronenkekse in eine Tragetasche packte. Die Kundin verließ dann winkend und mit vielen kleinen, tänzelnden Schritten, die beim Aufschlagen auf Marios antiken Terrazzo Klack-klack-Geräusche machten, den Laden.
»Ja, alles gut, grazie mille. Selbst?«
Er zuckte mit den Achseln, fand wohl, dass es nun reichte mit den Höflichkeitsfloskeln. Und da holte er schon tief Luft und tat das, was er immer tat, wenn Letizia in den Laden kam: Er stimmte ein Lied an. Das Lied, wie er immer behauptete. »Tu, luna, luna tu, luna caprese …«, begann er mit erstaunlich fester und melodischer Stimme, den 1953 von Augusto Cesareo geschriebenen Weltschlager Luna Caprese zu singen. Es ging darin um den Mond, der über Capri atemberaubend schön aussah. Aber es ging auch um die Liebe. Wie denn auch nicht?
Mario sah Letizia aufmunternd an. In einer anderen Situation hätte sie bestimmt mit den Augen gerollt. Sie wollte nur Pasta für das Mittagessen einkaufen und nicht schon wieder singen, was sie zurzeit in der Hochzeits- und Sommersaison schon beinahe jeden Tag beruflich tat. Aber Mario war herzallerliebst, wirkte wie die Art von Nonno, die jeder gerne hätte, und bat sie zwischen den Liedzeilen darum, ihm eine kleine Freude zu bereiten. Also holte auch Letizia tief Luft. » Ca faje sunnà ll’ammore …«, sang sie sanft in neapolitanischem Dialekt. Sie glich ihre Stimme gekonnt seiner an, womit sie den wundervollen Refrain harmonisch klingen ließ und die Aufmerksamkeit der anderen Kunden des Ladens auf sich zog, sodass diese sich umdrehten und sie verzückt anstarrten. Im Hinterkopf fragte sie sich, ob die Touristen diese kleine Szene als hübsche und ungewöhnliche Erinnerung an Capri mit nach Hause nehmen würden. Sie wünschte es sich plötzlich sehr und legte sich noch ein bisschen mehr ins Zeug. »Tu, luna, luna tu, luna caprese!«, schlossen sie den Gesang schließlich inbrünstig gemeinsam ab. Danach war es einen Augenblick lang ganz still, bevor die Kunden im Laden begeistert applaudierten. Letizia verbeugte sich und hörte jemanden sagen, dass es genau das war, was Italien so besonders machte.
»Signore e signori, unsere Letizia!«, stellte Mario sie nun auch noch laut vor, was ihr doch ein bisschen peinlich war. »Sie ist eine der begabtesten Sängerinnen hier auf Capri. Natürlich gleich nach mir«, erzählte er augenzwinkernd. »Falls Sie also jemanden brauchen, der Ihre Abende zu einem musikalischen Erlebnis macht, wenden Sie sich gerne an sie!«, machte er einfach weiter. Er reichte auch ihre Visitenkärtchen herum, die sie ihm vor einiger Zeit dagelassen hatte. Aber Letizia winkte nun deutlich ab.
Pasta.
Genau!
Entschlossen ging sie auf das Regal zu und entnahm eine Packung Paccheri, schritt dann gleich darauf zur Kasse, aber Mario winkte sie durch. »Lasst es euch daheim schmecken, die Pasta geht auf mich!«, sagte er leise und zwinkerte ihr zu.
Sie wollte schon protestieren, aber er duldete keine Widerrede, also steckte sie die Nudeln unter den Arm und ging.
So war es oft auf Capri. Die Einheimischen, die echten Insulaner, waren eine große Familie, die zusammenhielt.
Als Letizia durch die Gassen nach Hause ging, traf sie vor Ninettas Haustür auf ihren Nachbarn Liberato. Die Gasse war hier so eng, dass sie nur hintereinander durchgehen konnten. Ninettas Lieblingssendung lief. Eine Talkshow. Die Moderatorin war sehr deutlich zu hören, selbst auf der Gasse und durch das weit offene Fenster. Für Ninetta wahrscheinlich weniger deutlich, da sie zwar schwerhörig war, sich aber weigerte, sich ein Hörgerät zuzulegen. Zur Freude der Nachbarn.
Die Sonne schien Letizia ins Gesicht. Sie glaubte sogar, das Meer zu riechen. Und einen Augenblick lang war alles perfekt.
»Letizia, gut, dass ich dich erwische. Ich wollte dich schon länger fragen, aber ich habe nie den richtigen Moment dazu gefunden …«, erklärte Liberato und schob seine Brille auf der Nase zurecht.
Letizia merkte förmlich, wie sich ihre Stirn in Falten legte. Liberato wirkte fast besorgt. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie direkt, während sie ganz automatisch darüber nachdachte, ob sie wohl etwas verbrochen hatte. Sie konnte sich plötzlich vorstellen, dass seine Studenten großen Respekt vor ihm hatten. Dabei war er gar nicht mal so streng.
Der Professor nickte mit Nachdruck, was seine Brille wieder dazu brachte, die Nase herunterzurutschen. »Ja, ja. Natürlich. Es ist alles in Ordnung. Ich habe mich nur gefragt, da Donatello in letzter Zeit öfter bei euch ist, ob er wohl etwas gesagt hat?«
»Er spricht eigentlich mehr mit Angelina als mit mir. Aber, was soll er denn gesagt haben?« Sie verstand noch immer nicht, was Liberato herausfinden wollte. Auch lenkte sie Ninettas Fernsehprogramm ein wenig von ihrem Nachbarn ab. Es ging gerade um Serena Autieri, eine von Letizias Lieblingssängerinnen und -schauspielerinnen aus Neapel.
»Nun, er hat Flausen im Kopf. Er ist ein guter Junge, aber er hat da diese Idee, ganz nach Capri zu ziehen, um hier ein Buchgeschäft zu eröffnen. Auf einer Insel, wo Ladenräume so viel kosten, dass ich eine Niere verkaufen müsste, um ihm dabei zu helfen. Mein Nachname ist ja weder Berlusconi noch Agnelli oder Briatore …« Er kratzte sich etwas hilflos am Kopf.
»Davon wusste ich noch nichts.« Ihr fiel nicht viel mehr ein, was sie dazu hätte sagen können. Donatello war ja erwachsen.
»Ich hatte auch gehofft, ihr könntet es ihm ausreden. Er will sein Studium an den Nagel hängen. Das muss ich unterbinden. Er verbaut sich seine Zukunft.«
»Mal sehen, was sich da machen lässt …«, sagte sie, um weiterzukommen, und nicht, weil sie wirklich glaubte, etwas ausrichten zu können. Sie streckte den freien Arm seitlich von sich und zog die Schultern zusammen – so gut es ging, ohne dass ihr die Nudeln herunterfielen.
»Danke, Letizia. Halte mich auf dem Laufenden, ja?«
Sie nickte, verabschiedete sich und ging weiter.
Es war schon manchmal seltsam im Leben. Ihr wurde es auf der Insel beinahe zu eng, und ein junger Mann vom Festland träumte davon, fest auf der Insel leben zu können.
Der Gedanke an Donatello verflog aber, noch bevor sie zu Hause war.
Graziano nahm seine Aufgabe als Konditor der wohl romantischsten Gasse in der Altstadt Neapels – der Via dell’Amore – sehr ernst. Zusammen mit den anderen Ladenbesitzern, die sich auf der gesamten Länge der Gasse befanden, bemühte er sich täglich darum, Paaren, die sich das Jawort geben wollten, jeden Wunsch zu erfüllen. Es gab kein Projekt, vor dem er zurückschreckte, keine Vorstellung, die ihm zu gewagt erschien. Er arbeitete mit Herz und Seele, gab immer alles. Manchmal sogar zu viel, wie seine Nonna Tommasina oft behauptete. Und sie musste es ja wissen, war sie doch die inoffizielle Königin der Gasse. Die Älteste und Erfahrenste, wenn es um Geschäftliches, aber auch Persönliches ging. Sie passte noch immer auf, dass in der gesamten Via alles unter Kontrolle war und reibungslos verlief, obwohl sie nicht mehr aktiv mitarbeitete. Manchmal vermittelte sie trotzdem noch Kundschaft.
»Graziano, bello di nonna. Kannst du dich noch an Billy erinnern?«, hatte sie vor einigen Monaten gefragt, als sie die Pasticceria betreten hatte, gewohnt gut gekleidet – nie ohne Kaftan – und perfekt geschminkt und frisiert. Sie war noch immer die Art von Frau, nach der man sich umblickte. Wie bei einer guten Show wurde man nie müde, sie in all ihren Bewegungen und Gewohnheiten zu beobachten. Ihre drei Chihuahuas Diego, Ciro und Fabio folgten ihr auf Schritt und Tritt. Man mochte zwar meinen, dass sie bei ihrer winzigen Körpergröße kaum gesehen wurden, doch waren sie zusammen das Element, das Tommasina charmant komplettierte. Tommasina ohne ihre Hunde … das war unmöglich.
Graziano hatte aufgeblickt von seinem Laptop, an dem er einige Mails beantwortete. Denn, ja, als Inhaber hatte er zudem auch den ganzen Papierkram zu machen.
»Welcher Billy, Nonna?«, hatte er sich, noch immer in seine Anfrage vertieft, eher weniger interessiert erkundigt. Er hatte keinen blassen Schimmer, von wem Tommasina sprach. Und man wusste auch nie, in welche Richtung so ein Gespräch mit ihr führen würde, wenn man sich darauf einließ.
»Na, Mafaldina und Candidos Sohn, der in den Siebzigerjahren ausgewandert ist. Musste er, quasi. Er war in seltsame Kreise geraten. Weißt du noch?«, hatte sie ihn ermuntert.
Nein. Wusste er nicht. Da war er noch nicht mal geboren. Also hatte er unverfänglich mit den Schultern gezuckt.
»Lenas Bruder!« Nun war sie schon etwas ungeduldiger geworden.
Graziano klappte resigniert seinen Laptop zu, um seiner Nonna etwas konzentrierter zu folgen. Noch immer war ihm kein Licht aufgegangen.
»Nonna, um was genau geht es?« Da Arbeit auf ihn wartete, wollte er gerne direkt zum Punkt kommen.
Sie hatte ihm trotzdem lang und breit von diesem entfernten Verwandten aus den Staaten erzählt, dessen Tochter in Italien heiraten und eine Torte bei ihm bestellen wollte.
Und so hatte die ganze Sache damals angefangen.
Graziano hatte schon viele verrückte Anfragen in der Pasticceria bekommen. Kuchen in allen möglichen Farben und Formen. Seltsame Füllungen – einmal sogar Creme mit Curry-Geschmack. Das war zwar von der Ehefrau als Scherz für die indische Familie des Ehemanns gedacht gewesen, aber Graziano hatte die Creme trotzdem irgendwie schmackhaft machen müssen. Kein einfaches Unterfangen.
Er hatte Torten gemacht, die den Vesuv darstellen sollten. Selbstverständlich mit Lava-Kaskaden. Kuchen, die Geschlechtsteilen nachempfunden waren. Kuchen, die an einen verstorbenen Papageien erinnern sollten. Und Kuchen mit Guillotine. Klar, mit abgehacktem Kopf.
Nichts von alledem hatte ihn aus der Ruhe gebracht. Aber dieser Kuchen, den Billy bei ihm in der Pasticceria in der Via dell’Amore bestellt hatte, brachte ihn schier um den Verstand.
Billy hatte es sich nicht nehmen lassen, alles Wichtige für Catherines Hochzeit bei ihnen in der Gasse zu bestellen. Er war mit Catherine extra diverse Male aus den Staaten eingeflogen. Sie hatten sich dann stundenlang – manchmal auch tagelang – Zeit genommen, um sich bei Pamela im Brautmodenladen nach dem richtigen Kleid umzusehen, bei Cosimo im Schuhladen Schuhe anzuprobieren, bei Chiara in der Goldschmiede die Auswahl der Ringe zu bestaunen, bei Teresa die passende Blumendekoration zu diskutieren und mit Giosuè die musikalische Untermalung der Festlichkeiten zu bestimmen.
Bei ihm in der Pasticceria war anfangs auch alles sehr entspannt verlaufen. Die Braut wünschte sich eine klassische, dreistöckige Hochzeitstorte mit detailreicher Rosendekoration. Alles kein Problem. Doch dann hatte sich herausgestellt, dass die Hochzeit auf Capri stattfinden würde. Im Hochsommer. Graziano hatte sofort zu bedenken gegeben, dass die Sahnedekoration, die Catherine sich wünschte, den Transport vom Festland auf die Insel nur mit viel Glück schadenfrei überleben würde. Also hatten sie sich kurzzeitig auf Zuckerguss geeinigt, was Graziano nicht gerade entspannte. Immerhin dauerte die Überfahrt mit der Fähre trotzdem ihre Zeit. Zuckerguss war dann auch vom Tisch. Es ging so weit, dass er Billy vorgeschlagen hatte, die Torte bei einem anderen Konditor auf der Insel zu bestellen. Auch das war keine Option für Nonnas entfernten Verwandten und seine Tochter. Graziano hatte überlegt, die Torte erst auf Capri fertigzustellen. Doch fühlte er sich nirgendwo so sicher und kompetent wie in seinem eigenen Laden. Also hatte sich Billy kurzerhand entschlossen, die Torte direkt per Hubschrauber von Neapel aus auf den Landeplatz des Hotels, in dem die Hochzeit stattfand, nach Capri fliegen zu lassen. Natürlich nicht ohne Graziano.
Ein Wahnsinn. Ein Unsinn. Allein die Kosten waren so hoch, dass es gar keine Rechtfertigung dafür geben konnte.
Aber Billys Entschluss stand fest.
So machte sich Graziano jetzt also mit seinem besten Lehrling Arnaldo im Schlepptau in seinem Kühltransporter auf den Weg zum Hubschrauberlandeplatz. Es war weiß Gott nicht Grazianos erster Transport, aber in diesem Fall war er nervös. Er duldete keine Patzer, war, was Hochzeitstorten anbelangte, ein Perfektionist. Seine Schwester Chiara nahm ihn deswegen oft auf den Arm. Sie sagte immer, er solle sich mehr entspannen.
Entspannen.
Pffft.
»Vorsicht!«, rief Arnaldo und lenkte auf diese Weise Grazianos Aufmerksamkeit wieder dorthin, wo sie sein sollte: bei Neapels Verkehrschaos.
Er bremste scharf, musste sich dafür ein Hupkonzert anhören. Ihm war die Vorfahrt genommen worden. Was den Fahrern hinter ihm egal war.
Graziano fluchte nicht. Das hatte er sich abgewöhnt, seit Nonna Tommasina ihm als kleinem Jungen mal erklärt hatte, dass die Madonna jedes Mal weinte, wenn jemand ihren Sohn beleidigte. Das wollte Graziano noch immer nicht verantworten. Aber so ein winziges Schimpfwort hätte jetzt perfekt in die Situation gepasst.
»Entschuldige, Arnaldo. Ich weiß nicht, was mit mir los ist«, gab er zu. Doch nachdem er sich vom Schrecken erholt hatte, galt sein zweiter Gedanke der Torte. Er gab Arnaldo ein Zeichen, sich zu vergewissern, dass die Torte heil geblieben war. Der junge Mann sprang auch flink aus dem Auto, warf einen Blick in den Kühlraum und kam zum Glück schnell mit gehobenem Daumen wieder. Die ungeduldig hupenden Fahrer hinter sich ignorierte er. Graziano fuhr an. Möglichst schnell raus aus dem Chaos. Er blendete das penetrante Brummen der Roller aus, die so nah rechts und links von seinem Transportwagen fuhren, dass er sie eigentlich direkt hätte mit aufladen können.
»Gut, dass alles heil geblieben ist, Maestro. Ich bin selbst ganz nervös«, gestand Arnaldo ihm.
Maestro. Graziano konnte sich nicht wirklich mit der Anrede anfreunden. Aber Arnaldo ließ es sich auch nicht ausreden, denn, ja, Graziano war nun mal ein Konditormeister. Und Arnaldo der Lehrling. Graziano warf einen schnellen Blick zu dem jungen Mann hinüber, den er extra noch mal in eine einwandfreie Konditoruniform gesteckt hatte. Er sah professionell aus, wie Graziano zufrieden feststellte. Irgendwie versöhnte ihn diese Tatsache mit dem ganzen selbst auferlegten Stress. Er merkte, dass er allmählich ruhiger wurde. Und, hey, wer konnte von sich schon sagen, dass die eigenen Kreationen mit dem Hubschrauber eingeflogen wurden?
»Danke. Ich freue mich, dass du dabei bist«, sagte er schließlich und schlug Arnaldo ein paarmal scherzhaft aufs Bein.
Das Gesicht des Lehrlings erhellte sich und erinnerte Graziano kurz an die Sonne, wenn sie hinter dem Vesuv aufging.
»Es ist mir eine Ehre«, erwiderte Arnaldo und zögerte kurz, bevor er dann fortfuhr. Der Fahrtwind wirbelte seine Haare durcheinander. »Ich bewundere dich sehr, Maestro.«
Nun musste Graziano aber wirklich aufpassen, dass er nicht rührselig wurde. Er räusperte sich, drehte das Autoradio an und fand eher zufällig einen unvergesslichen Song von Lucio Battisti, wohl aus den Siebzigerjahren. Der Titel lautete Sì, viaggiare. Darin ging es um einen Roadtrip, der gut getarnt eigentlich eine Metapher für das Leben selbst war. Der Refrain war heiter und ansteckend. So sehr, dass es Graziano gelang, die Autos – viele davon, in allen Formen und Farben – auszublenden und sich daran zu erfreuen, dass es Sommer war und es ihm an nichts fehlte. Ganz im Gegenteil. Er ertappte sich dabei, dass er begann mitzusingen. Keine hundert Meter später hatte auch Arnaldo miteingestimmt. Als sie an der nächsten Ampel standen – denn auch das passierte in Neapel, dass jemand mal an einer Ampel hielt –, schlugen sie sich beide rhythmisch auf die Beine und sangen aus Leibeskräften mit, während sie ihre Köpfe wild hin und her schwangen. Einige süße Momente lang war Graziano wieder der junge Mann, der er einst gewesen war. Ohne Verantwortung, ohne das Gewicht einer traditionsgeladenen Konditorei, das allein auf seinen Schultern lastete. Vor allem aber ohne die Sorge um diese Hochzeitstorte, von der er sich nichts sehnlicher wünschte, als sie bald in andere Hände abgeben zu können, damit sie nicht mehr sein Problem darstellte.
»Du musst lernen zu delegieren!«, pflegte seine jüngere Schwester Chiara oft zu sagen.
Genau das konnte er eben nicht.
Die Ampel sprang auf Grün, und er schaffte es nicht mal, in den ersten Gang zu schalten, um anzufahren, als die Autos hinter ihm schon zum Hupkonzert ansetzten. Doch jetzt war er viel gelassener, Lucio Battisti hallte noch immer in ihm nach. Neapel war eine Stadt mit so vielen schönen Seiten: Pflastersteine auf den Straßen, das Meer ein ständiger Begleiter, teilweise prächtige Gebäude, Geschichte, Kultur und Folklore quasi an jeder Ecke. Und eigentlich liebte er das alles heiß und innig. Daran wollte er festhalten. Was er auch tat.
Rückblickend hatte er den Moment, in dem sie mit der sicher verstauten Hochzeitstorte im Hubschrauber abhoben, wie in Trance erreicht. Als sie sich aber in die Lüfte hoben, begann er loszulassen. Er hatte es fast geschafft. Was konnte jetzt noch schiefgehen?
Capri aus der Vogelperspektive war derartig schön, dass es Graziano die Sprache verschlug. Nicht, dass er sonst im Hubschrauber, wo er und Arnaldo ohnehin eher verspannt rechts und links von der professionell verpackten Hochzeitstorte saßen, eine Konversation über Kopfhörer angestrebt hätte, die sie trugen. Manchmal waren Worte sowieso überflüssig.
Der Pilot flog nach einer eleganten Kehrtwende vom Südwesten aus auf die Insel zu, und Graziano war schlichtweg überwältigt von der Intensität der Farbenpracht. Der Anblick des Meeres, das sich pittoresk bis zur scharfen Linie am Horizont erstreckte, verursachte so etwas wie eine stille Explosion in seiner Brust. Er wollte es umarmen, er wollte dem Meer sein Herz schenken. Und er wollte, dass dieses Gefühl nie nachließ. Er war beeindruckt davon, wie schroff und hoch die Steilhangküste der Insel teilweise war. Doch diese Schroffheit wurde vom Meer versüßt, das es doch irgendwie schaffte, sich harmonisch anzuschmiegen, die Härte zu umschmeicheln. Auch die Natur ließ sich nicht überall von der unbeugsamen Beschaffenheit der Felsformationen beeindrucken und bedeckte das Land gekonnt und teilweise sogar üppig mit sattgrüner Mittelmeervegetation. Graziano konnte ein paar prächtige Aleppo-Pinien ausmachen, die sich erst auf so einem Boden richtig wohlzufühlen schienen und sich gern windschief, aber absolut elegant dem Umfeld anpassten.
Sie flogen gerade über dem Südwestkap der Insel, dem Punta Carena, auf dem der Leuchtturm in seinem roten Gewand mit weißen Längsstreifen seinen Dienst tat. Seit 1867 schon. Graziano lächelte. Das war kein Wissen, das er zufällig besaß. Wie so oft hatte ihn seine Kundschaft herausgefordert. Irgendwer hatte mal einen Leuchtturm-Kuchen bestellt. Und Graziano hatte sich von diesem inspirieren lassen.
Es ging weiter in Richtung Anacapri, wo reizende weiße Häuschen standen. Keine Minute später senkte sich der Hubschrauber und brachte sie endlich auf sicheren Boden zurück. Ein kleines Hotelteam wartete mit einem Schiebewägelchen auf sie. Graziano und Arnaldo luden die Hochzeitstorte mit aller Vorsicht darauf ab. Bei jedem Schritt, den Graziano mit den anderen weiter in Richtung Küche ging, fühlte er sich ein wenig erleichterter. Er war stolz darauf, dass sie es nun fast geschafft hatten. Er wollte nur noch in der Küche und dann im Kühlraum in den Karton schauen und sich vergewissern, dass seine reinweiße dreistöckige Kreation mitsamt Rosen, Röschen und Perlendekoration noch exakt so aussah, wie es sich gehörte.
Als sie im Hotelgebäude alle gemeinsam auf den Fahrstuhl warteten, der sie in das Untergeschoss transportieren sollte, wo sich die Küche befand, informierte ihn eine Dame, die sich als Margherita vorstellte und wohl so etwas wie die Rolle einer Managerin hatte, dass der Hubschrauber in höchstens einer Viertelstunde wieder wegmusste.
»Das reicht vollkommen«, behauptete Graziano und nickte Margherita zu, die bereits ein Telefonat auf ihrem Handy führte, während sie mit einer Heftmappe bei ihnen stand.
Der Fahrstuhl kam endlich an, die Türen öffneten sich mit einem dezenten Plong. Dann passierten ein paar Dinge auf einmal: Margherita fiel die Heftmappe aus der Hand, sie bückte sich, um sie aufzuheben. Da sie aber in der Bewegung leicht aus dem Gleichgewicht kam, kippte sie seitlich in Richtung Arnaldo, der sie zwar abfing, sich dabei aber an einem jungen Mann aus dem Team festhielt, der gekommen war, um sie am Hubschrauber abzuholen. Letzterer hatte es nicht kommen sehen. Er strauchelte, landete unschön seitlich auf dem Karton, in dem sich die Hochzeitstorte befand.
Graziano schloss die Augen. Dann fluchte er. Diesmal hatte er keine Rücksicht auf die Madonna genommen, weil ihm nämlich selbst nach Weinen zumute war.
Sie fuhren die dreistöckige Hochzeitstorte in die Hotelküche, als wären sie ein Rettungsteam mit einem Patienten ohne Puls. Mit dem Unterschied, dass die wahnsinnig große, helle, geschäftige Küche ganz andere Gefühle hervorrief als ein Krankenhaus.
Trotzdem nahm Graziano nur am Rande wahr, was um ihn herum geschah. Er war wie blind für all die sicherlich talentierten Köche, die munter Pfannen hantierten, Soßen abschmeckten und Teller füllten. Er roch die appetitanregenden Düfte kaum, die in der Luft lagen wie wahr gewordene Prophezeiungen. Auch hatte er im Moment kein Auge für die unsagbar hohen Wände, die über und über versehen waren mit feinster, handbemalter Keramik. Graziano sah nur den Knick in der Verpackung, der so weit reichte, dass die Torte mit Sicherheit betroffen war.
»Vielleicht ist es nicht so schlimm, vielleicht ist es nicht so schlimm, vielleicht ist es nicht so schlimm …«, wiederholte Arnaldo wie ein Mantra. So lange, dass Graziano tatsächlich überlegte, ob er ihn ohrfeigen sollte, um ihn aus seiner anschwellenden Hysterie zu befreien.
»Ich hasse es, Sie zur Eile anzutreiben, aber der Hubschrauber …«, setzte die Managerin Margherita an. Sie verstummte aber sofort, sobald sie sich Grazianos Blick einfing. Er hatte nun wirklich nicht den Nerv dafür, konnte schon gar nicht diplomatisch freundlich sein. Aber er musste jetzt handeln. So viel war klar. Kurzerhand ging er auf das Transportwägelchen zu und begann, den Karton zu öffnen, der innen für den langen Transport in sommerlicher Hitze mit Styropor versehen war. Der Rest der Belegschaft trat respektvoll – wahrscheinlich aber auch glücklich darüber, die Verantwortung nicht tragen zu müssen – zurück.
Es wurde schnell klar, dass die Styroporbeschichtung zerbrochen war und ein kleines Eck davon seitlich in den zweiten Stock der Torte drückte. Graziano löste das Stück mit Fingerspitzengefühl. Doch bei aller Vorsicht sah man eine Delle im reinweißen sahnigen Teil der Dekoration. Zum Glück war keine Rose betroffen. Alles in allem hatte sich die Torte sehr gut gehalten. Doch der Patzer gefiel Graziano selbstverständlich trotzdem nicht.
Arnaldo trat an seine Seite. »Das sieht niemand, Maestro«, behauptete er. Und Graziano konnte seine Erleichterung regelrecht spüren. Irgendwo im Nacken.
»Würdet ihr mich bitte kurz alle allein lassen?«, fragte Graziano. Er brauchte einen Moment für sich, wollte abwägen, ob es Sinn machte, kurz mit einem Spachtel drüberzufahren. Andererseits hatte er seinen eigenen nicht dabei. Und es würde wahrscheinlich zu lange dauern, sich einen zu leihen.
Er hörte mehr, als er sah, dass die anderen sich zurückzogen. Noch immer wusste er nicht, ob er es mit einem Tortenspachtel nicht noch schlimmer machte. Er betrachtete die Torte von allen Seiten.
Dann hörte Graziano wieder Schritte, diesmal waren sie irgendwie anders, er konnte gar nicht mal sagen, warum. Aber sie ließen ihn aufblicken. Direkt ins Gesicht einer Frau, die zielsicher auf die Hochzeitstorte zuging und einen Spachtel zückte. Die Frau, elegant gekleidet in einem kurzen Kleid, dessen Farbe an Flieder erinnerte – so sehr, dass Graziano fast glaubte, den Duft danach in der Nase zu spüren –, fackelte nicht lange. Sie strich mit einer unglaublichen Sanftheit über die malträtierte Seite der Torte. Die Bewegung schien Graziano irgendwo in seiner Brust zu spüren. Das Ausbessern dauerte keine drei Sekunden, aber es geschah mit einer derartigen Anmut, dass er keinen Moment den Drang verspürt hatte, sie daran zu hindern. Abgesehen davon schien die Frau so entschlossen gewesen zu sein, dass er sie wahrscheinlich auch gar nicht hätte aufhalten können.
Sie begutachtete kurz ihr Werk, drehte sich zu ihm, ging auf ihn zu und drückte ihm den Tortenspachtel in die Hand. Dann war sie auch schon weg.
Ohne ein Wort.
Wie eine Vision.
Er war die ganze Zeit über viel zu verwirrt gewesen, um auch nur an ein Handeln zu denken. Und sie war gekommen und hatte das getan, was eigentlich seine Aufgabe gewesen wäre. Endlich gab sich Graziano einen Ruck, ging auf die Torte zu und stellte fest, dass die Unbekannte einwandfrei gearbeitet hatte. Die Oberfläche war wieder perfekt glatt. Die gesamte Torte war es. Einfach und sehr klassisch, aber wunderschön und genau so, wie man sich eine Hochzeitstorte vorstellt.
Er blickte auf. Wohin war die Frau verschwunden?
Endlich war Graziano wieder bei sich, wieder präsent mit seiner gesamten Aufmerksamkeit, seinem Tun und Handeln. Es war, als hätte er jetzt erst realisiert, wo er sich überhaupt befand. Gerüche, Geräusche. Mit einem Mal war alles laut, alles lebendig. So als hätte er bis zu diesem Moment unter Schock gestanden. Und vielleicht war da auch was dran. Er hatte von Anfang an so ein schlechtes Gefühl gehabt mit dieser Torte, und er hatte gefürchtet, dass seine Vorahnung sich bewahrheitete. Doch eigentlich war gar nichts Schlimmes passiert. Er winkte die anderen wieder zu sich und veranlasste, dass die Torte sicher in den Kühlraum kam. Was von jetzt an damit passierte, konnte er nicht mehr kontrollieren, doch er ließ es sich nicht nehmen, die schwere Tür selbst zu schließen und noch einen letzten Blick durch das kleine Fensterchen darin zu werfen.
»Alles perfekt!«, sagte er zu Arnaldo, der ihm wieder folgte wie ein Schatten.
»Nichts anderes hatte ich erwartet«, behauptete der Lehrling, dessen Vertrauen in sich selbst, aber auch in alles andere, fast schon ein bisschen an Arroganz grenzte. Die Art von Arroganz jedoch, die sein junges Alter mit sich brachte und die einzig aus dem Grund so dominant war, weil er sich noch keine Sorgen machte. Weder um die Gegenwart noch um die Zukunft.
»Wo ist die Frau? Ich muss mich noch bedanken!«, fiel Graziano ein. Während er sich nach ihr umblickte, wich er einem Koch aus, der eine Kiste Salat durch die Küche trug und irgendetwas rief, was einen anderen Koch dazu veranlasste, Pasta in einen riesigen Topf zu schütten. Das Gewusel um sie herum war beeindruckend. Es mussten um die zwanzig Leute, aufgeteilt in diverse Bereiche, am Werk sein. Graziano war fasziniert davon, wie sich alle bewegten, ohne sich im Weg zu stehen.
Arnaldo zuckte mit den Schultern.
So auch alle anderen, die Graziano fragte. Und Margherita stand schon bereit, um Graziano zur Eile anzutreiben.
Sie wollte er gerade nicht fragen. Er nahm ihr noch immer übel, dass sie so ungelenk gewesen und quasi für das ganze Malheur eben verantwortlich war. Außerdem war sie nicht gerade Signora Simpatia. Also fand er sich damit ab, der Unbekannten, die ihm geholfen hatte, nicht danken zu können. Was eigentlich gar nicht seine Art war. Und wenn er ehrlich war, war er auch einfach neugierig, jetzt, wo das ganze Wirrwarr in seinem Hirn sich gelichtet hatte und er wieder klar denken konnte.
Die Frau ging ihm nicht aus dem Kopf.
Wer war sie? Eine Köchin, die es nicht rechtzeitig geschafft hatte, sich umzuziehen? Wohl kaum.
Die Konditorin des Hotels, die an diesem Tag freihatte, sich aber trotzdem in der Küche aufhielt?
Hm. Auch eher unwahrscheinlich.
Wohin war sie so schnell verschwunden?
Während er und Arnaldo sich von allen in der Küche verabschiedeten und sie sich von Margherita wieder ganz nach oben auf das Hoteldach begleiten ließen, um von dort aus zurück nach Neapel geflogen zu werden, war Graziano schweigsam, seine Gedanken aber wieder sehr laut.
Es stellte sich heraus, dass der Pilot, trotz seiner großen Eile, gerade erst den Hubschrauber verlassen hatte, um die Toilette aufzusuchen, was Margherita dazu veranlasste, pikiert eine Augenbraue zu heben. Sie ging aufgeregt auf und ab, bellte irgendwelche Anweisungen in ihr Handy und war insgesamt so entspannt wie Grazianos steif geschlagenes Eiweiß, wenn er Baiser-Hauben machte. Er und Arnaldo tauschten einen Blick aus und grinsten in sich hinein. Graziano ging zum Geländer, das die große Dachterrasse mitsamt Hubschrauberlandeplatz umfasste. Das Gebäude war riesig, bestimmt eines der größten Capris. Sehr exklusiv, rundherum viel Grün, der Blick aufs Meer war ungestört, reichte weit, ganz bis zum Horizont. Ein paar Möwen drehten ihre Runden, die Sonne tauchte alles in ein wundervoll sommerliches Licht, verlieh dem gesamten Umfeld diesen einzigartigen Schein. Zikaden veranstalteten ihr Dauerkonzert. Der Sommer hatte zwar keinen spezifischen Laut, hätte Graziano aber die Augen geschlossen, hätte er trotzdem erkannt, dass es Sommer war.
Ach, herrlich, Graziano entdeckte gerade die Hochzeitsgesellschaft, die in einer sehr viel niedriger gelegenen Gartenanlage an langen Tischen saß. Die Tische waren um eine kleine Bühne herumdrapiert, die zentral aufgebaut war. Graziano bemerkte als Erstes die Farbe des Kleides der Sängerin. Hören konnte er aus der Distanz nichts. Doch, ja, es war unverkennbar die Frau, die seine Torte wieder schön gemacht hatte.
Eine Sängerin …
Er stieß Arnaldo, der neben ihm stand, mit dem Ellenbogen in die Seite. »Schau, die Frau, die mir mit der Torte geholfen hat!« Graziano musste es irgendwem erzählen. Er war unerwartet froh, sie doch noch gesehen zu haben, obwohl er ihr auf diese Weise trotzdem nicht danken konnte. Sein Herz galoppierte spontan. Was er geflissentlich zu ignorieren versuchte. Er war gut darin geworden, seinem Beruf die absolute Priorität zu geben, während er Persönliches wie Gefühle, so gut es ging, wegschob. Es waren zwei Welten, die nicht perfekt nebeneinander bestehen konnten. Wenn man beides wollte, blieb zwangsläufig ein Teil auf der Strecke.
»Wo denn?« Arnaldo hatte selbstverständlich keine Ahnung, wovon Graziano sprach. Für den Lehrling war sie nur irgendeine Frau gewesen, für Graziano hingegen … ja, was eigentlich?
»Die Sängerin auf der Bühne!«, erklärte er und konnte die Augen noch immer nicht von ihr abwenden. Er strengte sich an, um ihre Stimme zu hören oder sie besser zu sehen. Doch aus der Distanz waren die Details ihrer Hochsteckfrisur oder ihre dunklen, wissenden Augen natürlich weniger definiert als in seiner Erinnerung. Ihr hübsches, herzförmiges Gesicht, ihre gerade Nase, ihre vollen Lippen …
»Oh, okay …«, bemerkte Arnaldo vage.
Und seine Reaktion war gerechtfertigt. Warum sollte sich der junge Mann auch für eine x-beliebige Sängerin interessieren. Die Frage war viel eher, warum Graziano sich absolut nicht von dem Anblick lösen konnte.
Schließlich trat Margherita an sie heran und wies sie darauf hin, dass es Zeit war, im Hubschrauber Platz zu nehmen. Graziano hasste sie ein bisschen dafür. Noch ein Grund. Die Liste wurde lang. Als er den Blick von der Sängerin abwenden musste, fühlte er sich ein bisschen so, als hätte er eben eine ganz wichtige Chance verpasst, weggeworfen oder einfach nicht aufgegriffen.
Den ganzen Flug über verbrachte Graziano in einer Art stummer Reflexion oder wie auch immer seine seltsame Laune genannt werden konnte. Er delegierte quasi nie, legte immer selbst Hand an. Und doch … diesmal war es anders gewesen.
Als sie später mit Arnaldo zurück in Richtung Via dell’Amore fuhren, wurde der Gedanke an die Unbekannte zum Glück immer leichter, erschien ihm wie eine Feder, die nach langem Tanz durch die Lüfte endlich den Boden berührt hatte. Sobald er dann seine Pasticceria betrat, war der Gedanke nichts anderes mehr als eine ganz entfernte Erinnerung, die Graziano auf Capri gelassen hatte. Er ging sofort weiter in seine Backstube, die sich im hinteren Bereich der Pasticceria befand. Die Aufträge häuften sich sowieso. Noch dazu stand seine Schwester Chiara ihm im Weg. Sie redete auf ihn ein, aber er hörte nur »Nonna«.
Graziano holte tief Luft und blieb in seiner Backstube stehen, während um ihn herum seine vier Lehrlinge fleißig rührten, probierten und Wohlriechendes in die Öfen schoben. Er stemmte seine Hände in die Hüfte, versuchte, sich zu konzentrieren, und vernahm schließlich »Nonna«, »Geschenk«, »Torte«. Chiara konnte aber auch viel auf einmal und schnell artikulieren. Das hatte sie wohl in ihrer Zeit in Mailand gelernt. War doch so! Waren Mailänder nicht besonders effizient?
»Musst du nicht mal atmen, Chiara? Mamma mia!«, beklagte sich Graziano. Er musste sich richtig zwingen, nicht schon wieder in den Kühlraum zu gehen, um Eier für eine Creme zu holen. Nur um ihr zu entkommen.
»Du musst doch nur sagen, ob ja oder nein …« Sie machte ein Gesicht wie jemand, der von seinem Gegenüber glaubte, dass es vollkommen bescheuert war. Das hatte sie als Kind schon dauernd gemacht. Noch so eine Angewohnheit, die ihn auf die Palme brachte.
»Was war die Frage noch mal?« Er war sich gar nicht mehr sicher, waren es doch mindestens einhundertdreiundzwanzig Fragen in einer Minute gewesen. Gefühlt.
Chiara schlug sich an die Stirn, schloss die Augen. »Teilen wir uns die Extrakosten für Nonnas Geschenk morgen oder nicht? Mehr will ich doch gar nicht wissen.«
Oh, verdammt. Den Geburtstag von Nonna Tommasina hatte er komplett vergessen. War da nicht auch etwas mit einem Kuchen gewesen? Er suchte nach Informationen diesbezüglich in seinem Gehirn, aber da stapelte sich schon allerhand.
»Du hast den Kuchen vergessen, oder?« Chiara konnte ihn lesen wie ein offenes Buch.
»Natürlich nicht!«, betonte er, was selbst in seinen eigenen Ohren wie eine Lüge klang.
»Die Zitronen aus Capri sind schon da? Nonna soll einen Zitronenkuchen bekommen, wie schon vor einem Monat ausgemacht. Das weißt du doch noch?«
Wer besprach Details wie den Kuchen zum Geburtstag der Großmutter denn bitte einen Monat vorher? »Wann ist der Geburtstag noch mal genau?«