Alles so hell da vorn - Monika Geier - E-Book

Alles so hell da vorn E-Book

Monika Geier

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Beschreibung

In einem Frankfurter Vorstadtbordell empfängt eine junge Hure einen Freier, einen ihrer Stammkunden. Nichts weist darauf hin, dass sich dieses Zusammentreffen irgendwie von den bisherigen unterscheiden wird. Man geht aufs Zimmer. Kommt zur Sache. Dann schnappt sie sich seine Kanone, schießt ihn nieder. Knallt gleich noch einen der Zuhälter ab, kassiert sein Smartphone, nimmt seinen Wagen und fährt los. Sie weiß genau, wo sie hinwill. Kriminalkommissarin Bettina Boll wird in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett geklingelt: Ein Kollege ist tot, heißt es. Erschossen. In einem Frankfurter Puff. Und es handelt sich ausgerechnet um ihren Ex-Partner und Ex-Beinahe-Freund Kriminalhauptkommissar Michael Ackermann. Ackermann, so stellt sich heraus, war seit Monaten Stammkunde in dem Puff, den er stets in Uniform aufsuchte. Erschossen hat ihn eine sehr junge Prostituierte, die sich Manga nennt. Und zwar mit seiner Dienstwaffe. Mit der ist sie jetzt auf der Flucht. Dann kommt aus dem abgeschiedenen Dorf Höhweiler in Rheinland-Pfalz die Meldung, dass ein aufreizend gekleidetes junges Mädchen vor großem Publikum den Schuldirektor erschossen hat. Ist das der nächste Tote auf dem Konto der geheimnisvollen Manga? Monika Geier, Meisterin der exzentrischen Charaktere, knöpft sich mit der ihr eigenen sardonischen Heiterkeit einen grimmigen Stoff vor – mitreißend, rockig, direkt aus dem echten Leben.

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Seitenzahl: 561

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Über das Buch

In einem Frankfurter Vorstadtbordell empfängt die junge Hure Manga einen Freier, einen ihrer Stammkunden. Man kommt zur Sache. Dann schnappt sie sich seine Kanone, schießt ihn nieder und ergreift die Flucht.

Kriminalkommissarin Bettina Boll wird in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett geklingelt: Ein Kollege ist tot, heißt es. Erschossen. In einem Frankfurter Puff. Und es handelt sich ausgerechnet um ihren Ex-Partner und Ex-Beinahe-Freund Kriminalhauptkommissar Michael Ackermann.

Dann kommt aus dem abgeschiedenen Dorf Höhweiler in Rheinland-Pfalz die Meldung, dass ein aufreizend gekleidetes junges Mädchen vor großem Publikum den Schuldirektor erschossen hat. Ist das der nächste Tote auf dem Konto der geheimnisvollen Manga?

Monika Geier, Meisterin der exzentrischen Charaktere, knöpft sich mit der ihr eigenen sardonischen Heiterkeit einen grimmigen Stoff vor – mitreißend, rockig, direkt aus dem echten Leben.

Über die Autorin

Monika Geier, Jahrgang 1970, wurde in Ludwigshafen geboren. Nach dem Abitur folgte eine Ausbildung zur Bauzeichnerin. Für ihr Debüt »Wie könnt ihr schlafen« wurde sie mit dem Marlowe

Monika Geier

Alles so hell da vorn

Bettina Bolls 7. Fall

Impressum

eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2017

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

Alle Rechte vorbehalten

Printausgabe: © Argument Verlag 2017

Lektorat: Ulrike Wand

Umschlaggestaltung: Magdalena Gadaj

eBook-Herstellung: CulturBooks

Erscheinungsdatum: 08.05.2017

ISBN 9-783-95988-084-8

Vorwort von Else Laudan

Monika Geiers Kriminalromane, fein geplottet und bevölkert mit frappierend echten Figuren, sind eine Klasse für sich. Es gibt darin so ein warmes Leuchten. Als ob der ziemlich schwarze Humor mit der empathischen Darstellung menschlicher Realität – die ebenfalls reichlich finstere Seiten hat – eine liebende Verbindung eingeht und so all die Widersprüche, Tücken, Egoismen, Missstände und Verfehlungen in eine leise, nüchterne Heiterkeit transzendiert. Eine Wahrhaftigkeit. Wie die Schönheit eines nicht geschönten Kunstwerks.

»Alles so hell da vorn« liefert meiner Fantasie eine mit Rätseln durchwebte Gemäldegalerie. Satte florale Motive und Landschaftspanoramen, wenn Boll ihren klapprigen Taunus durch die Pfalz lenkt, wie Naturbilder alter Meister mit unheilvoll schattendunklen Ahnungen von Abgründen und Tabus. Schnelle Skizzen alltäglicher Szenen und hingehauchte Porträts, so lebendig, als würden sie gleich zwinkern.

Und dann, damit es nicht zu gemütlich wird, eine ganz besondere Erzählstimme: wild, vehement, garstig, bestürzend in ihrer schlichten Brutalität. Pablo Picasso, im besetzten Paris von kunstliebenden SS-Größen hofiert, soll von einem perplexen deutschen Offizier beim Anblick des Bildes Guernica gefragt worden sein: Haben Sie das gemacht? Seine Antwort: Nein, das haben Sie gemacht.

Monika Geier klagt nicht an, belehrt uns nicht, sie beschränkt sich strikt aufs Erzählen, kunstvoll, spannend und verschmitzt: So sieht Kriminalermittlerin Bettina Boll die Welt, unsere Welt, hier und heute. Das zu lesen ist reiner Genuss. Und zugleich steckt darin eine dunkle Geschichte, bei der man sich gerne mal fragen darf: Haben wir das gemacht?

Else Laudan

Glück für alle! Umsonst!

Arkadi und Boris Strugatzki:

1

Nicht von dieser Welt, dachte Bettina, als sie ihren Taunus auf dem Trottoir unter der alten Eibe aus Tante Elfriedes Vorgarten parkte. Der Baum war wie eine Zeitkapsel, man stellte sein Auto drunter und befand sich unversehens im vergessenen Außenposten einer uralten Schattenwelt. Sie stieg aus und fröstelte. Wie immer hier. Obwohl die Seele des Ganzen, Tante Elfriede, jetzt in einem anderen Teil der Stadt unter Linden ruhte und Baum, Garten, Haus Bettina gehörten: Es war kein angenehmer Ort. Alles viel zu groß, darum längst schleichend stillgelegt und umgeben von zudringlichen alten Gehölzen. Im Grunde besaß sie einen Wald und ein Schloss. Ich bin Dornröschen, dachte Bettina und versuchte ein Lächeln. Es geriet schief, denn plötzlich streiften sie ein paar weiche Eibennadeln an der Wange, ganz zart, wie die Finger einer Taschenspielerin. Bettina schrak zurück. Den herabhängenden Ast hatte sie nicht bemerkt, obwohl er unübersehbar im Weg hing. Witzig, dachte sie. Du wirst fallen, Eibe. Du wirst die Erste sein. Deinen billigen Grusel werden die neuen Besitzer nicht mehr dulden. Sie werden dich bewerten, schwieriges Mikroklima, Umsturzgefahr, Schädlingsbefall, vergiftet den Boden. Und dann werden sie dich fällen, ganz ohne sich die Jahre zu nehmen, die man braucht, um deine boshafte Seele so richtig kennenzulernen. Irgendwie fast schade, aber ich werde dich verkaufen, Eibe, und das ganze Anwesen dazu. Mitsamt seinen abgesperrten Schränken, den seltsamen Kellern und unerklärlichen Luftzügen.

Mit Schwung öffnete Bettina die Gartenpforte. Kühl hier, trotz Augusthitze, aber gefegt und aufgeräumt. Alles sah ein bisschen nackt aus, die breiten Eingangsstufen, die hölzerne Haustür. Es würde schon gehen, für den ersten Besichtigungstermin. Morgen kamen die Inter­essenten, ein Architektenpaar aus Grünstadt mit zwei Kindern. Die waren von hier, die hatten Pläne und Ahnung. Die würden etwas Neues aus diesem Vorkriegsbunker machen, Mietwohnungen, gehobener Standard, große Zimmer für kleine Familien und Singles mit Niveau.

Bettina inspizierte die Rabatte, die sie letzte Woche bepflanzt hatte, damit es einladender wirkte. Umsonst, sah sie jetzt. Die Blumen kümmerten, nein, faulten. Nichts wächst unter einer Eibe, weißt du doch. Irgendetwas wisperte im Geäst. Bettina blickte auf, der Baum stand still und majestätisch, als sei jede Gehässigkeit weit unter seiner Würde. Und plötzlich dachte sie, dass es vielleicht doch mehr als Ahnung, Pläne und ein optimistisches Familienkonzept brauchte, um dieses Hauses und dieses Baums Herr zu werden.

Dann wanderte sie durch die Zimmer und öffnete die Fenster. Lüften Sie, hatte der Makler gesagt, und wenn Sie können, backen Sie Brot. Es muss gut riechen, und es darf nicht klamm sein. Klamm war es in den hohen Räumen aber immer gewesen, das kriegte man auch in einer Hitzeperiode mit der sattesten Augustluft nicht weg. Die Nässe steckte in den Mauern. Alle Klinken und Geländer waren mit einer feuchten Schicht überzogen. Bettina betrat das Klavierzimmer, klappte die Läden auf und ließ die Abendluft ein. Die Einrichtung wollte sie im Haus lassen. Das ist ein Risiko, hatte der Makler zu bedenken gegeben, nur wenige Käufer betrachten Möbel als Mehrwert, und, tja, räumen Sie wenigstens die Bücher raus, und alles, was noch persönlicher ist, erst recht.

Tatsächlich weggeschafft hatte Bettina dann nach ihrer ersten chaotischen Hauruck-Räumung gar nichts mehr, denn unpersönlich sah es sowieso aus. Sie lehnte sich an die Fensterbank und schaute hinaus in den Garten: eine Wildnis. Zurück ins Zimmer: eine Gruft. Trotzdem hatte sich etwas verändert. Die Räume kamen ihr kleiner vor als sonst. Und viel schmutziger. Seltsam, es schien, als wäre der Dreck zwar immer da gewesen, hätte sich aber erst jetzt, nach Jahren der Unsichtbarkeit, auf einen Schlag bemerkbar gemacht. Sie fror nicht mehr hier drin, und sie fühlte sich nicht mehr hässlich. Höchst merkwürdig.

Genau wie diese Sache mit dem Rauchen.

Sie hatte damit aufgehört.

Erzählt hatte sie das noch keinem, denn es war ihr selbst nicht geheuer. Musste man nicht kämpfen, um die Sucht loszuwerden? War sie es nicht allen anderen Ex-Rauchern schuldig, sich mit Pflastern zu bekleben und Sprays und Kaugummis und Eso-Ratschläge zu verschleißen, um dann bis aufs Blut gereizt jeder Zigarette einzeln zu widerstehen und außerdem zehn Kilo zuzunehmen? Sollte das nicht Grundvoraussetzung sein, um sich nach Äonen des Tabakkonsums »Nichtraucherin« nennen zu dürfen?

Sie war Nichtraucherin. Seit zwei Monaten. Ganz einfach so. Sie, Kriminalkommissarin Bettina Boll, hatte gedankenlos eine Kippe nach der anderen geplotzt, seit sie zwölf war, denn da waren ihre Eltern gestorben. Jetzt rauchte sie nicht mehr. Das war alles. Einen Entschluss dazu hatte sie nicht gefasst. Es war nur einfach nicht mehr notwendig. Und wenn sie überhaupt genervt war, dann eher von den umständlichen Ritualen der Raucher als von ihrem eigenen niedrigen Nikotinpegel. Das Verlangen war auf einen Schlag verschwunden. Seltsam allerdings, was ihr erst an diesem Abend und angesichts des staubigen Klavierzimmers in ihrer kalten Familiengruft klar wurde: Verschwunden war es exakt am Tag von Tante Elfriedes Beerdigung.

Was du mal werden willst: Nichtraucherin. Nee, jetzt im Ernst, ein Körper, der ganz sauber ist, das wär’s. Alle Löcher gehören dir allein. Und deine Lunge und dein Herz auch und vor allem dein Gehirn. Dein Herz: Schalt es aus. Deine Lunge: Halt sie frei. Dein Gehirn: Tja. Da läuft alles zusammen. Komisch, dass du ausgerechnet hier aufgewacht bist, in dieser Drecksbude, bei diesen Losern. Plötzlich hat es Zoom gemacht und alles war hell. Du kannst hören, was die anderen denken. Dabei bist du nicht mal mehr drauf, du kannst wirklich alles sehen. Den ganzen Müll.

Kommt vielleicht daher, dass hier nicht so viel los ist. Kein gutes Haus, baufällig und dreckig, manchmal passiert gar nix. Da ist einfach Pause und du kannst denken. Vielleicht ist es auch, weil du aus ’nem Club kommst und nicht von der Autobahnraststätte wie Olga und Angelique, und wer weiß, aus was für Dingern die andern sind. Auf jeden Fall bist du hier falsch. Davor, ganz früher, warst du eine Preziose. H. G. hat dich so genannt, H. G., der Richter. Pre-Zi-Ose. Das war … na ja, H. G. eben. Die anderen Sachen sind unwichtig, dieses andere Leben ist sowieso vorbei. Jetzt sitzt du in der Wandnische, Beine breit, ein Fuß im schwarzen Creeper auf dem Sitzpolster, Faltenmini knapp überm Schritt und verträumter Augenaufschlag. Ein Mann betritt den Raum. Du siehst, wie Diandra ihre Brust vorschiebt. Sie senkt die Wimpern, richtet den Blick. Es ist still, na ja, es fühlt sich still an. Die Anlage haut Beats raus, aber das zählt nicht, das ist Tapete. Die Stimmung ist ungemütlich. Alle sitzen auf Position. Du bist genauso gespannt wie die anderen, irre, als würdet ihr zusammen auf diesen einen Mann warten. Er wird fliehen, denkst du, jeder vernünftige Mensch würde das tun.

Er bleibt. Er schwitzt und geht auf Diandra zu. Sie grinst ein Grinsen, das aus tausend vergeblichen Versuchen besteht. All die Lächeln, die davor schon nicht geklappt haben, stecken mit drin, so verzerrt sie ihr Gesicht. Du siehst, dass sie ein Zombie ist, das ist ganz klar. Du bist nicht drauf. Du hast seit zweieinhalb Monaten nichts mehr genommen. Daher weißt du es genau: Diandra ist ein Zombie, und die anderen sind viel zu kaputt, um noch irgendwas zu sein, die könnten genauso gut sofort verfaulen. Geisterbahn. Das hier ist ein leeres Zimmer voller leerer Menschenhüllen, da ist dieser Mann, der gleich einen Zombie ansprechen wird, und da bist du. Der einzige Mensch hier, vielleicht der einzige Mensch überhaupt auf der Welt außer Nini: du. Witzig, oder? Mach die Augen zu und die Welt ist weg. Mach deine Löcher zu und die Männer sind weg. Mach die Augen auf und du siehst: Diandra.

Und weißt du, was? Diandra ist das Letzte, aber sie ist alt. Sie ist über vierzig. Sie hat einen Körper, eine Stimme. Sie ist die Zukunft. Wenn du es schaffst, so alt zu werden wie sie, dann darfst du eine Diandra sein.

Du hörst, wie sie mit dem Mann redet. Sie sagt: »Wo wir sind, ist vorn.« Ihr Spruch für alles. Sie fügt an: »So weit vorn hattest du ihn noch nie.«

Der Kerl wird rot. Diandras Blick beginnt zu suchen. Das richtige Mädchen für den roten Typen, der schwitzt. Sie schaut sich lange um. Der Mann wartet. Er braucht Gelegenheit, auszudünsten, an seinem Bier zu trinken und alle zu betrachten. Damit sich irgendwie zeigt, worauf er steht. Du lässt dich tiefer in die dreckigen lila Polster sinken. Deine Beine wickeln sich umeinander. Eine Serviette wandert vor dein Gesicht. Du fächelst, als bräuchtest du Abkühlung. Diesen roten Typen willst du nicht. Den kannst du jetzt auf keinen Fall brauchen. Du musst frei bleiben für den Bullen.

Diandras Blick bleibt an dir hängen. Mist. »Ich glaube, du suchst mal was Echtes und Ehrliches in deinem Leben«, hörst du Diandra zu dem schwitzenden Typen sagen. Sie sieht dich an.

Der Mann schluckt. Er ringt sich seinen Satz ab. »Was kostest du?«, fragt er laut. Er meint Diandra. Die ist mindestens zwanzig Jahre älter als er. Du hättest gelacht, aber es ist nicht komisch. Es ist nur gut gegangen.

Du legst ruhig die Serviette weg. Gehst wieder in Position, fast lässig, als wärst du nur einen kurzen Moment abgelenkt gewesen. Das Glück ist auf deiner Seite. Diandra ist jetzt eine halbe Stunde beschäftigt. Und heute Abend noch, sehr bald schon, wird der Bulle kommen. Das ist die Nacht der Nächte. Du spürst es, weißt es sogar: Der Bulle hat angerufen. Macht er immer. Und der Bulle will immer zu dir.

»Ach genau, Sie sind die Polizistin«, sagte die Stimme des Maklers aus Bettinas Handy, was die etwas irritierend fand, denn was hatte ihr Beruf mit dem Hausverkauf zu tun? »Polizisten rufen immer vorher noch mal an«, fügte er hinzu, und der kleine Seufzer danach ließ durchblicken, dass er mindestens im Liegestuhl, wenn nicht in einem Pool saß, Zielvorgabe: ein entspannter Sommerabend ohne die Anliegen seiner kontrollsüchtigen Klienten.

»Ich wollte Sie nur dran erinnern, morgen die Pläne vom Haus mitzubringen«, sagte Bettina etwas grantig. Die Pläne hatte sie dem Makler ganz selbstverständlich überlassen, aber jetzt wünschte sie, dass sie zumindest eine Kopie behalten hätte.

»Aber klar, Frau Boll«, sagte der Makler verbindlich und geduldig. Irgendetwas plätscherte leise bei ihm im Hintergrund.

»Danke«, sagte sie.

»Aber gern, dann bis morgen.«

»Em –«

Längere Pause. »Ja, Frau Boll?«

»Sie haben die Pläne nicht zufällig jetzt irgendwo in der Nähe …?«

»Tut mir leid«, antwortete der Makler entschieden. »Ich bin grad im Außendienst und hab keinen Zugang zu meinem Büro. Morgen bring ich alles mit, versprochen.«

»Na gut«, sagte Bettina zögernd. »Es ist nur –«

»Was denn?«

Bettina fror. Jetzt doch. Denn sie stand im Licht ihrer ­Maglite in Tante Elfriedes Apfelkeller, einem düsteren Loch ohne Tageslicht voll alter Apfelsteigen, Kartoffelkisten und ­Regalen mit Einmachutensilien. Es war saukalt, richtig eisig, hier schien der Ursprung des Unbehagens zu liegen, das durch die Mauern nach oben kroch. Bettina konnte sich an diesen Raum kaum erinnern, sie wusste, dass es ihn gab, aber sie hätte nicht sagen können, ob sie überhaupt je drin gewesen war.

»Ich hab eine Tür gefunden«, sprach sie in ihr Handy und leuchtete den wurmstichigen Schrank an, den sie soeben beiseite­gerückt hatte. Weil darunter so eine seltsame Kante gewesen war. Die Kante hatte sich als Stufe entpuppt. Welche hinab zu einer Tür führte. Und diese Tür hatte Bettina noch nie im Leben gesehen.

»Frau Boll, Ihr Anwesen ist wirklich ein eindrucksvolles Ensemble«, beschwichtigte der Makler, jetzt spürbar bemüht. »Und wenn Sie dort nicht aufgewachsen sind oder längere Zeit gewohnt haben, ist es nur natürlich, dass Sie nicht alle Räumlichkeiten kennen. In diesen alten Häusern gibt es viele Abseiten, Nebenräume und so weiter, einmal haben wir ein ganzes Treppenhaus entdeckt, war zugemauert, das kommt alles vor. Wir werden –«

»Sie verstehen nicht«, sagte Bettina, zitternd vor Kälte und dem dringenden Wunsch, das Rätsel zu lösen und dann schnell hier zu verschwinden. »Diese Tür kann es gar nicht geben, weil das sozusagen eine Außenwand ist, nur unter der Erde, wenn man sie also aufmacht, dann stößt man eigentlich aufs Fundament, beziehungsweise sie ist im Fundament und führt in die – na ja, in die Erde.«

Pause. Dann seufzte der Makler. »Frau Boll.«

»Tut mir leid«, sagte Bettina. Sie hörte sich vermutlich ziemlich wirr an, und hinter der Tür, egal wie verschlossen und versteckt sie war, konnte tatsächlich nicht viel mehr sein als ein weiterer Keller. Der dann eben ein eigenes Fundament besaß. Oder so. Und das war nichts, weswegen man einen vielbeschäftigten Makler am heißesten Abend des Jahres aus dem Pool jagte.

»Wir klären das morgen«, sagte er versöhnlich. »Alles klar, Frau Boll?«

»Alles klar«, sagte Bettina, unterbrach die Verbindung und steckte ihr Handy in die Hosentasche. Dann leuchtete sie die Tür an. Die war aus dickem Holz, Eiche vermutlich, trotz der Wurmlöcher solide, ziemlich breit und oben rund.

Das ist keine Tür zu einem Nebenraum, sagte eine Stimme in ihr. Das hier ist mysteriös. Und mit einer Kraft und Verzweiflung, die ihr selber ziemlich unheimlich war, warf sie sich gegen das Türblatt und rüttelte mit aller Macht am Knauf.

Nichts tat sich. Nur die Stille, die in den Raum zurückflutete, sobald Bettina nachließ, wirkte jetzt lauschend. Sie fluchte und ließ den Lichtkegel der Maglite durch den Raum wandern. Schatten tanzten. Ihre Zehen in den Cowboyboots waren so kalt, dass sie kaum noch zu spüren waren.

Der Bulle ist da. Diandra nicht. Das macht ihn nervös. Normal kommt er reinstolziert, in Uniform mit allem Drum und Dran, marschiert straight auf Diandra los und sagt so Sachen wie: Ich werd hier mal eine Razzia anberaumen. Und Diandra sagt dann: Aber, Hasi, kann man da nicht IRGENDETWAS tun? Und der Bulle so: Ich glaube nicht! Das hier ist ein Sündenhaus, wie ich sehe, beschäftigt ihr sogar Minderjährige! Darauf Diandra: Aber nein, gucken Sie sich die Mädchen doch an, Herr Kommissar! Und er: Das tue ich grade, und die sind viel zu jung! Und ­Diandra: Aber eine Razzia, lieber Kommissar, das ist echt too much! Könnten wir nicht so ganz unter uns noch mal drüber reden? Und der Kommissar: Ich muss mir diese Girlies mal genauer ansehen! Diandra, flehentlich: Es geht ihnen gut hier bei uns, und glauben Sie mir: Die wollen das! Die sind so heiß, zu einem langweiligen Leben wären die gar nicht imstande, schauen Sie mal, die kleine Manga, wie die unter Strom steht, die BRAUCHT einen dicken, fetten …

Heute fehlt Diandra. Darum fehlt dem Bullen sein Vorspiel. Du siehst ihn dastehen, in seiner engen Uniform. Sein stumpfer Blick huscht durch den plüschigen Raum. Er sucht eine Bühne für sein Bullenspiel, das Stichwort für seinen Auftritt. Aber du weißt, er weiß, alle wissen: Die anderen Mädchen können mit Irren nicht so wie Diandra. Sie räkeln sich nur in ihren Positionen. Olga und Angelique kichern an der Bar und rufen: »Hallo, Bulle!« Und: »Willste wieder ’ne Razzia machen?«

Sie lachen ihn aus. Das macht dich panisch. Du musst etwas unternehmen. Er wird schon ganz starr. Olga und Angelique könnten nie so bösartig sein wie Diandra. Aber genau darum kann jetzt jeder sehen, wie dreckig und verrückt das alles hier ist, ein Polizist, der echt in Uniform, mit Schlagstock und Pisto­lengürtel antanzt. Ein großer, schöner Mann. Wahrscheinlich nicht mal doof. Der draußen sicher geachtet, klug und gefährlich ist. Und der nur hier so gebückt steht wie ein betäubter Bär, der nicht anders kann.

Du schluckst die Angst weg und erhebst dich. Schlenderst auf ihn zu. Darfst du nicht, musst du jetzt aber. Das ist nicht deine Rolle, und du sollst nicht ewig mit den Typen reden. Du bist der Preis und nicht die Puffmutter. In all der Zeit, die du bisher mit dem Bullen verbracht hast, habt ihr bestimmt nicht mal hundert Worte gesprochen. Aber so wie es jetzt aussieht, braucht er Hilfe.

Und du brauchst ihn.

Draußen in der weichen Abenddämmerung vor der alten ­Remise überlegte Bettina, wen sie an einem Donnerstag um die Zeit noch bitten konnte, eine Tür aufzubrechen. Inzwischen hatte sie ein komisches Gefühl bei der Sache. Eine verschlossene Tür mit einem Schrank davor, die barg doch nicht nur einen leeren Keller.

Eventuell war es klüger, die Tür zu öffnen, bevor die Käufer kamen. Aber wie? Wer war dazu in der Lage? Ein Kollege? Kollege Ackermann? Der wäre bestimmt stark genug, aber ob er jetzt sofort hierherkommen würde, an einem Sommerabend in Bettinas Löwinnenhöhle? Es hatte mal eine Zeit gegeben, da hätte sie ihn ohne Zögern angerufen, aber dann hatten sich die Verhältnisse kompliziert. Jetzt gingen sie sich nur noch aus dem Weg, also konnte sie ihn kaum herbestellen, wenn sie bloß einen Rammbock brauchte. Und sonst fiel ihr niemand ein. Also musste sie doch hoch, in Tante Elfriedes »Büro«, die Kiste mit den Schlüsseln holen.

Noch so eine Sache, die der Makler ihr aufgetragen und die sie nicht gemacht hatte: alle Türen mit den passenden Schlüsseln versehen. Eine Wahnsinnsarbeit, und die vielen abgesperrten Schränke machten sie wütend, zumal meistens nichts drin war. Genau wie das Klavier. Nur Tante Elfriede würde es einfallen, ein Klavier abzuschließen, so dass niemand mehr etwas mit dem Instrument anfangen konnte. Es war schlichtweg Schikane, sämtliche Möbel im Haus zu versperren und die Schlüssel dann wild durcheinander in eine riesige Kiste zu werfen. Aber vielleicht, dachte Bettina jetzt, hatte Tante Elfriede die Kiste gebraucht. Um ein Versteck zu haben für den einen, den geheimen, den kostbaren Schlüssel. Der zur Tür im Apfelkeller passte.

Mit dem Bullen ist es so: Sobald er bei dir im Zimmer steht, ist das Spiel vorbei. Da sagt er gar nichts mehr. Er sieht dich nicht an. Dann ist er am Ersaufen, will ausgezogen werden, reißt dir die Klamotten weg, küsst dich und ist jedes Mal erstaunt, dass du ihn nicht wiederküsst. Er ist sehr groß. In jeder Hinsicht. Stark und hart und gleichzeitig ewig weit weg.

Jetzt steht er an der Bar neben der kichernden Olga. Die macht sich immer noch wispernd mit Angelique über ihn lustig. Er sieht dich an, als sähe er dich zum ersten Mal. Als wüsste er nicht, ­wohin mit seinem dämlichen Pädo-Polizistenspruch.

Du sagst: »Hallo, Bulle.«

Er sagt: »Guten Abend.«

Du, melancholisch: »Kennen wir uns?«

Er, schwach: »Bist du eigentlich alt genug, um hier zu arbeiten?«

Du siehst ihn an. Sein Blick hält deinem nicht stand. Da nimmst du seine Hand. Und so geht ihr auf dein Zimmer.

Als sie wieder vor der seltsamen Tür stand, erkannte Bettina, dass sie so nichts erreichen würde. Es war zu kalt hier und zu dunkel. Draußen im Hof mochte es als eine durchaus erfüllbare Aufgabe erscheinen, aus mehreren Kilo gemischten Schlüsseln den richtigen für ein bestimmtes Schloss herauszu­fischen, doch hier unten in der klammen Finsternis war einfach jeder Misserfolg einer zu viel, hier krochen einem die Schatten in den Nacken und die Gänsehaut ging nicht weg, hier wurde man ungeduldig, ungenau und wollte nur noch eins: hoch, in Sicherheit. Es war scheußlich wie Schwimmen im kalten Wasser. Da half auch die kratzige Wolljacke nicht, die Bettina jetzt einhüllte. Das Ungetüm hatte an einem Haken gehangen und spendete kaum Wärme, war hauptsächlich widerlich und roch modrig wie das Haus. Diese Jacke zu tragen war fast so, als würde sie dem alten Gemäuer gestatten, ihre Haut zu berühren und ihren Körper einzufangen. Das Gefühl wurde so übermächtig, dass Bettina die Jacke mit einem Ruck abstreifte, in eine Apfelstiege feuerte, dabei die Maglite zu Boden warf und dann natürlich noch viel mehr fror, während die Taschenlampe davonrollte und komische Lichtflecke über den Boden zucken ließ. Fluchend packte Bettina die Schlüsselkiste, eilte ihrer Lampe hinterher und verließ den Keller. Den Gedanken an einen Spezialisten vom Schlüsseldienst verdrängte sie gleich wieder. Heute würde sie nicht mehr in dieses Loch zu dieser Tür hinabsteigen. Selbst wenn dahinter ein Goldschatz lag: Den letzten schönen Sommerabend war er nicht wert.

Es ist wie immer mit dem Bullen: Er ist grob. Aber trotzdem ein super Kunde. Weil er eben einfach unter Strom steht und du ihn nicht mühsam hochkitzeln musst. Im Zimmer drin packt er dich und drückt dich gegen die Tür. »Was MACHST du da?«, hauchst du. Wehrst dich ein bisschen. Er küsst dich in die Halsbeuge, so zärtlich, dass du ihn ohrfeigen willst. Du schiebst ihn weg. Du musst zum CD-Player. Ihr braucht Musik. Sehr laute Musik, der Bulle verlangt es nicht, aber er ist dann besser. Weil er im Rhythmus bleibt. Und das muss sein, denn er ist echt groß und kann schnell und heftig werden. Aber er ist auch ein Tänzer, folgt immer dem Takt. Du drehst die Anlage bis zum Anschlag. Bässe hämmern los, fetter Elektropop mit verfremdeten Girlie-Stimmen. Ihr hört hier deine Mucke, macht DEINE Schulmädchennummer.

Der Bulle berührt deine Schulter. Du wirbelst anmutig herum. Augenaufschlag, comicmäßig, du bist Manga, die Animefigur, ohne Piercings, aber Wimpern so lang und gezackt wie Schuppen auf der Drachenhaut. Das sieht er aber gar nicht. Er hält die Augen geschlossen. Legt dir die Hand zwischen die Schulterblätter. Zieht deine Bluse nach hinten. Dann berührt er die klaffenden Säume über deiner Brust mit den Lippen. Leckt deine Haut ab, da, wo er sie erreichen kann. Jetzt klebt er an deinem Körper. Bewegt die Hüften im Rhythmus. Auch seine Uniform spannt überall.

Du fragst dich plötzlich, ob es wirklich eine richtige Uniform ist. Sie riecht irgendwie. Vielleicht spielt er den Schupo nur. Ist gar kein Bulle. Aber: Der Schlagstock und die Pistole, die sind echt. Müssen sie sein. Du fummelst an seinem Gürtel. Er stoppt. Sieht auf, blickt dich an. Du küsst ihn. Hast du noch nie gemacht. Erst aufs Kinn, dann auf die Wange, die Nase, die Lippen. Er steht ganz still. Dann küsst er zurück. Du nimmst wieder den Gürtel. Das hier, diese Pistole in diesem Gürtel an diesem Mann, das ist trauriger Alltag und gleichzeitig das Irrste, was dir je passiert ist. Es ist ein Geschenk. Du musst annehmen. Wenn du diese Chance nicht ergreifst, dann wird Gott nie wieder einen Gedanken an dich verschwenden. Dann wirst du mit viel Glück wirklich eine Diandra werden.

Der Rhythmus wird schneller. Die Frauenstimme von der CD kreischt. Der Bulle ist in seiner Welt gefangen, nur noch Bewegung, Gewalt und Sehnsucht. Breitbeinig. Im Nirwana. Vorsichtig öffnest du die Druckknöpfe der Pistolentasche. Ziehst die Pistole halb heraus. Das Ding muss geladen werden, dazu schiebt man den oberen Schlitten zurück. Das geht nicht mit einer Hand. Der Bulle greift unter deinen Rock und reißt deinen Slip mit einem Ruck fort. In der Bewegung lässt du die Pistole zurückgleiten. Dass die echt ist, hat der Bulle selbst gesagt. Er hat sie rausgeholt und dir gezeigt, ungern, aber doch auch stolz. Jetzt greift er selber nach seiner Gürtelschnalle. Du fasst seine Schulter. Trittst einen Schritt zurück. Tanzt um ihn herum, den rechten Zeigefinger an seiner Hüfte. Kommst hinter ihm zu stehen. Dort hebst du die Hände, um die Berührung zu unterbrechen. Wie um es spannender zu machen. Die Pistole hängt direkt vor dir. Rechts. An seiner Hüfte. Er quält sich mit dem Reißverschluss.

Du machst eine schnelle Handbewegung und packst die Waffe. Bekommst sie gleich richtig zu fassen. Ziehst den Schlitten zurück. Alles funktioniert wunderbar. Du hörst die Musik nicht mehr. Zeitlupe. Schwarze Seite im Comic. Er fährt herum, schnell vermutlich, aber für dich ist es ewig: Überraschung, Schreck, dann Unglaube, Wut und jetzt Entsetzen. Also, denkst du. Schieß.

2

»Boll«, sagte Bettina schlaftrunken ins Telefon und richtete sich auf. Im Zimmer war es stockdunkel, das Fenster stand offen, von draußen drangen Sommernachtsgeräusche herein, ein Auto fuhr vorbei, die Bäume der Grünanlage wisperten wie im Traum.

»Boll!«, echote Kollege Habermeyer von der Zentrale streng durchs Telefon. Sie erkannte ihn an seinem tiefen Organ und der Hektik, die er verbreitete. Um ihn herum herrschte immer Drama, er grüßte nicht und in seiner Nähe schrillten sofort alle Telefone. Jetzt brüllte er »Geh doch mal dran!« in irgendeine andere Richtung und sprach dann wieder zu Bettina: »Boll, du hast Bereitschaft.«

»Ich weiß«, sagte Bettina und gähnte.

»Wir haben ein Tötungsdelikt, du musst sofort herkommen.«

»Okay.«

»Moment.« Im Hintergrund hörte Bettina jetzt mehrere andere Stimmen, die auf Habermeyer einredeten.

Sie gähnte wieder und streckte sich. So ein Mist, ausgerechnet heute ein neuer Fall, da dürfte der superwichtige Termin mit den Hausinteressenten am Vormittag platzen. Außerdem hatte sie gerade so schön geschlafen.

»Nein«, sagte jetzt eine Stimme ziemlich laut. »Frag Härting, der wird dasselbe sagen!«

Bettina rieb sich die Augen und blickte auf den Wecker. Zwei Uhr fünfzehn. »Was ist denn eigentlich los?«, fragte sie in ihr Handy.

Da hörte sie wieder Habermeyers Stimme. »Boll!«

»Ich bin noch da.«

»Es ist kompliziert.«

»Sag.«

»Der Fall betrifft einen Kollegen.«

Bettina erschrak. »Wen?«

»Es ist so, EKHK Härting hat jemanden aus der Bereitschaft angefordert, aber jetzt höre ich, dass du eher ungeeignet bist.«

»Wieso?!« Bettina setzte sich kerzengerade auf. Das war natür­lich der allerbeste Weg, sie für einen Einsatz zu interessieren.

Aber Habermeyer war kein Taktiker. Er meinte es ernst. »Weil«, sagte er, »ich grade erfahren hab, dass ihr befreundet seid, und dass – in dem Fall brauchen wir jemand Neutraleres. Zumal es keine Ermittlung von uns ist, der EKHK will nur so schnell wie möglich dorthin, und zwar nicht allein –«

»Wer ist gestorben?«, fragte Bettina in diese Rede hinein.

Habermeyer räusperte sich. »Der Kollege Ackermann.«

Bettina, die sich halb vom Bett erhoben hatte, fiel zurück auf ihre Kissen.

»Boll?«

»Noch dran«, sagte sie lahm.

»Alles in Ordnung?«

Bettina nahm das Handy vom Ohr, schaute es in der Dunkelheit an, blickte im Zimmer umher, spürte die warme Nachtluft – und sonst nichts. Ackermann war tot, das war schlimm, aber er war nicht mehr ihr Freund, und vielleicht nie gewesen. Sie hielt das Telefon wieder ans Ohr. »Ackermann?«, sagte sie. »Wie?«

Habermeyer räusperte sich.

»Ich werde es sowieso erfahren«, erklärte Bettina.

Der Kollege holte Luft. »Ist erschossen worden. Wahrscheinlich mit seiner Dienstwaffe. Von einer Nutte. In einem Puff. In Frankfurt.«

Bettina setzte sich wieder auf. »Mit seiner …? In …? Wie bitte?«

»Ich sag ja, Boll, geh wieder schlafen, ich rufe –«

»Ich komme«, sagte Bettina.

»Der EKHK will gleich los.«

»Sag, ich bin da.«

»Also, Boll, ich weiß nicht –«

Bettina sprang aus dem Bett. »Ich bin startklar«, sagte sie, während sie ihre Jeans vom Sessel klaubte. »So doll befreundet war ich nicht mit Ackermann, ich habe Bereitschaft und ich werde das machen. Verstehst du, sonst heißt es hinterher, ich hätte Befindlichkeiten.«

»Nein, Boll, das doch nicht –«

»Bis gleich«, sagte Bettina und schaltete das Handy aus.

Als sie auf dem Parkplatz im Hof der Dienststelle hielt, war der Himmel noch schwarz, nur direkt am Horizont verblassten die Sterne vor dem Lichtschein, der aus der Stadt aufstieg. Zwei Uhr achtunddreißig, sie hatte es in Rekordzeit geschafft. Bettina sah sich nach Kollegen um: Kein Mensch war hier draußen. Aber der Parkplatz stand ziemlich voll, und vor dem Eingang parkte groß und breit Härtings Benz. Im Eingangs­bereich konnte sie eine Gruppe Kollegen erkennen, die aufgeregt zu palavern schienen. Bettina stieg aus und hieb die Tür ihres Taunus ins Schloss, dass es krachte. Ackermann erschossen. Mit der eigenen Dienstwaffe. In einem Puff!

»Guten Morgen«, grüßte sie, als sie die kühle Eingangshalle betrat, und erntete beredtes Schweigen. Drei Kollegen in Uniform standen da, Diensthabende von der Wache, außerdem Meier II, Spohn von der Sitte und der Erste Kriminalhauptkommissar Härting, der in dieser Krise offensichtlich auch seine Sekretärin aus dem Bett beordert hatte, denn neben ihm bearbeitete eine sehr übernächtigte und ungeschminkte Mona ihr Handy. So ohne Betonfrisur wirkte sie um Jahre jünger.

»Frau Boll, da sind Sie ja«, sagte Härting in einem Ton, den Bettina nicht kannte, nicht vorwurfsvoll wie sonst, eher müde und lauernd.

»Morgen, Hauptkommissar.«

»Sie haben gehört, was passiert ist?«

»Kollege Ackermann.«

Alle Umstehenden blickten sie interessiert an. Niemand sagte etwas.

»Ist getötet worden? In Frankfurt?«

Härting nickte kaum merklich. »Die hessischen Kollegen haben hier angerufen und um Informationen gebeten. Ich hab ihnen gesagt, wenn das wirklich mein Mann ist, will ich ihn sehen, und wir fahren da jetzt hin.«

»Sind wir willkommen?«, fragte Bettina.

»Ja«, antwortete Härting knapp. »Frau Boll, ich nehme Sie ungern mit, weil Sie mit Ackermann befreundet waren, aber andererseits kannten Sie ihn, das ist sicher von Vorteil. Und außerdem können Sie vielleicht mit diesen Leuten reden.« Er blickte abschätzig an ihr hinab, und die Kollegen taten es ihm gleich.

»Was soll das denn heißen?«, fragte Bettina, die noch zu unausgeschlafen für duldsames Schweigen und Ertragen war.

»Na, das sieht man doch«, erwiderte Härting ungerührt. »Gut, haben Sie alles, dann kommen Sie.« Er strebte dem Ausgang zu. Spohn von der Sitte schloss sich ihm an, der sollte offenbar auch mitfahren.

»Was sieht man?«, fragte Bettina ihnen nach. Härting drehte sich im Türrahmen noch einmal um, sah Bettina kurz an, schüttelte genervt den Kopf und setzte seinen Weg fort.

Sie blickte an sich hinab. Stiefel, Jeans, schwarzes Velvet-Underground-T-Shirt. Ganz normal. Gut, das Shirt war vielleicht nicht die beste Wahl, darauf stand: I wish I was born a thousand years ago. T-Shirt mit Spruch drauf. Und dann noch dieser. In der Hektik hatte sie eben das Oberste aus dem Schrank genommen.

Mona steckte ihr Handy weg und blinzelte ihr zu. »Es ist die Art, wie Sie es tragen, Liebes«, flüsterte sie laut. »Wie ein Cowgirl, aber dann haben Sie nie eine Waffe an! Das geht nicht, und das wissen Sie!«

»Wenn man erst eine mitnimmt, schießt man irgendwann auch damit«, murmelte Bettina und stiefelte Härting und ­Spohn hinterher. Oder wird erschossen, fügte sie im Geiste hinzu.

Sie nahmen Härtings Benz, der Chef fuhr selbst, und sie schwiegen, bis sie die Autobahn erreichten.

»Er hatte eine Uniform an«, sagte Härting dann in das Schweigen hinein. Bettina, die auf dem Beifahrersitz saß, blickte rüber. Härting sah stur auf die Straße, eisgraue Haare über fahlgrauer Haut über betongrauem Anzug. Hinten auf der Rückbank tippte Spohn in seinen Computer.

»Unser Ackermann«, sagte Bettina leise, »ist in Uniform in den Puff gegangen?«

Härting zuckte die Achseln. »Ich dachte, Sie könnten das vielleicht erklären.«

»Nein«, sagte Bettina von Herzen. »Fetische sind mir nicht bekannt. Oder hat er dort irgendwie – ermittelt?«

»Als Polizist?« Der Chef schüttelte den Kopf. »Ich wünschte bei Gott, ich könnte das sagen, aber gearbeitet hat er ganz sicher nicht.«

»Man fragt sich, was das für eine Uniform war«, sagte Spohn von hinten so laut, dass Bettina zusammenzuckte. »Ich meine: Hab ich hier drauf, ist online, eine alte grüne Außendienst­uniform. Aber: Wo ist die her? Hatte Ackermann so eine?«

»Der wird sich eine aus der Ausbildung aufgehoben haben«, sagte Härting. »Oder aus seiner Zeit bei der Schutzpolizei. – Vielleicht wissen Sie das, Frau Boll: Besaß er noch alte Uniformteile?«

»Keine Ahnung«, sagte Bettina. »Ich war vielleicht dreimal bei ihm in der Wohnung, nie länger als ein paar Minuten. Wir haben schon viel zusammen gearbeitet, aber – em, diesen Teil seines Lebens kenne ich nicht. Wie kam es eigentlich dazu, dass er erschossen wurde? Er hatte auch seine Waffe dabei …?«

Härting nickte grimmig.

»Das Mädchen konnte sie wohl stehlen und hat ihn erschossen«, sagte Spohn nüchtern. »Sie hat außerdem noch einen Angestellten des Lokals getötet. Offiziell Security, vermutlich ein Zuhälter, denn ein Laufhaus mit Clean-Club-Siegel ist das nicht. Die Kollegen vermuten Zwangsprostitution, die Mädels wohnen dort, sagt alles. Jedenfalls, sie hat beiden Toten alles abgenommen, das Geld, die Handys und die Autoschlüssel. Ackermanns Schlüssel haben sie draußen auf dem Parkplatz gefunden, mit dem zweiten hat sie wohl das Auto des Zuhälters gestohlen, denn das ist weg. Sie ist momentan noch flüchtig, aber vermutlich wird sie bald gefasst, denn laut Online-Akte ist sie wahrscheinlich grade mal volljährig und hat keinen Führerschein.«

»Eine Achtzehnjährige ohne Führerschein, und die schafft es, unserem Gorilla von Ackermann die Dienstwaffe abzunehmen«, sagte Bettina.

Die beiden Männer schwiegen. Aber was hätten sie auch sagen können, außer dass es eben so war mit Achtzehnjährigen und Gorillas.

Als sie Frankfurt erreichten, stand ein halber Mond am Himmel, seltsam fahl hinter weißen, weit entfernten Dunstschleiern, die Stadt darunter war von einer orangen Lichtglocke umgeben. Das Bordell lag im Vorort eines Vororts: Heddernheim, Niddabogen und dann in ein kleines Gewerbegebiet, das ganz proper aussah, aber irgendwie zu weitläufig und zu verlassen war für das enge Frankfurt, es gab viel Himmel hier und viel Grün, doch der Himmel war zu hell für die Nacht und das Grün staubig.

»Da vorn das Schild«, sagte Spohn von hinten. »Sexy Bar, das ist es. Da sind auch die Kollegen.«

Sie bogen in eine Seitenstraße und erblickten gleich mehrere Einsatzwagen, die vor einer heruntergekommenen Anlage aus drei Reihenwohnhäusern parkten. Die Gebäude sahen aus, als wären sie zum Wohnen für Angestellte aus den umliegenden Betrieben gebaut, aber so nie genutzt worden. Sie lagen ruhig zu einer Brache hin, die in ein unübersichtliches Bahngelände überging, in der Ferne begrenzt von trostlosen Wohnblöcken. Konsequenterweise richtete sich die grelle Leucht­reklame der Sexy Bar nach hinten hinaus an diese Wohnblöcke, man sah einen riesigen rosa Bogen, der vielleicht zu einem Herzen gehörte, über den Dächern der Hausreihe aufflammen und wieder erlöschen. Die Gebäude selbst waren weiß verputzt und dreckig, billige Bauweise, schwarze Dächer und zugeklebte Fenster. Selbst das Schild mit der Aufschrift Sexy Bar hatte schon bessere Tage gesehen. Und vermutlich noch nie so viele Polizisten auf einmal.

Härting parkte seinen Benz neben dem blausilbernen Audi, auf dem »Einsatzleitung« stand.

»Ich kündige uns noch mal telefonisch an«, sagte Spohn ­etwas nervös. Das hier war fremdes Revier, anderes Bundesland, offi­ziell waren sie nur da, um Fragen über eines der Opfer zu beantworten. Wenn sie hier irgendwen auch nur ein winziges bisschen störten, konnten die hessischen Kollegen sie bitten zu gehen, und dann wäre die Fahrt umsonst gewesen und sie blamiert.

»KHK Guhl, mit dem hatte ich vorhin schon zu tun, ­Moment –«

»Nicht nötig«, sagte Härting.

Bettina öffnete die Beifahrertür. Die frische Morgenluft ließ sie kurz frösteln, obwohl sie eher feucht als kühl war.

»Da kommt schon jemand.«

Die Begrüßung verlief äußerst gelassen, zwei Beamte in Zivil prüften ihre Ausweise und ließen sie ohne weiteres das Absperrband passieren. Der Tatort erzeugte offensichtlich eine gewisse innere Distanz bei der Truppe. Die Kollegen hier draußen wirkten fast peinlich berührt. Dies war ein versifftes Loch, wer hierherkam, musste krank sein. Oder würde es werden. Bettina erhaschte einen Blick auf zwei blasse Mädchen von allerhöchstens sechzehn Jahren. Sie trugen dicke synthetische Strumpf­hosen und mehrere unbequeme Schichten enger Kleidung. Pappig überschminkte Pickel, metallisch gefärbte Haare, viel Stahl in den Gesichtern. So abstoßend wie möglich, dachte Bettina, eine klare Botschaft an die Freier: Finger weg. Die beiden standen an der Hausecke, rauchten, kicherten verhalten und blinzelten in das Licht der Strahler, die die Hausfront ­erhellten. Man fragte sich, was Ackermann, was irgendein Mann an diesen gequälten Kreaturen erregend finden konnte.

»Kommen Sie, Frau Boll, wir dürfen mit rein«, rief Härting vom Eingang her. Die Mädchen betrachteten ihn spöttisch und kicherten lauter. Bettina schnitten sie Fratzen, die Rache fürs Mitleid.

Bettina feixte ihnen zu, rollte ihr Haar im Nacken zusammen, stopfte es in den Kragen und eilte Härting hinterher.

Im Inneren des Hauses stank es nach Putzmitteln und kaltem Rauch. Sie passierten einen engen Flur, an dessen Wänden braune Teppiche klebten, und erreichten einen größeren Raum, in dem sich mehrere Polizisten versammelt hatten. Das Licht war schummrig. Fenster gab es nicht, sicher wären die schmuddeligen Polsternischen und die vermackelte Bar sogar im Mondlicht augenblicklich zu Staub zerfallen. Und der Mann, der hinter der Bar stand, gleich mit, der wirkte, als könnte er sich im Spiegel nicht sehen: langes schiefes Gesicht mit spöttischem Mund und verhangenen Augen, Typ Blutsauger mit großen gelben Zähnen. Er war der Einzige hier, der offensichtlich nicht zur Einsatztruppe zählte, und er tat gar nichts. Bettina hielt ihn für den Hausmeister.

Sie schüttelte zwei, drei Kollegen die Hände und wiederholte eifrig deren Namen, vergaß sie aber sofort wieder. Härting führte das Gespräch. Er bat darum, Ackermanns Leiche gleich sehen zu dürfen, doch die Kollegen wollten erst noch die Spurensicherung am Fundort abschließen. Die Schießerei hatte im Nebenhaus stattgefunden, wo die Täterin, eine Frau namens Manga, gearbeitet hatte. Erfahren hatten sie von dem Vorfall erstaunlich schnell. Und zwar durch einen Anruf, der alle vor ein Rätsel stellte: Er war offenbar über die Notruffunktion von Ackermanns Handy abgesetzt worden. Nach seinem Tod. Von einer Person mit Frauenstimme, die ihren Namen nicht hatte nennen wollen, aber eigentlich niemand anders als Manga selbst sein konnte. Wieso sie ihre Tat bei der Polizei gemeldet hatte, konnte sich niemand recht erklären.

Auch Mangas Identität, deren bürgerlicher Name angeblich Lisa Engel lautete, hatte sich nicht abschließend feststellen lassen, denn sie war nicht im Haus gemeldet und hatte angeblich ihren Personalausweis mitgenommen. Genauso wie das Auto ihres zweiten Opfers. Und offenbar auch dessen Handy. Mit all dem war sie geflohen. Inzwischen zeigte sich Härting sehr betroffen über Ackermanns Auftritt in diesem traurigen Etablissement und fühlte vorsichtig nach, wie illegal das Haus denn nun tatsächlich war.

»Es gibt Hinweise auf einiges«, sagte sein Gesprächspartner, ein sportlicher Mittdreißiger, der zu Härting aufblicken musste, dies aber tat, ohne unterlegen zu wirken. Es war der bereits erwähnte KHK Guhl, er führte die Ermittlungen. Neben ihm stand eine etwas ältere Frau von grundsolidem Schick, die mit spöttischer Nachsicht Guhls schiefen Hemdkragen betrachtete.

»Die Mädchen sind sehr jung hier«, sagte der vermutlich etwas zu früh aufgestandene Guhl. Seine Augen waren noch ganz klein, er gähnte und blinzelte ständig.

»Das ist wohl die Spezialität des Hauses«, sprach die ­Schicke. Im Gegensatz zu Kriminalhauptkommissar Guhl wirkte sie nicht müde, und auch nicht wie eine Polizistin. Vielleicht die Pathologin, diese Vorstellung hatte Bettina ebenfalls nicht ­genau mitbekommen. Thot oder so. Jedenfalls sah diese Frau aus wie eine französische Lokalpolitikerin: gesträhnter Pagenkopf, Goldschmuck und feine Lederpumps mit Pfennigabsätzen. Ihre Hände steckten in den üblichen Tatortlatexhandschuhen, was an ihr merkwürdig unpassend wirkte. »Tja«, machte sie. »Die Mädchen schwören Stein und Bein, dass sie volljährig sind und hier ihrem Traumberuf nachgehen.« Sie zuckte verächtlich die Achseln.

»Traurig.« Guhl rieb sich die Augen. »He, mit den Papieren von denen könnten Sie eine Kunstausstellung machen«, sagte er, ließ die Hand sinken und hatte plötzlich so einen hellen Blick, als ob er innerlich über seine eigene Formulierung lachte. »Die sind zum Teil handgemalt. – Leider müssen wir davon ausgehen, dass in mehreren Fällen Personalausweise und Personen nicht übereinstimmen. Bedauerlicherweise sind die jungen Frauen auch gar nicht mitteilsam.« Er schaute zu dem Vampir an der Bar, unterdrückte halb ein Gähnen und senkte die Stimme. »Und dann der Geschäftsführer. Hat keine Vorstrafe. Er heißt Karl-Heinz Schmitt und ist gelernter Kaufmann. Falls sein Lebenslauf stimmt, dann könnte er sich bei der Caritas bewerben. Der hat wahrscheinlich nicht mal ein Tattoo.« Wieder dieses innere Lachen.

Thot indessen musterte abschätzig den schmutzigen Raum. »Wenn seine Angestellten keine gültigen Papiere haben, dann ist sein System trotzdem fehleranfällig.«

»Mag sein, aber aktenkundig ist er nicht.« Langsam wirkte Guhl etwas wacher. »Dieses Haus wird mit wenigen Unterbrechungen seit neunundzwanzig Jahren als Bar genutzt, seit vier Jahren unter Herrn Schmitts Leitung. Das ist in dem Gewerbe eine Ewigkeit. Und nie mehr als die üblichen Probleme. In Schmitts vier Jahren hatten sie mal eine Drogenrazzia, bei der wurden ein paar verbotene Substanzen beschlagnahmt und eine junge Frau verhaftet. Das ist alles. Keine Schutzgelderpressung, keine Bandenkämpfe, jedenfalls nichts Dokumentiertes. Einfach nix.«

»Nach viel Halligalli sieht’s auch nicht aus«, urteilte Thot prompt.

»Aber wie können die Frauen denn alle gefälschte Papiere haben?«, fragte Bettina. »Noch dazu so junge! Das muss doch irgendwo auffallen!«

KHK Guhl schüttelte den Kopf. »Sie sind nicht alle gefälscht. Schmitt hat drei Feste, eine etwas Ältere, dann ein Rubensmodell, die wohl auch schon länger da ist, aber nicht hier gemeldet, und außerdem noch eine von den jungen Frauen, die ist knapp neunzehn – jedenfalls, die Ältere, die Rubensdame und die Kleine – deren Papiere sind in Ordnung. Da gibt’s gar nix zu beanstanden. Darüber hinaus hat er angeblich starke Fluktuation, die anderen sind Freie, die sind hier sowieso nicht gemeldet, eine hat einen gestohlenen Reisepass, zwei gefälschte Personalausweise, und der Rest sind teils abgelaufene Aufenthaltsgenehmigungen, das ist erstens leicht zu kriegen, zweitens leicht zu fälschen und unterliegt drittens nicht Herrn Schmitts Verantwortung.«

Sie blickten alle hinüber zur Bar, wo Karl-Heinz Schmitt sich wie ein Mahnmal aufgepflanzt hatte und ein blutdurstiges Gesicht machte. Bettina dachte über den Ausdruck »Rubensmodell« nach. Irgendwie gefiel er ihr nicht. Und dann Schmitt: Noch nie hatte sie einen Zeugen gesehen, der sich an einem Tatort so wenig rührte wie er. Es war nicht erkennbar, ob er irgendetwas um sich herum wahrnahm. Er stand nur da wie ein Baum. Sie musste an ihre Eibe denken.

Kriminalhauptkommissar Guhl schien ihren Gedanken zu spüren und sagte fast mitfühlend: »Der ist erst mal fertig. Sein Geschäft ist hin. Eine Frau aus dem eigenen Laden tötet erst einen Kunden, dann einen Security und dann schickt sie ihrem Chef noch postwendend die Mordkommission ins Haus. – ­Irgendwas muss sie gegen ihn gehabt haben.« Inneres Leuchten.

»Guter Gesichtspunkt.« Thot zückte mit ihren latexüberzogenen Händen ein ledergebundenes Büchlein. Sie machte sich eine Notiz. »Rachemotiv«, sagte sie. »Klingt gar nicht unplausibel. Ihr – Herbergsvater Karl-Heinz war wohl die Adresse ihrer Taten?«

»Wenn Sie mich fragen«, sagte Guhl, »ja. Aber Sie sind die Gutachterin. Ich kann Ihnen nur meine Meinung als Kriminalhauptkommissar sagen.«

»Ihre Meinung ist fundiert, von langer Erfahrung gespeist und daher wertvoll«, sprach Thot glatt und schrieb etwas in ihr Buch.

»Müsste man Manga nicht orten können, wenn sie Ackermanns Handy bei sich hat?«, fragte Bettina in dieses Geplänkel hinein.

»Versuchen wir«, sagte der Kriminalhauptkommissar. »Ist ja klar, aber leider ist es aus. Die Kollegen vermuten, dass sie es nach dem Notruf weggeworfen hat. Für etwas anderes kann sie es auch nicht gebrauchen, da müsste sie den Code kennen.«

Härting wies mit dem Kinn unauffällig auf den Mann hinter der Bar. »Ist er hier der einzige Verantwortliche?«

Guhl schüttelte den Kopf. »Im Moment sind wir bei vier Männern. Unser Security-Opfer hieß, soweit wir wissen, Leon Bausch, genannt Longo. Ist noch nicht verifiziert. Kein Personalausweis, wir haben nur die Meldedaten vom Auto. Herr Schmitt behauptet, das wäre der einzige feste Helfer hier gewesen, aber es muss noch zwei andere geben, die haben wir bloß noch nicht angetroffen, ein gewisser Eros, und die Mädchen haben noch einen Han oder Hon Masamun erwähnt. Von dem konnten wir vorläufig weder Kampf- noch Klarnamen verifizieren.«

»Honjo Masamune«, sagte Härting unvermittelt.

Guhl starrte ihn an. »Sie kennen den?«

Härting reagierte fast erschrocken. »Das ist ein legendäres ­japanisches Kampfschwert«, sagte er und räusperte sich. »Honjo Masamune, das verschwundene Schwert.«

»Na, dann passt es ja.« Guhl zuckte die Achseln und musterte Härting interessiert. »Tja. Drei feste Securitys mit Kampfnamen und dazu ein Geschäftsführer, der Karl-Heinz heißt und sofort die Bücher parat hatte. Das erklärt zwar, warum die keine Probleme mit Banden hatten, aber wenn man so drüber nachdenkt, ist das Haus dafür zu klein und zu –«, er sah sich um, »weit ab vom Schuss.«

»Wofür zu klein?«, fragte Härting.

»Für vier Männer«, antwortete Guhl. »Einer davon sauber wie Persilwerbung. Und auch keine internen Machtkämpfe, jedenfalls wissen die Mädels von nix, und so was kriegen die als Erste mit. Alles in schönster Eintracht.«

»Sie meinen, hier gibt es zu viel Personal?«, fragte Bettina.

Guhl wandte sich ihr zu. Sie spürte undeutlich, wie sich Härting neben ihr entspannte. »Das hier«, sagte der Frankfurter Kollege nachdrücklich, »ist ungewöhnlich. In einem Laden dieser – hm, Qualität, sitzt normalerweise ein gestörter Egomane, der irgendwas davon hat, den Kiezkönig zu spielen. Einer mit dickem Vorstrafenregister. – Na, wahrscheinlich werden wir am Ende rauskriegen, dass da eben doch irgendwelche rivalisierenden Rockergruppen einen Revierkampf ausgetragen haben.« Er sah sich um. »Wobei man sich echt fragt, was es hier zu kämpfen gibt.«

Die schicke Thot betrachtete einen Fleck auf der schmuddeligen Polsterbank vor ihr, dann kratzte sie mit der Miene einer ordnungsliebenden Hausdame daran herum. »Diese Manga war vielleicht dabei, zu einer konkurrierenden Gruppe überzulaufen«, warf sie etwas lauernd ein.

Guhl nickte.

»Glauben Sie, dass sie zwei Menschen erschossen und sich dann selbst angezeigt hat, nur um ihrem Zuhälter«, Bettina wies auf den hölzernen Karl-Heinz, »das Geschäft zu ver­miesen?«

Guhl blinzelte. Ohne zu gähnen. Dann sagte er zu Bettina: »Frau Boll, ich muss der Frau Thot recht geben, tatsächlich sind wir jetzt hier und fragen Papa Karl-Heinz nach den ­Büchern. Und wieso tun wir das?«

Papa Karl-Heinz. »Weil er Minderjährige zur Prostitution zwingt?«

Guhl blinzelte wieder. Müde sah er jetzt nicht mehr aus, das schien eher eine Art Unmutsbekundung zu sein. »Nein, Frau Boll«, sagte er. »Weil er die Leiche eines Polizisten in seinem Haus liegen hat. Diesen Toten hätten wir ganz sicher nicht hier gefunden, wenn Frau Engel ihn nicht gemeldet hätte. Dann hätte Ihr Kollege ein hübsches Begräbnis in irgendeinem Wald bekommen. – Was soll sie sonst gewollt haben, als dem Herrn Schmitt eins auszuwischen?«

»Weiß ich nicht.« Bettina wies in den trostlosen Raum. »Fliehen?«

»Sie meinen, den Arbeitsplatz wechseln?«, fragte Thot.

»Ich meine«, sagte Bettina zunehmend gereizt, »dass sie offensichtlich misshandelt und gegen ihren Willen festgehalten wurde und nicht die Möglichkeit hatte, ohne Gewaltanwendung das Haus zu verlassen. Und dass sie mit ihrem Anruf ­irgendwen genau darauf aufmerksam machen wollte. Weil nämlich die Frauen hier gar keine Frauen sind. Sondern ­Kinder!«

Guhl sah jetzt sehr ernst aus. »Frau Boll, das Alter dieser Frauen ist nicht leicht einzuschätzen. Noch dazu bei Kunstlicht. Kinder sind es ganz sicher nicht. Vielleicht Jugendliche. Aber Sie müssen bedenken: Die werden auf Jugend getrimmt. Wir gehen dem nach, doch wenn das wirklich Minderjährige wären, hätten sie jetzt Gelegenheit, uns das zu sagen. Tun sie aber nicht!«

Thot warf ihr einen schwer deutbaren Blick zu. »Sie sind freiwillig hier, und es geht ihnen ausgezeichnet.«

»Die sind mit Sicherheit völlig verängstigt und müssen erst mal raus«, widersprach Bettina. »Wir sollten sie trennen und ordentlich versorgen, und dann –«

»Dann adoptieren wir sie und schicken sie auf die Schule?« Guhl leuchtete. Kurz, aber das ließ er sich nicht nehmen. Und fügte an: »Verzeihen Sie, dass ich das so krass ausdrücke, Frau Boll –«

»Sie tun, was Sie können«, half Härting dem Kollegen. Er betrachtete Bettina kalt.

»Frau Boll, ich verstehe Ihre Bedenken, das hier ist kein guter Ort«, begann Guhl.

»Das ist ein Kinderpuff!«, rief Bettina.

Guhl blinzelte.

»Ja«, sprach Bettina streitlustig, bevor Härting ihre Anwesenheit, ihr Benehmen, ihre ganze Existenz herunterspielen konnte, das wollte er nämlich, stand ihm auf die Stirn geschrieben. »Gucken Sie sich die Mädchen doch an! Schule wäre gar keine schlechte Idee für die! Und wenn dieses Haus wirklich so verdächtig ist und die Mädels mehr schweigen als üblich und alles drauf hinweist, dass hier im Hintergrund irgendeine noch viel größere Schweinerei läuft als in einem normalen Bordell, dann müssen diese Kinder erst recht in Sicherheit gebracht werden.«

»Diese Kinder sind alle erwachsen«, sagte Thot in einem überaus beschwichtigenden Tonfall, der eigentlich nur ironisch gemeint sein konnte.

»Was soll ich machen?«, ergänzte Guhl. »Ihre Gebisse sichten und sie schätzen lassen?« Leuchten.

Bettina stemmte die Arme in die Seiten. »Sind Sie wirklich sicher, dass unser Ackermann nicht doch irgendeine Spur hierher verfolgt hat?«

Pause. Thot lächelte plötzlich mitleidig.

»Herr Ackermann war hier Stammkunde«, sagte Guhl, jetzt sehr sanft.

Härting räusperte sich und schoss einen vernichtenden Blick auf Bettina ab, der hundertprozentig nicht ironisch war.

»Wenn Sie möchten, Frau Boll«, sprach Guhl im selben Ton weiter, »können Sie gern mit den Mädchen sprechen. Versuchen Sie es einfach mal, wir wären Ihnen dankbar für alles, was Sie herausfinden.« Damit wandte er sich abrupt von ihr ab und Härting zu, so dass sie nur noch seinen Rücken sah.

Sie war abserviert. Also drehte sie sich um und ging raus, hier drin war es sowieso zum Ersticken.

»… Frauen gehören einfach nicht mit in den Puff«, hörte sie Härting von weitem.

»Sie sagten, sie wäre mit dem verstorbenen Ackermann befreundet gewesen«, antwortete Guhl tiefsinnig. »War vielleicht ein Fehler, sie mitzunehmen.«

Genau, ein Fehler, dachte Bettina. Und du, mein lieber ­Härting, zeig mir mal einen Puff ohne Frauen.

Die Frauen standen immer noch an der Hausecke, sie rauchten wie zuvor, und irgendwie sah es aus, als hätten sie Angst, damit aufzuhören, weil sie vielleicht gar nicht wussten, was sie tun sollten, wenn die Zigaretten alle waren. Bettina schritt auf sie zu.

»Wo werdet ihr jetzt wohnen?«, begann sie geschäftsmäßig. Sie holte einen Stift heraus und sah die Mädchen streng an.

Die kicherten nur, aber ihre Blicke waren unsicher. Bettina spürte ihre Angst. Wovor auch immer.

Sie klickte mit ihrem Stift und kramte mit der Linken im Rucksack nach ihrem Block. Aber er war nicht drin. Vermutlich hatte sie die Einkaufsliste draufgeschrieben und ihn zu Hause liegen lassen. Dann musste es eben ohne gehen. »Namen.«

»Olga Pjotrovna«, nuschelte die eine, die etwas größer war, und warf ihre Kippe weg. Ihr Haar war seltsam schmutzig blond gefärbt und mit vielen Klammern so platt an den Kopf gesteckt, als würde sie normalerweise eine Perücke tragen. Ihr Körper war schlank, aber trotzdem irgendwie unförmig, weil sie vermutlich mehrere Schichten formender Trikots überein­ander trug. An ihrem Ausschnitt sah man vier verschiedene Arten Träger. Und ihre dünnen Arme waren an einigen Stellen aufgekratzt (oder aufgestochen?) und entzündet. »Olga Pio-trow-na?«, fragte Bettina.

Olga nickte und kicherte. Dann warf sie Bettina einen kurzen abschätzenden Blick zu. Ihre Augenfarbe war schmutzig braun, wie der Teppich drinnen an den Wänden. Sie hatte drei Piercings an der rechten Braue und eins am Mundwinkel, alle vier Stellen waren rot und grindig.

»Und du?«, sprach Bettina das andere Mädchen an.

Olga stieß ihre Kollegin in die Seite. Die sah Bettina aus hellen Augen an und entließ langsam Rauch aus den Nasen­löchern. Bettina fragte sich, wie diese Kinder es schafften, ihren Freiern auch nur einen geraden Blick zu bieten.

»Nini«, sagte Olga.

Bettina klickte wieder mit dem Kuli.

»Dein richtiger Name«, kommandierte Olga barsch, sah Bettina an und nieste. Sie war die Wortführerin. Und Nini sagte gar nichts. »Nausikaa Karima Zimmermann«, sprach Olga für sie.

Nini wurde ein wenig rot, ihr Blick war jetzt schnell und ängstlich. Sie trug ebenfalls mehrere Schichten Wäsche und darüber ein grell orangefarbenes Dings aus Synthetik, das ihr noch den letzten Rest gesunder Farbe aus dem Teint sog.

»Nau- was? Nausika-a Karima Zimmermann?«, wiederholte Bettina.

Nini senkte den Kopf.

»Selten, der Name«, sagte Olga, wie man sagt: Ja, meine Freundin hat drei Brüste, und jetzt starren Sie nicht so.

»Darf ich eure Ausweise sehen?«

Die beiden schauten Bettina an, als ob sie nicht ganz dicht wäre. Schließlich räusperte sich Olga und sagte: »Sind drin.« Sie wies vage aufs Haus.

»Okay, Nini, richtig? – Und Olga: Wo werdet ihr wohnen?«

Die beiden sahen jetzt nervös aus. Olga zog ein Päckchen Marlboros hervor und zündete sich großspurig eine an. Fünf Stück hatte sie noch, sah Bettina. Fünf Zigarettenlängen, bis die unsichere Zukunft begann. »Wohnen«, sagte Olga gedehnt, als der Glimmstängel brannte.

»Hier könnt ihr nicht bleiben«, erklärte Bettina entschieden.

»Wir werden sehen, was Karl-Heinz für uns findet«, sagte Olga obenhin.

»Karl-Heinz?«

»Unser Papi«, flüsterte Nini kaum hörbar.

Olga, die Bettinas Blick sah, hieb ihr den Ellenbogen mit Wucht in die Seite. »Manager«, teilte sie Bettina obenhin mit.

Papa Karl-Heinz.

»Der Polizist, der gestorben ist, der kam regelmäßig hierher?«, fragte Bettina. Themenwechsel.

Die Mädels kicherten wieder. Nini nickte.

»Wie oft insgesamt?«

Schweigen.

»Wann hat er euer Haus zum ersten Mal besucht?«

Kichern.

»Olga«, sagte Bettina. »Wie oft hast du ihn hier gesehen?«

Olga blies Rauch in Bettinas Gesicht. »Fünf, sechs Mal.«

»Wann war er zum ersten Mal da, vor einem Monat? Zwei?«

»Ich glaub, der kam zum ersten Mal, als –« Olga zögerte.

»Ja?«

»So Vierteljahr.«

»Wo bist du eigentlich her?«, fragte Bettina.

Olga nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette, senkte den Kopf und schwieg.

»Nini?«

Sie schüttelte den Kopf.

Olga blickte strafend und tuschelte Nini etwas ins Ohr. Dann sagte sie: »Ist doch jetzt egal, außerdem, er wollte immer nur zu Manga.«

»Manga? Das ist das Mädchen, das ihn erschossen hat? Lisa Engel?«

»Engel«, schnaubte Olga. Dann sah sie Bettina an und antwortete: »Ja.«

»Hatten die beiden Streit?«

Kopfschütteln.

»Und er ist immer so hier – aufgetreten? In Uniform?«

»Ja.«

»Mit«, Bettina brachte es kaum über die Lippen, »Dienstwaffe?«

»Er hatte immer ’nen voll behängten Gurt«, sagte Olga anzüglich. Der Ton war ihr hörbar geläufig, trotzdem wirkte er total unpassend. Nini kicherte.

»Und war diesmal irgendetwas anders als sonst?«

Pause.

»Nein«, flüsterte Nini schließlich unsicher.

»Ja«, sagte Olga fest.

Bettina hob die Brauen.

»Er war viel schüchterner als sonst«, erklärte Olga, paffte an ihrer Zigarette und hieb Nini in die Seite. »Weißt du noch, er war voll komisch.«

»Komisch?«, fragte Bettina.

Olga erwärmte sich für ihr Thema. »Ja, Mann, Nin, du hast es nicht gesehen, aber ich war mit Ann so an der Bar und hab ihn begrüßt, weil Diandra ’nen Job hatte.« Sie grinste.

Wenn doch nur dieses Grinsen verkäuflich wäre statt deines Körpers, dachte Bettina melancholisch. Du wärst eine reiche Frau. In diesem Moment sah Olga nicht mehr erbärmlich aus, sondern so fies und satt wie ein Tarantino-Film. Sie hatte sogar Grübchen. Nini kicherte.

»War das ungewöhnlich«, fragte Bettina weiter, »dass – Dian­dra einen Job hatte?«

Sie erntete hysterisches Gelächter. Die Mädels wollten sich wegschmeißen. »Hast du Diandra gesehen?«, brachte Olga schließlich sehr affektiert heraus.

»Nein«, sagte Bettina.

»Jedenfalls«, Olga zündete sich die nächste Zigarette direkt an der alten an und sog lange, »Diandra war nicht da, der Bulle kam rein, war noch ganz früh, überhaupt nichts los, und er war so –« Sie schüttelte den Kopf.

»Verloren?«, half Nini mit ihrer leisen Stimme, und es zerriss Bettina das Herz, wie sie das sagte, eine kleine mitfühlende Seele.

»Die Hosen voll«, präzisierte Olga. »Normal brüllt er rum und will immer gleich ’ne Razzia machen, aber diesmal: ­niente.« Sie nickte gewichtig.

»Er war stiller«, fasste Bettina zusammen.

»Ja.«

»Und dann?«

»Dann hat Manga ihn trotzdem mit hochgenommen. Ich meine, die hat ja auch auf ihn gewartet.«

»Sie wusste, dass er gestern Abend kommen wollte?«

»Sie war ganz aufgeregt«, wisperte Nini. Olga hieb ihr wieder den Ellenbogen in die Seite, vielleicht aus Gewohnheit.

»Du meinst, sie hatte geplant, ihn zu erschießen?«

»Der hat immer angerufen, so vorher«, bestätigte Olga.

Bettina starrte die Mädels an, die starrten zurück, fast vertraulich, so fremd konnte man sich gar nicht sein, wenn man ein Rätsel teilte: die Männer.

»Klar, er ist ja ein Bulle«, sagte Bettina langsam.

Nini kicherte verständnislos.

»Man sagt, wir würden immer vorher noch mal anrufen.«

Kichern. Dann tuschelten die beiden wieder.

»War Manga erst seit seinem Anruf aufgeregt oder schon vorher?«, fragte Bettina.

»Seit seinem Anruf«, sagte Olga.

»Schon vorher«, flüsterte gleichzeitig Nini.

»Und wie war Manga dann? Wenn sie aufgeregt war?«

»Sie hat vom Bullen geredet«, sagte Nini.

»Hat sie nicht«, fuhr Olga ihr über den Mund.

»Sie wollte wissen, ob er anruft. Wir sind ja auf den Zimmern, so am Tag, und kriegen das nicht mit –« Nini wurde rot.

»Das Telefon steht in der Küche«, sagte Olga kalt.

»Ihr habt keine Handys?«, fragte Bettina ahnungsvoll. Wenn es einen Beweis dafür gab, dass diese jungen Frauen Zwangsprostituierte waren, dann das.

»Schon, aber der Empfang ist hier so schlecht«, murmelte Olga tonlos.

Klar, dachte Bettina. Mitten in Frankfurt kein Handyempfang.

Olga schien zu spüren, was sie dachte. Sie schnaubte und nahm sich noch eine Zigarette.

Bettina sagte: »Ihr müsst euch Hilfe holen.«

Die Mädels nickten schwach und sahen plötzlich ganz leer aus. Niemals, sagten ihre starren Gesichter, nie und nimmer, werden wir hier wegkommen. Bettina wollte ins Haus stürzen und selbst Hilfe holen, eine Sanitäterin, einen Frauenhausflyer, die Amtsärztin, aber dann dachte sie an Thot und sah in diese abweisenden Gesichter und öffnete ihre Handtasche. Beziehungsweise Ennos Rucksack, den sie über der Schulter trug. Frauenhausflyer, so etwas hatte sie doch neulich erst eingesteckt, jetzt fand sie es nicht mehr, aber die Nummer wusste sie auswendig, die musste sie oft weitergeben. Es war die von Ludwigshafen, aber zur Not konnte jemand die Mädchen weiterverbinden.

»Habt ihr mal mit der Amtsärztin über Frauenhäuser geredet?«, fragte sie.

Die Mädchen sahen sich an.

»Frauenhäuser«, sagte Olga mit aller Verachtung.

»Die sind hier nicht sicher«, hauchte Nini und erntete wieder einen Rippenstoß.

»Okay«, sagte Bettina kurz entschlossen, fischte einen alten Umschlag aus dem Rucksack und notierte darauf die Nummer, die sie kannte. »Dieses«, sie sah Nini fest an, »Frauenhaus ist sicher. Da könnt ihr zumindest mal anrufen, wenn was ist.« Sie reichte Olga den Zettel.

Die sah ihn an, als wäre es die Beitrittserklärung zu einem Bibelkreis. Bettina nickte ihr aufmunternd zu, und Olga nahm den Wisch, genervt und mit rausgestreckter Zunge. Sie steckte ihn in ihren Ausschnitt. Dann paffte sie verächtlich an ihrer Zigarette.

»Okay«, sagte Bettina. »Manga hat also schon auf diesen Anruf gewartet.«

Schweigen.

»War es so?«

»Ja«, piepste Nini.

»Und wie hat sie dann davon erfahren?«

»Sie hat gewusst, dass Diandra meistens drangeht«, flüsterte Nini, »aber Diandra kann man nicht –« Sie brach ab.

»Kann man nicht was?«, fragte Bettina. Wieder herrschte große Spannung in ihrer zugigen kleinen Raucherecke.

Bis Olga ihre kaum angerauchte Zigarette auf den Boden pfefferte. »Fuck!«, schrie sie Nini an. »Du bist so doof! Wieso hast du davon angefangen?« Sie wandte sich Bettina zu. »­Diandra ist nicht drauf, verstehst du, und Manga war es auch nicht mehr! Die fucking Missis! Und ich krieg noch Dust von ihr, aber hallo! – Weil ich aufgepasst hab, und weil ich’s ihr gesagt hab, ich wohne neben der Küche, verstehst du, ich hör, wann einer anruft! Und sie wollte supergenau wissen, wann er nächstes Mal kommt!«

Nini starrte Olga angstvoll an und klopfte ihr leicht auf die Schulter.

»Du kriegst Dust ?«, fragte Bettina ruhig.