Alles im Grünen oder Wie ich die Kette der Beschissenheit durchbrach - Filiz Penzkofer - E-Book

Alles im Grünen oder Wie ich die Kette der Beschissenheit durchbrach E-Book

Filiz Penzkofer

0,0
14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

«Beeindruckend, wie es Filiz Penzkofer gelingt, eine völlig abgedrehte Story zu entwerfen und gleichzeitig voller Empathie und mit großer Ernsthaftigkeit über Einsamkeit, Angst und Tod zu erzählen. Dieser Roman ist überraschend und wild!» Sarah Jäger In einer unfreiwilligen Berliner WG des «Betreuten Wohnen e. V. Hermannplatz» wohnen: a) Rabea, die bei ihren häufigen Panikattacken gern Vogelstimmen nachahmt, vorzugsweise Kraniche, b) Queen Tiger, selbst ernannte Ebay-Voodoo-Hexe, die in der Wohnung Liebeszauber mithilfe von abgenagten Hühnerknochen ausübt, und c) Musti, ein syrischer Geflüchteter, der seine Deutschkenntnisse mit (knapp danebengegriffenen) Redewendungen aufpeppen will. Die drei haben wirklich nichts gemeinsam, bis die grantige Hauseigentümerin vermeintlich stirbt. Und sie davon überzeugt sind, die Leiche samt ihrem Mops beiseiteschaffen zu müssen. Dass dabei alles schiefgeht, was schiefgehen kann, ist vorprogrammiert. Warum die drei trotz allem schließlich als Held und Heldinnen der Stadt gefeiert werden, wissen sie selbst nicht so genau. Aber dass sie von nun an nichts mehr auseinanderbringen kann, schon.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 264

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Filiz Penzkofer

Alles im Grünen oder Wie ich die Kette der Beschissenheit durchbrach

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

In einer unfreiwilligen Berliner WG des «Betreuten Wohnen e.V. Hermannplatz» wohnen: a) Rabea, die bei ihren häufigen Panikattacken gern Vogelstimmen nachahmt, vorzugsweise Kraniche, b) Queen Tiger, selbst ernannte Ebay-Voodoo-Hexe, die in der Wohnung Liebeszauber mithilfe von abgenagten Hühnerknochen ausübt, und c) Musti, ein syrischer Geflüchteter, der seine Deutschkenntnisse mit (knapp danebengegriffenen) Redewendungen aufpeppen will. Die drei haben wirklich nichts gemeinsam, bis die grantige Hauseigentümerin vermeintlich stirbt. Und sie davon überzeugt sind, die Leiche samt ihrem Mops beiseiteschaffen zu müssen. Dass dabei alles schiefgeht, was schiefgehen kann, ist vorprogrammiert. Warum die drei trotz allem schließlich als Held und Heldinnen der Stadt gefeiert werden, wissen sie selbst nicht so genau. Aber dass sie von nun an nichts mehr auseinanderbringen kann, schon.

Vita

Filiz Penzkofer, 1985 in München geboren, studierte Germanistik, Kommunikationswissenschaften und Turkologie in Bamberg und Ankara. Sie lebt in Berlin, wo sie als freie Autorin und Journalistin tätig ist. Zuvor war sie viele Jahre als Radio-Kolumnistin im Bayerischen Rundfunk zu hören, hat Theaterkurse für Kinder geleitet, Filme mit Jugendlichen gedreht und Deutsch unterrichtet.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Lektorat Christiane Steen

Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg

Coverabbildung Ruth Botzenhardt/buxdesign; Shutterstock

ISBN 978-3-644-01577-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Hinweise des Verlags

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Dieses E-Book entspricht den Vorgaben des W3C-Standards EPUB Accessibility 1.1 und den darin enthaltenen Regeln von WCAG, Level AA (hohes Niveau an Barrierefreiheit). Die Publikation ist durch Features wie Table of Contents (Inhaltsverzeichnis), Landmarks (Navigationspunkte) und semantische Content-Struktur zugänglich aufgebaut. Sind im E-Book Abbildungen enthalten, sind diese über Bildbeschreibungen zugänglich.

 

 

www.rowohlt.de

Queen Tigers okkulter Gesang aus dem Nebenraum klingt wie der Soundtrack zu einem Psychothriller. Durch die andere Zimmerwand höre ich, wie Musti Allahu akbar murmelt. Wirklich die perfekte Umgebung für eine Angstpatientin wie mich! Hektisch drücke ich die Schnellwahltaste meines Handys.

«Jugendnotdienst Berlin.» Maya, meine Betreuerin, klingt lässig wie immer. Keine Ahnung, wie man in einer Welt wie dieser so klingen kann.

«Ich muss hier raus!», sage ich.

«Das hatten wir doch gestern schon, Rabea», antwortet Maya. Sie kommt immer montags, dienstags und donnerstags für Einzelgespräche zu uns ins Betreute Wohnen am Hermannplatz. Heute ist Freitag, und ich bin immer noch hier.

«Wie gesagt! Ich will einfach nur in eine Einrichtung mit ganz NORMALEN psychisch Kranken!»

Maya erinnert mich daran, dass ich Vogelgeräusche mache, wenn ich mich aufrege. So normal sei das ja wohl auch nicht. Geht’s noch?! Als ob das vergleichbar wäre mit dem Programm, das meine Mitbewohner hier fahren.

«Queen Tiger spricht gerade das Vaterunser rückwärts! Sie hat wieder eine ihrer Sessions», versuche ich, Maya zu überzeugen, natürlich maximal leise, damit mich die Hexe nicht durch die Wand hören kann.

«Du wohnst jetzt seit fast einem Monat dort.» Maya klingt unbeeindruckt. «Meinst du nicht, du solltest deinen Mitbewohnern mal langsam eine Chance geben?»

Ich sage nichts.

«Alle Einrichtungen sind voll, es gibt Wartelisten. Du hast riesiges Glück, dass du da untergekommen bist.»

Unter riesigem Glück stelle ich mir etwas anderes vor, als mit einer Satanistin und einem Salafisten zusammenzuleben. Seitdem ich hier wohne, versuche ich, außerhalb meines Zimmers kein Haar und keine Hautschuppe zu verlieren, damit Queen Tiger daraus keinen Voodoo-Zauber basteln kann.

«Mach dich mal locker», sagt Maya. «Die sind doch nett.»

Nett. Ja genau. Sagt das Rottweilerherrchen am Kinderspielplatz.

 

Über Musti weiß ich so gut wie nichts. Nur, dass er aus Syrien geflüchtet ist und vor dem Betreuten Wohnen in einer überfüllten Turnhalle in Kreuzberg gewohnt hat. Das hat mir Maya erzählt. Manchmal stelle ich mir vor, dass auch hier ein Krieg ausbricht. Dass irgendwelche fanatischen Killer durch die Straßen laufen, die niemand aufhalten wird.

Meine Therapeutin sagt, dass es nicht möglich ist, ununterbrochen Angst zu haben. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sich meine Therapeutin täuscht. Eigentlich ist Angst mein Grundzustand. Und dann gibt es kurze Momente der Entspannung, in denen habe ich dann zwar auch Angst, aber weniger: Wenn es Tag ist, meine Mitbewohner nicht zu Hause sind, das Fenster gekippt ist, ich die Marktgeräusche vom Hermannplatz höre, die mir suggerieren, dass draußen alles okay ist, und ich leise – um bloß keine sich anbahnende Katastrophe zu verpassen – eine Doku über Vögel sehe. In diesen seltenen Augenblicken versuche ich, ganz bewusst meine Schultern nach unten zu drücken und meine Zahnreihen voneinander zu lösen. «Brrrrrr», mache ich dann und schnaube wie ein Pferd. Das soll die Kiefer entspannen. Und wenn die Kiefer entspannt sind, normalisiert sich auch die Atmung, sagt meine Therapeutin. Eigentlich sollte ich das während einer Panikattacke machen, aber da habe ich wirklich anderes zu tun, als Pferde zu imitieren.

Wenn ich schon Angst habe, obwohl doch von außen betrachtet eigentlich alles normal ist, hier, wo ich lebe, wie schlimm muss es dann sein, in einem Krieg zu sein? Oder auf der Flucht? Das Abwägen, wo die Überlebenschancen höher sind. Aber ich kann mir nicht helfen, alles an Musti lässt mich zittern. Sein Salafistenbart, sein finsterer Blick … sogar die Simpsons-T-Shirts, die er trägt und die bei anderen einfach nur maximal peinlich wirken würden, machen mir Angst. Sie sind mir zu auffällig unauffällig. Genauso wie seine Brille, die wahrscheinlich aus Fensterglas ist und ihm einen harmlosen Streberstyle verleihen soll. Bei meinem Glück hat Maya den einzigen Islamisten aus der Notunterkunft gerettet, und den habe ich jetzt an der Backe.

Jeden Tag beobachte ich ihn durch die Fensterscheibe, wie er zum U-Bahn-Eingang am Hermannplatz läuft, einen mächtigen Rucksack auf den Schultern. Dass mich Rucksäcke in Verbindung mit U-Bahn-Stationen triggern, muss ich wohl nicht extra erwähnen. Punkt halb neun verlässt er das Haus, gegen 12.45 Uhr kommt er zurück. Keine Ahnung, wo er sich in der Zwischenzeit rumtreibt. In einer der Hasspredigermoscheen in der Umgebung, nehme ich an. Ganz genau weiß ich das natürlich nicht. Ich bin keine Stalkerin. Auch wenn ich mir schon überlegt habe, ihm heimlich zu folgen.

Letztendlich habe ich mich dagegen entschieden. Niemals würde ich freiwillig in eine U-Bahn steigen, und vor allem nicht dann, wenn Musti drin ist.

Dabei muss ich wissen, mit wem ich es zu tun habe.

Ich beobachte die ganze Zeit, um im Ernstfall sofort reagieren zu können. «Habachtstellung» nennt meine Therapeutin das, ich nenne es Überlebensstrategie. Am Tag meines Einzugs hat Maya ein Vorstellungstreffen organisiert. Sie hat Sahneschnitten und eine große Flasche Cola mitgebracht, zu dritt saßen wir um den Küchentisch und sollten unter Mayas Aufsicht miteinander reden. Es war Juli und heiß, Queen Tiger trug ihren weißen Pelzmantel und starrte mich mit tödlichen Augen an. Da, wo andere das Augenweiß haben, ist bei ihr alles schwarz. «Kunstblut!», sagte Maya schnell. Ich blickte zu Musti. Der strich sich langsam über den Bart. «Die Karten werden neu gemischt!», sagte er. Es klang wie eine Drohung. Ich exte mein Glas, murmelte etwas wie «Na denn, schön, euch alle kennenzulernen» und verschwand in mein Zimmer. Das war die längste Zeit, die ich mit meinen Mitbewohnern verbracht habe. Einmal hat Musti danach noch an meine Tür geklopft. Ich habe die Luft angehalten und nicht geantwortet. Zu meiner Erleichterung hat er sich irgendwann zurück in sein Zimmer verzogen. Queen Tiger hat mich bisher Gott sei Dank in Ruhe gelassen. Wenn sie in der Küche steht und Hühnerköpfe abkocht, gehe ich nicht raus. Einmal musste ich das Ende einer Wasserflasche abschneiden und hineinpinkeln.

Am Anfang habe ich mich noch gewundert, warum sie, die offensichtlich Menschen hasst, so viel Besuch bekommt. Dann habe ich ihr Inserat auf eBay-Kleinanzeigen gefunden. Schwarze Magie von ausgewählter Voodoo-Priesterin stand darin. Darunter war so eine Art Leistungskatalog aufgelistet: «Partnerinnenrückführung, Verfluchungen 1. bis 3. Grades, Rachezauber, Schwarze Magie, Treuetestungen, Zukunftsprognose mit schamanischem Hühnerknochenwurf, Bekämpfung der Nebenbuhlerin».

Die Klientin, die heute bei Queen Tiger ist, hat einen Treuetest mit anschließender Partnerrückführung gebucht, was anscheinend ein 2-in-1-Angebot war. Wenn ich ein Glas gegen die Wand halte und mein Ohr daraufpresse, kann ich auch leise gesprochene Worte verstehen. Vorhin ging es um einen Martin, der kaum noch zu Hause ist. Manchmal bleibt er über Nacht weg. Die Klientin hat sogar einen schwarzen Seidenstrumpf in seiner Jackentasche gefunden, der definitiv nicht von ihr ist.

Ich will Maya gerade von meinen Herzproblemen erzählen, die ich ganz bestimmt habe, denn es kann ja nicht gesund sein, dass mein Puls mit einer Mindestgeschwindigkeit von 160 rast, jedes Mal, wenn ich messe, und dass ich deswegen Ruhe brauche, die in dieser Wohnung ganz sicher nicht zu finden ist, als mir plötzlich ein grauenhaftes Quieken durch Mark und Bein fährt. Es ist der qualvolle, lang gezogene Schrei eines Tieres: Wiiiiiiik! Dann ist es mit einem Mal ganz still.

«Ich glaube, die schlachten gerade Meerschweinchen!», flüstere ich mit stockendem Herzen ins Telefon.

Maya lacht auf. «Du hast wirklich eine herrliche Fantasie, Rabea. Schon mal überlegt, Schauerromane zu schreiben?» Im nächsten Moment hat sie aufgelegt.

«Allahu akbar!», ruft der Araber.

 

Angstvergleich nenne ich das. Mein Gehirn ist 24/7 damit beschäftigt. In wahrscheinlich unendlich langen mathematischen Formeln rechnet es in Lichtgeschwindigkeit aus, was exakt in diesem Moment am allergefährlichsten für mich ist. Es sammelt alles, was es über eine Sache weiß, überprüft Fluchtwege, Überlebenschancen und so weiter. Mein Gehirnapparat ruckelt, brummt, hüpft und spuckt mir das Ergebnis aus: Queen Tiger ist gefährlicher als Musti. Denn: Ganz sicher rentiert es sich nicht, sich für nur zwei Opfer in die Luft zu sprengen. Er müsste ja nur rüber zur Postfiliale in den Karstadt gehen, wo es mit nur einem Knopfdruck Hunderte Opfer geben würde. Oder an die Schlange von MediaMarkt. Außerdem ist es wahrscheinlicher, von einem Blitz erschlagen zu werden, als Opfer eines islamistischen Anschlags zu werden. Das weiß mein Gehirn von meiner Therapeutin, die hat das heute in unserer Sitzung gesagt.

Überhaupt hat sie heute ziemlich viel gesagt: Ich soll keine Sachen mehr googeln, die in diese Richtung gehen. Also in die Richtung Terror, Dschihad, Islamismus. Auch keine Flugzeugabstürze, Explosionen und Menschen, die an Pilzvergiftungen sterben. Überhaupt soll ich weniger googeln. Aber das ist leichter gesagt als getan. Was bitte soll man sonst machen, wenn man Angst davor hat, die Wohnung zu verlassen. Nägelmaniküre ist jedenfalls nicht mein Ding. Außerdem ist Nagellack bestimmt krebserregend. Filme gucken und googeln, so viel anderes bleibt da nicht. Ich verbringe mehr Zeit vor meinem Laptop als alle anderen Menschen. Wäre das, was ich online lese, in Papierform, würde es einen Hektar Regenwald pro Tag killen und unsere Erdtemperatur innerhalb weniger Wochen um 3 Grad steigen.

Aber: Dafür weiß ich auch mehr als andere. Gäbe es bei Wer wird Millionär? die Rubrik Todesfälle, würde ich wahrscheinlich Milliarden gewinnen. Welcher Dichter wurde im Jahr 456 v. Chr. von einer Schildkröte erschlagen, die ein Adler auf einem Felsen zerschellen lassen wollte? Easy! Die arme Sau ist der griechische Dichter Aischylos. Ironischerweise war er zum Zeitpunkt der stürzenden Schildkröte draußen unterwegs, weil ihm ein Orakel geweissagt hatte, bei dem Einsturz seines Hauses zu sterben. Knapp daneben.

Meine Therapeutin sagt, ich soll mir ein Hobby suchen. Heute wollte sie mit mir eine Wishlist entwerfen, so was wie eine To-do-Liste, nur für Wünsche. Der einzige Wunsch, den ich habe, ist: erst mal nicht zu sterben.

Meiner Therapeutin fiel dazu ein, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland bei 83,4 Jahren liegen und immer weiter steigen würde. Dass also statistisch gesehen noch 67,7 Jahre vor mir lägen. Dann wollte sie, dass ich mich zurück an die Wishlist setze, aber das war dann schon nicht mehr möglich, weil mir bei ihren Worten davor richtig kalter Schweiß ausgebrochen ist. Mit so einer Aussage fordert sie das Schicksal doch erst so richtig heraus. Wäre ich das Schicksal, würde ich mir so eine Behauptung jedenfalls nicht gefallen lassen und gleich mal zeigen, wo der Hammer hängt beziehungsweise wer den Hammer schwingt. Um das Schlimmste zu verhindern, habe ich ihr augenblicklich geantwortet, dass niemand wissen kann, wie lange so ein Leben dauern wird. Und dass ich auf alle Statistiken scheiße, weil Statistiker auch nur arme Bürofritzen mit Kontrollzwang sind, die wahrscheinlich viel zu früh an akutem Vitamin-D-Mangel sterben, weil sie nie ans Tageslicht gehen.

«Da habt ihr ja dann eine Sache gemeinsam!», hat die Therapeutin gesagt.

«Ich nehme jeden Tag die maximale Dosis in Pillenform!», habe ich protestiert.

«Dann is ja gut!» Die Therapeutin hat eine Karte aus dem Stapel gezogen. «Was siehst du hier?»

Eigentlich musste ich gar nicht hingucken. Die Therapeutin verwendete sowieso immer die zwei gleichen Karten. Entweder den inneren Kritiker oder das innere Kind. Der innere Kritiker kommt immer dann zum Einsatz, wenn ich mir Vorwürfe mache. Es ist nicht leicht, sich zu mögen, vor allem dann nicht, wenn man sich vor allem fürchtet.

Heute war aber nicht der innere Kritiker, sondern das innere Kind an der Reihe. «Das ist magisches Denken und irrational! Kein Mensch kann mit seinen Worten und Gedanken Einfluss auf das Geschehen nehmen!», sagte sie.

«Aber Statistiker!», murrte ich.

Keine Ahnung, ob sich das Schicksal provozieren lässt, meine Therapeutin jedenfalls nicht. Sie prophezeite mir, dass mich meine Angst noch eine ganze Weile begleiten würde, vielleicht sogar mein ganzes Leben, wie lange das auch immer dauern mochte. Dass ich deswegen lernen müsse, mit ihr umzugehen. Zum Abschluss der Sitzung hat sie mir ein Notizbuch geschenkt. Mit vielsagendem Gesicht hat sie es «den Reflektor» genannt und erst mal selbst hineingekritzelt:

Situation (was passiert):

Kognition (was denke ich):

Körper (wie fühle ich mich):

Verhalten (was mache ich):

Wenn die Panik kommt, soll ich meine Gedanken nach diesem 4-Stufen-System ins Heft schreiben. Ich glaube zwar nicht, dass das irgendetwas bringt. Trotzdem greife ich zu einem Kugelschreiber, schließlich gibt es nichts zu verlieren. Außer Lebenszeit, aber die verrinnt immer. Zurück zum Reflektor. Als Erstes untersuche ich die Situation: Meine Mitbewohnerin trinkt Tierblut im Nebenzimmer, um Voodoo-Rituale mit ihrer eBay-Kleinanzeigen-Kundschaft durchzuführen. Entweder ist sie die totale Psychopathin oder eine echte Voodoo-Zauberin. Keine Ahnung, was davon besser ist. Wahrscheinlich ist sie beides. Womit wir auch schon bei Punkt 2 wären. Ich denke: Wer Meerschweinchen killt, schreckt vor gar nichts zurück. Im Augenblick bin ich nicht in akuter Gefahr. NOCH nicht. Aber was passiert, wenn Queen Tiger die Nagetiere ausgehen? Oder wenn sich die nächste Klientin etwas Größeres wünscht, etwas wie die Bekämpfung des Nebenbuhlers? Oder die Verfluchung ersten Grades? Ich gebe das perfekte Menschenopfer ab, bin dünn wie ein Hering, war noch nie in einem Selbstverteidigungskurs, wohne fünf Zentimeter Luftlinie von Queen Tiger entfernt und besitze noch nicht einmal einen Zimmerschlüssel.

 

Eigentlich gehe ich nur aus Höflichkeit zur Therapeutin. Einmal hat sie mich in tausend Tücher gewickelt, am Ende stand ich wie Tutanchamun vor ihr, und sie fragte mich, ob ich mich jetzt sicherer fühlte. Keine Ahnung, wie sie auf solche Ideen kommt. Natürlich fühlte ich mich nicht sicherer. Im Gegenteil. Diese Tücher hindern einen maximal am Wegrennen. Meine Therapeutin empfiehlt mir Achterbahnfahren, um kontrolliert Adrenalin abzubauen, Sport, weil das meine sensiblen Hirnrezeptoren besänftigt. Außerdem redet sie ununterbrochen von Exposition. Heißt: Ich soll mich meiner Angst stellen, also genau das machen, auf was ich überhaupt keinen Bock habe. Sprich:

einkaufen gehen, statt online zu bestellen

mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren

einen Aufzug benutzen

Menschenmassen aufsuchen

im Dunkeln schlafen

auf den Friedhof gehen

mit meinen Mitbewohnern sprechen

Meine Therapeutin nennt das die Sieben Heiligen Kühlschrankregeln, weil ich sie mir an den Kühlschrank pinnen soll. Als ob ich bei diesen Mitbewohnern in die Küche gehen würde, wenn es nicht unbedingt sein muss.

Apropos Küche: Queen Tigers Klientin geht. Durch das Schlüsselloch sehe ich, wie sie über den Flur läuft. Blümchenkleid, straßenköterblond. Sie sieht nicht aus wie jemand, den man sich bei einer Voodoo-Hexe vorstellt. Nicht wie jemand, der Blut trinkt und unschuldige Haustierchen tötet.

Gerade überlege ich für den dritten Punkt des 4-Stufen-Systems, wie man Hyperventilieren schreibt, noch mit y oder schon mit ü, als es an der Haustür klingelt.

Erst denke ich, die Klientin ist zurück. Vielleicht hat der Zauber nicht gewirkt. Oder er ist nach hinten losgegangen, und Martin ist jetzt ein Frosch oder so was – zumindest wäre damit das Eifersuchtsproblem gelöst. Wer will schon einen Frosch knutschen? Das Klopfen wird zu einem Hämmern, immer lauter, immer wuchtiger, und mir wird klar, dass das nicht die Klientin sein kann. Ich lasse den Reflektor fallen, greife nach meinem Pfefferspray, das natürlich immer griffbereit liegt, und flüchte in den Kleiderschrank.

«Bezähme es mit deiner Atmung», sagt meine Therapeutin, als ob mein Herz ein störrisches Pferd wäre. Ich sitze auf einem Stapel Jeanshosen und atme. Ein: eins, zwei, drei, vier. Aus: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht. Lege die Hand auf den Bauch, die Daumen berühren sich. Hocke still im Schrank und verfluche abwechselnd mein Herz und die Therapeutin, weil das alles nicht hilft. Während meine Organe durchdrehen, spuckt mein Hirn eine Zahl nach der anderen aus, Angstvergleich. Queen Tiger ist nicht mehr auf Platz 1, das ist die Zwischenbilanz.

Schon springt die Haustür auf. Lautes Geschrei! Es ist die Vermieterin von oben! Maya hat mich vor ihr gewarnt. Schon länger versucht sie, das Betreute Wohnen aus dem Haus zu ekeln. Um den Hermannplatz herum wird es immer schicker, bei einer Neuvermietung kann die Alte das Dreifache von dem verlangen, was ihr der Sozialverein zahlt. Deswegen hat Maya mir geraten, mich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Was heißen sollte: vor ihr nicht die geringsten Vogelgeräusche. Bis jetzt habe ich das ganz gut eingehalten, wir sind uns auch erst einmal im Treppenhaus begegnet, sie und ihr Mops Arthur. Da hat sie mir nur einen eiskalten Blick zugeworfen, und ich habe mich schüchtern gegen die Wand gedrückt und bin zurück ins Betreute Wohnen geschlichen.

Jetzt hat die Alte ihre Haifischruhe verloren und kreischt ohne Worte. Als ich die Schranktür etwas öffne, merke ich, dass es doch Worte sind.

«Hier gibt es Regeln, junger Mann! Wir haben Mülltonnen im Hof! Wenn ihr schon Hühnerköpfe fressen müsst, dann entsorgt sie wenigstens anständig! Und zwar IN die Tonne und nicht VOR die Tonne! Noch eine Notoperation am Magen überlebt mein Arthur nicht!»

«Ich bitte vielmals um Entschuldigung», sagt Musti. «Was für Hühnerköpfe? Ich verstehe nur Eisenbahn.»

Lautlos krieche ich aus dem Schrank und linse durch den Spalt meiner Zimmertür. Die Alte steht groß und knochig vor Musti und ist zu sehr in Rage, um zu bemerken, dass sich ihr Mops in einen Sneaker verbissen hat. Musti ist der Einzige von uns, der sich seine Schuhe vor der Wohnung auszieht.

«Was gibt es da nicht zu verstehen?!» Die Alte schnaubt auf. Den nächsten Satz spricht sie betont langsam. «Ich habe genug von diesem Affentheater! Rausschmeißen werde ich euch allesamt! Und zwar noch heute, ihr Schweine!» Sie wirft die Tür so laut ins Schloss, dass die Halogenbirnen an der Decke erbeben.

«Allah! Allah!», jammert Musti. Nach kurzem Überlegen setzt er ein «Ach du grüne Neune!» nach.

Erst zögere ich, dann rase ich in den Flur, wo Musti noch immer auf die Haustür starrt.

«Sie will uns rauswerfen?!», rufe ich.

«Ich glaube schon. Sie hat uns schon öfter gedroht, aber nie so wie heute.» Musti rauft sich erschüttert den Bart. «Ich kann nicht zurück in die Turnhalle!», flüstert er. «Ich kann einfach nicht.»

Ich japse: «Was hat sie genau gesagt?»

«Schwein hat sie uns genannt!», murmelte er. «Und Schwein ist haram! Astaghfirullah!»

Etwas knistert. Die erste der drei Halogenleuchten flackert auf und erlischt mit einem Knacken. Das macht mich fertig. Ein erloschenes Licht, um das zu verstehen, muss man keine Hellseherin sein: Es wird ein Unglück geschehen. Die Alte wird uns rauswerfen! Und dann? Plötzlich wünsche ich mir nichts mehr, als hierzubleiben. Die betreuten Einrichtungen sind voll. Normale WGs werden mich nicht nehmen. Irgendwo alleine zu leben, kommt für mich nicht infrage, aus dem einfachen Grund, dass ich keine Menschenleere ertragen kann. Das ist mein persönliches Drama. Ich habe Angst vor Menschen und noch mehr Angst, wenn keine da sind. Und selbst wenn die mich ließen: Auf gar keinen Fall werde ich zurück zu meiner Mutter und dem neuen Mann gehen! Lieber wohne ich mit einer Satanistin und einem Salafisten zusammen. Wohnte, besser gesagt. Denn auch das ist vorbei: Die Alte wird uns rauswerfen! Sie wird uns rauswerfen, und ich werde auf der Straße landen. Der Boden beginnt, wie eine Pfanne zu schaukeln, in der man Butterkartoffeln schwenkt. Er wird immer schneller, schleudert mich hin und her. Ich presse den Kopf gegen die Wand und versuche, mit den Füßen zu bremsen.

 

Jemand packt mich an der Schulter. «Holy shit, was für eine Freakshow!», sagt eine tiefe Stimme. Abrupt kommt der Boden zum Stehen.

Langsam löse ich den Kopf vom Rigips und sehe in Queen Tigers schwarze Augen. Erschreckt taumele ich einen Schritt zurück. Queen Tiger hält eine Mülltüte in ihrer Hand und sieht mich an, als ob sie mich gleich mit spitzen Fingern hineinstecken wollte.

«Was geht hier vor?»

Auch Musti guckt, aber anders als Queen Tiger, fast schon besorgt. «Alles Tuttifrutti?»

«Tuttifrutti?», ich kichere aus Verzweiflung.

«Wieso ist das so komisch?», fragt Musti beleidigt. «Sagt man besser im Grünen?» Als keine Antwort kommt, zuckt er mit den Achseln. «Ist wahrscheinlich gerupft wie gesprungen!»

Mit einem Scheppern stellt Queen Tiger die Tüte auf dem Boden ab und hebt die Hand. Der Ärmel ihres Pelzmantels rutscht nach unten, und ich sehe die langen Narben an ihrem Unterarm. Nicht quer, wie bei den Hobbyritzern, sondern längs wie bei den wirklich Lebensmüden.

«Ich habe gefragt, was hier vorgeht!» Sie schnaubt bedrohlich.

«Wallah! Ich habe nichts gemacht, Passwort!», sagt Musti schnell.

Queen Tiger hebt die sichelförmigen Augenbrauen, und sofort schlägt sich Musti gegen die Stirn. «Ehrenwort, meine ich. Allah, Allah! Sorry für mein Deutsch, wie ihr seht, lern ich noch.»

Verwirrt blicke ich ihn an. Dann konzentriere ich mich wieder auf die eigentliche Tragödie: «Die Alte hat etwas gegen uns in der Hand!», schreie ich. «Dieses Mal schafft sie es. Dieses Mal wird sie uns rauswerfen!»

Queen Tigers Augen blitzen mörderisch auf. «Uns rauswerfen? Die Alte? Niemals! Darauf könnt ihr Gift nehmen!» Sie lacht verächtlich auf, dann tritt sie den Rückweg an, den Saum ihres überlangen Fellmantels hinter sich herschleifend wie die Schleppe einer Zombiebraut. Auch Musti verzieht sich.

Ich starre an die Decke. Zwei Stockwerke weiter oben steht die Alte in ihrer Mansarde und schreibt bestimmt schon unsere Kündigung, so hasserfüllt und grausam, dass es mir den Hals zuschnürt. Ich senke den Blick. Queen Tiger hat ihre Mülltüte vergessen. Langsam öffne ich sie ein wenig und schreie auf. Da sind Meerschweinchenknochen drin!

«Die Hühner sind auch nicht mehr das, was sie mal waren!» Wie aus dem Nichts steht Queen Tiger wieder vor mir. «Voll mit Osteoporose. Nach jedem Wurf muss ich einen neuen Vogel abkochen. Zeit und Geld! Keine Ahnung, warum die Schamanen unbedingt Hühnerknochen werfen müssen! So ein Schafsbein wäre um einiges nachhaltiger!»

Mit diesen Worten hängt sie sich die Tüte über die Schulter und verlässt die Wohnung, wahrscheinlich, um die Skelettteile im Hof zu entsorgen. Um ihr auf keinen Fall gleich wieder zu begegnen, eile ich in mein Zimmer.

Kurz darauf höre ich Musti im Flur beten. Atemlos wiederholt er ein arabisches Wort, das wie Schuh klingt. Allahschuh oder so. Dann fällt die Haustür ins Schloss. Sicherheitshalber google ich die Bedeutung. Am Ende hat Musti gerade den Dschihad ausgerufen, und keiner bekommt es mit! Ich finde nichts unter Allahschuh und öffne das Fenster. Die Luft steht, es ist schwül wie in einem Gewächshaus. Vom Karstadt her nähern sich grauschwarze Riesenwolken wie Kriegselefanten. Ich warte darauf, dass Musti unten auf der Straße auftaucht. Macht er aber nicht. Stattdessen sehe ich wieder diesen komischen Typen an unserem Klingelschild. Gestern hat er sich da auch schon herumgetrieben, und ich habe die Polizeidirektion 5 angerufen. «Sie schon wieder!», hat die Polizistin geschnaubt. «Können Sie sich nicht ein anderes Hobby suchen?» Sie klang so vorwurfsvoll, als hätte ich bereits den Notruf getätigt, dabei hatte ich extra die normale Festnetznummer gewählt.

«Aber diese Person benimmt sich wirklich sehr verdächtig!»

«Passen Sie mal auf, wir können nicht für jeden, der sich verdächtig benimmt, heranrücken. Wir sind hier nicht in Bayern. Melden Sie sich erst wieder, wenn der Verdächtigte mit einem Fuß in Ihrer Wohnung steht. Einen schönen Abend!»

Ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken, ob ich irgendwann eventuell nach Bayern ziehen sollte. Hier steht ein Verbrecher vor meiner Haustür, da denke ich nicht über ein Irgendwann nach, sondern versuche, mein Hier und Jetzt zu retten. Soll ich noch mal anrufen? Es ist ja wohl auf keinen Fall normal, dass sich dieser Mann schon wieder hier herumtreibt. Ich denke an das erloschene Licht im Flur, die drohende Obdachlosigkeit, den Typen, der wie ein Einbrecher aussieht, weiß gar nicht, wo ich anfangen soll mit dem Reflektor, als es schon wieder klopft. Schnell wie das Rattern eines Maschinengewehrs, direkt an meiner Zimmertür. Tacktacktacktacktacktacktack. Ich greife nach dem Pfefferspray, schnappe mir mein Handy, dieses Mal bereit, die Seitentaste fünfmal schnell zu drücken, um den automatischen Notruf zu aktivieren. Er geht direkt an die Polizei und an die einzige Kontaktperson, die ich eingespeichert habe. Maya. Meine Mutter würde wahrscheinlich erst mal den neuen Mann fragen, ob sie mich retten dürfe.

Die Tür geht auf.

Ich hebe das Spray.

Es ist Musti.

Unfassbar weiß sieht er aus. Die Augen hinter seinen Brillengläsern sind riesengroß. Er trägt nur einen Schuh.

«Wallah! Wir haben da eine Bescherung!», sagt er mit zitternder Stimme. «Die alte Frau ist ins Gras gebissen!»

 

Wir sind jetzt also zum zweiten Mal in der Küche. Es ist noch schlimmer als beim letzten Treffen. Queen Tiger sitzt am Küchentisch und stiert auf die gelbe Plastikdecke, der vertrocknete Kaffeeflecken etwas Giraffenartiges verleihen. Musti steht vor dem Waschbecken und tupft sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Ich starre ihn fassungslos an, warte auf ein Mienenspiel, den Anflug eines triumphierenden Lächelns, haha, reingelegt, alles nur ein Witz, aber Mustis Gesichtsausdruck bleibt, wie er ist, und ich muss mich auf den Boden setzen, weil mir die Beine wegknicken.

«Woher weißt du denn so genau, dass sie tot ist?» Queen Tiger popelt in ihren Fingernägeln und kratzt sich schwarze Schmutzfäden aus den Rändern. «Keine Panik, ist nur Erde!», sagt sie, als ob das gerade irgendjemanden interessieren würde. Dann heftet sie den Blick wieder auf Musti. «Bist du dir hundertprozentig sicher?»

«Ja. Ich denke schon. Sie lag auf dem Boden. Es war schrecklich, überall Blut.»

«Du denkst? Hast du keinen Test gemacht?»

«Was für einen Test?»

Queen Tiger sieht ihn an, als wäre er blöde. «Na, ihr Herz gefühlt, zum Beispiel? Ein Blatt über ihren Mund gehalten? Einen Hühnerknochen geworfen. Keine Ahnung, irgendwas?»

Einen Hühnerknochen geworfen. Ein Meerschweinchen geschlachtet. Whatever. Wenn es nicht so tragisch wäre, würde ich lachen.

«Hör auf zu zwitschern!», fährt mich Queen Tiger an.

Habe ich gezwitschert?

Musti schüttelt den Kopf. «Nein», sagt er leise. «Ich habe keinen Test gemacht.»

Queen Tiger atmet lange aus. «Dann müssen wir nach oben!»

Entsetzt heule ich auf. Auf keinen Fall gehe ich nach oben. Auf keinen Fall!

«Du willst sie einfach so liegen lassen?» Queen Tiger sieht mich an, als wäre ich die meerschweinchentötende Psychopathin. «Holy shit! Du willst sie verbluten lassen! Falls das nicht schon geschehen ist!»

Ich brülle Musti an: «Wieso hast du vorhin nicht einfach den Krankenwagen gerufen?»

«Ich dachte, es ist zu spät!» Musti sieht aus, als würde er gleich anfangen zu weinen. Er zieht das Handy aus seiner Jeanstasche. «Bismillah! Ich rufe an, ich rufe jetzt an.»

«Bloß nicht!», Queen Tiger sprüht wilde Blicke um sich. Dann bemerkt sie unsere Fassungslosigkeit und dimmt den Ausdruck in ihren Augen herunter. «Musti», sagt sie mit plötzlich auffallend weicher Stimme, «was meinst du, wie viele Spuren du vorhin in der Wohnung der Alten hinterlassen hast?»

«Spuren? Keine Ahnung?» Musti bewegt seine Finger, als würde er nachzählen. Dann lässt er die Hand fallen und ruft mit maximaler Erschütterung: «Wallah! Ich wollte nur meinen Schuh holen. Der Hund hat schon einen großen Bissen davon verspeist. Er war wie verrückt danach. Ich habe geklopft, aber die Tür war offen. Die alte Frau lag da, neben meiner Sohle, Allah hab sie selig! Ich bin die Treppen gerannt, als hätte mich eine Tarantel gebissen.»

«Niemand wird dir glauben!» Queen Tiger steht auf. Ihr Ton hat sich wieder ihrem Look angepasst, mehr Satanistin, weniger Grundschullehrerin. «Wir gehen jetzt hoch. Wenn die Alte lebt, rufen wir den Krankenwagen. Wenn sie tot ist, müssen wir uns etwas einfallen lassen.»

«Etwas einfallen lassen?» Mustis Stimme ist ganz leise. Er schließt die Augen und murmelt irgendwas, wahrscheinlich unser Abschiedsgebet.

Langsam erhebe ich mich und taumle zur Spüle. Spucke schießt mir durch den Mund, meine Ohren rauschen. Während ich würge, fühle ich etwas Weiches, Haariges an meinem Nacken.

«Das ist ein Plumplorifell!», flüstert Queen Tiger. Ich spüre ihren warmen Atem auf meiner Haut. «Das habe ich über der getrockneten Milch einer Teufelsdreckpflanze geräuchert. Du wirst sehen, Bambiauge, das beruhigt dich auf der Stelle!»

Ich habe keine Ahnung, was genau ein Plumplori ist, aber ich bin mir sicher, dass seine Reste irgendwo auf dem Tonnengrund im Hof liegen, zusammen mit den Meerschweinchenknochen. Aber im Moment habe ich andere Sorgen. Ich beuge mich noch tiefer über das Waschbecken. Das Fell streicht über meinen kalten, verschwitzten Rücken.

«Ab heute ist Schluss mit diesen läppischen kleinen Zaubereien!» murmelt Queen Tiger. «Nie wieder diese dämlichen Eifersuchtsrituale. Nie wieder!»

Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie sich Queen Tiger den Pelz an die eigene Wange hält. Ihre Blicke gehen zur Decke und sprühen Funken. Das Plumplori plumpst auf den Boden, und Queen Tiger hebt beide Arme. Ihre Stimme hallt durch die Küche und wird als tausendfaches Echo von den Wänden zurückgeworfen. «Ich bin zu Größerem bestimmt! Zu viel, viel Größerem … Größerem … Größerem.» Dann lacht sie auf, erst leise, dann immer lauter, maximal irre. Ich versuche, an ihr vorbeizukrabbeln. Ganz langsam, linke Hand, linkes Knie, rechte Hand, rechtes Knie. Wenn ich es bis zur Türschwelle geschafft habe, werde ich die Polizei rufen. Nicht die Direktion 5, gleich den Notruf.

«Bambiauge!»

Ich erstarre in meiner Bewegung und schließe die Augen.

«Spielst du blinde Kuh, oder was soll das?» Der Stimme nach ist sie direkt hinter mir. «Öffne die Augen!», befiehlt sie.

Situation: Ich öffne die Augen und starre in zwei klaffende Löcher. Sie saugen meinen Blick in sich hinein, ich will den Kopf wegdrehen, aber es funktioniert nicht.

Kognition: Ich bin ein Kaninchen vor der Schlange und warte darauf, dass sie mir alles Leben aus dem Körper zieht, und wenn das geschehen ist, meine verschrumpelte Hülle vor die Biotonne wirft wie ihre Hühner slash Meerschweinchenknochen. Und das gehäutete Plumplori. Und wer weiß, was sonst noch so alles. Aber da klatscht Queen Tiger bereits in die Hände, der Sog ist gebrochen und mit ihm mein Wille. Sie nimmt mir das Handy aus der Hand. «Das bleibt erst mal bei mir!», sagt sie böse lächelnd.